Kategorie: Fachbeiträge

  • Umsetzung der BORA-Empfehlungen

    Umsetzung der BORA-Empfehlungen

    BORA-Empfehlungen vom 14.11.2014

    In unserem Schwerpunktthema im Mai 2015 stellten wir die Frage „Wofür brauchen wir BORA?“. Zu dieser Zeit waren die BORA-Empfehlungen gerade frisch verabschiedet, und die Einrichtungen gingen daran, Maßnahmen umzusetzen und ihre Konzepte zu überarbeiten. Dies geschah in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß und mit unterschiedlichem Nachdruck durch die Leistungsträger. Dreieinhalb Jahre später werfen wir wieder einen Blick auf Maßnahmen zum Erwerbsbezug in der Suchtreha und fragen „Was hat sich getan?“. Dazu werden zwei Abschlussarbeiten vorgestellt, von denen die eine einen bundesweiten Überblick zur organisatorischen und konzeptionellen Entwicklung gibt und die andere sich auf die konkrete Umsetzung in einer Einrichtung konzentriert.

    Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse

    Bachelorarbeit von Natascha Otten

    Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse

    Am 01.03.2015 sind die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation“ in Kraft getreten. Diese Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe BORA (Beruflich orientierte Rehabilitation Abhängigkeitskranker) erarbeitet, deren Mitglieder Expertinnen und Experten der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtverbände waren. Ziel dieser Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA-Empfehlungen) war es, neue Impulse für eine noch individuellere und an den Teilhabebedarfen der einzelnen Rehabilitandin bzw. des einzelnen Rehabilitanden orientierte Suchtrehabilitation zu geben.

    Im Rahmen der hier vorgestellten Bachelor-Abschlussarbeit setzt sich die Autorin mit dem Stand der Umsetzung dieser Empfehlungen auseinander. Ziel der Arbeit war unter anderem, aufzuzeigen, welche Probleme und Schwierigkeiten bei der Umsetzung auftreten können und welchen Mehrwert diese Empfehlungen für den Bereich der Suchtrehabilitation haben.

    Ausgangslage

    In einem vorausgehenden Forschungsprojekt von Studierenden der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde eine Umfrage zum Stand der Umsetzung der BORA-Empfehlungen durchgeführt. Eine weitere ähnliche Umfrage erfolgte durch den Fachverband Sucht (FVS). Die in beiden Umfragen erzielten Ergebnisse ließen vermuten, dass sich die Umsetzung der BORA-Empfehlungen noch in einem Prozess befindet, da die meisten Kliniken zwar bereits ein BORA-Konzept entwickelt, jedoch noch keine Rückmeldung seitens der Federführer erhalten hatten. Die Mehrheit der Einrichtungen berichtete in den Umfragen von positiven Impulsen und Entwicklungen, lediglich vereinzelte Kliniken empfanden die Empfehlungen als sinnlos.

    Gegenstand der anschließenden Bachelorarbeit war es, die vorliegenden Umfrageergebnisse qualitativ zu evaluieren. Dazu führte die Autorin Experteninterviews durch. Als Interviewpartner wurden Führungskräfte aus Fachkliniken in unterschiedlichen Regionen Deutschlands ausgewählt. Zusätzlich wurden ein Einrichtungsleiter einer Adaptionseinrichtung und zwei Mitverfasser der BORA-Empfehlungen (ein Experte der Deutschen Rentenversicherung und ein Experte aus den Reihen der Suchtverbände) befragt, um einen möglichst guten Überblick zu gewährleisten.

    Fazit der Interviews

    Als eines der aktuellen Hauptprobleme der Umsetzung wurden fehlende finanzielle Ressourcen benannt. Die Ausgangssituationen der einzelnen Kliniken stellten sich als sehr unterschiedlich heraus, sodass auch der Bedarf an finanzieller Unterstützung verschieden groß ist. Für die Umsetzung der BORA-Empfehlungen ist es notwendig, entsprechende Instrumente für Screening- und Assessmentverfahren einzuführen, das vorhandene Personal weiterzubilden und ggf. auch neue berufsbezogene Therapieangebote zu etablieren – alles Maßnahmen, die Geld kosten. Dadurch wird deutlich, dass die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Leistungsträger den Hauptgrund für die uneinheitliche Umsetzung darstellt.

    Auffällig war, dass zum Zeitpunkt der Befragung die Umsetzung und Finanzierung von zusätzlichen Maßnahmen im Norden Deutschlands bereits weit fortgeschritten war. Es zeichnete sich eine Art Nord-Süd-Gefälle ab.

    Auch wenn die BORA-Empfehlungen eher als eine Art Ergänzung der bisherigen Strukturen und Prozesse zu verstehen sind, sehen die befragten Experten in ihnen einen Mehrwert, insbesondere für die Evaluation der bisherigen Rehabilitationsprozesse. Durch BORA werden neue Impulse gegeben, um den Reha-Prozess noch individueller zu gestalten und somit bessere Chancen für eine berufliche Wiedereingliederung zu schaffen. Dieses Ziel sollte gerade von den Leistungsträgern auch finanziell unterstützt werden.

    Ausblick

    Wie der Name schon sagt, handelt es sich aktuell lediglich um Empfehlungen ohne verpflichtende Umsetzung für die Einrichtungen. Allein deswegen kann eine bundesweit einheitliche Umsetzung nicht erwartet werden. Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung haben gezeigt, dass BORA eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der beruflichen Orientierung in der Suchtrehabilitation darstellt. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich der weitere konzeptionelle Umsetzungsprozess gestalten wird. Sinnvoll erscheint, in drei bis vier Jahren eine erneute Umfrage durchzuführen, weil dann davon auszugehen ist, dass der Umsetzungsprozess weitestgehend abgeschlossen ist und eine umfassende Beurteilung vorgenommen werden kann. Am Ende sollte jedoch die Frage diskutiert werden, ob es nicht sinnvoller wäre, BORA als ein verbindliches Rahmenkonzept einzuführen und zu finanzieren.

    Die Bachelorarbeit steht hier zum Download bereit.

    Kontakt:

    Natascha Otten
    N.Otten@bghw.de

    Angaben zur Autorin:

    Natascha Otten, Absolventin der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg im Bereich Sozialversicherung mit dem Schwerpunkt Unfallversicherung, ist Mitarbeiterin der Berufsgenossenschaft Handel- und Warenlogistik in Essen.

    Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein

    Bachelorarbeit von Melanie Zirnsak

    Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein

    Im Januar 2017 wurden in der Fachklinik Hirtenstein fünf Zielgruppen implementiert, welche sich an den „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen; Beckmann u. a. 2014, S. 1) orientieren. Die Implementierung dieser BORA-Zielgruppen stellte den Evaluationsgegenstand einer Pilotstudie dar, welche im Rahmen einer Bachelorarbeit durchgeführt wurde. Da die BORA-Empfehlungen erst 2014 herausgegeben wurden, besitzen sie eine hohe Aktualität und Relevanz für Praxis und Forschung.

    Bei den Empfehlungen der Arbeitsgruppe BORA steht die Förderung der beruflichen Integration im Fokus. Das Augenmerk liegt hierbei nicht auf einer konzeptionellen Neuentwicklung, sondern auf der Weiterentwicklung von bereits bestehenden Therapiekonzepten (vgl. Koch 2015, o.S.). Die BORA-Empfehlungen „beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen“ (ebd., o.S.) von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, welche sehr verschiedene therapiebezogene Bedürfnisse haben können. Abbildung 1 stellt die Aufgliederung in diese fünf Zielgruppen dar.

    Abb. 1: Die fünf BORA-Zielgruppen (Eigene Darstellung in Anlehnung an Beckmann u. a. 2014, S. 11 f.). BBPL = Besondere Berufliche Problemlagen

    Ziel

    Die Arbeit gliedert sich in zwei Bereiche: die theoretische Hinführung zum Thema sowie den Methodenteil. Im theoretischen Teil werden Grundlagen der Suchttherapie, das dynamische Zusammenspiel der einzelnen Therapieziele sowie die Einfluss- und Wirkfaktoren in der Suchttherapie dargestellt. Im Anschluss wird auf die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eingegangen. Neben der geschichtlichen Entwicklung geht es hier vor allem um die Aufbereitung und Erläuterung der BORA-Empfehlungen.

    Ziel ist es, die Auswirkungen der Implementierung der fünf Zielgruppen in der Praxis zu erheben und zu bewerten. Die genaue Fragestellung lautet: Wie wirkt sich aus Sicht der therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Implementierung erwerbsbezugshomogener Bezugsgruppen (ebhB) nach den BORA-Empfehlungen auf die soziale Situation, die Arbeitsweise in den Gruppen und die Gesamtsituation in der Klinik aus?

    Methode

    Die Fragestellung untergliedert sich in fünf Forschungsfragen. So soll evaluiert werden, wie sich die Implementierung auf

    1. die Arbeit in den Bezugsgruppen,
    2. die soziale Situation in den Gruppen,
    3. die soziale Situation zwischen den Gruppen sowie
    4. auf die Gesamtsituation in der Klinik und
    5. die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten

    auswirkt. Aus diesen Forschungsfragen wurden im Rahmen der Operationalisierung Dimensionen erarbeitet, welche wiederrum Grundlage für die Entwicklung von Indikatoren waren (vgl. Schnell u. a. 2013, S. 118). Die möglichen Auswirkungsbereiche sowie deren Aufgliederung in Dimensionen sind in Abbildung 2 dargestellt.

    Abb. 2: Mögliche Auswirkungsbereiche der Implementierung der ebhB

    Für die Evaluation wurde eine quantitative Erhebung mittels zweier Fragebogen durchgeführt. Ein standardisierter Online-Fragebogen wurde durch einen weitgehend standardisierten papiergebundenen Fragebogen ergänzt. Es wurden alle elf therapeutisch tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachklinik Hirtenstein befragt. Hierdurch handelt es sich um eine Vollerhebung. Da mittels der Befragung die Veränderungen durch die Implementierung erhoben wurden, die Erhebung selbst jedoch erst nach der Implementierung stattfand, handelt es sich um eine quasi-indirekte Veränderungsmessung (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 95). Das Erhebungsinstrument wurde einem zweistufigen Pretest unterzogen. Der Erhebungszeitraum betrug 17 Tage.

    Nur Ergebnisse von Personen, die schon mindestens drei Monate in der Fachklinik Hirtenstein beschäftigt sind, gingen in die Bewertung ein, da nur diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl die Vorher- als auch die Nachher-Situationen kennengelernt haben und somit die Auswirkungen in der Fachklinik einschätzen und bewerten können.

    Ergebnisse

    Die Rücklaufquote lag sowohl bei der Online- als auch bei der papiergebundenen Umfrage bei 100 Prozent.

    1. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gaben an, dass die Arbeit in den erwerbsbezugshomogenen Bezugsgruppen die Konzentration, die Zielgerichtetheit und die Beteiligung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden erhöht hat. Zudem hat sich die Anschlussfähigkeit erhöht, und es hat eine Veränderung der Themenschwerpunkte stattgefunden.
    2. In Bezug auf die soziale Situation innerhalb der Bezugsgruppen wurden ebenfalls Veränderungen wahrgenommen. So haben sich hier die Gruppenkohäsion und die wechselseitige Unterstützung erhöht. Auch trug die Implementierung zur Verringerung von Konflikten und zur Erhöhung der Interaktion innerhalb der einzelnen Gruppen bei. Die Befragten äußerten zudem, dass sie eine Erhöhung bei der Übereinstimmung von Themen wahrnehmen. Lediglich bei der Identifizierung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit der Gruppe konnten die Befragten keine Veränderung feststellen.
    3. Im Bereich der sozialen Situation zwischen den einzelnen Bezugsgruppen verringerte sich die Abgrenzung zwischen den Gruppen. Im Hinblick auf die wechselseitige Unterstützung sowie die Interaktion zwischen den Gruppen wurde eine Erhöhung wahrgenommen, eine Bildung elitärer Gruppen wurde nicht beobachtet. Das Konfliktniveau wurde als unverändert eingestuft.
    4. Auf die Gesamtsituation in der Klinik hat sich die Einführung ebenfalls ausgewirkt. So wurde von den Befragten eine Verbesserung der Gesamtatmosphäre festgestellt. Auch werden berufsbezogene Aspekte nun stärker in den Behandlungsprozess eingebunden, und der Stellenwert der erwerbsbezogenen Behandlungsanteile hat sich erhöht. Nach Meinung der Befragten kann nun besser auf arbeitsbezogene Probleme eingegangen werden, und die Erwerbstätigkeit rückt stärker in den Fokus.
    5. Bei den Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten kann festgestellt werden, dass sich die erforderliche Aktivität durch therapeutisch Arbeitende sowie der Aufwand bei der Anwendung therapeutischer Techniken unverändert blieben. Bezüglich der Arbeitsinhalte ist eine Veränderung festzustellen und der allgemeine Arbeits- und Dokumentationsaufwand hat sich durch die Einführung der ebhB erhöht.

    Die Auswirkungen der Implementierung der ebhB werden durch die Forscherin größtenteils als vorteilhaft bewertet. So werden vier der Ergebnisse als neutral eingestuft, und lediglich die Erhöhung des allgemeinen Arbeitsaufwands und des Dokumentationsaufwands wird als negativ eingestuft. Die Bewertung erfolgte auf Grundlage der theoretischen Fundierung.

    Diskussion

    Insgesamt werden die wahrgenommenen Veränderungen überwiegend als positiv eingestuft. Insbesondere kann hier herausgestellt werden, dass die Implementierung der ebhB dem Ziel der BORA-Empfehlungen, der Diversität der Bedürfnisse von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden besser gerecht werden zu können, zuträglich ist (vgl. Beckmann u. a. 2014, S. 17). So deuten die Ergebnisse darauf hin, dass erwerbsbezugshomogene Bezugsgruppen in einigen Bereichen zu einer bedarfsgerechteren Versorgung von Personen mit Abhängigkeitserkrankungen beitragen können. Werden die Ergebnisse der Evaluation in der Fachklinik Hirtenstein betrachtet, so kann die Implementierung aufgrund vielfältiger Verbesserungen nur befürwortet werden und sollte auch von anderen Rehabilitationseinrichtungen in Betracht gezogen werden.

    Aufgrund des eingeschränkten Studiendesigns und der geringen Anzahl partizipierender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten die Ergebnisse äußerst vorsichtig interpretiert werden. Es ist nicht möglich, die Ergebnisse auf andere Kontexte zu übertragen, sie können also nicht für die Allgemeinheit von Rehabilitationseinrichtungen generalisiert werden (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 42). Um ein flächendeckendes Bild zu erhalten, wäre es wünschenswert, dass auch andere Rehabilitationseinrichtungen Studien bezüglich der Auswirkungen durchführen. Auch wäre es sinnvoll, zusätzlich eine Befragung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vorzunehmen, um eine abschließende Bewertung der Implementierung zu ermöglichen (vgl. Döring 2014, S. 171).

    Die Bachelorarbeit kann bei der Redaktion KONTUREN angefordert werden: redaktion@konturen.de

    Kontakt:

    Melanie Zirnsak
    melaniezirnsak@googlemail.com

    Angaben zur Autorin:

    Melanie Zirnsak, Absolventin der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten im Bereich Gesundheitswirtschaft mit dem Schwerpunkt Prävention und Gesundheitsförderung, ist Studentin der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Bereich Public Health.

    Literatur:
    • Beckmann, Ulrike/Eckstein, Gerhard/Hennig, Uwe/Hoffmann, Sabine/Koch, Andreas/Köhler, Joachim u. a. (2014): Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14. November 2014. Deutsche Rentenversicherung Bund. Berlin.
    • Döring, Nicola (2014): Evaluationsforschung. In: Nina Baur und Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167–181.
    • Gollwitzer, Mario/Jäger, Reinhold S. (2014): Evaluation kompakt, 2., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
    • Koch, A., Wofür brauchen wir BORA? – Ausgangssituation und Aufgabenstellung, KONTUREN online, verfügbar unter: http://www.konturen.de/titelthema/wofuer-brauchen-wir-bora, 6. Mai 2015 [letzter Zugriff 29. November 2018]
    • Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung, 10., überarbeitete Auflage. München: Oldenbourg Verlag.
  • GeSA: Gewalt – Sucht – Ausweg

    GeSA: Gewalt – Sucht – Ausweg

    Petra Antoniewski

    Frauen, die durch Gewalterfahrungen und eine Suchtmittelproblematik doppelt belastet sind, erfahren auf ihrer Odyssee durch die Hilfesysteme nicht selten auch die doppelte Wucht an Stigmatisierung und Ausgrenzung. Bereits die Offenbarung einer Gewalterfahrung löst häufig eine Lawine von Vorurteilen, negativen Zuschreibungen und Bagatellisierungen aus – nicht immer ausgesprochen, aber als latente Haltung für Betroffene deutlich spürbar. Auf einen in der Regel durch Täterstrategien schon gut bereiteten Boden fallen vor allem Schuldzuweisungen und Vorwürfe: „Sie wird schon ihren Anteil daran haben, dass er sie schlägt!“ Es ist neben der entsetzlichen Angst und der Scham eben genau dieses Gefühl einer wie auch immer gearteten Mitschuld, welches Frauen so lange in gewalttätigen Beziehungen gefangen hält und die Inanspruchnahme von Hilfe schwierig macht. Was aber, wenn dieselbe Frau zusätzlich von einer Suchtmittelproblematik betroffen ist? Missbräuchlich oder abhängig konsumierende Frauen erfahren viel stärker als Männer gesellschaftliche Ächtung und Ausgrenzung. Sucht als Erkrankung wird immer noch eher bei Männern akzeptiert. Süchtige Frauen widersprechen dem traditionellen Rollenbild. Es braucht also nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie hoch die Hürde sein muss, sich mit dieser zusätzlichen Belastung zu offenbaren.

     „Das geht einfach nicht. Du kannst dich nicht einfach hinstellen und das erzählen. Ich würde nie … also den wenigsten Menschen erzähl ich davon. Ich sag zwar: ‚Okay, ich bin geschlagen worden.‘ Aber ich sag nicht, dass ich dann noch bei dem geblieben bin. Weil du weißt, was passiert. Und ich würd auch keinem sagen, dass ich Alkoholikerin bin. Die Eltern meines Freundes zum Beispiel, die wissen das nicht. Weil, die mögen mich wahnsinnig. Und ich denk mal, sie würden mich nicht so … Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, aber ich hab dann so ’ne Angst – dass das Blatt sich wenden könnte, mit diesem einen Wort, mit diesem einen Satz – der kann Welten verändern.“
    Aussage einer Klientin, die im Rahmen des GeSA-Projekts begleitet wurde

    Der Zusammenhang von Gewalterfahrung und Sucht

    Dabei ist eine Dualproblematik bei Frauen keineswegs die Ausnahme. Frauen und Kinder sind besonders häufig von häuslicher Gewalt betroffen. Für das Jahr 2015 wies die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes 127.457 von Partnerschaftsgewalt betroffene Personen aus, 82 Prozent davon waren Frauen (Bundeskriminalamt 2015). Betroffene erfahren Gewalt an einem Ort, der eigentlich Schutz und Geborgenheit bieten sollte, und von Menschen, zu denen sie in enger Beziehung stehen. Ein weiteres Merkmal dieser Gewaltform ist, dass es sich nicht um einmalige Übergriffe handelt, sondern Betroffene wiederholt und oft über Jahre hinweg Gewalt erleiden müssen. Das hat Folgen für die physische und vor allem psychische Gesundheit, die zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag, bei der Ausübung des Berufes und der Gestaltung sozialer Kontakte führen (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014; Schröttle/Müller 2004). Alkohol, Medikamente oder andere Drogen zeigen sich, zumindest kurzfristig gesehen, als hervorragend geeignet, um dem unerträglichen Druck, belastenden Erinnerungen an das Geschehen oder Gefühlen von Angst und Ohnmacht wenigstens für einen Moment entfliehen zu können. Eine repräsentative Umfrage zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland ergab, dass 28 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen in der Folge der Gewalterfahrung auf den Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten zurückgriffen (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014; Schröttle/Müller 2004). So mag es nicht verwundern, dass andere Studien eine überdurchschnittlich hohe Gewaltbelastung süchtiger Frauen belegen (u. a. Vogt/Fritz/Kuplewatzky 2015.

    Zugang zu angemessener Hilfe ist schwierig

    Dass das Ausmaß der dualen Problematik in den Unterstützungseinrichtungen dennoch unsichtbar bleibt, liegt auch daran, dass die beteiligten Hilfesysteme in der Regel völlig unabhängig voneinander agieren (vgl. Oberlies/Vogt 2014). Eine Beraterin/ein Berater in einer Gewaltschutzeinrichtung weiß von der Gewaltbetroffenheit ihrer/seiner Klientin, nicht zwangsläufig aber auch von ihrer Suchtproblematik. Die/der Therapeut/in einer Suchtklinik hat Kenntnis von der Suchterkrankung ihrer/seiner Patientin, nicht unbedingt aber von ihrer Gewaltbetroffenheit. Systematisch nachgefragt wird selten. Breitgefächerte unspezifische Folgen und Auswirkungen beider Phänomene erschweren das Erkennen von Zusammenhängen zusätzlich.

    Aber auch wenn die Dualproblematik offen ist, gestaltet sich der Zugang zu angemessener Hilfe schwierig. Eine Bestandsaufnahme des Unterstützungssystems bei Gewalt gegen Frauen ergab, dass sich fast die Hälfte aller Frauenhäuser als nicht geeignet für die Aufnahme von Frauen mit einer Suchtmittelproblematik sieht (BMFSFJ 2013). Das hat seine Ursache vor allem darin, dass Frauenhäuser, obgleich sie Kriseneinrichtungen sind, über keine 24-Stunden-Betreuung verfügen. Der Anspruch an die Bewohnerinnen, ihren Alltag in der Gemeinschaft selbständig gestalten zu können, ist dadurch sehr hoch. Der Umgang mit einer Suchterkrankung einer Bewohnerin kann dann für alle Beteiligten eine Überforderung darstellen, zumal es auch den Mitarbeiterinnen an Fachwissen und Kompetenz zum Thema Sucht fehlt. Spezialisierte Beratungsstellen schließen die Begleitung von Frauen mit einer Suchterkrankung deutlich seltener aus (BMFSFJ 2013), allerdings können sie auch keinen Schutz gewährleisten. Sie können die Beendigung von Gewalt und die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen unterstützen, stoßen mit ihrem Arbeitsauftrag aber schnell an Grenzen, wenn mit Fortsetzung des Suchtmittelkonsums das Risiko erneuter Gewalterfahrungen steigt und notwendige Schritte zur Gestaltung eines gewaltfreien Lebens nicht gegangen werden können bzw. mühsam erarbeitete Veränderungen nicht von Dauer sind.

    Also erst die Sucht in den Griff bekommen? Der Behandlung der Suchterkrankung Priorität einzuräumen, gestaltet sich ebenso schwierig. In vielen suchtspezifischen Einrichtungen sehen sich Patientinnen einer deutlichen Überzahl von Patienten ausgesetzt, von denen ein nicht geringer Anteil unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen selbst Täterverhalten gezeigt hat. Das auf die Behandlung in Gruppen ausgerichtete Setting überfordert dual betroffene Frauen und wird ihrem besonderen Bedürfnis nach Sicherheit, Kontrolle und Selbstbestimmung nicht gerecht. Eigene Gewalterfahrungen werden unter diesen Bedingungen eher nicht zur Sprache gebracht, obwohl dies für das Verständnis der Suchtentwicklung und der Funktionalität des Konsums wesentlich ist (vgl. Vogelsang 2007). Zwar gibt es bereits Fachkliniken, die sich auf die Behandlung von Frauen spezialisiert haben und in deren Behandlungskonzept traumaspezifische Angebote integriert sind, allerdings nur an wenigen Standorten. Eine Herauslösung aus dem gewohnten Umfeld mag zwar auf den ersten Blick auch im Sinne der Unterbrechung der Gewalt sinnvoll erscheinen, stellt jedoch für viele Frauen z. B. wegen der Verantwortung für Kinder oder aufgrund der Angst vor Verlust an Kontrolle und Orientierung keine Alternative zu ambulanter Behandlung dar.

    Zurück in das eigene Lebensumfeld – Bedarf an nachgehendet Betreuung

    Problematisch in Bezug auf die Dualproblematik gestaltet sich dann auch der Wechsel aus dem stationären Setting zurück in das eigene Lebensumfeld. Gewaltschutzeinrichtungen etablieren eine nachgehende Betreuung mit dem Fokus Gewaltfreiheit, suchtspezifische Einrichtungen eine Nachsorge mit dem Fokus auf Aufrechterhaltung der Abstinenz. Nur zusammen kommt das in der Praxis nicht. Aber wie stehen die Chancen auf eine abstinente Lebensgestaltung in einem gewalttätigen Umfeld? Und andersherum: Wie hoch sind die Chancen auf Selbstbestimmung und Gewaltfreiheit bei Fortsetzung des Konsums?

    Nicht einfacher wird die Situation dadurch, dass die personellen Ressourcen aller beteiligten Einrichtungen mehr als begrenzt sind und sich viele Kolleg/innen am Rande ihrer Belastbarkeit bewegen. Das hat u. a. zur Folge, dass kaum Spielraum für den Blick über den eigenen Tellerrand bleibt, es eher um Abgrenzung als um Öffnung geht und standardisierte Abläufe zu Ungunsten individueller Lösungsansätze favorisiert werden.

    Liegt eine Chance auf Entlastung und für eine bessere Versorgung Betroffener vielleicht genau in der Umkehr dieses Prozesses? Welche Möglichkeiten eröffnen sich, wenn die Durchlässigkeit zwischen den Hilfesystemen erhöht und Ressourcen miteinander verknüpft werden? Diese Fragen haben uns im Verein Frauen helfen Frauen e.V. Rostock bewegt und die Idee von „GeSA“ (Gewalt – Sucht – Ausweg) geprägt. Wenn die Themen Sucht und Gewalt so oft eine Allianz bilden, warum sollten dies dann nicht auch Kolleg/innen aus den Arbeitsbereichen tun, die Betroffene begleiten?

    Das Bundesmodellprojekt GeSA

    Im Januar 2015 startete GeSA in Trägerschaft des Vereins Frauen helfen Frauen e.V. Rostock und als Bundesmodellprojekt gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium.

    Netzwerkbildung und Wissenstransfer

    Die Umsetzung des Projektes erfolgte auf zwei Arbeitsebenen. Die erste Ebene bildeten die Kooperationsteams Rostock und Stralsund. Ein Kooperationsteam setzte sich aus insgesamt mindestens vier Vertreter/innen der stationären und ambulanten Suchtkrankenhilfe sowie der Gewaltschutzeinrichtungen zusammen. Die Kooperationsteams bildeten das Herzstück des Projektes und trugen die fachliche, inhaltliche und organisatorische Verantwortung. Damit gab es erstmalig eine fallunabhängige, kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Vertreter/innen beider Hilfesysteme.

    Die zweite Ebene bildeten die regionalen Verbände. Innerhalb der regionalen Verbände vereinigten sich verschiedenste Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe, des Gewaltschutzes, des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie andere wichtige Kooperationspartner wie z. B. die Wohnungslosenhilfe, die Polizei, der Sozialpsychiatrische Dienst, das Jobcenter oder die Selbsthilfe. Nach einer Phase der Akquise trafen sich die Regionalverbände in den beiden Modellregionen Rostock und Stralsund im Frühjahr 2015 erstmalig. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass sich hier eine wahre Schatztruhe an Wissen und Kompetenz zusammenfand.

    Wir entschieden uns für eine sehr praxis- und ergebnisorientierte Zusammenarbeit. Den Grundstein legten zwei Fachtage pro Modellregion, die wir dazu nutzten, Basiswissen zu den Themen Sucht und Gewalt, aber auch zur Struktur der entsprechenden Hilfesysteme zu vermitteln. Danach arbeiteten wir im Rahmen von Fachforen zusammen, von denen bisher zehn pro Region stattfanden. Verschiedene Einrichtungen wechselten sich als Gastgeberinnen ab und bekamen die Möglichkeit, sich und ihre Arbeitsinhalte vorzustellen. Es ging darum, unterschiedliche Angebote kennenzulernen, einen Einblick in die Arbeitsweise, die Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung zu bekommen. Der Hauptschwerpunkt der Veranstaltungen lag aber auf der Darstellung eines Falles aus dem Arbeitsalltag der gastgebenden Einrichtung, mit dem wir uns im Rahmen einer Fallkonferenz gemeinsam auseinandersetzten. Die zu Beginn häufig geäußerte Befürchtung, dass es in der eigenen Einrichtung vielleicht gar keine Berührung zur Thematik gäbe, bestätigte sich nicht. Wirklich jede Einrichtung hatte Erfahrungen im Umgang mit betroffenen Frauen und stellte diese, streng anonymisiert, den anderen Beteiligten zur Verfügung.

    Da die Sensibilisierung für die Situation betroffener Frauen ein wichtiges Ziel des Projektes darstellte, wurden in den Fallkonferenzen die verschiedenen Positionen der Fallbeteiligten eingenommen – also die Perspektive einer betroffenen Frau, relevanter Personen aus ihrem Umfeld ebenso wie des Hilfesystems. Diese Vorgehensweise führte auf konstruktive Art und Weise zu regen Auseinandersetzungen, in denen sich sehr eindrücklich die Prägung durch das eigene Arbeitsfeld, Ressentiments und Schubladendenken ebenso wie die Unterschiede zwischen Wünschen und Erwartungen von Betroffenen im Vergleich zu denen des Hilfesystems offenbarten. Danach erfolgte der Wechsel zurück zur Perspektive der Expert/innen für das eigene Fachgebiet, um Ideen und Anknüpfungspunkte für sinnvolle Kooperationsmöglichkeiten zu entwickeln. Bei diesen Überlegungen spielte die Wahrung der Selbstbestimmung betroffener Frauen eine grundlegende Rolle. Die erarbeiteten Formen der Kooperation wurden natürlich auch in der Praxis erprobt. Dabei machten wir Erfahrungen von fallübergreifender Relevanz:

    Übergänge gestalten

    Es ist kein Geheimnis, dass sich Klient/innen ihre Ansprechpartner/innen selbst aussuchen. Kompetenz und Fachwissen spielen für die Auswahl eine untergeordnete Rolle, bestimmend sind vielmehr zwischenmenschliche Aspekte und die Qualität der Beziehung. In der Praxis bedeutet dies, dass eine Klientin mit einer sexualisierten Gewalterfahrung nicht zwingend den Kontakt zu einer entsprechenden Fachberaterin sucht, sondern sich einer bereits vertrauten Person, möglicherweise ihrer Hausärztin, einer Suchtberaterin oder dem Fallmanager vom Jobcenter gegenüber öffnet. Eine unverbindliche Weitervermittlung an zuständige Einrichtungen scheitert oft. Klientinnen fühlen sich dadurch häufig zurückgewiesen, haben das Gefühl, mit dieser Thematik eine zu große Belastung zu sein. Außerdem kann die Kontaktaufnahme zu einer gänzlich unbekannten Institution eine Überforderung darstellen. Solche Übergänge gelangen dann leichter, wenn Klientinnen den Eindruck eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen den Beteiligten der unterschiedlichen Einrichtungen hatten. Klientinnen beschrieben, das habe ihnen Sicherheit vermittelt. Aber auch die professionellen Unterstützer/innen fühlten sich hinsichtlich einer Empfehlung sicherer, wenn sie eine genaue Vorstellung und Kenntnis des jeweiligen Angebotes hatten und wussten, was oder auch wer die Klientin erwarten würde. Noch positiver auf die Gestaltung von Übergängen wirkten sich begleitete Erstkontakte aus. Auch anonyme Erstkontakte, bei denen die Beraterin/der Berater in das vertraute Setting der Klientin eingeladen wird, um sich vorzustellen, erwiesen sich als hilfreich.

    Coaching von Kolleg/innen

    Eine weitere Möglichkeit stellte das Coaching von Kolleg/innen dar. So konnten Klientinnen Unterstützung auch dann erfahren, wenn sie sich gegen das Aufsuchen spezialisierter Einrichtungen entschieden. Dies musste eben nicht bedeuten, das Thema wieder ‚ad acta‘ zu legen, sondern die Klientinnen konnten erste Anregungen für den Umgang mit der Situation eben schon von der jeweiligen Vertrauensperson erhalten, auch wenn diese nicht Expert/in für das Fachgebiet war. Die Entscheidung über eine Öffnung blieb in der Hand der Klientin.

    Begleitung von Klientinnen im Tandem

    Als hilfreich erwies sich auch die Begleitung von Klientinnen im Tandem, also durch zwei Berater/innen aus unterschiedlichen Hilfesystemen gleichzeitig. Fachlich lag ein entscheidender Vorteil darin, bei der Entwicklung abstinenzsichernder Handlungsstrategien die besondere Funktionalität des Suchtmittels bei der Bewältigung aktueller oder auch in der Vergangenheit liegender Gewalterfahrungen zu berücksichtigen. Anders in den Blick genommen wurde außerdem die Herstellung eines sicheren und gewaltfreien Lebensraumes als wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Abstinenz. Zumindest bei den Klientinnen, die wir im Rahmen des Modellprojektes in dieser Form begleiteten, gab es kaum Kontaktabbrüche und selbst nach Rückfallgeschehen eine hohe Bereitschaft, den Zugang über das eine oder das andere Hilfesystem zu suchen, um Unterstützung bei der Aufarbeitung bzw. zur Beendigung der Krise zu erhalten. Dabei zeigte sich, dass Rückfälle in alte Beziehungsmuster eher der Suchtberaterin anvertraut wurden, Rückfälle in altes Konsumverhalten eher der Beraterin aus dem Gewaltschutzbereich. Zugleich war es aber in den meisten Fällen ausdrücklicher Wunsch, den jeweils anderen Fachbereich wieder mit ins Boot zu holen.

    Tandemberatungen ermöglichten auch eine Kontinuität in der Begleitung von Klientinnen. Krankheits- und urlaubsbedingte Abwesenheiten konnten aufgefangen werden und bedeuteten für die Klientin nicht, sich einer für sie fremden Person öffnen zu müssen. Diese Vorgehensweise erscheint auch als spezifische Form der Nachsorge bei der Gestaltung von Übergängen aus der stationären Rehabilitation Sucht oder dem schützenden Rahmen eines Frauenhauses zurück in den Alltag als sinnvoll.

    Ergebnisse aus dem Projekt GeSA

    GeSA konnte ganz sicher nicht alle Erwartungen erfüllen und auch nicht alle Versorgungslücken schließen. Wir haben keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse geliefert, keine neuen Interventionsmethoden entwickelt, sondern eher dafür gesorgt, das bereits Bekanntes und Erprobtes möglichst vielen am Unterstützungsprozess Beteiligten unkompliziert zugänglich wird. Wir sind auch keine neue Behandlungsstelle, an die Betroffene einfach weitervermittelt werden können. Es fehlt immer noch an einem sicheren Ort für Frauen, die nicht auf den Konsum eines Suchtmittels verzichten können oder wollen, und die dennoch ein Recht auf Schutz vor Gewalt haben. Wunder haben wir also nicht vollbracht. Wir waren nur so gut oder eben auch so schlecht, wie es die Ressourcen aller beteiligten Einrichtungen hergaben. Aber wir konnten zeigen, dass es durch die Reduzierung von Schnittstellenproblemen und eine relativ geringe Ressourcenerweiterung möglich ist, die Situation von Frauen, die von einer Dualproblematik betroffen sind, zu verbessern. Wir haben eine Strategie für eine professions- und systemübergreifende Zusammenarbeit entwickelt, die den Transfer von Wissen und die Erprobung neuer Kooperationsformen im Einzelfall ermöglicht.

    Einen zeitlichen Mehraufwand bedeutete dies schon. Ohne die zusätzlichen Ressourcen, die uns als Bundesmodellprojekt zur Verfügung standen, wäre dies nicht leistbar gewesen. Von welchem Aufwand sprechen wir konkret? Die Kooperationsteams von GeSA bestanden aus vier Kolleginnen aus den Arbeitsbereichen Gewaltschutz und Suchthilfe. Ihnen standen fünf Arbeitsstunden pro Woche als zusätzliche Ressource für die Aufgaben im Rahmen des Modellprojektes zur Verfügung. Das erwies sich als ausreichendes zusätzliches Zeitfenster. Mit ihrem Hauptstandbein verblieben die Kolleginnen in ihrem Arbeitsfeld. Und gerade das war für die Reduzierung von Schnittstellen zwischen den Hilfesystemen von entscheidendem Vorteil. Es geht also nicht darum, neue Personalstellen oder Strukturen, z. B. in Form weiterer spezialisierter Einrichtungen, zu schaffen. Vielmehr sollte es ja gerade gelingen, dass sich vorhandene Strukturen auf die besonderen Bedürfnisse betroffener Frauen einstellen und sich miteinander vernetzen. Dies ist tatsächlich ein geringer Aufwand im Verhältnis zum möglichen Nutzen, bedenkt man die massiven Auswirkungen von Sucht und Gewalt auf die psychische und seelische Gesundheit, die Erwerbsfähigkeit und gesellschaftliche Teilhabe Betroffener.

    Die Kooperationsteams von GeSA sind das Vorbild, wenn wir im Ergebnis unserer Erfahrungen aus dem vierjährigen Bundesmodellprojekt für die Etablierung und regelhafte Finanzierung regionaler Coachingteams plädieren. Wichtigste Zielsetzungen der Coachingteams sind:

    • Reduzierung von Schnittstellenproblemen zwischen beteiligten Hilfesystemen
    • ‚Lotsenfunktion‘ für Betroffene, Gestaltung niedrigschwelliger Zugänge in die Hilfesysteme
    • Abbau von Vermittlungshemmnissen
    • Intensivere Nachbetreuung Betroffener nach Reha-Aufenthalt unter Berücksichtigung der Dualproblematik mit dem Ziel der Sicherung der Reha-Ergebnisse
    • Begleitung der Reintegration in das soziale Umfeld unter besonderer Berücksichtigung der Dualproblematik
    • Vermeidung der Einschränkung bzw. des Verlustes der Erwerbsfähigkeit durch verbesserte Früherkennung einer Dualproblematik und gezieltere Vermittlung
    • Prävention zum Schutz mitbetroffener Kinder in gewalt- und suchtmittelbelasteten Familien

    An engagierten und qualifizierten Fachkräften aus den Bereichen der Suchthilfe und des Gewaltschutzes fehlt es nicht. Das hat sich im vierten Jahr des Modellprojektes, das mit dem Auftrag der bundesweiten Verbreitung verknüpft war, deutlich gezeigt. Was es jetzt noch braucht, ist die Übernahme politischer Verantwortung. Sucht und Gewalt dürfen nicht zum individuellen Problem Betroffener gemacht werden, denn die Ursachen beider Problembereiche sind nicht zuletzt gesellschaftlich determiniert.

    Kontakt:

    Petra Antoniewski
    Projektleiterin GeSA
    Frauen helfen Frauen e.V. Rostock
    Ernst-Haeckel-Str. 1
    18059 Rostock
    gesa@fhf-rostock.de
    Tel. 0381/440 3294
    www.fhf-rostock.de/gesa

    Angaben zur Autorin:

    Petra Antoniewski, Dipl.-Sozialpädagogin, Sozialtherapeutin Sucht, war von 2000 bis 2009 als Bezugstherapeutin in der stationären und ganztägig ambulanten Rehabilitation Sucht tätig. Seit 2009 ist sie Leiterin der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt des Frauen helfen Frauen e.V. Rostock und seit 2015 Projektleiterin des Bundesmodellprojektes „GeSA“.

    Literatur:
    • BMFSFJ (2013): Bericht der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder, Berlin
    • Bundeskriminalamt (2015): Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung des BKA-Berichtsjahres, Wiesbaden
    • FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Hg.) (2014): Gewalt gegen Frauen. Eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick
    • Oberlies, D./Vogt, I. (2014): Gewaltschutz für alkohol- und drogenabhängige Frauen/Mütter: Untersuchung zur Passung der Hilfsangebote zum Bedarf. Abschlussbericht
    • Schröttle, M./Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Kurzfassung BFMSFJ
    • Vogelsang, M. (2007): Suchtkranke Frauen: Teufelskreis der Hilflosigkeit. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, Heft 41
    • Vogt, I./Fritz, J./Kuplewatzky, N. (2015): Süchtige und von Gewalt betroffene Frauen. Nutzung von formalen Hilfen und Verhaltensmuster bei Beendigung der Gewaltbeziehung. gFFZ Online-Publikation Nr. 4
  • Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Länder der Region Zentralasien – Kasachstan, die Kirgisische Republik, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – umfassen mehr als 60 Millionen ethnisch, kulturell und religiös vielfältige Menschen und ein geografisches Gebiet, das doppelt so groß ist wie das von Kontinentaleuropa. Im Zentrum des eurasischen Kontinents befinden sich diese Binnenländer, die im Jahre 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, unabhängig wurden. Seit der Unabhängigkeit haben sie sich großen Herausforderungen gestellt. Eine davon ist der Handel mit Opiaten (vor allem Heroin) und die Opiatabhängigkeit von hunderttausenden Menschen (vgl. Abb. 1). Die Europäische Kommission unterstützt die fünf Partnerländer durch das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (Central Asia Drug Action Programme, CADAP) seit mehreren Jahren in dem Versuch, die negativen Folgen des Drogenkonsums zu lindern. CADAP befürwortet eine ausgewogene Drogenpolitik im Hinblick auf die Drogennachfrage und das (illegale) Drogenangebot im Einklang mit der EU-Drogenstrategie 2013–2020 und dem EU-Zentralasien-Drogenaktionsplan 2014–2020. CADAP zielt darauf ab, folgende Maßnahmen zu unterstützen:

    • Weitere Qualifizierung der Behandler und Schulung in psychotherapeutischen Methoden für Kurzinterventionen
    • Motivational Interviewing (MI)
    • Rückfallverhütung und soziale Rehabilitation
    • Opioidgestützte Behandlung (Opioid Substitution Treatment, OST)

    Mehr als 2.000 Experten und Regierungsvertreter wurden bereits zwischen 2010 und 2012 geschult. Der Zugang zu OST konnte in Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan (leicht) erhöht werden. In der laufenden 6. Phase des Programms wird eine bessere Institutionalisierung des Behandlungssystems angestrebt, und die Implementierung der Internationalen Standards der WHO/UNODC für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen wird unter Verwendung von Best Practices der EU geschult und systematisiert.

    Abb. 1: Drogensituation in Zentralasien – geschätzte Zahl von Heroinkonsumenten

    Das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (CADAP) verfolgt eine bessere Verbreitung von und Zugänglichkeit zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung bei Drogenabhängigkeit, sowohl pharmakologisch als auch abstinenzorientiert, und ihre Kombination mit sozialer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung (wie Beratung, kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung). Das Programm soll die Schadensbegrenzung (Harm Reduction) verstärken, um die nachteiligen Konsequenzen des Drogenkonsums für Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes zu verringern, wobei es nicht nur um die Vermeidung von Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C (vgl. Abb. 2) und Tuberkulose geht. Ziel ist es, ein offizielles Netzwerk von Fachleuten zu etablieren. Aber das stellt eine große Herausforderung dar, denn regionale Kooperation ist in den postsowjetischen Staaten weniger gewollt als ‚nationale‘ Selbständigkeit.

    Abb. 2: Prävalenz von HIV und Hepatitis C unter den (injizierenden) Drogenkonsumenten (in Prozent)

    Methoden des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms CADAP

    Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich führen zwei- bis viertägige Trainings mit Expertinnen und Experten aus der zentralasiatischen Region durch. Die Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich kommen überwiegend selbst aus Zentralasien oder Osteuropa, sprechen Russisch, kennen die Kultur der Länder und bringen langjährige Expertise aus ihrer Arbeit im deutschen und österreichischen Sucht- und AIDS-Hilfesystem mit. Es wird in unterschiedlichen Bereichen trainiert:

    1. Schulungen für Fachpersonal

    Training mit Suchtmediziner/innen in Bishkek: Oleg Aizberg (vorne Mitte) und Irina Zelyeni (vorne Zweite von rechts)

    Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte erhalten Schulungen zu folgenden Themen:

    • Psychosoziale Beratung und Behandlung Drogenabhängiger im Rahmen von ambulanter und stationärer Rehabilitation
    • Reintegration Drogenabhängiger in die Gesellschaft
    • Entwicklung von regionalen und überregionalen Suchthilfenetzwerken

    Es werden außerdem aktuelle Kenntnisse der Suchtmedizin vermittelt:

    • Allgemeine Prinzipien medizinischer Ethik
    • Besonderheiten der medizinischen Ethik bei der Behandlung von Suchtkranken und Besprechung verschiedener Beispielsituationen
    • Alkoholabhängigkeit als Begleiterkrankung bei Drogenabhängigen
    • Komorbide Störungen
    • Umgang mit Neuen psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • Notfallzustände bei Suchtkranken und psychisch Erkrankten
    • Sexuelle Störungen bei Suchtpatientinnen und Suchtpatienten

    2. Schulungen im Justizbereich

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    Für das Personal von Strafanstalten, für Richter, Staatsanwälte, NGOs und Fachleute, die auf dem Gebiet der Behandlung von Drogenabhängigen tätig sind, finden Schulungen statt. Dazu gehören auch Schulungen über Gesundheitsprogramme in Gefängnissystemen zur Verhütung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) und zur Opiat-Substitutionsbehandlung (OST) in Gefängnissystemen.

    Die zweitägigen Workshops, die in allen zentralasiatischen Ländern mit Unterstützung der jeweiligen Gefängnisverwaltungen für Gefängnismitarbeiter durchgeführt wurden, bestanden aus Präsentationen und Gruppenarbeit. Interessen und Vorlieben der Teilnehmer wurden dabei berücksichtigt. Als Ergebnis der Workshops ergab sich eine Liste priorisierter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von drogenabhängigen Gefangenen. Diese Liste soll als Roadmap für die zukünftige Entwicklung dienen.

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    In der Kirgisischen Republik und in Tadschikistan wird im Gegensatz zu den anderen Ländern offen (an)erkannt, dass es injizierenden Drogenkonsum auch im Gefängnis gibt und dass deshalb sowohl Nadel- bzw. Spritzenaustauschprogramme als auch OST sinnvoll sind. Allerdings werden hier Infektionsschutzprogramme nur auf niedrigem Niveau und unter scharfen Kontrollmechanismen (die den Verlust der Anonymität bedeuten) angeboten. Substitutionsbehandlungen im Strafvollzug werden in Kirgistan gut umgesetzt, in Tadschikistan wurde damit gerade erst begonnen, nach jahrelanger Diskussion.

    3. Schulungen für NGOs

    Training mit Ludger Schmidt und NGO-Vertreter/innen in Kirgistan

    Ein weiteres Arbeitspaket wird in enger Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) durchgeführt, um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu erreichen. NGOs spielen in Zentralasien eine zentrale Rolle bei der niedrigschwelligen Erreichbarkeit von Drogenabhängigen, bei der Infektionspräventionsarbeit, bei der Psychosozialen Betreuung (PSB) nach Entzugsbehandlungen und bei der Substitutionsbehandlung (OST). Die Hauptakteure von NGOs werden geschult, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern, ein unterstützendes Umfeld für die Klienten zu entwickeln und ihnen zu helfen, sich behandeln zu lassen und in der Behandlung zu bleiben. NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Programmen niedrigschwelliger Arbeit.

    Schwerpunkte der Trainings

    Training mit Inga Hart und Gerhard Eckstein

    Das theoretische Wissen über psychiatrische Erkrankungen und Suchterkrankungen ist bei den meisten Teilnehmern gut bis sehr gut. Gleichwohl zeigte sich bei den Trainings auch, dass wenige Grundkenntnisse in der Praxis der Psychiatrie vorliegen, u. a. weil Narkologie (= Suchtmedizin) und Psychiatrie getrennt sind und wenig kooperieren. Die praktische Umsetzung und Erfahrung ist zudem immer noch sehr unterschiedlich. Zudem war die Zeit für die Trainings sehr knapp bemessen.

    Es geht in den Trainings u. a. um die Vertiefung von Behandlungsmethoden der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, des Motivational Interviews, der Rückfallprophylaxe sowie der psychosozialen Beratung, vor allem des Case Managements. Im Mittelpunkt der Seminare stehen weiterhin die Überprüfung, ob die westlichen Beratungs- und Behandlungskonzepte in der konkreten zentralasiatischen Praxis angewendet werden können, und die damit zusammenhängende Sicherung des Behandlungserfolges.

    In den Trainings werden die von den Seminarteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, Anregungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer effektiven therapeutischen Arbeit sowie den Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehung stellt für die Teilnehmer einen Rahmen für berufliche Selbstreflektion dar. Beim Betrachten der Interaktionsbeiträge der Angehörigen und der möglichen therapeutischen Interventionen wurde deutlich, dass der kulturelle Hintergrund die Aufrechterhaltung sowohl der Abhängigkeit als auch der Co-Abhängigkeit unterstützt. Dies macht es den Experten schwer, passende Interventionen einzuleiten und sich von den Erwartungen der Angehörigen abzugrenzen.

    Herausforderungen in der Arbeit mit den NGOs

    Die NGO-Gruppen in Kirgistan und Tadschikistan sind sehr engagiert und interessiert, dabei aber nicht unkritisch. Die Skepsis gegenüber internationalen Trainingsmaßnahmen wird offen angesprochen und diskutiert. Die Erwartung gegenüber solchen Maßnahmen scheint mehrheitlich gedämpft zu sein. Ähnlich wie in Ländern Westeuropas oder Australiens, wo NGOs eine lange Tradition haben und Unterstützung auch von Regierungen erhalten, arbeiten viele Organisationen mit Wurzeln in der Selbsthilfe überraschend ‚professionell‘, sind kompetent und reflektiert in ihrem Arbeitsfeld.

    Überlegungen, wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wissen, das sie im unmittelbaren Klientenkontakt benötigen, pragmatisch vermittelt werden kann, führte zur Idee der Adaption von „J Key Cards“ der dänischen NGO „Gadejuristen“ (Street Lawyers) an zentralasiatische Verhältnisse (insbesondere in Kirgistan und Tadschikistan). Die J Key Cards funktionieren nach dem Prinzip der FAQ (frequently asked questions) und beinhalten jeweils eine Frage mit einer Antwort zu häufig auftauchenden Themen und Problemen aus den Lebenswelten von Drogengebrauchenden. Die Karten sind thematisch in die Gebiete physische und psychische Gesundheit, Infektionsprävention, Substanzaufklärung, Safer Use und Recht unterteilt und werden kulturspezifisch und landestypisch illustriert. Als Vorteil für die ‚Ausbildung‘ von Peers wurde die leichte Handhabbarkeit des Formats, der spielerische statt verschulte Umgang mit Wissensinhalten (insbesondere angesichts der Ungeübtheit vieler Peers mit längeren Texten), die Konzentration auf eine konkrete Frage statt auf einen ganzen Wissensbereich sowie der unmittelbare Praxisbezug hervorgehoben. Die J Key Cards können überdies als Unterrichtsmaterial im Rahmen von Ausbildung/Qualifizierung genutzt werden.

    In Kirgistan und Tadschikistan werden entsprechende Kartensets hergestellt, um sie in der Straßensozialarbeit zu benutzen (vgl. Abb. 3 und 4).

    Abb. 3: Beispiel Kartenset Kirgistan
    Abb. 4: Beispiel Kartenset Tadschikistan

    Hauptergebnisse der Trainings

    In einigen Ländern und Regionen Zentralasiens ist das Suchthilfesystem gut entwickelt (etwa in Kasachstan, Usbekistan und auch in Kirgistan), sodass sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sowie die poststationäre Weiterversorgung für die Abhängigen umfassend und auf einem hohen professionellen Niveau angeboten werden. Die Effektivität der Behandlung beruht aber auf einem vernetzten System, das in vielen anderen Regionen und Ländern noch sehr ausbaufähig ist, vor allem in Turkmenistan, Tadschikistan und den ländlichen Regionen von Kirgistan. Im Beratungs- und Behandlungssystem sind Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Ex-User und andere Fachkräfte verantwortlich integriert. Es existiert eine Übereinstimmung über Ziele und Konzepte der Resozialisierung. 

    In der Kirgisischen Republik, in Tadschikistan und Kasachstan wurden nationale Arbeitsgruppen gegründet mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Narkologie, Psychologie, Sozialarbeit und Selbsthilfe. Im Rahmen der Arbeitsgruppen fanden Vorlesungen und Diskussionen über folgende Themen statt:

    • Prinzipien der Behandlung von Drogenabhängigkeit
    • Prinzipien der Diagnose und Therapie der Opioidsucht
    • Leitlinien zur Opioidsubstitution
    • Opioidsubstitution in besonderer Situation (Schwangerschaft, komorbide psychiatrische Störungen, komorbides HIV-Syndrom)
    • abstinenzorientierte Therapie (Entgiftung, Psychotherapie, psychosoziale Hilfe, Opioid-Antagonisten)
    • aktuelle Situation bei Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • aktuelle Situation bei psychopathologischen und somatischen Erkrankungen

    Insgesamt scheint die Implementierung von Maßnahmen zur Motivierung und Behandlung und damit die Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Zentralasien durch die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie durch die kulturellen Hintergründe (starke Co-Abhängigkeitsstrukturen) deutlich erschwert zu werden. Bei den meisten Experten besteht ein Konsens über den Sinn und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Suchthilfesystems im Hinblick auf Weiterqualifizierung und Vernetzung.

    Die praxisorientierte Gestaltung der Seminare und die Möglichkeit, die Anliegen aus dem Alltag in die Seminare einzubringen, werden von den Seminarteilnehmern besonders positiv bewertet. 

    Weitere Zielsetzungen

    Bei der Commission on Narcotic Drugs (CND) im März 2016 wurde eine Entschließung zur Entwicklung und Verbreitung der internationalen Standards für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen verabschiedet. Darin wird gefordert, dass der „Zugang zu einer angemessenen wissenschaftlichen evidenzbasierten Behandlung von Drogenkonsumstörungen, auch für Personen, die von Drogenkonsum im Gefängnissystem betroffen sind, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften, zu gewährleisten (ist)“.

    Im April 2016 wurden im Rahmen der UNGASS Special Session (United Nations General Assembly on the World Drug Problem) in New York die „WHO/UNODC International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders“ offiziell eingeführt. Aufgabe ist nun, die Umsetzung der internationalen Standards zu unterstützen. Dies geschieht jetzt in Trainings in allen zentralasiatischen Ländern in Kooperation mit dem UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime).

    Alle Länder in Zentralasien teilen die gemeinsame Auffassung der UN-Organe (UN-Drogenübereinkommen 1961, Art. 38, und Politische Erklärung 2009), dass alle praktikablen Maßnahmen zu Prävention und Früherkennung und zur Behandlung, Bildung, Rehabilitation und Nachsorge sowie zur sozialen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen umgesetzt werden sollen. In Zusammenarbeit mit dem WHO- und dem UNODC-Hauptsitz in Genf und Wien wird diskutiert, wie die Zentralasien-Staaten in dieser Umsetzung durch Schulungen unterstützt werden können. Es wurde z. B. eine russischsprachige Version der Standards erstellt, um als Trainingsmaterial verwendet zu werden.

    Mit dem Ziel, die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin im Bereich der Behandlung von Drogenkonsumstörungen zu unterstützen, richtete die Frankfurt University of Applied Sciences (Fachhochschule Frankfurt am Main) an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Vorschlag, mit Hochschulen in Zentralasien, die Sozialarbeiter ausbilden, intensiver zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit soll mit folgenden Hochschulen stattfinden:

    • Eurasische Nationale Gumiljow-Universität (Abteilung für Soziale Arbeit), Astana, Kasachstan
    • Tadschikische Nationaluniversität (Fakultät für Phliosophie, Abteilung für Soziale Arbeit), Duschanbe
    • Universität für Humanwissenschaften Bischkek (Abteilung für Soziale Arbeit und Psychologie), Kirgisische Republik

    Die Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen der Mitarbeitenden und Studierenden sowie zur Erstellung von Schulungs- und Ausbildungsunterlagen (Projekt InBeAIDS, Laufzeit bis Ende 2019) dienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stimmte Anfang März 2017 dem Vorschlag der Frankfurter Universität zu, so dass nun die Kooperation vorbereitet wird. Eine erste „fact finding Mission“ fand dazu in den drei Partnerländern im Mai 2018 statt. Da die Unterstützung und die Ausbildung der Sozialarbeit ein wichtiger Bestandteil der Component 4-Aktivitäten des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms (CADAP) ist, passt dieses Projekt gut in die CADAP-Ziele und unterstützt die Leistungen des Programms.

    Fazit

    Es gibt in Zentralasien einige grundlegende strukturelle Probleme im Hilfesystem für suchtkranke Menschen, insbesondere für opiatabhängige Menschen. Dazu gehören:

    • der Ausschluss von injizierenden Drogenkonsumenten (IDUs) aus dem (öffentlichen) Gesundheitssystem außerhalb der Narkologie
    • ein nur begrenzter Zugang von IDUs zur Behandlung der Drogenabhängigkeit oder zur Prävention von Drogenabhängigkeit
    • ein nur begrenzter Zugang zur Behandlung von IDUs mit HIV oder Hepatitis C
    • eine nur begrenzte Anzahl von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychotherapeuten
    • das Fehlen eines Akkreditierungssystems für Psychotherapie
    • ein nur sehr beschränkter Zugang zur Substitutionsbehandlung (OST)
    • eine begrenzte Kooperation im Hinblick auf die Prävention und Behandlung von HIV und Hepatitis bei Drogenkonsumenten in (narkologischen) Rehabilitationszentren

    Schulungen zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten sind wirksam und effizient. Dennoch verlangen alle Partner auch finanzielle und technische Unterstützung. Es wird die Notwendigkeit für weitere Qualifikationen und Schulungen in den Bereichen psychotherapeutische Methoden für Kurzzeitinterventionen, Motivationsbefragung, Rückfallverhütung, soziale Rehabilitation, medikationgestützte Behandlung und Behandlung von HIV gesehen.

    Die Trainings wurden durchgeführt von einer Gruppe erfahrener Trainerinnen und Trainer:

    Heino Stöver, Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main

    Gerhard Eckstein, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Suchtreferent Deutsche Rentenversicherung Schwaben, Psychotherapeutische Praxis, Augsburg

    Inga Hart, Dipl.-Sozialpädagogin (M.A., M.Sc.), stellvertretende Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz, München

    Oleg Aizberg, Assistenzprofessor, Belarussische Medizinische Akademie, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Minsk, Belarus

    Irina Zelyeni, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik am Kronsberg STEP, Hannover

    Katharina Schoett, Fachärztin für Psychiatrie / Psychotherapie, Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen

    Ludger Schmidt, Erziehungswissenschaftler, Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), Berlin

    Jörg Pont, Professor, Medizinische Universität Wien, Österreich

    Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit; Internationaler Koordinator für CADAP (Behandlungsfragen)

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Ingo Ilja Michels
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Nibelungenstraße1
    60318 Frankfurt am Main
    ingoiljamichels@gmail.com
    michels.ingo@fit.fra-uas.de

  • Migration und Sucht

    Migration und Sucht

    Beate Zornig-Jelen
    Eva Egartner

    In den letzten Jahren kamen viele geflüchtete Menschen nach Deutschland, unter ihnen auch viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). Dies wirft die Frage auf, ob die Suchthilfe sich auf steigende Zahlen von Hilfesuchenden vorbereiten muss und neue Angebote braucht.

    Die Arbeit mit Migrant*innen ist in der Suchthilfe schon seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema und bei vielen Trägern fest verankert. Bereits in der Folge des Jugoslawienkrieges und durch den Zuzug vieler Spätaussiedler*innen in den 90er Jahren stellten die Einrichtungen der Suchthilfe viele spezialisierte Angebote für Migrant*innen zur Verfügung. Werden diese ausreichen oder brauchen wir noch mehr und auch andere Angebote aufgrund der aktuellen Zuwanderung?

    Suchthilfe und Geflüchtetenhilfe bei Condrobs e.V.

    Als einer der größten überkonfessionellen Träger in Bayern bietet Condrobs e.V. sowohl Hilfen für Suchtmittelkonsumierende als auch Hilfen für geflüchtete Menschen an.

    Seit der Entstehung des Vereins 1971 wurde die Kernkompetenz, die anfangs in Präventions- und Hilfsmaßnahmen für suchtgefährdete Kinder und Jugendliche lag, ausgebaut und erweitert. Heute umfasst das Spektrum der Suchthilfe bei Condrobs: Beratung, ambulante Therapie und therapeutische Wohngruppen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit psychosozialen Problemen, spezielle Angebote für suchtmittelkonsumierende Frauen und Männer, Substituierte und ältere Konsument*innen sowie Beratung für Angehörige. In Arbeitsprojekten und Beschäftigungsmaßnahmen in den Kontaktläden sowie in zwei sozialen Betrieben erhalten die Klient*innen die Möglichkeit, durch Arbeit und Ausbildung einen Weg zurück in ein selbstbestimmtes und gesundes Leben zu finden.

    Mit sechs schwer traumatisierten männlichen Jugendlichen ging die erste Einrichtung für Geflüchtete auf Anfrage der Landeshauptstadt München im Jahr 2010 an den Start. Mittlerweile werden an sieben Standorten in 26 Einrichtungen rund 330 unbegleitete minderjährige Geflüchtete sowie 450 erwachsene Geflüchtete und ihre 70 Kinder von Condrobs betreut. Untergebracht sind die Jugendlichen in therapeutischen Wohngruppen, im Begleiteten Wohnen, im Betreuten Wohnen sowie in einer Wohngruppe für Mädchen und ihre Kinder. Seit 2015 ist Condrobs (im Rahmen des Paritätischen Kooperationsprojekts zur Flüchtlingshilfe) in zwei Einrichtungen auch an der Betreuung erwachsener Geflüchteter beteiligt, darunter die erste Unterkunft in Bayern für allein angekommene Frauen mit und ohne Kinder. Schwerpunkte in der Betreuung sind spezialisierte Hilfen in kleineren Einheiten für traumatisierte Jugendliche, Frauen, Mädchen und Kinder, aber auch für junge Männer und Familien.

    Die im Folgenden dargestellten Erfahrungen und Erkenntnisse beruhen auf sechs Betreuungsjahren (seit 2010). Die Fallzahlen waren anfangs aufgrund der geringen Zahl der Betreuten jedoch nicht repräsentativ. Aufgrund der langjährigen Erfahrung in der Suchhilfe insbesondere mit traumatisierten Jugendlichen wurde bei Condrobs der Bedarf in der Arbeit mit geflüchteten Menschen sehr früh erkannt.

    Allgemeine Informationen zu Sucht und Flucht bzw. Migration

    Die Flüchtenden

    Ein Großteil der Geflüchteten ist männlich. Bei den unbegleiteten Minderjährigen werden oft die stärksten und am besten ausgebildeten männlichen Jugendlichen von der Familie auf die Flucht geschickt. Sie haben die besten Überlebensmöglichkeiten und sollen, wenn die Flucht gelingt, finanzielle Unterstützung ins Herkunftsland senden, Familienmitglieder nachholen oder zumindest das ‚Überleben des Blutes‘ sichern. Auch erwachsene Männer fliehen oft erst einmal alleine, da es für Männer wahrscheinlicher ist, die Flucht zu überleben.

    Mädchen und Frauen fliehen in der Regel mit männlichem Begleitschutz. Wenn Mädchen und Frauen alleine fliehen, sind die Gründe neben Krieg und Vertreibung in der Regel massive Gewalterfahrungen in den Herkunftsländern: Verstümmelung der Genitalien, Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution und Menschenhandel, sexueller Missbrauch und Demütigungen durch Angehörige, aber auch Staatsbedienstete, zum Beispiel im Rahmen von Verhören und Inhaftierungen oder – als Kriegswaffe – bei Massenvergewaltigungen. Wenn Frauen alleine fliehen, sind sie auf der Flucht wieder in Gefahr, massiver Gewalt ausgesetzt zu sein, z. B. von Schleppern, Piraten, Staatsbediensteten und Sicherheitskräften anderer Länder sowie männlichen Mitflüchtlingen.

    Die Herkunftsländer

    In den Jahren 2016 und 2017 kamen unter den nach Deutschland geflüchteten Menschen die meisten aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea und Iran (Tabelle 1). Die Anteile der Herkunftsländer haben sich 2016 gegenüber 2015 deutlich verändert. Die meisten Menschen kamen zwar nach wie vor aus Syrien, die Zahl derer, die aus Afghanistan kamen, hat sich jedoch mehr als vervierfacht, ähnliche Steigerungsraten wurden für Iran und Irak verzeichnet. Aus Eritrea, Pakistan, Nigeria und aus der Russischen Föderation kamen auch weitaus mehr Flüchtlinge als 2015, jedoch ist hier die Zahl der Erstanträge (= erstmalig gestellte Asylanträge) nicht so hoch. Aus den Zahlen wird deutlich, wie stark politische Entwicklungen und Maßnahmen (z. B. die Entwicklung in der Türkei oder diplomatische, wirtschaftliche und politische Interaktionen und Interventionen der EU-Staaten vor Ort wie beispielsweise in Libyen) den Flüchtlingsstrom nach Deutschland beeinflussen. Die Anzahl der geflüchteten Menschen ist 2017 aufgrund der diversen Interventionen deutlich zurückgegangen, die prozentualen Anteile sind aber – bis auf den Anteil von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, bei denen eine deutliche Zunahme an Erstanträgen zu verzeichnen ist – in etwa gleich geblieben.

    Tab. 1: Welche Menschen kommen zu uns? Jahresvergleich der zehn stärksten Herkunftsländer nach Anzahl der Erstanträge. Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF); Asylgeschäftsbericht 12/2017

    Der Hilfebedarf

    Nach Schätzungen von Dietmar Czycholl (2016) sind von einer Million Geflüchteten ca. 30 bis 60 Prozent traumatisiert, zwischen 40.000 und 80.000 Menschen haben Psychotherapiebedarf. Ungefähr 30.000 Menschen sind bereits substanzabhängig, wenn sie nach Deutschland kommen. 

    Laut dem Münchner Institut für Therapieforschung (IFT) handelt es sich bei den meisten Diagnosen um verstärkten Alkoholkonsum, gefolgt von Opioid- und Cannabinoidkonsum. Des Weiteren spielen Stimulanzien sowie pathologisches Glücksspiel eine Rolle (Künzel et al., 2017. S. 11 f.).

    Erfahrungen aus den Condrobs-Einrichtungen zum Umgang mit Rauschmitteln 

    Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

    Ungefähr ein Drittel der ankommenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge konsumiert anfangs stark (d. h. regelmäßiger, unter Umständen gesundheitsgefährdender Konsum). Der Schwerpunkt liegt auf dem Konsum von Alkohol, Cannabis, zunehmend auch künstlichen Cannabinoiden und Kokain, überwiegend in Verbindung mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Mit zunehmender Integration und Teilhabe nimmt der Konsum jedoch deutlich ab. Nach Beendigung therapeutischer und betreuender Maßnahmen bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 22 Monaten war bis 2016 bei über 90 Prozent der Klientel in Condrobs-Einrichtungen kein bzw. ein unauffälliger Konsum zu verzeichnen.

    Aktuell zeigt sich leider in vielen Einrichtungen eine negative Entwicklung. Circa 40 Prozent der Jugendlichen konsumieren nach längerem Aufenthalt stark, d. h. die Anzahl der Konsument*innen steigt während des Aufenthalts. Gründe hierfür sind vor allem der ungewisse Aufenthaltsstatus sowie der Umstand, dass in diesen Fällen keine Ausbildungs- und/oder Arbeitsmöglichkeit besteht, so dass die jungen Menschen zum Nichtstun verdammt sind.

    Es gibt viele weitere Gründe für Suchtmittelkonsum, und diese sind vielfältig: Trennungen, Traumatisierungen und die dadurch verursachten Schlafstörungen und Selbstmedikationen, eine unsichere Zukunftsperspektive, wiederkehrende oder chronische Existenzangst, strukturelle Überforderung im Lebensalltag, unsichere soziale Bindungen und Beziehungen, Unsicherheit und Angst. Auch die Integration in ein fremdes Normen- und Wertesystem und ein anderer Umgang mit Rauschmitteln in den Herkunftsländern begünstigen den Konsum. Zum Beispiel ist Cannabiskonsum in vielen westafrikanischen Ländern üblich und gehört zur Kultur.

    Hinzu kommen häufig Langeweile, mangelnde Tagesstruktur, unerfüllte Erwartungen und Versprechen, Identitätssuche zwischen den Kulturen, unklare Erwartungshaltungen Dritter und Schuldgefühle Angehörigen gegenüber. Ein großes Problem bilden durchwegs Sprachbarrieren und der fehlende Zugang zu ausreichend kulturspezifischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Bei Jugendlichen kommen diese Probleme erschwerend zu den normalen Entwicklungsaufgaben hinzu.

    Eine besondere Rolle spielt bei geflüchteten Jugendlichen ein Schuldempfinden: Während die Familie weiter im Krieg leben muss, sind sie angekommen, in Sicherheit, finden Perspektiven. Gleichzeitig erwarten die Angehörigen, mit Geld unterstützt oder nachgeholt zu werden. Diese Erwartungen können oft nicht erfüllt werden. Unter Umständen wird die Versorgung der Angehörigen in der Heimat zum Problem. Die Folge können Kleinkriminalität, Dealen und Suchtmittelkonsum sein. Der Einfluss durch Landsleute und die gezielte Anwerbung für Kleinhandel lassen die Jugendlichen oft unsicher werden. Die Verlockung, mehr Geld für das Leben im Westen, für Frauen, zu haben, ist stark.

    Hinzu kommen außerdem die von Czycholl (2016 u. 2017) beschriebenen generellen Belastungen der Migration. Der anfänglichen Euphorie über die gelungene Flucht folgt die „Dekompensationsphase“, wenn die Realität die geflüchteten Menschen einholt und ernüchtert

    Erwachsene Geflüchtete

    Die Erfahrungen in der Arbeit mit erwachsenen Geflüchteten werden bei Condrobs seit 2016/2017 erfasst. Hier waren die Fallzahlen von Anfang an repräsentativ. 

    Anfangs konsumiert auch in dieser Gruppe ungefähr ein Drittel der Betreuten stark, vor allem Alkohol und Cannabis, aber auch Opiate. Bei Frauen spielen Medikamente häufig eine Rolle. Auch bei der Gruppe der erwachsenen Geflüchteten ist eine Zunahme des Konsums während des Aufenthalts zu beobachten. Mindestens 50 Prozent aller Klient*innen werden gemäß ihrem Konsumverhalten als suchtgefährdet eingestuft.

    Bei erwachsenen Geflüchteten sind die Hintergründe für Suchtmittelkonsum ähnlich wie bei den Jugendlichen, aber nicht gleich: Manche kommen bereits süchtig an, viele, aktuell mindestens 50 Prozent, sind suchtgefährdet. Circa 70 Prozent der Klient*innen haben eine diagnostizierte PTBS. Die Unterbringungssituation und die Tagesstrukturierung sind deutlich schwieriger als bei Jugendlichen, die im Moment noch nach dem deutschen Sozialgesetzbuch (SGB) VIII versorgt werden. Zum Beispiel gelten in München in den Unterkünften Betreuungsschlüssel von 1:100 für Erwachsene und 1:30 für Kinder. Diese Betreuungsschlüssel sind besser als die bayernweit gültigen – das bayerische Staatsministerium refinanziert nur Betreuungsschlüssel von 1:150 und in den geplanten Ankerzentren in Zukunft vermutlich noch schlechtere Schlüssel. Der Mehraufwand in München wird durch die Landeshauptstadt selbst bezahlt. Dennoch sind die Betreuungsschlüssel bei Weitem nicht ausreichend. Zudem sind Erwachsene und ihre Kinder in Gemeinschaftsunterkünften in der Regel in Mehrbettzimmern untergebracht. Mangelnde Privatsphäre und mangelnde Ruhe auch nachts führen häufig zu Belastungsreaktionen, vor allem zu Schlafstörungen, die wiederum mit Selbstmedikation beantwortet werden.

    Wie bei den Jugendlichen verstärken eine mangelnde Integration in Arbeit und daraus resultierende Langeweile, mangelnde Möglichkeiten zur Teilhabe sowie mangelnde Sprachkenntnisse die Negativspirale. Bei erwachsenen Geflüchteten spielt auch eine Rolle, dass viele von ihnen nur geduldet sind oder sich in offenen Verfahren befinden oder dass Abschiebungen bevorstehen. Auch anerkannte Asylbewerber*innen sind häufig gezwungen, weiter in Unterkünften leben, weil Wohnraum nicht vorhanden oder nicht erschwinglich ist. Oft gestaltet sich der Familiennachzug schwierig, und Perspektivlosigkeit und Resignation nehmen zu.

    Geflüchtete Frauen

    Laut UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR 2016) sind weltweit über die Hälfte aller Geflüchteten Frauen und Mädchen, die vor Krieg, Gewalt, Terror oder Verfolgung fliehen – aber auch vor Zwangsheirat, genitaler Verstümmelung oder Vergewaltigung (wie oben schon erwähnt). Frauenspezifische Gründe für Suchtmittelkonsum sind daher geschlechtstypische, multiple Traumatisierungen. Auch nach der Flucht sowie in den großen Gemeinschaftsunterkünften sind Frauen und Mädchen besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Oft werden sie Opfer sexueller Gewalt durch Sicherheitspersonal oder andere männliche Geflüchtete. Hinzu kommen Konflikte durch unterschiedliche Anforderungen, beispielsweise die Erziehung von Kindern, oder enttäuschte Erwartungen, die nicht selten aufgrund falscher Versprechungen entstehen. Die seelischen Konflikte äußern sich häufig als körperliche Symptome in einem völlig anderen Krankheitsbild. Diese Somatisierung verhindert dann eine frühzeitige Behandlung der psychosozialen Belastung, da das eigentliche Krankheitsbild nicht erkannt bzw. fehlinterpretiert wird.

    Wie geflüchtete Männer auch, können geflüchtete Frauen über ihre psychischen Probleme in der Regel nicht sprechen. In den Herkunftsländern sind psychische Erkrankungen tabuisiert, und es gibt keine Begrifflichkeiten und kein Verständnis hierfür. Oft sind somatische Beschwerden ein Ventil. Die somatischen Beschwerden können von den Frauen benannt werden, und mit diesen können sie auch medizinische Hilfe einfordern. Häufig bekommen sie dann Medikamente verschrieben, von Schlafmitteln bis zu Psychopharmaka, und diese konsumieren sie regelmäßig und in hohen Dosen. Durchaus werden verschreibungspflichtige Medikamente auch unter der Hand weitergegeben oder verkauft und mehrere Ärztinnen und Ärzte konsultiert, um hohe Dosen erlangen zu können. 

    Methoden und Lösungsansätze auf Basis der Erfahrungen 

    In den letzten Jahren ist die Zahl der Hilfesuchenden mit Fluchthintergrund in der Suchthilfe gestiegen. Die zentrale Beratungsstelle von Condrobs in München verzeichnete 2016 im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme um knapp 60 Prozent bei Migrant*innen, die aus den Ländern Afghanistan, Irak, Somalia und Tunesien kamen (Tabelle 2). Auch 2017 blieb der Anteil dieser Menschen hoch. Obwohl die Leistungen von Beratungsstellen offiziell erst nach einer Aufenthaltsdauer von 15 Monaten oder mit geklärtem Status in Anspruch genommen werden dürfen, werden Beratungen in Einzelfällen geduldet.

    Tab. 2: Staatsangehörigkeit der Klient*innen in einer Suchtberatungsstelle. Quelle: Condrobs, 2017

    Neben weiteren Beratungsgesprächen besteht bei geklärtem Aufenthaltsstatus und ausreichend guten Deutschkenntnissen die Möglichkeit zur Vermittlung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe sowie zur Beantragung von stationärer und ambulanter Rehabilitation. In Notfällen kann eine Entgiftung mittels Klinikeinweisung erfolgen.

    Die Erfahrungen in der Suchthilfe zeigen, dass von den Klient*innen mit Migrationshintergrund (inklusive Angehörige) 2016 und 2017 jeweils ein größerer Anteil den Kontakt zur Beratungsstelle vorzeitig beendet als von den Klient*innen ohne Migrationshintergrund. Gleichzeitig beenden von den Klient*innen mit Migrationshintergrund deutlich mehr eine ambulante Rehabilitation regulär als von den Klient*innen ohne Migrationshintergrund (2016: 80,0 Prozent vs. 41,4 Prozent; siehe Abbildungen 1a und 1b). Die Zahlen belegen somit, dass Suchthilfe erfolgreich ist, wenn die Anbindung gelingt.

    Abb. 1a) Beispiel Beratungsstelle: Beendigungen/Erfolge 2017, Klient*innen mit Migrationshintergrund. Quelle: Condrobs 2017
    Abb. 1b) Beispiel Beratungsstelle: Beendigungen/Erfolge 2017, Klient*innen ohne Migrationshintergrund. Quelle: Condrobs 2017

    Verstehen und Verständnis

    Die Sprachbarriere stellt das größte Hindernis für erfolgreiche Suchthilfe dar. In den ersten 15 Monaten und bei unsicherem Status findet die Beratung vorwiegend mit Dolmetscher*innen statt. Eine große Rolle spielt der Faktor Zeit. Bereits die Anbahnung von Beratungsgesprächen braucht mehr Zeit: Wie sind die Deutschkenntnisse der/des Hilfesuchenden? Muss eine Dolmetscherin/ein Dolmetscher hinzugezogen werden? Die Verständigung muss in jedem Fall sichergestellt werden.

    Wichtig sind des Weiteren ein freundlicher Empfang und vor allem Offenheit, damit sich niemand abgewiesen vorkommt. Die Berater*innen lassen die Klient*innen ankommen, nehmen ihre Bedürfnisse wahr und schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens. Viel Zeit gehört neben Verständnis zu den wichtigsten Faktoren. Smalltalk spielt in vielen der Kulturen, aus denen die Geflüchteten kommen, eine wichtige Rolle. Oft werden die eigentlichen Probleme erst angesprochen, wenn sehr lange über vieles andere gesprochen wurde und es dabei gelungen ist, ein erstes Vertrauensverhältnis zu schaffen.

    Kultursensibles Arbeiten

    Interkulturelle Suchthilfe muss viele Aspekte beachten: die Kultur und die politische Situation im Herkunftsland, der Umgang mit den Geschlechtern, mit Hierarchien und mit Religion, das Stadt-Land-Gefälle, das Kommunikationsverhalten und vieles mehr.

    Geflüchtete haben oft keine Vorstellung von Institutionen in unserer Gesellschaft und können unsere Hilfeeinrichtungen somit nicht einordnen. Sind sie staatlich oder privat? Sind sie kirchlich und verfolgen einen bestimmten Zweck? Die Skepsis ist groß, und dementsprechend sind auch hier Zeit und Geduld gefragt, um Vertrauen aufzubauen.

    In vielen Ländern zählt das Kollektiv mehr als das Individuum – es kommt eher auf die Harmonie des Ganzen an, und die/der Einzelne muss ihre/seine Bedürfnisse denen der Allgemeinheit unterordnen. Somit ist es schwierig für Einzelne, über ihre individuellen Probleme zu sprechen. Auch die Sprachformen sind oft sehr anders, es wird von „man“ und „wir“ gesprochen, auch wenn jemand sich selbst meint. Der Begriff der Ehre hat in manchen Kulturkreisen eine sehr differenzierte Bedeutung. Eine ‚Ehrverletzung‘ kann vor allem für Männer als sehr schlimm empfunden werden, teilweise schlimmer als der Tod. Auch kommt es oft vor, dass Familienmitglieder und Freunde sich für die Ehre eines Mitglieds/Freundes mitverantwortlich fühlen und diese im Zweifel auch verteidigen, selbst wenn sie sich dadurch persönlich in Gefahr bringen.

    Kultursensible Arbeit knüpft an die Ressourcen der Migrant*innen an, nicht an ihre Defizite (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2005). In Krisen müssen die Menschen gehalten – nicht entlassen – werden. Eine professionelle Herangehensweise in der Begegnung mit Geflüchteten ist absolut notwendig. Persönliche Haltung, soziale Kompetenzen sowie Strategien, um Sprachbarrieren zu überwinden und Informationslücken zu schließen, sind grundlegende Voraussetzungen, um eine interkulturelle Verständigung zu schaffen. Fachkräfte sollten über Methodenvielfalt verfügen, um mit Migrant*innen nicht nur über Sprache, sondern zum Beispiel auch über gestalterische, körperbetonte oder kunsttherapeutische Methoden kommunizieren zu können.

    Die Fachkräfte müssen gut begleitet werden durch Fallbesprechungen und regelmäßige Supervision. Um qualitativ hochwertige Grundlagen für die Arbeit mit Geflüchteten zu entwickeln, ist ein professionelles Programm zur Fort- und Weiterbildung der Asylsozial- und Migrationsberater*innen unabdingbar. Eine enge und verlässliche Kooperation mit Fachärzten, Kliniken und anderen Hilfeeinrichtungen schafft ein Netzwerk der Unterstützung über die Grenzen und Möglichkeiten der einzelnen Beratungsstelle oder Einrichtung hinaus.

    Eingliederungsmaßnahmen von Anfang an

    Die Erfahrungen der Condrobs-Einrichtungen zeigen, dass der Konsum von Suchtmitteln mit fortschreitender, gelingender Integration und Teilhabe abnimmt. Je besser die Integration gelingt und je schneller Integration und Teilhabe ermöglicht werden, desto weniger Sucht- und auch andere Komplikationen sind bei den Migrant*innen zu erwarten. Daher sind umfassende Eingliederungsmaßnahmen und frühe Hilfen bereits bei der Ankunft im neuen Land wichtig, um eine Suchtentwicklung zu verhindern.

    Die Realität sieht anders aus: Erst für Leistungsberechtigte, die sich mindestens 15 Monate im Bundesgebiet aufhalten, gelten die Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) in Bezug auf Eingliederungsleistungen. Flüchtlinge, die noch nicht so lange in Deutschland sind, erhalten dagegen nur bei akuten Erkrankungen oder Schmerzzuständen Hilfe. Dies führt zu vielen Problemen, denn Psychotherapien für traumatisierte Flüchtlinge und Suchthilfeleistungen werden verweigert, da sie nicht als akute Erkrankung gelten.

    Fazit

    Geflüchtete kommen bereits an in den Einrichtungen der Suchthilfe. Die Zahl der Traumatisierungen in den Condrobs-Einrichtungen ist höher als erwartet, der Suchtmittelkonsum war ursprünglich so hoch wie erwartet, mittlerweile ist er jedoch höher wegen teilweise schwieriger Perspektiven, Behandlungsbarrieren, Sprachbarrieren, mangelnder Integration sowie mangelnder Traumabehandlungs- und Psychotherapiemöglichkeiten.

    Aus den Erfahrungen in den Condrobs-Einrichtungen lassen sich folgende Forderungen ableiten, um den Unterstützungsbedarf geflüchteter Menschen in Bezug auf ihre psychische Gesundheit abzudecken:

    1. Geflüchteten Menschen bzw. Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollen vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an Eingliederungsleistungen gemäß §§ 53 ff. SGB XII in Verbindung mit SGB IX offenstehen.
    1. Der Bedarf an Suchthilfeleistungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII für Geflüchtete ist hoch. Diese Leistungen müssen von Beginn an gewährt werden.
    1. Es müssen genügend spezialisierte Hilfen für Menschen mit Fluchthintergrund zur Verfügung gestellt werden, insbesondere Traumatherapie-Angebote. Traumata müssen als akute Gesundheitsprobleme anerkannt werden.
    1. Beschäftigte in Unterstützungssystemen müssen Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund umfassend beraten und unterstützen können, damit diese die geeigneten Hilfen in Anspruch nehmen können.
    1. Gesundheitsbezogene Hilfeangebote inklusive der Suchthilfe brauchen Zugang zu ausreichend kulturspezifischen Dolmetscherinnen und Dolmetschern.
    1. Beschäftigte in Unterstützungssystemen müssen vor allem im Hinblick auf die Ausnahmen, die das Asylbewerberleistungsgesetz oder kommunale Bestimmungen zulassen, umfassend geschult werden. Nur so können sie geflüchtete Menschen optimal unterstützen. Zudem brauchen die Beschäftigten und die Ehrenamtlichen Hintergrundwissen zum Umgang mit Krankheiten, Traumata und Suchtmitteln in den jeweiligen Herkunftsländern, um einschätzen zu können, wie hoch der Hilfebedarf ist und welche Art von Hilfe die richtige ist.
    1. In Bezug auf Geflüchtete und Suchtmittelkonsum sind spezielle Präventionsangebote wichtig. Frühe Hilfen sind wichtig, um eine Chronifizierung zu vermeiden.

    Die Mitarbeitenden in der Suchthilfe müssen sich darauf einstellen, dass der Anteil der Menschen mit Fluchthintergrund steigen wird. Daher werden Therapeut*innen mit entsprechenden Sprachkenntnissen oder Behandlungsmöglichkeiten unter Einbezug von Dolmetscher*innen sowie traumatherapeutisch ausgebildetes Personal und weiteres interkulturelles Know-how dringend benötigt. Zudem ist Suchthilfe mit Geflüchteten zeitintensiver. Sie ist nicht einfach zusätzlich zu bewältigen.

    Wichtig sind eine schnelle Integration und Teilhabe – je besser die Integration gelingt, umso weniger Sucht- und auch andere Probleme sind zu erwarten. 

    Kontakt:

    Eva Egartner
    Condrobs e.V.
    Heßstraße 134
    80797 München
    eva.egartner@condrobs.de 

    Angaben zu den Autorinnen:

    Eva Egartner ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin DGSv. Sie ist Geschäftsführende Vorsitzende des Condrobs e.V., München.
    Beate Zornig-Jelen ist Kommunikationswissenschaftlerin M.A.

    Literatur:
    • Ameskamp, D., Kuhlmann, T., Leicht, A., Meyer-Thompson, H.-G., Quellhorst, S., Tretter, F., Wessel, T.: Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit. Die Hürden zur Behandlung, Text anlässlich des Treffens zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – eine Herausforderung auch für die Sucht- und Drogenpolitik?“, Berlin, München, Bergisch-Gladbach, Hamburg, 22. Juni 2016
    • Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin 2005
    • Czycholl, D.: Flucht und Migration – Zahlen, Fakten und Gedanken, Vortrag, 25. Paritätisches Fachgespräch Suchthilfe des fdr, Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V., Berlin 2016, S. 23-40
    • Czycholl, D.: Integration heißt Erneuerung: Beiträge zu Migration und Sucht, Pabst Science Publishers, Lengerich 2017
    • Ethno-Medizinisches Zentrum e.V. (Hrsg.): Gewaltschutz für Frauen in Deutschland – Ratgeber für geflüchtete Frauen, Migrantinnen und Jugendliche, Hannover 2016
    • Europäisches Parlament: Bericht über die Lage weiblicher Flüchtlinge und Asylsuchender in der EU (2015/2325(INI)), Berichterstatterin: Mary Honeyball, 10.02.2016
    • European Parliament, Policy Department C: Reception of female refugees and asylum seekers in the EU, Case study Germany, Study for the Femm Committee, 2016
    • Kimil, A., Salman, R.: Migration und Sucht, in: Hegemann, T., Salman, R., Handbuch Transkulturelle Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010, S. 368-382
    • Künzel, J., Steppan, M., Pfeiffer-Gerschel, T.: Klienten mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung, Kurzbericht Nr.1/2013, Deutsche Suchthilfestatistik 2011, IFT Institut für Therapieforschung, München 2013
    • Künzel, J., Specht, S., Dauber, H., Braun, B.: Die Klientel mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung. Kurzbericht Nr.1/2018 – Ergänzung zum Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik 2016 (Thaller et al., 2017), München 2017
    • Michels, I. I.: Migration und Sucht – was sind die gegenwärtigen Herausforderungen für die Sucht- und Dogenpolitik?, www.suchthilfe.koeln/download/psag_ak/Migration_und_Sucht_-_Herausforderung_der_Suchthilfe_Februar_2016.pdf, Februar 2016
    • Salman, R.: Gesunde Integration: Interkulturelle Suchthilfe als Beitrag zur Integration, Tagungstext (Institut Suchtprävention, Linz), 2008
    • Salman R., Tuna. S., Lessing, A. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Suchthilfe. Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Psychosozial Verlag, Gießen 1999
    • Sánchez Dionis, M., Timar, M., Domscheit-Berg, A.: Geflüchtete Frauen und Mädchen vor Gewalt schützen, World Future Council, 2016
    • Thaller, R., Specht, S., Künzel, J., Braun, B.: Suchthilfe in Deutschland, Jahresbericht der deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), IFT Institut für Therapieforschung, München 2017
    • Tretter, F., Arnold, M.: Dokumentation BAS e.V. Workshop Suchtprobleme bei Flüchtlingen, München, 03.03.2016, Bayerische Akademie für Suchtfragen e.V., München 2016
    • UNHCR, Global Report 2016
  • „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    Marcus Breuer

    Die Frage nach der so genannten Haltequote (d. h. nach dem Anteil derjenigen Rehabilitanden, die eine Rehabilitationsbehandlung planmäßig beenden) ist eine, wenn nicht sogar die zentrale Frage in der stationären Drogenrehabilitation. Erstaunlicherweise gibt es kaum empirische Forschung zu diesem Thema. Im Rahmen eines mehrmonatigen Projektes haben die Ordenswerke des Deutschen Ordens versucht, hierzu weitere Erkenntnisse zu sammeln. Der Autor dieses Artikels war von Januar bis April 2017 damit beauftragt, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

    Das Haltequotenprojekt sollte folgende Fragestellungen bearbeiten:

    1. Analyse der Haltequoten in den zehn Drogenfachkliniken (Reha) im Bereich Suchthilfe der Ordenswerke des Deutschen Ordens
    2. Identifikation möglicher Einflussfaktoren auf die jeweilige Haltequote
    3. Möglichst Generierung von Vorschlägen für Maßnahmen zur Verbesserung der Haltequote in ausgewählten Einrichtungen

    Folgende Umsetzungsschritte und Methoden wurden angewandt:

    1. Literaturrecherche
    2. Analyse ausgewählter Qualitätsindikatoren bzw. möglicher Einflussfaktoren auf die Haltequoten in den betrachteten Einrichtungen
    3. Erstellung eines strukturierten Interview-Leitfadens und Durchführung von Interviews mit den einzelnen Klinikleiter/innen sowie Stellvertreter/innen
    4. Vor-Ort-Besuch ausgewählter Einrichtungen
    5. Erstellung eines internen Abschlussberichtes

    Ergebnisse der Literaturrecherche

    Wie bereits erwähnt, existiert derzeit kaum Forschung zum Thema „Haltequoten in der Drogenrehabilitation“.  Die wenigen Studien, die vorliegen, wurden zunächst ausgewertet.

    Patientenmerkmale

    Wenn man sich mit den unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Haltequoten in der Suchttherapie befasst, stellt man zunächst fest, dass Patientenmerkmale einen wesentlichen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben (Abbildung 1).

    Abb. 1

    Der Einfluss der Patientenmerkmale ist als Ausdruck von Patientenselektion zu verstehen, das heißt:

    1. unterschiedliche Settings behandeln unterschiedliche Patientengruppen,
    2. innerhalb eines gegebenen Settings kann man diesen Faktor als Behandler nicht direkt beeinflussen bzw. nur durch eine zukünftig veränderte Selektion im jeweiligen Setting.

    Um die Haltequote durch therapeutisches Vorgehen zu beeinflussen und zu verbessern, interessieren daher andere Einflussfaktoren als die Patientenselektion.

    Patientenzufriedenheit

    Mit irregulären Beendigungen von Drogen-Rehabilitationsbehandlungen beschäftigt sich eine Studie des IFT München (Küfner et al., 1994). Die Autoren finden folgende Gründe für Abbruchgedanken bzw. für den Verbleib in der Einrichtung:

    Gründe für Abbruchgedanken:

    1. Unzufriedenheit mit der Einrichtung
    2. Verzweiflung und Unbehagen
    3. Probleme im Therapieprozess
    4. Mitklient/innen und deren Abbruch

    Gründe für den Verbleib:

    1. Hoffnung und Nachdenken
    2. Bindung an die Einrichtung
    3. Schutzfunktion der Therapie

    Diese Aspekte nannten drogenabhängige Klienten in stationärer Behandlung als Antworten auf die Fragen, welche Gründe sie einerseits zum Infragestellen der Fortsetzung der Behandlung und andererseits zum Verbleib in der Behandlung bewogen haben.

    Therapeutisch ist es also sinnvoll, die Gründe für Abbruchgedanken in den Blick zu nehmen und möglichst zu minimieren sowie die Gründe für den Verbleib in der Rehabilitationsbehandlung möglichst zu betonen und zu stärken.

    In einer weiteren Publikation fassen Küfner et al. (2016) folgende Hinweise zur Reduzierung von Therapieabbrüchen zusammen:

    • Abbruchgedanken sind so häufig, dass dieses Thema präventiv angesprochen werden sollte.
    • Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut/in und Patient/in ist von Bedeutung, aber schwierig zu beeinflussen.
    • Erlebnispädagogische Maßnahmen stärken die Bindung an die Einrichtung.
    • Strenge Regeln und Sanktionen führen zu einem häufigeren Therapieabbruch.

    Wenn man sich nun im Rahmen von Untersuchungen zur Patientenzufriedenheit möglichst vorurteilsfrei mit kritischen Beurteilungen von Rehabilitand/innen auseinandersetzt, ergeben sich als häufigste Nennungen (dichotomisiert nach einer 6-stufigen Skala; mod. n. Küfner, 2008):

    Mit „stimmt überwiegend“ beurteilt:

    • Regeln wurden stur gehandhabt: 72,2%
    • Wurde unfreiwillig zu Sachen gedrängt: 57,4%
    • War für mich nicht die richtige Einrichtung: 40,7%
    • Kann nicht profitieren von Therapie: 35,2%
    • Belastung durch Probleme anderer Patienten: 33,3%

    Mit „eher unzufrieden mit“ beurteilt:

    • Großgruppe 48,1% (andere Aussagen wurden nur zu 14,8% bis 27,8% mit „eher unzufrieden“ beurteilt)

    Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass die Handhabung von Regeln ein wichtiger Faktor für Therapieabbrüche ist. Die therapeutische Einzelarbeit wird im Vergleich zur Gruppenarbeit unterschätzt. Einschränkend ist anzumerken, dass dies den Stand von 2008 darstellt, es gibt keine neueren Daten! Seitdem hat es in den beiden Bereichen „Regeln“ bzw. „Großgruppen“ in den Einrichtungen wesentliche Veränderungen (Verbesserungen) gegeben. Weitere Folgerungen für die Optimierung von Suchttherapien sind (mod. n. Küfner, 2016):

    • Die Thematisierung negativer Folgen des Drogenkonsums ist wichtig, vor allem für psychoedukative Ansätze.
    • Soziale Beziehungen zu Personen ohne Drogenkonsum sind von erheblicher Bedeutung.
    • Die subjektive Belastung durch andere Drogenabhängige (in der Klinik) sollte ernst genommen werden. Dies spricht für eine Verstärkung von Einzeltherapien!
    • Der Abbau von Barrieren in der Vorbereitung auf psychosoziale Interventionen bedarf einer systematischen Verbesserung. Besprochen werden sollten Stigmatisierung, negative Therapieerfahrungen und generelle Vorbehalte gegenüber psychosozialen Therapien wie Misstrauen, die Befürchtung, die eigene Autonomie zu verlieren, Angst vor dem Verlust des eigenen Lebensstils und der bisherigen Freunde.

    Bei einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema lässt sich ein Spannungsfeld zwischen einer sach- bzw. fachgerechten Behandlung einerseits und dem Dienstleistungsaspekt der Leistungserbringung in der Rehabilitation andererseits feststellen.

    Komorbide Erkrankungen (Doppeldiagnosen)

    Ein wesentlicher Aspekt bei der Behandlung Drogenabhängiger ist das Vorkommen von und der therapeutische Umgang mit komorbiden Erkrankungen, d. h. es liegen – neben der Suchterkrankung – eine oder auch mehrere weitere psychische Erkrankungen vor. Aus der Beurteilung des Behandlungsbedarfs wissen wir (mod. n. Küfner, 2016):

    • Etwa 60 bis 70% der Opioidabhängigen und der substituierten Drogenabhängigen weisen eine komorbide Störung auf.
    • Besonders häufig sind Angststörungen und affektive Störungen. Unter den Persönlichkeitsstörungen fällt die Häufigkeit von antisozialen Persönlichkeitsstörungen auf.
    • Ein beträchtlicher Teil der komorbiden Störungen ist zeitlich vor der Suchtstörung entstanden. Dies kann als Hinweis auf die notwendige Behandlung sowohl der Sucht als auch der komorbiden Störung betrachtet werden.
    • Neben den Klassifikationsebenen I und II (Persönlichkeitsstörungen) der ICD-10 müssen die sozialen und psychosozialen Problembereiche mitbetrachtet werden.
    • Dieser Behandlungsbedarf gilt auch für die substitutionsgestützte Therapie
      (s. Ergebnisse der PREMOS Studie, Wittchen et al., 2007).

    Der Aspekt der komorbiden psychischen Erkrankungen und deren Berücksichtigung in der Behandlung spielt im Zusammenhang mit der Frage nach der Haltequote aus mehreren Gründen eine Rolle. Zum einen gibt es Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Personen mit komorbiden psychischen Erkrankungen grundsätzlich eine schlechtere Prognose haben. Zum anderen ist es unmittelbar plausibel, dass sich diese Personen die Bearbeitung aller ihrer Probleme von einer Behandlung erwarten. Die Enttäuschung dieser Erwartung könnte zu einer Häufung von Behandlungsabbrüchen führen. Schließlich gibt es empirische Hinweise darauf, dass diese tendenziell schlechtere Prognose durch einen erhöhten Behandlungsaufwand kompensiert werden kann.

    Im Hinblick auf die Haltequote und eine erfolgreiche Behandlung gibt es noch einige zusätzlich zu berücksichtigende Aspekte, die den Rahmen dieses Artikels hier sprengen würden. Dies sind vor allem:

    • die Häufigkeit von Rückfällen und der Umgang mit Rückfällen seitens der behandelnden Klinik sowie
    • unterschiedliche Klinikstrategien im Umgang mit individuellem Fehlverhalten und Regelverstößen.

    Eigene Beobachtungen und Ergebnisse aus Kliniken des Deutschen Ordens

    Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Haltequotenprojekts standen eigene Zahlenerhebungen bzw. Zahlenzusammenstellungen sowie die Durchführung strukturierter Interviews und deren Auswertung.

    Die nachfolgend dargestellten Zahlen stammen aus zehn Drogenrehabilitationskliniken der Ordenswerke des Deutschen Ordens. Aus Gründen der Diskretion und Vertraulichkeit wurden die Einrichtungen anonymisiert. Betrachtet wurden alle im Zeitraum von 01.01.2014 bis 31.12.2016 in diesen zehn Kliniken behandelten Patienten (n=4.223). Diese Stichprobe wurde einer ausführlichen Datenanalyse unterzogen. Hierzu hatte der Autor Zugang zu sämtlichen Daten, so wie sie in den Rehakliniken mit dem Patientenverwaltungsprogramm „Patfak“ erfasst worden waren. Ein zweiter Weg, Daten zu erheben und auszuwerten, bestand in der Durchführung von strukturierten klinischen Interviews mit jeweils zwei Leitungsvertretern aus den betrachteten Einrichtungen. Hierzu wurde ein eigener mehrseitiger Interview-Leitfaden entwickelt. Die Ergebnisse wurden qualitativ ausgewertet. Dieser zweite Teil beinhaltet daher durchaus auch subjektive Interpretationsanteile.

    Die Abbildungen 2 und 3 zeigen die Ergebnisse der Datenanalyse. Diese Zahlen zur Haltequote und zu den irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu interpretieren! Sie wurden neu errechnet und sind NICHT mit Zahlen und Quoten vergleichbar, wie sie z. B. im Patientenverwaltungsprogramm ausgegeben werden. So wurden hier sämtliche Beendigungen mit der Entlassform „vorzeitig auf ärztliche Veranlassung“ nicht zu den planmäßigen Beendigungen gezählt bzw. nicht als solche bewertet. Grund hierfür ist die sehr unterschiedliche Handhabung dieser Entlassform in den verschiedenen Rehakliniken, die einen Vergleich unmöglich gemacht hätte. Die hier betrachtete „Haltequote-kons“ (für Haltequote, konservativ) beinhaltet ausschließlich die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“.

    Auch die „30-Tage-irreg-Quote“ ist nicht mit einer ähnlichen Variable im Patientenverwaltungsprogramm vergleichbar. Die hier aufgeführte „30-Tage-irreg-Quote“ misst den prozentualen Anteil der irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen des Aufenthaltes im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Entlassungen in einem betrachteten Zeitraum.

    Abb. 2
    Abb. 3

    Erklärung der Variablen in Abbildung 3:
    Der Zusatz „ZR“ meint jeweils „Zeitraum“, d. h. die Quote bezogen auf die einzelnen Halbjahre
    „Haltequote-kons“: beinhaltet nur die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“
    „Spannweite ZR-Haltequote-kons“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum
    „ZR-30-Tage-irreg-Q“: der prozentuale Anteil an irregulären Beendigungen in einem betrachteten Halbjahr gemessen an allen Beendigungen im gleichen Zeitraum
    „Spannweite ZR-30-Tage-irreg-Q“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum

    Die Ergebnisse in Abbildung 2 und 3 zeigen: Die Einrichtungen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die betrachteten Kliniken zwar alle im Bereich der Drogenrehabilitation tätig sind, innerhalb dieses Feldes jedoch z. T. recht unterschiedliche Patientengruppen behandeln, d. h., es wurden teilweise „Äpfel mit Birnen“ verglichen. Deshalb sollte die Interpretation der Zahlen äußerst vorsichtig erfolgen, ebenso ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Patentrezepte für die Verbesserung der Haltequote gibt es (leider) keine. Konkretere Aussagen, die aus diesen Zahlen abgeleitet werden können, lauten:

    1. Die Haltequoten der betrachteten Einrichtungen unterscheiden sich z. T. erheblich.
    2. Dies ist nur teilweise Ausdruck von unterschiedlicher Klientel (Patientenselektion).
    3. Einrichtungen, deren Zahlen im zeitlichen Verlauf stärker schwanken, sind entweder grundsätzlich instabiler (d. h. geringere Schwankungen im zeitlichen Verlauf sind besser) oder aber einzelne Einrichtungen sind/waren zwischenzeitlich von Sondereffekten betroffen (zwei Einrichtungen).
    4. Die Haltequote innerhalb der jeweils ersten 30 Tage einer Rehabilitationsbehandlung ist zentral für die generelle Haltequote einer Einrichtung („Was am Anfang verloren geht, kann man später nicht mehr aufholen“).

    Beim Versuch, sich etwas genauer mit den Effekten hinter diesen Zahlen zu befassen, ergeben sich Hinweise auf wahrscheinliche Einflussfaktoren auf die Haltequote. Auch wenn im Rahmen des Haltequotenprojekts keine Ressourcen für eine aufwändige Pfadanalyse oder eine Faktorenanalyse zur statistischen Quantifizierung der jeweiligen Einflussfaktoren vorhanden waren, so lassen sie sich hier zumindest auflisten wie folgt.

    Mögliche Einflussfaktoren auf die Haltequote

    Etwas zugespitzt könnte man festhalten: „Alles hat einen Einfluss!“. Die Ergebnisse der Datenanalyse und der klinischen Interviews weisen darauf hin, dass folgende Faktoren die Haltequote beeinflussen:

    • 30-Tage-irreg Quote: Irreguläre Verluste in den ersten 30 Tagen der Reha wirken sich negativ auf die Gesamt-Haltequote aus.
    • Anzahl der „vom Setting abgestoßenen“ Rehabilitanden: Diese Gruppengröße dient als indirektes Maß für die Güte der Adhäsion des Settings. Dies betrifft die Aspekte Kundenfreundlichkeit sowie Bindungsgestaltung.
    • Stimmigkeit des Settings (innere Konsistenz): Passen die einzelnen Behandlungselemente gut zueinander?
    • Anzahl der Rückfälle im Setting: Die Anzahl dient als (sehr indirektes) Maß für das „Chaos im Setting“ bzw. die vorhandene Setting-Kontrolle.
    • Qualität des „Umgangs mit Fehlverhaltens“ im Setting: Werden viele Patienten disziplinarisch entlassen und wenn ja, die ‚richtigen‘? Existieren angemessene Strategien, um nicht ‚unnötig‘ Patienten zu entlassen?

    Darüber hinaus spielen noch die Bereiche Patientenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit eine Rolle. Weil deren Einfluss sich jedoch nicht eindeutig in eine bestimmte Richtung auswirkt wie bei den oben genannten Faktoren, werden sie hier als „Ja, aber“-Einflussfaktoren auf die Haltequote bezeichnet.

    Die Patientenzufriedenheit hat natürlich einen Einfluss. Relevant ist v. a. die Patientenzufriedenheit der (späteren) Abbrecher, diese lässt sich allerdings kaum erheben. Wenn Querschnittsbefragungen durchgeführt werden (wie dies der Deutschen Orden regelmäßig tut), muss berücksichtigt werden, dass es zu einer recht zufälligen Stichprobenauswahl kommt und die Ergebnisse einer tagesaktuellen Beeinflussung unterliegen (Stichwort: Re-Test-Reliabilität). In Längsschnittbefragungen wie bei der deQus-Patientenbefragung ergibt sich ein anderes Problem: Es werden zwar gute Items abgefragt, aber es gibt hierbei einen Selektionseffekt, denn es werden nur planmäßige Beender befragt.

    Die Mitarbeiterzufriedenheit hat natürlich ebenfalls einen Einfluss auf die Haltequote. Die Interpretation von Befragungen zur Mitarbeiterzufriedenheit ist jedoch keineswegs linear und einfach. So gibt es z.B. auch Teams, die vollauf mit sich selbst zufrieden und beschäftigt sind, was sich nicht nur positiv auf die Patienten auswirkt.

    Hinweise für die Setting-Gestaltung

    Bei der Setting-Gestaltung geht es wesentlich um Bindung.  Die Maxime könnte sein: „Schaffe kein Setting, in dem du nicht selbst (gern) Patient sein möchtest.“ In der Zusammenschau aller hier betrachteten Faktoren ergeben sich folgende notwendige Grundprinzipien für sinnvolle Setting-Gestaltung (Breuer, 2017):

    • TSB – Teamorientierte stationäre Behandlung (F. Urbaniok)
    • Berücksichtigung der Anreizbedingungen im Setting (Kontingenz)
    • Bindung (K.-H. Brisch)
    • Transparenz und Berechenbarkeit
    • Nach-Erziehung
    • Waage: Akzeptanz vs Veränderung (analog DBT, M. Linehan)
    • Motivational Interviewing (Miller & Rollnick)
    • Gestaffelte Konsequenzen für Fehlverhalten
    • Perspektivübernahme seitens der Therapeuten bei der Detailausgestaltung des Settings → das Setting soll in sich stimmig sein

    Für die Zukunft gilt es, die verschiedenen, hier aufgeführten Faktoren zu den Themen „Haltequote“ sowie „Setting-Gestaltung“ in den Fachkliniken der Drogenrehabilitation möglichst umfassend zu berücksichtigen und zu implementieren.

     Literaturhinweise beim Verfasser

    Kontakt:

    Dipl.-Psych. Marcus Breuer
    Psychologischer Psychotherapeut
    Klinikleitung
    Würmtalklinik Gräfelfing
    Josef-Schöfer-Str. 3
    82166 Gräfelfing
    marcus.breuer@deutscher-orden.de

    Angaben zum Autor:

    Marcus Breuer, Dipl.-Psych. (PP), ist Leiter der Würmtalklinik Gräfelfing und des Adaptionshauses Kieferngarten, München.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Sucht und Sexualität

    Sucht und Sexualität

    Joachim J. Jösch

    Sexualität ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen. Sie ist für jeden mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden. Sie ist geprägt von Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft und dem Lebensumfeld, in dem jemand aufwächst und lebt. Vater und Mutter sind die frühesten und wichtigsten Bindungspersonen eines Kindes. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind legt die Grundlagen für die Bindungsfähigkeit und beeinflusst das spätere (Beziehungs-)Leben. Kinder brauchen gute Vorbilder, um später selbst erfolgreich Bindungen eingehen zu können.

    Im Fachkrankenhaus Vielbach, einer Rehaklinik zur Behandlung alkohol- und medikamentenabhängiger Männer, wurde im Rahmen einer Klausur zur Weiterentwicklung der Behandlungskonzeption deutlich, dass dem wichtigen Lebensbereich der Sexualität bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es wurde beschlossen, die Rehabilitanden zu dem Thema zu befragen und die Behandlungsangebote entsprechend der Ergebnisse zu verändern. In diesem Artikel soll beschrieben werden, wie das Thema Liebe und Sexualität im Fachkrankenhaus Vielbach Einzug gehalten hat und welche Aktivitäten sich daraus entwickelt haben – ein Praxis- und Erfahrungsbericht, der eine neue Perspektive in der Behandlung von Suchtkranken aufzeigen möchte.

    Mehr als jeder zweite der Vielbacher Rehabilitanden ist nicht durchgehend mit seinen leiblichen Eltern aufgewachsen. Bald jeder zweite, der mit seinem Vater (zumindest zeitweise) aufgewachsen ist, glaubt nicht, dass er von ihm geachtet und geliebt wird oder wurde. Die durchgängige und zeitweilige Entbehrung des Vaters und das damit einhergehende Fehlen des männlichen Vorbildes haben im Hinblick auf Beziehungsfähigkeit bei vielen Patienten problematische männliche Rollenbilder entstehen lassen. Dies stellt eine Herausforderung für eine Rehabilitationsbehandlung dar, die Grundlagen für ein gelingendes Leben mit Liebe, Freundschaft und Emotionalität schaffen will.

    Gut 80 Prozent der Vielbacher Rehabilitanden erwartet beim Verlassen der Klinik zunächst ein Leben ohne Partnerin/Partner. Viele Patienten wünschen sich jedoch eine Partnerschaft. Dabei ist abzusehen, dass viele dieser Patienten erhebliche Probleme bei der Realisierung ihres Wunsches haben werden. (Das ist durch die Auswertung der regulären Behandlungsstatistik bekannt.) Dennoch wurde das Thema nur in wenigen Fällen therapeutisch bearbeitet.

    Für eine nachhaltige Stabilisierung der Abstinenz der Patienten spielen Liebe, Sexualität und Partnerschaft eine wichtige Rolle. Die gewünschte Partnerschaft, der Umstand, zu lieben und geliebt zu werden, sowie eine befriedigende Sexualität sind Quellen von Glück und Wohlbefinden, Anerkennung und Selbstwerterleben. Trotzdem waren diese elementaren zwischenmenschlichen Empfindungen und Interaktionen weder als Erfahrung noch als Zukunftskonzept der Rehabilitanden in dieser expliziten Form regelhaft Themen der Suchtbehandlung in Vielbach.

    Ergänzend zu den im Rahmen der Konzept-Klausur erarbeiteten Diskussionsergebnissen und Ideen beschäftigten sich Klinikleitung und therapeutisches Team mit zahlreichen Statements, die Patienten schon 1988 (!) zum Schwerpunktthema „Sexualität in der Suchttherapie“ in der Vielbacher Patientenzeitschrift SuchtGlocke geäußert hatten. Vielfältige Erfahrungen, Sorgen und Wünsche waren dort abgedruckt. Als Basis für konzeptionelle Neuerungen und die Einführung neuer Behandlungselemente waren sie jedoch nicht ausreichend, u. a. weil ihnen die Aktualität fehlte. Die Sichtung der Fachliteratur brachte Leitung und Team auch nicht weiter, da sich 90 Prozent der identifizierten Publikationen auf sexuelle Störungen und deren körperliche und psychische Ursachen beschränkten.

    Was wir unsere Patienten schon immer mal fragen wollten – Die Befragungswelle 2015

    2014 fassten Klinikleitung und therapeutisches Team den Entschluss, die Patienten zum Themenkomplex „Partnerschaft und Sexualität“ zu befragen. Zur Vorbereitung wurden alle Rehabilitanden zu einem Vortrag eingeladen, in dem der Ärztliche Leiter über die Relevanz dieser menschlichen Bedürfnisse für ein zufriedenes Leben informierte. Im zweiten Teil der Veranstaltung warb er bei den Zuhörern dafür, an einer nachfolgenden Befragung zum Thema teilzunehmen. Ziel der Befragung sei es, sowohl die somatische als auch die psychotherapeutische Behandlung stärker an den Bedürfnissen der Patienten im Bereich Liebe und Sexualität auszurichten. Anschließend diskutierten die Patienten ausgiebig über die angebotenen Informationen. Deutlich wurde hier eine große Zustimmung zu der Klinikinitiative, das Thema Sexualität angemessen in das ‚offizielle‘ Therapiegeschehen zu integrieren. Ein Patient formulierte treffend: „Wir haben das immer im Kopf, reden auch untereinander drüber – aber eher nicht mit den Therapeuten.“

    Dass die Patienten großes Interesse an der angekündigten Therapie-Innovation hatten, zeigte sich bei der Befragung. Nur wenige Patienten beteiligten sich nicht. Auf Anonymität, freiwillige Teilnahme und Durchführung außerhalb der Therapiezeiten wurde dabei strikt geachtet.

    Patienten berichten in der SuchtGlocke

    Noch bevor die Auswertung abgeschlossen war, startete die ausschließlich aus Patienten bestehende Redaktion der Klinikzeitung SuchtGlocke (SG) eine eigene Umfrage zu dem Schwerpunktthema „Sucht & Sexualität“. 84 sehr persönliche Beiträge wurden in der SG-Ausgabe Nr. 55 abgedruckt. Die Redaktion entschied sich, den Themenbereich zu vertieften. „Liebe und Geborgenheit“ war das Schwerpunktthema in der nachfolgenden SG-Ausgabe Nr. 56. Hier wurden 51 Beiträge von Mitpatienten und Ehemaligen, die auf die abgedruckten „Sucht & Sexualität“-Beiträge reagiert hatten, zusammengetragen. Folgende Aspekte spielen in den abgedruckten Beiträgen eine wichtige Rolle:

    Sexuelle Störungen

    In ihren Beiträgen zum Thema Sexualität in der SuchtGlocke thematisieren Patienten immer wieder sexuelle Störungen, die sie mit ihrem permanenten Konsum von Alkohol in Verbindung bringen. Einige sprechen sexuelle Versagensängste, Schüchternheit und Unerfahrenheit an. Andere sprechen von Stressreaktionen auf sexuelle Wünsche der Partnerin, die sie überfordern.

    Immer wieder berichten Patienten von exzessivem Alkoholkonsum als Reaktion auf scheinbar nicht lösbare Konflikte in der Partnerschaft. Und davon, wie in der Folge die „gegenseitige Liebe und Wertschätzung gestorben“ seien. Am Ende sei man „mit der Flasche verheiratet“ gewesen. Der tiefe „Wunsch nach Liebe“ sei „ertränkt“ worden. Gegen das Alleinsein nach gescheiterter Beziehung und die damit verbundenen schmerzhaften und deprimierenden Gefühle habe „nur der Konsum von Alkohol und Drogen geholfen“ oder zumindest für Schmerzlinderung gesorgt.

    Triebabfuhr und Gewalt

    Wenn auch die Partnerin abhängigkeitskrank war, habe es kein Korrektiv mehr zum materiellen und gesundheitlichen Scheitern gegeben. Das Leben im Rausch sei zur alltäglichen Normalität geworden. Sexualität habe, wenn überhaupt, auch nur noch im Rausch stattgefunden. Meist eher mechanisch, als sexuelle Triebabfuhr, die aber nicht die gewünschte Befriedigung verschafft habe.

    Meist verbunden mit intensiven Schuld- und Schamgefühlen, bekennen nicht wenige der Schreiber, unter starkem Alkoholeinfluss auch gewalttätig gegenüber ihrer – inzwischen meist ehemaligen – Partnerin geworden zu sein. In einigen Fällen sei aber auch die ebenfalls Suchtmittel konsumierende Partnerin ihnen gegenüber gewalttätig geworden. Keiner der Patienten schreibt davon, dies in der derzeitigen Therapie thematisiert zu haben.

    Gefühle

    In den Patientenbeiträgen wird deutlich, wie schwer es vielen fällt, über ihre Gefühle zu schreiben. Verschiedenste Erfahrungen mit Sexualität werden – zum Teil ausführlich – geschildert. ‚Liebe‘ taucht meist nur als Sehnsucht auf.

    Einige Patienten bedauern das Fehlen von Mitpatientinnen in der Therapie. Vorteile einer Therapie in einer Männerklinik werden jedoch häufiger benannt. „Von Frauen unbeobachtet“, könne man sich unter Männern „echter“ und „authentischer“ verhalten. Dann ginge es auch „ehrlicher“ zu – nicht nur bei den patienteninternen Schilderungen von sexuellen Erfahrungen.

    Pornographie

    Viele Patienten schauen sich während der Zeit ihres Klinikaufenthaltes Pornographie an. Die häufige Erwähnung des Themas lässt auf einen recht hohen Stellenwert schließen. Doch für die meisten ist es offenbar nur eine Notlösung, die bloße Triebabfuhr ohne wirkliche Befriedigung ermöglicht. Durchgängig deutlich wird der dahinter liegende Partnerschaftswunsch vieler Patienten. Ähnlich verhält es sich wohl auch mit wiederholt geschilderten Bordellbesuchen während des Therapieaufenthaltes.

    Masturbation

    Der Konsum von Pornos dient den Patienten meist als sexuell stimulierende Vorlage zur geschlechtlichen Selbstbefriedigung. Das Thema Masturbation taucht in einer Vielzahl von Beiträgen auf. „Tut gut“, „erleichtert“, „Notbehelf“, „besser als nix“, „schales Gefühl danach“, „wie ein kurzer Sonnenschein, der kurz durch dunkle Wolken dringt“ und „ich schäme mich“ sind angeführte Bewertungen.

    Sexuelle Orientierung

    Mehrfach wird angesprochen, wie in der Vielbacher Männerklinik mit nicht-heterosexueller Orientierung umgegangen wird. Aus den Berichten homosexueller Patienten lässt sich schließen, dass diese hinsichtlich der Toleranz, die ihnen ihre heterosexuell orientierten Mitpatienten entgegenbringen, unsicher sind. Wiederholt werden Hemmungen angesprochen, sich während der Therapie zur eigenen Homosexualität zu bekennen. Die Angst davor, nach dem ‚Outen‘ von der eigenen Bezugsgruppe ausgegrenzt zu werden, scheint groß zu sein.

    Für Suchtkranke ist es besonders wichtig, selbstbewusst zu ihrer Sexualität wie auch zu ihrer sexuellen Orientierung stehen zu können. Ein selbstbestimmtes Leben mit sozialer Teilhabe, frei von Sucht, ist nicht vereinbar mit permanenter sexueller Selbstverleugnung. Ein wichtiges Thema für entsprechende neu zu konzipierende Schulungs- und Therapieangebote.

    Die beschriebenen Patientenaussagen machten dem Klinikteam – ergänzend zu den zuvor schon gewonnenen Erkenntnissen – deutlich, wie wichtig eine Einbeziehung der Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft in den Therapieprozess für eine gelingende und nachhaltige Rehabilitation der Patienten ist.

    ‚Normale‘ Wünsche, ‚unnormale‘ Verwirklichungschancen – Die Befragungswelle 2016

    Im Frühjahr 2016 startete die Klinik eine neue Befragungsrunde. An dieser zweiten Befragung nahmen 69 Patienten teil. Zusammen mit den 63 Teilnehmern der ersten Befragung wurde so eine Gesamtteilnehmerzahl von 132 erreicht.

    Der Fragebogen umfasste 64 Fragen. Zwei Psychologie-Studentinnen nahmen anschließend die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials vor. Die Ergebnisse beeindrucken in ihrer Deutlichkeit, auch hinsichtlich der Patientenwünsche und -ängste für die Zeit während und nach der Rehabilitation. Partnerschaft und Sexualität sind für viele Patienten ähnlich wichtig wie Abstinenz. Patienten wollen ‚Teilhabe‘ – auch in sozialen Beziehungen und in Bezug auf Sexualität.

    Hervorzuheben ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit:

    • 80 % der Patienten leben nicht in einer Partnerschaft!
    • 82 % der Partnerlosen wünschen sich eine
    • 85 % der Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein Leben ohne Suchtmittel.
    • 92 % der Patienten ist Sexualität wichtig bis sehr wichtig.

    Weitere aus Kliniksicht interessanteste Ergebnisse sind:

    Sexualleben

    • 72 % der Patienten sind mit ihrem Sexualleben derzeit unzufrieden. 4,4 % sind manchmal zufrieden.
    • 75,8 % der Patienten masturbieren mehrmals in der Woche, 34,8 % täglich.
    • 51,5 % der Patienten haben schon einmal eine Prostituierte aufgesucht.
    • 47,1 % der Patienten haben während der Therapie schon einmal eine Prostituierte aufgesucht oder beabsichtigen dies.
    • 31,8 % der Patienten nutzen häufig bis immer erotische oder pornographische Produkte (Bilder, Filme). 40,9 % geben an, diese manchmal zu nutzen.
    • 25,5 % der Patienten geben an, eine „sexuelle Störung“ zu haben.
    • 62,1 % der Patienten möchten über gesundheitliche Störungen, die negative Auswirkungen auf die männliche Sexualität haben, und deren Behandlung informiert werden.

     Einsatz von Suchtmitteln

    • 47,7 % der Patienten fällt es schwer, ohne vorherigen Konsum von Suchtmitteln eine Frau bzw. einen Mann anzusprechen.
    • 59,6 % der Patienten haben Sex in den letzten Jahren meistens unter dem Einfluss von Suchtmitteln erlebt.
    • 54,8 % der Patienten haben schon einmal Drogen oder ähnliche psychoaktive Substanzen eingesetzt, um ihr erotisches Erleben anzuregen.

    Partnersuche im Internet

    • 53 % der Patienten haben schon einmal überlegt, im Internet auf Partnersuche zu gehen.
    • 36,8 % der Patienten haben mit Partnersuche im Internet schon Erfahrungen gemacht.
    • 65,2 % der Patienten möchten in der Therapie über Partnersuche im Internet (Verfahren, Kosten und Risiken) informiert werden.

    Beziehung zu Klinikmitarbeiter/innen

    • 78 % der Patienten haben schon einmal Gefühle von Verliebtheit in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Keiner von ihnen hat das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.
    • 40,7 % der Patienten haben schon einmal sexuelle Phantasien in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Lediglich 1,5 % von ihnen haben das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.

    Gewalterfahrungen und familiärer Hintergrund

    • 51,6 % der Patienten sind bis zum 18. Lebensjahr nicht durchgehend mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen.
    • 57,4 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene körperliche Gewalt angetan.
    • 28 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene sexuelle Gewalt angetan.

    Feed back

    • 86,4 % der Patienten bewerteten die Befragung als gute Idee.
    • 90 % der Patienten begrüßten es, nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen in Bezug auf Liebe und Sexualität gefragt zu werden. 

    Aus der Befragung geht hervor, dass sich die Patienten bei den Themen sexuelle Gesundheit, Partnersuche und Beziehungsanbahnung Beratung und Hilfe von Seiten der Klinik wünschen. Dem anonym geäußerten übergroßen Wunsch nach Partnerschaft und Sexualität scheint eine große Hilflosigkeit der Patienten hinsichtlich der Realisierung entgegenzustehen. Nicht nur in den therapiefreien Zeiten sind immer wieder Sprüche wie „Wahre Liebe gibt’s nur unter Männern“ und Frauen abwertende Äußerungen zu hören. Dem Umstand, dass ersehntes sexuelles und Liebesglück nicht oder nur schwer erreichbar scheinen, versuchen viele Patienten mittels Rationalisierung und Kompensation zu begegnen.

    Beeindruckend war, wie viele Patienten sich während und nach der Befragung für die Klinikinitiative bedankten. Deutlich wurde, dass die Patienten sich und ihre Interessen wahr- und ernstgenommen fühlen.

    Fachtagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“

    Um die Fachöffentlichkeit für Liebe und Sexualität als Thema in der Suchtbehandlung zu sensibilisieren und die eigenen Aktivitäten vorzustellen, veranstaltete das Fachkrankenhaus Vielbach im September 2016 die Tagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“. Fast 200 Fachkräfte der Suchthilfe aus ganz Deutschland, der Schweiz und Luxemburg diskutierten zusammen mit Experten darüber, wie wichtig gelingende Partnerschaft und erfüllende Sexualität für ein Leben frei von Sucht sind. Es ging u. a. um die Fragen: Wie wirkt es sich auf die Abstinenz aus, wenn sich keine Partnerin/kein Partner findet? Können in einer Suchtrehabilitation die Chancen auf Verwirklichung des Wunsches nach einer Partnerin/einem Partner und entsprechende Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, und wenn ja, wie?

    Die Fachtagung stieß auf sehr großes Interesse. Aus den Diskussionen im Plenum und den Arbeitsgruppen gingen viele Impulse für die therapeutische Praxis hervor.

    „Nicht ohne uns über uns“ – Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung

    In Vielbach diskutieren Klinikleitung und therapeutisches Team über Ergänzungen des Behandlungskonzeptes, die einen sehr privaten Lebensbereich ihrer Rehabilitanden betreffen. Mit der umfangreichen Befragung der Betroffenen entspricht die Klinik dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nicht ohne uns über uns“. Gleichberechtigte soziale Teilhabe von sozial benachteiligten Abhängigkeitskranken setzt Partizipation und konsequente Personenzentrierung auch in der Rehabilitation voraus. Das fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ganz aktuell von den Reha-Trägern. In die Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung, die den Bereich Liebe, Sexualität und Partnerschaft betreffen, werden die Patienten regelmäßig einbezogen.

    Entsprechende neue therapeutische Interventionen werden sukzessive vereinbart und in Therapieplanung und -struktur eingepasst. Die konkrete Umsetzung wird durch Mitarbeitende des therapeutischen Teams vorgenommen. Hier gilt es zu beachten, dass diese Mitarbeitenden eine von ganz persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen geprägte Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität haben. Deshalb sollten für diese Aufgaben besonders geeignete Mitarbeitende ausgewählt werden. Themenspezifische Fort- und Weiterbildungen sind hilfreich. Insbesondere in der Anfangszeit dieser neuen Angebote sollten die Mitarbeitenden bei der Reflexion und Verbesserung ihres therapeutischen Handelns durch Supervision unterstützt werden.

    Angebote der Klinik

    Neue Angebote finden nun im Rahmen von Beratungen, medizinischen Untersuchungen und Behandlungen sowie Schulungen statt. Mit und ohne therapeutische Anleitung tauschen sich Patienten darüber aus, wie sie Liebe, Lust und Leidenschaft in ihrer ‚nassen‘ Zeit erlebt haben. Und sie reden über Freude, Neugier, Unsicherheit und Angst, die sie bei dem Gedanken empfinden, diese intensiven sexuellen Gefühle zukünftig mit klarem Kopf erleben zu wollen.

    Das MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“

    Alle Patienten nehmen jetzt während ihres Reha-Aufenthaltes an dem dreitägigen MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“ teil. An diesen fest im Therapieplan verankerten Tagen werden in verschiedenen Modulen ganz konkrete Themen zum Bereich „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“ bearbeitet, z. B. „Die Sache mit der Liebe“, „Frauen verstehen lernen“, „Was Frauen erwarten“, „Wie präsentiere ich mich?“, „Der erste Kontakt“, „Vorsicht beim Dating“, „Sex und Leistungsdruck“, „Pornos“, „ Fremdgehen“, „Was es für eine dauerhaft gelingende Partnerschaft braucht“ und „Was tun, wenn keine Partnerschaft zustande kommt?“.

    Bevor die Klinik das Angebot „Fit fürs L(i)eben“ einführte, wurden die Inhalte vom therapeutischen Team geclustert. An diesem Prozess waren auch die Patienten beteiligt. Themenauswahl und Schwerpunktsetzung wurden nach der vorgesehenen Evaluierung im Hinblick auf Wirksamkeit und Teilnehmerakzeptanz optimiert. Zentrales Ziel, das die die Klinik mit dem MännerCamp anstrebt, ist die Erweiterung von Handlungsbefähigung und damit die Verbesserung von Verwirklichungschancen hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität für die Rehabilitanden.

    Rolle der Mitarbeiter/innen

    Eine große Zahl an Patienten gibt in der Befragung Gefühle von Liebe und sexuellem Begehren gegenüber Klinikmitarbeiter/innen an. In einer gemischtgeschlechtlichen Klinik wäre diese Zahl vermutlich deutlich geringer. Hier muss die therapeutische Leitung sehr aufmerksam – auch mit supervisorischer Unterstützung – dafür Sorge tragen, dass insbesondere die Bezugstherapeuten professionell mit dieser Thematik umgehen.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von männlichen Therapeuten gilt es, zwischen einem konstruktiven Arbeitsbündnis und unangemessener Solidarität zu differenzieren. Vater-Sohn-Übertragungen, Vermischungen mit eigenen schmerzhaften Erfahrungen mit Frauen sowie eventuell die eigene belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität u. ä. müssen beachtet werden.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von Therapeutinnen gilt es, darauf zu achten, nicht in mögliche Fallen zu geraten wie: die Mutter-Rolle zu übernehmen, Ersatz-Partnerin zu sein, in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten, Beziehungsmuster des Klienten zu Frauen unhinterfragt zu wiederholen oder durch die eigene eventuell belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität beeinflusst zu werden.

    Ärztliche Untersuchung

    Bei der ärztlichen Untersuchung der Patienten wird in Vielbach jetzt darauf geachtet, Fragen nach sexuellen Störungen regelhaft durch einen Arzt, nicht eine Ärztin, zu stellen. Hier gilt es, sich früh zu entscheiden, für welche der festgestellten Störungen welche Therapie (somatisch oder/und psychotherapeutisch) angezeigt ist und welche Störungen während der stationären Rehabilitation oder vielleicht anschließend behandelt werden sollten. Entscheidend sind die Wünsche des von den Klinikmitarbeiter/innen – eventuell auch von Konsiliarärzten – fachlich gut beratenen Patienten.

    Liegt eine entsprechende medizinische Indikation (erektile Dysfunktion) vor, kann Patienten „Viagra“, „Cialis“ o. Ä. verordnet werden. Der Verordnung wird ein Beratungsgespräch zwischen Patient und Bezugstherapeut/in regelhaft vorgeschaltet.

    Psychotherapie

    Traumatisierende Ereignisse, die negativen Einfluss auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit eines Patienten genommen haben, sollen regelhaft im Rahmen der psychotherapeutischen Befunderhebung festgestellt und behandelt werden.

    Neun von zehn Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein suchtmittelfreies Leben. Nicht wenige Patienten machen die/den potenziellen Partner/in quasi für ihr Wohlergehen und damit ihre Abstinenz verantwortlich. Eine solche Einstellung in Gruppen- und Einzeltherapiegesprächen therapeutisch zu bearbeiten, ist lohnenswert. Dieser Prozess unterstützt die Patienten auf ihrem Weg in die Eigenverantwortlichkeit und stärkt ihre Abstinenzfähigkeit.

    Tiergestützter Behandlungsansatz

    Erfahrungen, die in Vielbach im Rahmen des tiergestützten Behandlungsansatzes gesammelt wurden, helfen ebenfalls bei der Umsetzung von therapeutischen Interventionen in diesem Themenbereich. Die Referentin Sonja Darius traf bei der Fachtagung Sucht & Sexualität zur Rolle von Tieren bei der Heilung von Bindungs- und Beziehungsstörungen die Feststellung: „Ohne das Knüpfen neuer, gelingender Beziehungen wird den meist alleinstehenden Patienten nach der Therapie ein Neustart in ein gutes, suchtfreies Leben nur schwer gelingen. Tiergestützte therapeutische Angebote wie im Fachkrankenhaus Vielbach können gute Voraussetzungen für neue, gelingende Beziehungsaufnahmen schaffen und stellen damit einen wertvollen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Suchtrehabilitation dar.“

    Auch die Erfahrungen externer Kolleginnen und Kollegen fließen in die Weiterentwicklung des Vielbacher Konzeptes ein. Im Rahmen verschiedener Suchtkongresse stellt die Klinik ihr Sucht & Sexualität-Projekt vor und diskutiert es mit den Teilnehmenden.

    (Zwischen-)Resümee

    Mit der offenen Thematisierung des privaten Lebensbereiches „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“, der auch in der Therapie angemessen Platz finden soll, hat das Fachkrankenhaus Vielbach unbeabsichtigt ‚Zauberlehrling‘ gespielt. Die Mitarbeiter/innen waren erst erschrocken, dann erstaunt über die vielfältigen klinikinternen wie externen Reaktionen.

    Die Patienten haben der Klinik mit ihren Beiträgen in der SuchtGlocke und ihren Antworten im Rahmen der Befragung einen ‚Schatz’ anvertraut. Sie haben den Mitarbeiter/innen mitgeteilt, was sie in einem sehr intimen Bereich ihres Lebens bewegt. Ihre Erfahrungen und Fragen, ihre Probleme und Ängste, ihre Wünsche und Träume. Leitung und Team der Klinik wollen auf möglichst viele Fragen Antworten geben, Ängste nehmen, Hoffnung stiften und zusammen mit ihnen realistische Zugänge zu gelingender Partnerschaft und Sexualität schaffen.

    Wie weit gehend? Das werden sie zusammen ausprobieren.

    Kontakt:

    Joachim J. Jösch
    Fachkrankenhaus Vielbach
    Nordhofener Str. 1
    56244 Vielbach
    Tel. 02626/9783-25
    joachim.joesch@fachkrankenhaus-vielbach.de

    Angaben zum Autor:

    Joachim J. Jösch leitet das Fachkrankenhaus Vielbach seit 2006. Zusammen mit der stationären Vorsorge „Neue Wege“ und der „Nachsorge Ambulante Integrationshilfe“ bildet das Fachkrankenhaus das Sucht-Hilfe-Zentrum Vielbach.

    Weiterführende Literatur:
    • Fachklinik Bad Tönisstein (Hrsg.) (1993): Bad Tönissteiner Blätter. Beiträge zur Suchtforschung und ‑therapie. Bd. 5, H. 2. Bad Tönisstein
    • Patienten des Fachkrankenhaus Vielbach (2017): Wann ist Mann eine Mann? In: Patientenzeitschrift SuchtGlocke, Jg. 32, H. 57, S. 14-23
    • Robert Koch Institut (Hrsg.) (2014): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Berlin
    • Stiftung Männergesundheit (Hrsg.) (2017): Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht. Gießen

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?

    Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Digitalisierung ist eine Revolution. Sie wird nicht nur die Wirtschaft und die Produktion radikal verändern, sondern auch unsere Kommunikation. Bis auf die Beziehungsebene werden die Auswirkungen spürbar werden. In sehr kurzen Zeitabständen werden immer weitere Innovationen marktreif. Nicht zuletzt wird sich durch die Digitalisierung das Arbeitsleben verändern. Es wird Aufgabe der Politik sein, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Prozess die Gesellschaft nicht in Digitalisierungsgewinner und Digitalisierungsverlierer spaltet.

    Die Digitalisierung ist bereits dabei, zunehmend alle Lebensbereiche zu durchdringen und zu verändern. Bereits heute sehen wir, dass ganze Häuser in kürzester Zeit im 3D-Druck erstellt werden, dass selbstfahrende Autos in Aussicht gestellt sind. Auch im Gesundheitsbereich werden heute Methoden eingesetzt, die vor wenigen Jahren noch nach Science-Fiction geklungen haben. Virtual Reality-Brillen finden erfolgreich Anwendung in der Arbeit mit demenzkranken Menschen oder in der Schmerztherapie. Depressionen werden mit Online-Therapieangeboten behandelt, und das Smartphone hilft bei der Hautkrebsvorsorge. Bewerbungsgespräche werden immer mehr von Chat-Bots und von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboterelementen flankiert.

    Die Dynamik dieser Entwicklungen ist atemberaubend, dabei stehen wir erst am Anfang. Gleichwohl ist die Digitalbranche schon größter Arbeitgeber in Deutschland. Von den fünf wertvollsten Konzernen der Welt sind Anfang 2018 fünf Digitalkonzerne.

    Was kann die Digitalisierung der Suchthilfe und ihren Klient/innen bieten?

    Ratsuchende informieren sich bereits heutzutage immer häufiger im Internet über Angebote, kommunizieren über soziale Netzwerke und suchen online nach seriösen Informationsmöglichkeiten und kompetenter Beratung. Zudem nutzen sie verstärkt mobile Kommunikationskanäle.

    Auch wenn der Bedarf an individueller und qualitativ hochwertiger Beratung von Mensch zu Mensch bleiben wird, wird dennoch die Nachfrage und Akzeptanz gegenüber digitalen Dienstleistungen ansteigen. Die Digitalisierung wird deshalb auch für psychosoziale Dienste das Thema in den nächsten Jahren sein.

    Wenn in der Suchthilfe oder Suchtprävention das Thema Digitalisierung im Mittelpunkt steht, geschieht dies bislang zumeist nur mit dem Fokus auf die Klient/innen. Entweder weil eine mögliche Suchtgefahr durch die exzessive Mediennutzung droht oder weil man die technischen Möglichkeiten als neue Kommunikationskanäle im Kontakt zu Klient/innen betrachtet. Vielfach unbeachtet bleibt, welche Änderungen des Arbeitsfeldes durch die veränderten Angebote entstehen, z. B. dass neue Qualifikationsanforderungen an die Mitarbeiterschaft gestellt werden. Aber auch die anstehenden Veränderungen von Arbeitsabläufen in der Verwaltung und dem Management von Einrichtungen durch diese Entwicklungen, bis hin zu der Frage, wie zukunftsfähig Suchtberatungsstellen, wie wir sie heute kennen, zukünftig noch sind, scheinen mir noch zu wenig im Blickfeld zu sein.

    In der Suchtprävention und Suchthilfe haben sich in den letzten Jahren durchaus Aktivitäten entwickelt, digitale Techniken für das Arbeitsfeld zu nutzen. Im Internet finden sich strukturierte Programme, Apps und Selbsthilfemanuale. Informationsportale für unterschiedliche Zielgruppen geben Menschen Orientierung, bieten anonym und kostenfrei Hilfe, 24 Stunden/7 Tage. In Hamburg wird das komplette Angebot einer Beratungsstelle online vorgehalten. Fortbildungen sparen als Webinare Zeit und Fahrtkosten und vergrößern die Teilhabe an Fortbildungen. Erklärvideos lassen sich schnell in mehreren Sprachvariationen erstellen und kommen einem geänderten Rezeptionsbedürfnis nach.

    Diesen digitalen Solitärangeboten der Suchthilfe steht im ambulanten Bereich eine Praxis gegenüber, in der potentielle Klientinnen und Klienten allerdings hinnehmen müssen,

    • dass viele Homepages von Suchtberatungsstellen kaum mehr als dürftige Informationen über das Angebot, die Mitarbeitenden und ihre Qualifikation bieten,
    • dass ihnen Anfragen per Email nicht angeboten werden,
    • dass zum Notieren der komplexen Öffnungszeiten einer Beratungsstelle laut Text auf dem Anrufbeantworter eine halbe DIN A4-Seite notwendig ist,
    • dass sie lange Anfahrtswege in Kauf nehmen sollen, um Informationen zu erhalten,
    • dass ihnen Gespräche nur zu Zeiten angeboten werden, zu denen sie vielfach arbeiten müssen.

    Solchen Gegebenheiten stehen Wünsche und Bedürfnisse seitens der Klient/innen oder Angehörigen gegenüber, die sich wie folgt skizzieren lassen: schnelle kostenlose Unterstützung, Hilfe soll dann zur Verfügung stehen, wenn es gewünscht wird (24 Stunden/7Tage). Die Inanspruchnahme soll einfach und komfortabel sein, ohne Wartezeiten und Anrufbeantworter …

    Ergänzt werden diese Anforderungen durch Wünsche seitens der (finanziellen) Auftraggeber der Einrichtungen: Die individuellen Problemlagen sollen schnell, effektiv, nachhaltig und kostengünstig verbessert werden, um persönliches Leid und gesellschaftliche Folgekosten zu minimieren bzw. potentielle Problemlagen erst gar nicht entstehen zu lassen.

    Können digitale Assistenzsysteme bei der Bewältigung dieser Anforderungen helfen?

    Es gibt mehrere Gründe, auf der Basis der Erfahrungen, die die Suchthilfe mit den vorhandenen Angeboten bereits gemacht hat, weitere digitale Assistenzsysteme zu entwickeln:

    1. Die aufgezeigten generellen Veränderungen in unserer Umwelt durch digitale Angebote und eine damit einhergehende geänderte Rezeption von Informationen und Unterstützungsleistungen verändern zunehmend auch die Erwartungshaltungen der Klient/innen in Bezug auf Suchthilfeangebote.
    2. Der demographische Wandel führt zu einer Zunahme immobiler Menschen nicht nur im ländlichen Raum. Zusätzlich sorgt die strukturelle Ausdünnung in ländlichen Gebieten auch für eine Reduzierung wohnortnaher Hilfestrukturen.
    3. Digitale Techniken bieten neue Möglichkeiten der Begleitung von Klient/innen. Erfahrungen mit digital gestützten Angeboten in der Nachsorge zeigen, dass diese dazu beitragen können, mit Menschen in kritischen Situationen in Kontakt zu bleiben und Rückfällen vorzubeugen. Der Einsatz digitaler Techniken bietet die Chance, den Anspruch der Suchthilfe, individuell auf Klient/innen einzugehen, weiter auszubauen.

    In Deutschland leben circa zehn Millionen Menschen, die Probleme mit Suchtmitteln haben. Davon erreicht die Suchthilfe mit ihren umfangreichen Angeboten jedoch nur einen einstelligen Prozentsatz. Es ist seit vielen Jahren der ausgesprochene Wunsch der Suchthilfe, mehr Menschen, und diese zu einem früheren Zeitpunkt, mit dem Suchthilfesystem in Kontakt zu bringen. Auch die Politik hat dieses Ziel mit mehreren entsprechenden Modellvorhaben und Forschungsarbeiten unterstützt, ohne dass sich jedoch in der Praxis große positive Veränderungen gezeigt hätten.

    Die Tatsache, dass Suchthilfeangebote nur einen Bruchteil der betroffenen Menschen erreichen, muss Anlass sein, darüber nachzudenken, wie mithilfe digitaler Angebote der Erreichungsgrad erweitert werden könnte. Möglichkeiten der unkomplizierten und niedrigschwelligen Zugänge zum Hilfesystem sind hier primär zu nennen. Diese digitalen Angebote sollten über eine Schnittstelle zur Kontaktaufnahme mit einer professionellen Hilfeeinrichtung verfügen. Der Kontakt kann je nach den Bedürfnissen der/des Betroffenen per E-Mail-Chat, telefonisch oder face-to-face erfolgen.

    Die Erfahrungen zeigen, dass Klient/innen nach wie vor Wert auf den persönlichen Kontakt zu ihrem Berater/ihrer Beraterin oder ihrem Therapeuten/ihrer Therapeutin legen. Allerdings liegen inzwischen bei verschiedenen Krankheitsbildern (z. B. Depressionen) Befunde vor, die auch bei einer ausschließlich online durchgeführten Therapie keine signifikanten Unterschiede bzgl. der Beziehungsqualität im Vergleich zu einer face-to-face-Therapie zeigen.

    Datenschutz

    Die aktuell große Dynamik bei der Entwicklung digitaler Angebote auch im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention erzeugt aufgrund des Anspruchs der Ressourcenschonung und des Verbraucherschutzes einen dringlichen Bedarf nach Systematisierung und Qualitätsbewertung der Angebote.

    Das Thema Datenschutz verdient gerade im sensiblen Bereich der Suchhilfe höchste Beachtung. Die gesetzlichen Vorgaben zur Datensparsamkeit und Datenvermeidung sind auch bei Angeboten der Suchthilfeträger unbedingt zu beachten. Elektronische Kommunikationswege sollten die aktuell sichersten Übertragungsstandards verwenden. Die Diskussion um den Datenschutz darf allerdings nicht dazu missbraucht werden, um Veränderung zu unterbinden.

    Fördermöglichkeiten

    Die Politik hat die enorme Bedeutung des digitalen Wandels erkannt und stellt Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die auch für Suchthilfeträger von Interesse sein können. In Hessen hat z. B. das Sozialministerium zwölf Millionen Euro für innovative E-Health-Projekte in den Haushalt 2018/19 eingestellt.

    Während das Internet per se keine räumlichen Grenzen kennt, existieren diese allerdings in starkem Maße in den gesetzlichen Finanzierungsvorgaben bei Kommunen und Ländern. Diese Herausforderung bedarf eines kreativen Umgangs mit der Finanzierung von internetgestützten Angeboten, die auch von Menschen außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs in Anspruch genommen werden (können).

    Handlungsschritte

    Suchthilfeträger sollten jetzt die Zeit dafür nutzen, sich intensiv mit der Thematik zu beschäftigen, die Mitarbeiterschaft fortzubilden, zu prüfen, inwieweit digitale Assistenzangebote die aktuellen Hilfemöglichkeiten erweitern können, und diese dann mit Hilfe staatlichen Fördermöglichkeiten entwickeln.

    Als erster Schritt in diese Richtung wäre es notwendig, dass sich das Arbeitsfeld den aktuellen Entwicklungen stärker öffnet und verstehen lernt, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“ für das eigene Arbeitsfeld hat. Hierbei könnten die Verbände eine koordinierende Funktion einnehmen und umgehend entsprechenden Fortbildungsangebote anbieten.

    In einem zusätzlichen Qualifizierungsprogramm könnten technikaffine und innovative Mitarbeiter/innen mit Unterstützung der verbandlichen Fortbildungsakademien und Landesstellen für Suchtfragen zu „Digitalen Lotsen“ ausgebildet werden. Die Teilnehmer/innen erhalten dabei einen Überblick über die Digitalisierung im psychosozialen und E-Health-Bereich. Weitere Themen wären z. B. die Klärung von Rechtsfragen und Datenschutzaspekten im Kontext der Digitalisierung. Auch die Kommunikation in internetbasierten Netzwerken wie Foren, Blogs und sozialen Medien sollte Teil der Qualifizierung sein.

    Ihr Wissen und ihre Erfahrungen geben die Digitalen Lotsen als Multiplikatoren zielgerichtet an Kollegen/innen weiter. Praktische Hilfe im Umgang mit den neuen Anwendungsfeldern digitaler Assistenzmöglichkeiten zählt ebenso zu ihren Aufgaben wie das Bestreben, die Motivation für den digitalen Wandel weiter zu stärken. Durch den regelmäßigen Fachaustausch auf Landes- und/oder Bundesebene bauen die Digitalen Lotsen die digitale Fitness der Suchthilfe zum Wohle der Klientinnen und Klienten weiter aus.

    Ausblick

    Die schon angesprochene Dynamik der technischen Entwicklung wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Die Rolle sprachgesteuerter Assistenzsysteme (Amazons Alexa oder Echo von Google) wird stärker, die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) wird ‚Maschinen‘ in die Lage versetzen, eigenständig zu kommunizieren. Der Fortschritt in den Bereichen Virtual Reality und Augmented Reality wird ganz neue Eisatzmöglichkeiten dieser Techniken erschließen.

    Die digitale Revolution ist keine Entwicklung, die man befürworten oder ablehnen kann, sondern ein kultureller Wandel, den es zu gestalten gilt. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass nicht nur etablierte Firmen, sondern ganze Branchen durch die Digitalisierung von einem tiefgreifenden Wandel erfasst werden können. So wird die Taxibranche weltweit durch Unternehmen wie Uber in ihrer Existenz bedroht. Der traditionelle Einzelhandel wird durch Online-Anbieter immer mehr in die Defensive gedrängt und kann nur mit neuen, kundenorientierten Konzepten überleben.

    Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dies resultiert – neben anderen historischen und gesetzlichen Gründen – auch daraus, dass mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld zu verdienen ist. Sollte Letzteres durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreicheren FinTechs in der Finanzwirtschaft) und zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen.

    Ich würde mir wünschen, dass die Suchthilfeträger einer solchen Entwicklung nicht passiv zusehen, sondern möchte sie ermuntern, die fachlichen Kompetenzen der Suchthilfe um digitale Kompetenzen zu erweitern und diese Angebote selbst zur Verfügung zu stellen.

    Den ersten Schritt haben Sie dazu heute mit dem Besuch dieser Veranstaltung gemacht. Dazu auch meinen herzlichen Glückwunsch an den buss. Es ist meines Wissens der erste bundesweite Suchtkongress, der das Thema so prominent aufgreift. Ein gutes und wichtiges – ein notwendiges Signal.

    Herzlichen Dank.

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er rund 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Kontakt:

    W.Schmidt-Rosengarten@t-online.de

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Kulturdrogen – Drogenkultur

    Kulturdrogen – Drogenkultur

    Jost Leune

    Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.

    Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende

    Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).

    Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).

    Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).

    Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)

    Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:

    22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
    23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
    24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)

    Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.

    Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).

    Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)

    500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten

    Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982). 

    1618–1648
    30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.

    1677
    Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.

    1771
    Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).

    1773
    Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.

    1780
    Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.

    1804
    Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.

    19. Jahrhundert
    Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.

    1850
    Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.

    1859/60
    Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.

    1845
    Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.

    1862
    Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.

    1875
    Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges.
    „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)

    1878
    20.000.000 Opiumabhängige in China

    1893
    Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.

    1896
    Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.

    1912
    MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.

    1920er Jahre
    Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.

    1920er Jahre
    In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).

    1926
    Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.

    1926
    Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.

    Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig.
    „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)

    1937
    Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
    Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).

    1938
    Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.

    1940
    Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
    Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.

    1945
    Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

    1949
    Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.

    1953
    Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.

    1954
    In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.

    1954
    Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

    1967
    Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

    1968
    Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.

    Drogen und ihre Kultur

    Alkoholkonsum

    Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1). 

    Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)

    Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).

    Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:

    • 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
    • Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
    • 2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
    • 2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.

    Konsum illegaler Drogen

    An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:

    Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016

    Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich

    Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.

    Alkohol
    Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet. 

    Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017). 

    Amphetamin
    Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed). 

    Barbiturate
    Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol. 

    Cannabis
    Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.

    Kokain
    Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.

    Ketamin
    Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.

    LSD
    LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.

    MDMA
    MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.

    Opiate
    Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend. 

    Psilocybin
    Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.

    Schlussbemerkung

    Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert. 

    „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.

    Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.

    Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)

    Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.

    Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)

    Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.

    Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat.
    Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer 

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

     Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

     Literatur:
    • Amendt, G. (2014), Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Herausgegeben von Andreas Loebell, Rotpunktverlag
    • Amendt, G. (1984), SUCHT – PROFIT – SUCHT, Zweitausendeins Verlag Frankfurt
    • Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (Hg.) (2016), Bericht 2016 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2015/2016), Workbook 3 Drogen. Internet: http://www.dbdd.de/fileadmin/user_upload_dbdd/01_dbdd/PDFs/wb_03_drogen_2016_germany_de_2016.pdf (Zugriff am 23.11.2016)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hg.) (2017), Jahrbuch Sucht 2017, Papst-Verlag Lengerich
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Daten und Fakten. Internet: http://www.dhs.de/datenfakten.html (Zugriff am 11.10.2017)
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hg.) (2017), Alkoholatlas Deutschland 2017. Internet: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf (Zugriff am 19.10.2017)
    • Freistaat Thüringen, Haushaltsplan 2017. Internet: https://www.thueringen.de/th5/tfm/haushalt/aktuell/index.aspx (Zugriff am 16.10.2017)
    • Hecht, M. (2013), Die Stadt, das Bier und der Hass. Der Zusammenhang von Politik und Alkohol in der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus. Vortrag gehalten vor dem 36. fdr-Kongress am 7. Mai 2013 in München. Internet: https://fdr-online.info/wp-content/uploads/file-manager/redakteur/downloads/veranstaltungen/36_fdrkongress/S29-3_Hecht.pdf (Zugriff am 10.09.2017)
    • Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
    • Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
    • Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
    • Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
    • Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa

    In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.

    Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)

    Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).

    Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit

    Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).

    Strategien gegen Stigmatisierung

    Das Stigma-Memorandum

    Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.

    Psychologische Forschung

    Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.

    Öffentlicher Diskurs

    Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.

    Behandlung

    Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen,  Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.

    Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention

    Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.

    Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.

    Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich

    Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:

    Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.

    Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.

    Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.

    Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.

    Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.

    Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.

    Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“

    Partizipative Theaterarbeit

    Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.

    Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
    Kontakt:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa
    Gesundheitsakademie Nord e.V.
    Holstenstraße 68a
    24103 Kiel
    regina.kostrzewa@gesundheitsakademie-nord.de
    www.gesundheitsakademie-nord.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.

    Literatur:
    • Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
    • Bottlender, R. & Möller, H.-J. (2005): Psychische Störungen und ihre sozialen Folgen. In: Gaebel, W., Möller, H.-J.& Rössler, W. (Hrsg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart: Kohlhammer. S. 7-17.
    • Brooks, M./Kay-Lambkin, F./Bowman, J./Childs, S. (2012): Self-Compassion Amongst Clients with Problematic Alcohol Use. Springer Science Media, DOI 10.1007/s12671-012-0106-5.
    • Corrigan, P./Schomerus, G./Shuman, V./Kraus, D./Perlick, D./Hamish, A./Kulesza, M./Kane-Willis, K./Qin, S./Smelson, D. (2016): Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict.
    • Dishion, T. J. (1999): When Interventions harm. Peer Groups and Problem Behavior. In: American Psychologist, 54, 755-764.
    • Finzen, A. (2001): Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen. 2. korrigierte Auflage. Bonn: Psychiatrieverlag.
    • Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). In: Nervenarzt 85, 77 – 87.
    • Schomerus, G. (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? Psychiatrische Praxis, 38, 109 – 110.
    • Schomerus, G./Holzinger, A./Matschinger, H. et al. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiatrische Praxis. DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1223438.
    • Schomerus, G. et al. (2010): Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy. In: Drug and Alcohol Dependence, 1 – 6.
    • Vogt, I. (2017): Nobody’s perfect: Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe zu psychisch Kranken. Ein Überblick über die Forschungsergebnisse. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 49 (2), 307 – 323.
    • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit BAG: Suchtforschung des BAG 1996 – 98, Band 2/4: Prävention, 2 – 13.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    Iris Otto
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

    Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.

    Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.

    Betreuungsplätze und Fallzahlen

    Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.

    Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung

    Betreuungsangebote

    Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.

    Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen

    Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern  (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).

    Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern

    Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:

    • Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
    • Frühförderstelle
    • Kinderarzt oder Kinderklinik
    • Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
    • Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
    • Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
    • Ergotherapie oder Logopädie

    Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).

    Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.

    Personalausstattung

    Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.

    Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.

    Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz

    Finanzierung

    Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)

    Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.

    Ausblick

    Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.

    Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:

    • Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
    • Kindgerechtes Notfallmanagement (Notfallversorgung, Kinder-Reanimationsmaske etc.)
    • Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
    • Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
    • Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
    • Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
    • Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
    • Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt

    Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.

    Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.

    Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen:
    Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.