Humor ist amüsant. Lachen ist Vergnügen. Aber Suchterkrankung und Humor? Passt das überhaupt zusammen? Sucht ist ein multifaktorielles Problem, bei dem Gewohnheiten im Verhalten, die Fähigkeit zur Impulskontrolle, sozialisiertes Verhalten, Problemlösungsstrategien, Vererbung und viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Im Laufe einer Suchterkrankung, z. B. während eines langjährigen Alkoholmissbrauchs, geht oftmals der Humor verloren. Kann seine Reaktivierung die Genesung unterstützen? Einiges spricht dafür: Humor entspannt, kann Schmerzen reduzieren und senkt Stresshormone. Er aktiviert Kreativität bei Problemlösungen und ermöglicht die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen. In der Arbeit mit Suchtkranken kann der Fokus auf Humor eine große Kraftquelle sein – sowohl für die professionellen Helfer/innen als auch für die Patient/innen.
Sozialer und aggressiver Humor
Der Duden definiert Humor als „Fähigkeit und Bereitschaft, auf bestimmte Dinge heiter und gelassen zu reagieren“. Die relativ neue Disziplin der Humorwissenschaft unterscheidet zwischen sozialem Humor und aggressivem Humor. Sozialer Humor beinhaltet einen Perspektivwechsel, ohne dass jemand abgewertet oder beschämt wird. Man kann sich und andere gut dastehen lassen, respektvoll sein, wertschätzend, und dabei Menschen und Situationen liebevoll karikieren.
Ein Arzt lernt einen Patienten mit langjährigem Alkoholabusus kennen. Im Erstanamnesegespräch fragt der Arzt den Patienten, wann er zum letzten Mal Sex hatte. „1945“, sagt der Patient. Der Arzt schaut ihn mitleidig an. Darauf der Patient mit einem Blick auf die Uhr: „Aber es ist doch erst 16:30 Uhr. Also noch gar nicht so lange her.“
Aggressiver Humor geht hingegen häufig mit der Herabsetzung einer Person oder Personengruppe einher, wirkt destruktiv und ist in der Therapie fehl am Platz:
Was ist der Unterschied zwischen einem Tumor und einer Krankenschwester?
Ein Tumor kann auch gutartig sein.
Der Mediziner Paul McGhee (1994) hat ein mehrstufiges Humorprogramm entwickelt, mit dem Menschen ihrem eigenen Humor wieder stärker auf die Spur kommen können. Dieses setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:
Den eigenen Humorstil und persönliche Humorvorlieben entdecken: Wo kann man noch lachen? Wann und wo bekommt man bereits beim Über-die-Schwelle-Treten eine Depression? Ist der eigene Humor verloren gegangen?
Die weiteren Schritte sollen dann zu mehr Selbstfürsorge und täglichem Humorerleben beitragen:
Verstehen, was eine spielerische Einstellung und Haltung zum Leben sein kann, und selbst eine entwickeln
Selbst Optimismus entwickeln, Humor praktisch einsetzen (Witze, lustige Geschichten erzählen)
Humor im Alltag und im eigenen Umfeld finden, die eigene Aufmerksamkeit dafür schulen und humorvolle Betrachtungsweisen erlernen
Über sich selbst lachen, sich selbst nicht so ernst nehmen
Erst die letzten Stufen der Humorarbeit fordern eine heitere Gelassenheit auch in stressigen Alltagssituationen:
Im Stress Humor finden
Die Schritte 1 bis 7 ins eigene Leben integrieren: Humor als Bewältigungs- und Überwindungsstrategie
Humor im Umgang mit Suchtpatienten
Sabine Link hat an der Hochschule Koblenz und der Universität Marburg das Humor-Stufenprogramm von McGhee für die Arbeit in Suchtkliniken angepasst und mit Patient/innen ausprobiert (siehe die Dissertation „Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe“). Insgesamt nahmen 90 Personen aus verschiedenen Einrichtungen der Suchthilfe an der Untersuchung teil (ambulante Nachsorge, medizinische Rehabilitation und qualifizierter Entzug). Sie wurden in zwei Altersklassen eingeteilt. Die Probanden nahmen an einem Humortrainingsprogramm teil. Es fanden Tests zu Beginn der Untersuchung, nach drei Monaten und nach sechs Monaten statt.
Das Ziel der Dissertation war die Untersuchung und Beantwortung der Frage, ob Humor und heitere Gelassenheit eine angezeigte Interventionsmaßnahme in einem suchttherapeutischen Setting sein können. Nach dem Humortraining zeigten die meisten Probanden eine positive Veränderung in ihrem Sinn für Humor, dies führte u. a. zu einer besseren Stressbewältigung. Außerdem nahm die Heiterkeit der Studienteilnehmer im Durchschnitt zu, während Werte wie Ernsthaftigkeit und schlechte Laune abnahmen. Durch die Humor-Interventionen verbesserte sich auch die allgemeine Befindlichkeit der Patient/innen. Das galt für deren Ausgeglichenheit, Gutgestimmtheit, leistungsbezogene Aktiviertheit, Extravertiertheit/Introvertiertheit und Erregtheit. Die Werte für Ängstlichkeit/Traurigkeit und allgemeine Desaktiviertheit sanken hingegen. Generell empfiehlt die Forscherin deswegen, eine Humor-Sensibilisierung in ambulanten und stationären Suchttherapien zu implementieren und eine Humor-Weiterbildung für Fachkräfte in der Suchthilfe einzusetzen. Nicht zuletzt ist sie der Meinung, dass man Humor auch als Teil der Einrichtungskultur etablieren sollte.
Sabine Link: Für Suchtpatienten abgewandeltes Humortraining nach Paul McGhee
Für die Arbeit in Suchtkliniken und in der Suchtberatung lohnt es sich also, den aufwertenden, wertschätzenden Humor und seine Einsatzmöglichkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen. In Gesprächen versuchen Mediziner/innen und Psycholog/innen oft durch das Aktive Zuhören eine wertschätzende Haltung herzustellen. Dabei fasst der Arzt/Therapeut bzw. die Ärztin/Therapeutin in eigenen Worten zusammen, was der Patient/Klient bzw. die Patientin/Klientin gesagt hat.
„Ihrer Meinung nach macht eine Therapie keinen Sinn.“
„Sie sind der Meinung, Ihr Suchtproblem müssen Sie alleine in den Griff kriegen.“
„Ihnen ist Ihre Frau zu raumeinnehmend.“
Kennzeichnend beim Aktiven Zuhören sind die wohlwollende Grundhaltung, die zugewandte Körpersprache und vor allem eine möglichst große Wertfreiheit gegenüber dem Patienten/der Patientin. Gute Erfahrung machen Fachkräfte der Suchtarbeit aber auch damit, das Gesagte ab und an humorvoll zu spiegeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Ton, in dem das Gesagte vorgebracht wird. Er sollte freundlich sein und ein Augenzwinkern hörbar machen.
„Sie halten eine Therapie nach dem Entzug für völligen Blödsinn und absolute Zeitverschwendung.“
„Sie meinen, Ihnen kann auf dieser Welt ohnehin niemand helfen und die Psychotanten hier haben gar keine Ahnung.“
„Für Sie ist Ihre Frau ein dominanter Napoleon.“
Ein Lächeln, ein Grinsen, ein Lachen löst die gespannte Stimmung und kann durchaus helfen, den Patienten/die Patientin zuhörbereit zu machen. Wichtig ist aber, wertschätzenden von abwertendem Humor unterscheiden zu können. Sätze wie „Sie mauern und sind absolut unkooperativ!“ sind destruktiv und verletzend. Es geht in der humorvollen Spiegelung darum, das Offensichtliche zu übertreiben, dabei aber weiterhin interessiert zu bleiben an der Meinung des Gegenübers.
Ein Problem bei Suchterkrankungen ist die hohe Rückfallquote. Eine durchschnittliche Suchterkrankung dauert 20 Jahre. In dieser Zeit kämpfen professionelle Helfer/innen immer wieder um die Aufmerksamkeit der Patient/innen und ihre Bereitschaft zur Veränderung von Gewohnheiten. Humor kann dabei helfen, die Spielregeln in der Klinik zu vermitteln oder Veränderungen anzuregen. Perspektivwechsel helfen bei den eingefahrenen Denkmustern der Patient/innen. Humorvolles Feedback kann zum Beispiel so formuliert werden:
Monatelang hatte sich die Patientin nach Abbruch des Entzugs nicht blicken lassen, auf einen Rückruf wartete man vergeblich. Plötzlich schwebte sie wieder ein, als sei sie gestern erst in der Klinik gewesen, und fragte nach ihren Werten. Statt sich zu ärgern, sagte die Ärztin: „Seit vier Monaten sitze ich hier und warte, dass Sie mir genau diese Frage stellen.“
Spielregeln kann man humorvoll zum Beispiel so vermitteln:
Auf dem Spielplatz eines Cafés hängt ein Schild: „Jedes unbeaufsichtigte Kind erhält von uns ein Eis, einen Liter Cola und einen Hundewelpen.“
„Ah, Sie sind die Trainerin für das Seminar heute?“ „Nein, ich gehöre hier zur Einrichtung.“
Ein Vorteil des Medikaments Humor ist seine schnelle Wirksamkeit. Humor beginnt in erster Linie bei einem selbst. Er ist im Alltag überall zu finden, es reicht, die Augen offen zu halten. In vielen Situationen kann man sich dann entscheiden, ob man sich ärgert – oder lacht. Um seinen eigenen Humor (wieder) zu entdecken, ist es hilfreich, sich z. B. Folgendes zu fragen:
Mit wem lache ich gerne?
Welcher Humor fällt mir leicht?
In welchen Situationen kann ich leicht die Perspektive wechseln?
Wie gut kann ich auch bei einer langjährigen Krankheit noch über mich selbst lachen?
Anschließend kann man versuchen, die Menschen, mit denen man gern lacht, und die Art von Humor, die einem leicht fällt, bewusst zu suchen. Wenn man sich seines Humors bewusst ist, kann man üben, ihn gezielt einzusetzen.
Ein Steg, extra „reserviert“ für Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Personen
Selbst in Grenzsituationen kann Humor manchmal passend sein. Folgende Todesanzeige wurde z. B. im Schweizer Tagesanzeiger veröffentlicht:
Die Anzeige hatte Herr Jacob vor seinem Tod selbst bei der Zeitung hinterlegt.
Humor innerhalb des Mitarbeiterteams
Humor bezieht sich auf uns selbst und auf andere. Humor ist unerwartet und überrascht uns. Humor macht Schmerz erträglich und sich nicht nur über den eigenen Schmerz lustig. Auch professionelle Helfer/innen können davon profitieren, in ihrem Team einen liebevollen Humor zu pflegen und zu regelmäßigem Humor zu ermuntern. Zum Beispiel durch einen wöchentlichen Austausch von Patienten-Anekdoten.
Bei einem Patientengespräch in einer Klinik stellte sich die Psychologin vor. Der Patient verstand „Zoologin“. Er war irritiert, war er sich doch keiner Tierallergie bewusst.
Eine Anekdote, die das ganze Team zum Lachen brachte. Bei dieser Art der Anekdoten kann der Humor auch mal deftiger werden. Er ermöglicht dem Team eine bessere Bewältigung der Arbeitsbelastungen. Wichtig ist die Sensibilität: Patienten-Anekdoten sollten nur in einem geschützten Rahmen erzählt werden.
Humor lässt sich nicht verordnen. Eine humorvolle heitere Stimmung im Team entsteht, wenn es Raum für Anekdoten gibt, wenn es ein Ritual der witzigsten Geschichten geben darf.
Humorvolle Laune steckt an – im Team, die Patient/innen, privat. Therapeut/innen, Ärzte/Ärztinnen und Pflegepersonal können sich und Patient/innen immer wieder mit wertschätzendem Humor zum Perspektivwechsel einladen. Das stärkt Motivation und Durchhaltekraft – sowohl bei Patient/innen als auch bei den Mitarbeiter/innen. Humor ist als Medikament völlig kostenfrei. Man muss es nur passend dosieren. Darüber darf diskutiert werden.
Tipp der Redaktion: Anschauliche und unterhaltsame Beispiele für Humor in einer tragischen Lebenssituation bieten die Filme „Ziemlich beste Freunde“ (2011) und „Lieber leben“ (2017).
Nächste Termine:
Offenes Humortraining für Ärzte und Pflegekräfte aller Fachrichtungen: 16.–17.03.2018 in Leipzig
Infos und Anmeldung: http://www.arztmithumor.de/aerzte/
HumorDialog, 3-Tages-Workshop für Führungskräfte: 20.–22.04.2018 in Würzburg
Infos und Anmeldung: https://www.humordialog.de
Eva Ullmann ist Gründerin und Leiterin des Humorinstituts. Sie arbeitet nach einem Pädagogik- und Medizinstudium seit vielen Jahren als Humoristin, Autorin und Rednerin.
Dr. Kareen Seidler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Pressesprecherin des Instituts. Sie fasst die manchmal komplizierte Humorforschung verständlich zusammen.
Literatur und Buchtipps:
Eva Ullmann und Albrecht Kresse: Humor im Business: Gewinnen mit Witz und Esprit, Berlin: Cornelsen, 2008
Eva Ullmann und Isabel García: Ich rede2: Spontan und humorvoll in täglichen Kommunikationssituationen, Hörbuch
Paul McGhee: How to develop your sense of humour: An 8 step humour development training program, Dubuque, IA: Kendall/Hunt, 1994.
Sabine Link: Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe, Marburg/Lahn 2014, im Internet zugänglich unter: https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2014/0416/ (letzter Zugriff 05.01.2018)
Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema
Stefan Bürkle
Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:
Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?
Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.
Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.
Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:
eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.
Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.
Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung
Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:
Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?
Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.
Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene
Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.
Externe Ansprüche
Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.
Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband
Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“
Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.
Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.
Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.
Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene
Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.
Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik
Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:
Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
Druck zur Arbeitsplatzsicherung
Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter
Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.
Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?
Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).
Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.
Ambulante Rehabilitation Sucht
Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:
Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.
Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.
Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.
Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.
Schlussgedanke
Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.
Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.
Literatur:
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
Frank Schulte-DerneRita HansjürgensUlrike DickenhorstConrad Tönsing
Einleitung
Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).
Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.
Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie
Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)
Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie
Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.
Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.
Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie
Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.
Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.
Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie
Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.
Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.
Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie
Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).
Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.
Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).
Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie
Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.
Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.
Angaben zu den Autoren:
Frank Schulte-Derne
Dipl.-Sozialpädagoge
Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
Vorsitzender der DG-SAS Frank.Schulte-Derne@lwl.org
Rita Hansjürgens
M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
Stellv. Vorsitzende der DG-SAS
Ulrike Dickenhorst
Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
Stellv. Vorsitzende der DG-SAS
Conrad Tönsing
Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.
Literatur:
Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf
Es werden eine Menge therapeutischer Trüffelschweine durch die Dörfer der Behandlungsmethoden getrieben. Achtsamkeit, Schematherapie, traumatherapeutische Einzelmethoden, DBT und eine Fülle weiterer Neuentwicklungen werben um unsere Aufmerksamkeit.
Der klassisch ausgebildete Verhaltenstherapeut bzw. der in einem psychoanalytischen Verfahren bewanderte Heilkundige kennt die beiden gängigen, wissenschaftlich fundierten Richtungen und schätzt die Weiterentwicklungen, wenn sie mit dem theoretischen Hintergrund kompatibel sind oder so gut nachvollziehbar, dass sie in die erprobten Denkmethoden Eingang finden können – wie etwa die Bindungstheorie vom Bowlby in die Psychoanalyse.
Die Ökonomen des Gesundheitssystems liebäugeln mit Mischverfahren, deren einzelne Bestandteile als „evidenzbasiert“ gelten. Hier finden dann „modulgestützte Verfahren mit einem ganzheitlichen Ansatz“, die den Eindruck vermitteln wollen, die Addition verschiedener Techniken führe zum Erfolg, polypragmatische Interessenten. Diese Denkweisen überraschen nicht im Rahmen einer Medizin als Wirtschaftsbereich. Der psychischen Komplexität seelisch bedrängter Menschen werden sie jedoch nicht gerecht, der psychischen Störung schon gar nicht. Seit einiger Zeit taucht nun der Begriff der Spiritualität im Zusammenhang mit Psychotherapie auf. Wieder eine Modeerscheinung? Tatsächlich findet man in den Angeboten verschiedener Kliniken jetzt eine spirituell betonte Psychotherapie. Davon soll aber hier nicht die Rede sein.
Spiritualität ist die Verbindung von Realität und Transzendenz
Sigmund Freud hatte sein Leben lang ein Problem mit der Religion. Deshalb konnte die Psychoanalyse über lange Zeit wenig Zugang zu der Bedeutung von Religiosität und Spiritualität entwickeln. Romain Rolland, ein mit Freud befreundeter Schriftsteller, machte den Begründer der Psychoanalyse darauf aufmerksam, dass er sich der Religiosität im eigentlichen Sinne nicht zugewandt habe: Religion sei ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, des Ozeanischen. Freud konnte eingestehen, dass ihm der Sinn dafür fehlte.
Damit weist der Schriftsteller auf eine Dimension des Ich hin, die über die Grenzen des Nachvollziehbaren hinausgeht. Diese Dimension wird häufig erst in der Depression spürbar, wenn das Sicherheitsgefühl des „zu einem Ganzen Gehörens“ verloren geht. Spiritualität ist die Verbindung von der Realität zur Transzendenz und dem Unerklärbaren am Ende der weltlichen Existenz. Mit philosophischem oder religiösem Inhalt gefüllte Spiritualität führt das Kontinuum des Lebens über die Zeit hinaus.
Spiritualität schafft Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz
In der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung wird die Psychotherapie als Wandlung des Sterblichen in ein Unsterbliches im Menschen bezeichnet. Viktor Frankl formuliert: „Der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße, als er sich von der Transzendenz her versteht. Er ist nur in dem Maße Person, als er von ihr durchtönt wird: durchtönt vom Anruf der Transzendenz, vom Anruf Gottes.“
Spiritualität ist deshalb nicht eine dem Über-Ich zuzuschreibende Komponente, sondern das aus dem Erlebten entstandene Grundgerüst des Selbst mit einem Welt- und Menschenbild, aus dem das Individuum seine Kriterien für die Beurteilung der Welt bezieht. Diese Weltsicht generiert sich aus einer nicht zu ambivalenten Grundhaltung der beziehungskonstanten Bezugspersonen, deren konsistentes Bild von Werden und Sein als umfassende Repräsentanz integriert werden konnte.
Die von Freud beschriebene pathologische Religiosität begegnet uns als sadistisches Introjekt (= ohne echte Identifikation angenommene innere Vorstellung) ebenfalls in unseren Therapien. Häufiger aber finden wir besonders unter den suchtkranken Patienten eine weitgehende Abwesenheit des Gefühls und des Erlebens einer inneren Heimat, die Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz zur Verfügung stellen würde. Hier dominiert oft ein rigides Über-Ich mit polarisierenden Wertungen, in denen die Kategorien der Verantwortlichkeit nur rudimentär, reduziert auf die Frage nach Schuld oder Nichtschuld vorkommen.
Wir finden bei Menschen ohne ethisch nachvollziehbare Weltanschauung häufig das Phänomen, dass sie sich in ihrer frühen Sozialisationen nicht angenommen fühlten. „Der Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut) scheint für die Entwicklung der Spiritualität von Bedeutung zu sein. Ein sicher geerdetes Ich kann die hinter der konkretistischen Weltsicht lebende Transzendenz erkennen und im Jetzt und Hier spüren.
Damit verbunden ist ein erleichterter Zugang zum inneren Erleben über emotional getönte Rituale wie Gebete und Gesang mit Gleichgesinnten. Die Gewissheiten des durch die Integrität geschützten Ich können so erhalten und im Krisenfall geschützt werden. Diese protektive Wirkung der Weltanschauung ist relativ unabhängig von deren Inhalt, wenn dieser nicht durch sadistische Vorbilder geprägt ist. Wichtiger als der Inhalt der Weltanschauung ist die Passform zum individuellen Ich.
Spiritualität im psychotherapeutischen Feld
Für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen ist deshalb die Erkundung spiritueller Reste, welche nicht pathologisiert sind, ein möglicherweise stabilisierender Wert. Für dieses sensible Thema gibt es bereits Hilfen zur Exploration, die sich auf den Erfahrungshintergrund beziehen. Insbesondere Menschen aus Kulturkreisen mit mystischen Vorstellungen haben unerwartete Ressourcen, wenn sie denn entdeckt werden. Der Umgang mit spiritueller Erfahrung bedarf des besonderen Takts, weil viele Menschen befürchten müssen, dass in einer rationalen Welt wie der westlichen transzendente Inhalte ausschließlich belächelt werden.
Die Aufgabe im psychotherapeutischen Feld ist zunächst die Offenheit für Spiritualität. Erst in einem weiteren Schritt kann darüber nachgedacht werden, wie ein intrapsychisches Gerüst entwickelt werden kann, das spirituelles Erleben als Voraussetzung für die Entwicklung einer tragenden Weltanschauung ermöglicht.
Psychotherapie ist aus Gründen der therapeutischen Abstinenz nicht für die Inhalte von Religiosität und Spiritualität verantwortlich, sondern hat sich ausgesprochen zurückhaltend zu verhalten. Bei sonst distanzierter Äußerung zu privaten Fragen, wie etwa dem Urlaubsziel, gibt es offenbar einen inneren Drang zur Äußerung der eigenen Weltanschauung, wenn sie bewusst ist. Mit dem Wissen um die Idealisierung des Therapeuten scheint auch hier die therapeutische Abstinenz die angemessene Reaktion zu sein, um pathologische Introjekte zu vermeiden.
Es ist eine Tugend christlicher Kultur, das Verhältnis des Mitmenschen zu Gott deren beider Angelegenheit sein zu lassen. Spiritualität ist also keine therapeutische Modeerscheinung, sondern eine bisher oft nicht gewürdigte mögliche Dimension des Selbst, die Ressourcen für die Resilienz enthält.
Michael Utsch, Raphael M. Bonelli, Samuel Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-02552-8
Dr. Andreas Dieckmann ist Ärztlicher Psychotherapeut in freier Praxis und Sprecher der Dozenten der Suchttherapeutenausbildung/psychoanalytisch orientiert beim GVS. Er war langjähriger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum, Berlin.
Nur 16 Prozent der Menschen mit einem riskanten oder abhängigen Konsum von Alkohol holen sich Hilfe im Versorgungssystem. Dabei gehen fast alle von ihnen mindestens einmal im Jahr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wie können diese Menschen erreicht werden, damit sie besser von Hilfeangeboten für die Suchtproblematik profitieren können? An der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg wurde untersucht, welche Auswirkungen die Einführung eines Suchtkonsils zeigt. Bei einem Suchtkonsil handelt es sich um eine spezifische Suchtberatung durch einen erfahrenen Suchttherapeuten, die von der Krankenhausstation (Ärzte, Pflegepersonal) gezielt angefordert wird. Nach zweieinhalb Jahren wurden die Ergebnisse dieser Beratung (z. B. Vermittlung in die Entzugsbehandlung) ausgewertet.
Handlungsbedarf bei Früherkennung und Frühintervention
Im Jahr 2015 formulierte die Bundesrepublik Deutschland „Alkoholkonsum reduzieren“ als Nationales Gesundheitsziel (http://gesundheitsziele.de/). Darin wird die Bedeutung von Früherkennung und Frühintervention betont:
„Trotz hoher gesellschaftlicher Folgekosten des problematischen Alkoholkonsums und alkoholbezogener Erkrankungen ist in Deutschland eine Unterversorgung insbesondere in den Bereichen der Früherkennung und Frühintervention bekannt und belegt. Andererseits wurde in Studien die Wirksamkeit von Frühinterventionen insbesondere in Hausarztpraxen (Kaner et al., 2007) und unter bestimmten Voraussetzungen auch im Allgemeinkrankenhaus nachgewiesen (McQueen, Howe, Allan, Mains, & Hardy, 2011). Durch Frühinterventionen beispielweise über die ärztliche Praxis oder im Krankenhaus kann eine breite Gruppe von Personen mit problematischem Alkoholkonsum erreicht werden. So weisen 80 Prozent der Alkoholabhängigen jährlich mindestens einen Kontakt zur hausärztlichen oder einer vergleichbaren Praxis auf; 24,5 Prozent mindestens einen Krankenhausaufenthalt und insgesamt 92,7 Prozent irgendeinen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin oder Krankenhaus (Rumpf, Hapke, Bischof, & John, 2000). Von riskant Alkohol Konsumierenden finden sich 75 Prozent beim Hausarzt/Hausärztin ein, 70 Prozent hatten beim Zahnarzt/Zahnärztin, 58 Prozent beim Facharzt/Fachärztin und 15 Prozent im Krankenhaus Berührungspunkte zum Gesundheitswesen; lediglich sieben Prozent der Alkohol-Risikokonsumenten nimmt in zwölf Monaten keinerlei medizinische Angebote in Anspruch (Bischof, John, Meyer, Hapke, & Rumpf, 2003). Dies unterstreicht die Bedeutung der primärärztlichen Versorgung im Bereich der Früherkennung und Frühintervention. Zudem sollte die Qualifikation und Kompetenz bezüglich der Früherkennung auch durch die verschiedenen Berufsgruppen im Sozial- und Bildungswesen gewährleistet sein.“ (Nationales Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“, 2015, S. 11, http://gesundheitsziele.de/)
Auch in der gültigen S3-Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung“ finden sich entsprechende Empfehlungen: „Generell ist Screening auf riskanten Alkoholkonsum oder schädlichen Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit in Settings sinnvoll, in denen proaktiv auf Patienten zugegangen wird. Das betrifft häufig Frühinterventionsmaßnahmen in Settings der medizinischen Grundversorgung.“ (Langfassung vom 28.02.2016, S. 15)
Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) geht in „Psyche im Fokus“ (1/2016, S. 2–3) ebenfalls auf die Früherkennung und Frühintervention bei Suchterkrankungen ein und gibt ein richtungsweisendes Statement ab: „Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplan vorgesehen.“
Pilotprojekt: Einführung eines Suchtkonsils
Im deutschen Krankenhausalltag findet ein systematisches Alkohol-Screening auf somatischen Stationen in vielen Fällen nicht statt. Der psychiatrische Konsiliardienst (Begleitdiagnostik durch einen angeforderten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) kann aufgrund der begrenzten Ressourcen nur einen geringen Teil der zu erwartenden Fälle erfassen. Wie viele Patienten durch die Einrichtung eines zusätzlichen Suchtkonsils erreicht werden können, wurde an zwei Standorten der Vivantes-Kliniken in Berlin Tempelhof-Schöneberg im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.
Im Bezirk leben etwa 330.000 Menschen, die Prävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 7.840 und für den schädlichen Konsum von Alkohol bei rund 12.420. Nach der Studie von Rumpf, Hapke, Bischof & John (2000) sind bis zu 5.000 Fälle an Folgeerkrankungen von Alkoholkonsum pro Jahr an den beiden Vivantes-Standorten auf den verschiedenen Stationen zu erwarten. Dabei handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, da die Zahlen eines dritten Krankenhauses im Bezirk von einem anderen Träger nicht berücksichtigt werden konnten.
Zusätzlich zum psychiatrischen Konsiliardienst der Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie in den beiden Krankenhäusern wurde von 11/2013 an ein Suchtkonsil der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit angeboten, das entweder vom Oberarzt der Klinik oder einem approbierten Diplom-Psychologen durchgeführt wurde. Das Suchtkonsil wurde in der Klinikkonferenz beschlossen und auf den somatischen Stationen im Rahmen von Besprechungen oder Abteilungsfortbildungen bekannt gemacht. Die Reaktionen auf den Dienst waren in dieser Phase sehr vielfältig. Sie reichten von Zustimmung („höchste Zeit bei den vielen Fällen, die wir sehen“) bis hin zu Ablehnung („spielt bei uns keine Rolle“). Das Konsil musste von den Stationen standardisiert über die elektronische Patientendokumentation ausgelöst werden wie jede andere fachärztliche Untersuchung auch. Die durchgeführten Gespräche waren sehr differenziert. Es gab erste Informationsgespräche, bei denen das Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick zum Einsatz gebracht wurde, und es gab Gespräche zur gezielten Vorbereitung weiterführender suchtmedizinischer Maßnahmen (Kontakt zur Beratungsstelle, Verlegung zur Entzugsbehandlung und Antragstellung für eine Entwöhnungstherapie).
Von 11/2013 bis 5/2016 wurden insgesamt 185 Konsile angefordert. Von diesen 185 Fällen erschienen in der Folge 24 Fälle (13 Prozent) zu einem Vorgespräch in der Entwöhnungsklinik, in den meisten Fällen nach einer vorangegangenen Entzugsbehandlung in der psychiatrischen Nachbarabteilung. In insgesamt 17 Fällen (neun Prozent) konnte die Aufnahme zur Entwöhnungsbehandlung realisiert werden. Nicht systematisch erfasst wurde die Akzeptanz für die Gespräche, gerade auch bei den angesprochenen Patienten, die zunächst keine Hilfe annahmen. Ein Interview mit den durchführenden Ärzten und Psychologen erbrachte die Einschätzung einer recht hohen Akzeptanz für die Gespräche. Dies würde die Ergebnisse der Studie von Freyer et al. (2006) in Greifswald bestätigen. Dort reagierten rund 66 Prozent der angesprochenen Patienten mit einer Alkoholproblematik auf somatischen Stationen positiv auf die Intervention mit Beratung.
Das Stigma der Sucht
Neben der Ausstattung und den Ressourcen der Klinik ist auch das Phänomen „Stigma der Sucht“ zum großen Teil dafür verantwortlich, dass so wenig Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in den somatischen Abteilungen eines Krankenhauses erreicht werden. Studien wie die von Schomerus, Matschinger & Angermeyer (2006 und 2013 ) belegen eine Ablehnung von Abhängigkeitserkrankungen in unserer Gesellschaft und eine nach wie vor vorhandene Einschätzung, dass Sucht selbst verschuldet ist (siehe Abbildungen 1 und 2).
Abb. 1: Anhand von Fallbeispielen, ohne Kenntnis der Diagnose, beurteilten Studienteilnehmer, ob die jeweiligen Betroffenen an einer psychischen Krankheit im medizinischen Sinne leiden. Das Krankheitsbild Alkoholismus wurde deutlich seltener als Krankheit angesehen als z. B. Depression oder Schizophrenie. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2013. Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Res 209, 665-669.Abb. 2: Per Telefoninterview wurde gefragt, bei welchen Krankheiten bei der Versorgung von Patienten am ehesten Geld eingespart werden könnte. Zur Auswahl gestellt wurden neun Krankheiten, drei Antworten waren möglich. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2006. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 41, 369-377.
Dies führt dazu, dass Betroffene lange Zeit versuchen, die Erkrankung zu verbergen aus Furcht vor der negativen Bewertung des Umfeldes. Wird eine Suchterkrankung bekannt, fühlt sich aber auch häufig das Umfeld unwohl und schaut reflexhaft, mit einer Art von falschem Taktgefühl, weg. Auch auf somatischen Stationen oder auf Rettungsstellen ist dieses Phänomen zu beobachten: Ein Patient wird mit einer akuten Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) in das Krankenhaus gebracht. Recht rasch wird anhand des klinischen Befundes und der Laborkonstellation deutlich, dass die Krankheit durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstanden ist (alkoholtoxische Genese). Bei Konfrontation mit den Befunden reagiert der Patient bagatellisierend und beschämt, lehnt auch per Mimik und Gestik Gespräche darüber ab. An dieser Stelle wirken Zeitnot und das (falsche) Taktgefühl des Arztes unheilvoll zusammen. Der Arzt spürt die Not seines Patienten und den Wunsch, nicht weiter beschämt oder auch ‚belästigt‘ zu werden, und respektiert ihn. Selbst wenn ihm bewusst wird, dass dieser Zustand überwunden werden sollte, spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dem Arzt ist klar, dass ein Gespräch über den Alkoholkonsum nicht ‚zwischen Tür und Angel‘ geführt werden sollte, also zeitlichen und empathischen Aufwand bedeutet. Häufig sind die personellen Ressourcen so knapp, dass diese Gespräche dann gar nicht stattfinden. Die Hoffnung des Patienten, dass der Konsum „noch nicht so schlimm ist“, wird damit indirekt bestätigt.
Das Stigma der Sucht wirkt aber auch auf eine andere Weise. Die Extremformen des Konsums von Substanzen, die Abhängigkeit erzeugen, werden gesellschaftlich recht breit abgelehnt. Konsum, der ohne die extremen Anzeichen von Missbrauch und Abhängigkeit auftritt, wird dagegen sehr lange toleriert, obwohl er bereits mit Schäden behaftet sein kann. Es ist eine heikle Frage, ab wann und wie Betroffene auf ihren Konsum angesprochen werden sollten.
Für das medizinische Personal kann der risikoreiche Alkoholkonsum eines Patienten auch noch ein ganz anderes Problem aufwerfen, nämlich die Frage nach dem eigenen Konsum. Dieser wird möglicherweise konflikthaft erlebt und wirft Unsicherheiten auf. Diese Gefühlslage kann sich mit der Situation des Patienten zu einer unausgesprochenen Übereinkunft darüber vermengen, nicht über das Thema zu sprechen. Entsprechende Zusammenhänge thematisiert die Psychotherapeutin Agnes Ebi in ihrem Buch „Der ungeliebte Suchtpatient“ (1998). Neben vielen anderen Aspekten der Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten beschreibt sie dabei auch die unbewusste Furcht vor der Nähe zum Süchtigen.
Sucht als Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung verankern
Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem ableiten? Ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stigmatisierung der Sucht wird einen langen Zeitraum erfordern. Erwähnt sei an dieser Stelle der bekannte historische Umstand, dass die Definition der Alkoholabhängigkeit durch die WHO von 1952 in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später, 1968, zu einer sozialrechtlichen Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit führte. Vor 1945 wurde ein Teil der Alkoholabhängigen umgebracht oder der Zwangssterilisierung zugeführt. Dies scheint im transgenerativen Prozess noch nicht vollständig verarbeitet zu sein, und ein Teil der Menschen sieht eine Abhängigkeitserkrankung immer noch als einen selbstverschuldeten Zustand an.
Die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff in den öffentlichen Räumen unserer Gesellschaft wird notwendig sein, um die Akzeptanz für die Erkrankung auf einen Stand zu bringen, der z. B. mit dem beim Diabetes mellitus vergleichbar ist. Schulen, Betriebe, Vereine, Institutionen, aber auch die Medien, sind Kommunikationsorte, an denen entsprechende Prozesse in Gang gebracht werden müssen. Anfangen können diese Prozesse jedoch im Krankenhaus, das mit gutem Beispiel vorangeht und systematisch daran arbeitet, den Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen ‚salonfähig‘ zu machen. Ein routineartig durchgeführtes Suchtkonsil stellt das wichtigste Signal in diesem Zusammenhang dar. Die Widerstände gegen die Einführung dieses Konsils sind zunächst groß, weil ein direkter betriebswirtschaftlicher Nutzen für das Krankenhaus zunächst nicht berechnet werden kann. Das DRG-System liefert je nach Lesart (Controlling-Haltung) Anreize, einen Abhängigkeitserkrankten mit mehreren Folgeerkrankungen als eine Art ‚Cash-Cow‘ zu betrachten, die erlösorientiert ausgeschlachtet wird. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen und eine Motivierung zur Entzugsbehandlung stellen möglicherweise ein unternehmerisches Risiko dar. Die Endrechnung wird der Gesellschaft an anderer Stelle präsentiert und belastet Kommunen und Rentenversicherungen.
Beim Deutschen Suchtkongress im September 2016 in Berlin referierte PD Dr. Georg Schomerus über das Stigma der Sucht und gab einen Überblick über den Forschungsstand. Dabei scheute er nicht die Frage, ob ein Stigma positive Folgen habe, zum Beispiel durch eine Form der Abschreckung. Die Ergebnisse sind bislang eindeutig: Das Stigma führt vielmehr zu einer Aufrechterhaltung von Heimlichkeit und Wegschauen. Im September 2016 fand eine Klausurtagung mit verschiedenen Experten in Greifswald statt, die sich mit dem Thema „Stigma der Sucht“ beschäftigten. Auftraggeber war das Bundesministerium für Gesundheit. Als Ergebnis dieses Expertentreffens liegt nun das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ vor, das den Versuch unternimmt, das Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Suchtkrankheiten zu erklären und Wege für einen stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten aufzuzeigen. Für den klinischen Bereich ist zu hoffen, dass das Suchtkonsil zum Standard in deutschen Krankenhäusern wird.
Literatur beim Verfasser
Kontakt:
Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai
Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
Rubensstraße 125
12157 Berlin
Tel. 030/13 020-86 00 Darius.ChahmoradiTabatabai@vivantes.de
Angaben zum Autor:
Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg.
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.
Dr. Volker Weissinger
1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland
Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.
2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen
Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.
Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.
Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“
Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“
Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).
Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).
Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.
Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)
Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.
Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.
3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs
Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:
Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
Qualifizierter Entzug
Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Betrieblicher Bereich
Routinedaten der Leistungsträger
Jobcenter/Agenturen für Arbeit
Fallmanagement und Fallbegleitung
Nutzung moderner Informationstechnologien
Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.
Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:
Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.
„Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).
Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)
Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).
Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.
Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.
Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.
Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).
Qualifizierter Entzug
Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.
In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:
Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX
Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.
Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.
Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.
Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.
Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).
Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.
Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.
Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):
Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.
Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.
Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.
Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.
Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt
Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.
Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).
Betrieblicher Bereich
In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.
Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.
Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.
Routinedaten der Leistungsträger
Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.
Routinedaten der Krankenversicherung
Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:
„Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“
Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.
Routinedaten der Rentenversicherung
Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).
Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.
Jobcenter/Agenturen für Arbeit
Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).
Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.
Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.
Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).
Fallmanagement und Fallbegleitung
In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).
Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.
Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.
Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.
Nutzung moderner Informationstechnologien
Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.
Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).
Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.
Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.
4. Schlussbemerkungen und Ausblick
Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.
Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).
Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:
niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.
Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.
Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.
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Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
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Wienberg, G. (1992): Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen, Bonn
Der Deutsche Caritasverband (DCV) und der Gesamtverband für Suchthilfe – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) haben im Jahr 2012 mit der Einführung von Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) begonnen und mittlerweile Ergebnisse aus vier Erhebungsjahrgängen (2013 bis 2016 = Entlassjahrgänge 2011 bis 2014) vorliegen. Im „Jahrbuch Sucht 2015“ (hrsg. v. DHS) sind die Ergebnisse der beiden ersten Entlassjahrgänge 2011 und 2012 dargestellt (S. 199–213). Im Rahmen des verbandsübergreifenden Fachtages „Ergebnisse der Katamnesen Ambulante Rehabilitation Sucht – Wirkungsdialog und daraus abgeleitete Perspektiven“ am 15.11.2016 in Frankfurt am Main wurden die Ergebnisse aller vorliegenden Entlassjahrgänge bei alkoholbezogener Störung (F10, ICD-10) dargestellt. Vorgestellt wurden außerdem Katamnesedaten zur ambulanten Rehabilitation bei Pathologischem Glückspiel (F63, ICD-10) und bei Illegalen Drogen (F11, F12, F14, F15, F16 und F19, ICD-10). In weiteren Tagungsbeiträgen wurden die Ergebnisse einer Umfrage bei den beteiligten Einrichtungen zur Bewertung der Implementierung der Katamnesen ARS dargestellt sowie Sonderauswertungen zu Veränderungen im Erwerbsstatus im Rahmen von ARS. Vorträge zur Bewertung der Katamnesen ARS von einem Leistungsträger (DRV) und aus internationaler Perspektive ergänzten und vertieften die Ergebnisse. Eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung von Vertretern der Leistungsträger VdEK und DRV Schwaben, der beiden Verbände DCV und GVS und des Referenten aus Amsterdam, der die internationale Perspektive vertrat, rundeten den Fachtag ab. Die Resonanz der Teilnehmenden zu diesem Fachtag war außerordentlich positiv.
Einführung
Schätzungen aus verschiedenen Quellen weisen auf eine Gesamtzahl von etwa 8.000 Fällen ARS (ohne ambulante Nachsorge) pro Jahr in Deutschland hin. Die Deutsche Rentenversicherung weist 369 anerkannte ambulante Fachstellen aus, die ARS anbieten. Etwa 220 Fachstellen sind in Caritas oder Diakonie organisiert. Von diesen Fachstellen konnten bis zu 95 im Rahmen des Katamnese-Projektes erreicht werden (45 Prozent). Die technische Unterstützung des Projektes erfolgt durch Redline-Data, Ahrensbök (Jens Medenwaldt). Die Ziele des Implementierungsprojektes konnten weitgehend erreicht werden.
Ergebnisse der Katamnesen ARS aus den Entlassjahrgängen 2011 bis 2014
In den Jahren 2011 bis 2014 bewegten sich die Fallzahlen ARS zwischen 2.350 und 3.150 pro Jahr. Davon waren etwa 41 Prozent ARS ohne stationäre Beteiligung, 23 Prozent mit stationärer Beteiligung und 36 Prozent ambulante Nachsorge. 80 bis 85 Prozent der Fälle wiesen die Hauptdiagnose Alkohol (F10) auf, sieben bis acht Prozent die Hauptdiagnose Illegale Drogen (F11, F12, F14, F15, F16, F19) und fünf bis sieben Prozent die Hauptdiagnose Pathologisches Glücksspiel (F63). Eine starke Beteiligung am Projekt erfolgte aus den Bundesländern Niedersachsen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen.
Die ARS weist bei der Diagnose F10 (Alkohol) und einem Rücklauf ab 45 Prozent Abstinenzquoten nach DGSS 4 von 50 bis 54 Prozent für alle im Kalenderjahr Entlassenen auf, wenn keine stationäre Rehabilitationsmaßnahme beteiligt war. Mit stationärer Beteiligung (Kombinationsbehandlungen) liegt die Erfolgsquote bei 43 bis 52 Prozent.
Die soziodemographischen Merkmale der Rehabilitanden in der ARS ohne stationäre Beteiligung werden deutlich günstiger beschrieben als die der Rehabilitanden in der ARS mit stationärer Beteiligung – mit den entsprechenden unterschiedlichen Auswirkungen auf die Ergebnisqualität. Somit werden verschiedene Zielgruppen erreicht. Insgesamt zeigt sich, dass die indikative Zuweisung der Rehabilitanden zum ambulanten und/oder stationären Setting zielgruppengerecht erfolgt.
Bewertung der Implementierung von Katamnesen ARS
Die am Katamnese-Projekt beteiligten Einrichtungen wurden gefragt, wie sie die Implementierung der Katamnesen ARS bewerten. Insgesamt haben sich 56 Einrichtungen an der Umfrage beteiligt, 43 davon haben kontinuierlich zu allen Entlassjahrgängen Daten zur Verfügung gestellt. 80 Prozent geben an, dass die Implementierung von Katamnesen ARS gelungen ist. 68 Prozent benutzen die Ergebnisse als einrichtungsbezogene Auswertung. Insgesamt haben Katamnesen eine hohe Relevanz für die eigene Arbeit (Erfolgskontrollen, Konzeptverbesserungen usw.). 44 Prozent der Umfragebeteiligten wünschen sich auch zukünftig verbandliche Unterstützung bei der Durchführung von Katamnesen (Austausch, Schulungen, Forum usw.).
Zusatzauswertungen „Illegale Drogen“ und „Pathologisches Glücksspiel“
In den vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016 gab es 630 ARS-Fälle „Illegale Drogen“, davon waren 65 Prozent ohne und 35 Prozent mit stationärer Beteiligung. Die Hauptdiagnose Cannabis (F12) hat einen Anteil von etwa 40 Prozent, Opioide machen 20 bis 30 Prozent aus und Kokain zwölf bis 14 Prozent.
Der Anteil Arbeitsloser reduzierte sich bis zum Behandlungsende im Vergleich zum Behandlungsbeginn um sieben bis zwölf Prozent, der Anteil Erwerbstätiger erhöhte sich um acht bis zwölf Prozent. Zum Katamnesezeitpunkt (ein Jahr nach Beendigung ARS) reduzierte sich der Anteil Arbeitsloser nochmals um drei Prozent bei ARS ohne stationäre Beteiligung und um zehn Prozent bei ARS mit stationärer Beteiligung (Kombibehandlung).
Insgesamt gab es 70 bis 80 Prozent planmäßige Beendigungen der ARS-Maßnahmen. Die Katamnese-Rücklaufquote lag bei etwa 30 Prozent. Bei ARS ohne stationäre Beteiligung war die Rücklaufquote höher und die Abstinenzquote nach DGSS 4 lag bei 38 Prozent. Bei ARS mit stationärer Beteiligung lag die Abstinenzquote nach DGSS 4 bei 30 Prozent. Die Gruppe der „definiert Rückfälligen“ (Nichterreichte) betrug bei ARS ohne stationäre Beteiligung 34 Prozent und bei ARS mit stationärer Beteiligung 37 Prozent.
In den vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016 gab es 373 ARS-Fälle „Pathologisches Glücksspiel“, davon waren 75 Prozent ohne und 25 Prozent mit stationärer Beteiligung. Auch hier zeigt sich am Behandlungsende eine deutliche Reduktion des Anteils Arbeitsloser von sieben bis zwölf Prozent und eine Zunahme des Anteils Erwerbstätiger von neun bis 13 Prozent.
Insgesamt gab es auch hier etwa 70 bis 80 Prozent planmäßige Beendigungen der ARS-Maßnahmen. Die Katamnese-Rücklaufquote lag bei acht Prozent. So sind die Fallzahlen zu gering für eine Berechnung der Abstinenzquote bzw. der Veränderungen im Erwerbsstatus zum Katamnesezeitpunkt.
Veränderungen im Erwerbsstatus: Interferenzstatistische Analysen
92 Prozent der zu Beginn der ARS Erwerbstätigen verbleiben in der Erwerbstätigkeit, während der ARS-Maßnahme werden acht Prozent arbeitslos. Etwa 25 Prozent der zu Beginn der ARS Arbeitslosen gelangen während der ARS-Maßnahme in Erwerbstätigkeit. Die Merkmale dieser Gruppe: Die Menschen sind jünger, beziehen häufiger ALG I als ALG II, beenden die ARS-Maßnahme regulär, bewerten die ARS-Maßnahme als erfolgreich und sie weisen weniger Vorbehandlungen auf (Entzug). Ihre Alkoholstörung war weniger schwer ausgeprägt und die Dauer der Arbeitslosigkeit war geringer. Etwa zehn Prozent der zu Beginn der ARS-Maßnahme Nichterwerbstätigen sind am Ende der Maßnahme erwerbstätig (Schüler, Studenten).
Bewertung des Katamnese-Projektes und der Ergebnisse aus Sicht eines Rehabilitationsträgers
Die vier gängigen Formen der ARS sind: ARS ohne stationäre Beteiligung, ambulante Entlassform zum Ende einer stationären Rehabilitation, Wechsel in die ambulante Rehabilitationsform nach Abschluss der stationären Rehabilitation, ARS als Bestandsform von Kombitherapie (ARS mit stationärer Beteiligung).
Teilhabeaspekte stehen bei der ARS im Vordergrund, insbesondere gilt es, mit den ICF-Kontextfaktoren des sozialen Feldes des Rehabilitanden zu arbeiten. Zentrale Aufgaben der Teilhabe-Leistungen sind die Verbesserung der Erwerbsfähigkeit und das Erreichen von Erwerbstätigkeit. In diesem Zusammenhang spielen arbeitsbezogene Interventionen während der ARS-Maßnahme eine wichtige Rolle. Ein sozialmedizinischer Jahresverlauf von Rehabilitanden aus dem Jahr 2010 zeigt, dass 90 Prozent der Rehabilitanden im Erwerbsleben verbleiben (59 Prozent lückenlose Rentenversicherungsbeiträge, 31 Prozent lückenhafte Rentenversicherungsbeiträge).
Die Rehabilitandenbefragung nach Beendigung einer ambulanten Suchtrehabilitation mit 4.287 Beteiligten in den Jahren 2013 bis 2015 zeigt, dass die subjektiv wahrgenommenen Erfolge der Rehabilitationsleistungen auf deutliche Verbesserungen in den Bereichen Gesundheitszustand, Leistungsfähigkeit und kurzzeitige Abstinenz hinweisen. Insgesamt geben 90 Prozent der Beteiligten deutliche Verbesserungen an.
Etwa die Hälfte der Rehabilitanden gibt an, während der ARS keine Beratung und Hilfe bekommen zu haben, um die Situation am Arbeitsplatz zu erleichtern. 60 Prozent sind zu Beginn der ARS und zum Befragungszeitpunkt bei Behandlungsende voll berufstätig, 24 Prozent sind zum Befragungszeitpunkt arbeitslos. 81 Prozent geben an, dass sich die berufliche Leistungsfähigkeit durch die ARS-Maßnahme deutlich verbessert hat. Für die Zukunft gilt die Empfehlung, bei ARS-Verlängerungsanträgen die therapeutische Unterstützung für eine stabile Erwerbssituation der Rehabilitanden mehr als bisher zu berücksichtigen.
Die Bewertung von Katamnesen aus internationaler Perspektive
Seit etwa 30 Jahren gibt es deutsche und internationale Studien zur Bewertung von Wirkungen suchttherapeutischer Maßnahmen. Als evidenzbasierte Faustregel kann angenommen werden, dass nach stationärer oder ambulanter Suchtrehabilitation 50 Prozent der Alkoholabhängigen ein Jahr nach der Behandlung durchgehend alkoholabstinent sind. Amerikanische Studien weisen auf 19 Prozent Einjahresabstinenz hin, im ambulanten Behandlungszweig kommt es im Jahr nach der Behandlung zu etwa 80 Prozent abstinenten Tagen.
In den Niederlanden zeigte sich in dem Projekt „Resultaten scoren“ (fünf Jahreskohorten 2005 bis 2009 mit insgesamt 15.786 behandelten und 8.326 telefonisch erreichten Klienten) eine Abstinenzrate von 23 Prozent in den letzten 30 Tagen vor dem Befragungszeitpunkt (Schippers, Nabitz, Buisman, 2009). Im Vergleich hat Deutschland eine Abstinenzquote von 75 Prozent in den letzten zwölf Monaten (Katamnesebefragung) bei 693 erreichten Klienten (nach DGSS 3).
So kann die Suchthilfe in Deutschland, insbesondere im Bereich der ARS, ihre Effektivität mittels Routine-Katamnesen nachweisen. Mehr als 50 Prozent der Klienten sind nach der Therapie abstinent. Im internationalen Vergleich ist das ein herausragendes Ergebnis.
Strukturelles Monitoring und Benchmarking sind ein Weg zur weiteren Verbesserung von Suchthilfe. Die Katamnese-Methodik kann der Anfang einer europäischen Standardisierung sein. Eine schnelle Rückmeldung der Katamneseergebnisse an die Einrichtungen kann zur Verbesserung der ARS-Maßnahmen führen.
Podiumsdiskussion
Die abschließende Podiumsdiskussion verlief sehr lebhaft und informativ. Stichworte aus der Diskussion: ARS hat eine gute Wirksamkeit, Kombitherapien sollten mehr genutzt werden, die berufliche Orientierung in der ARS sollte weiter gestärkt werden, eine Veröffentlichung der Katamneseergebnisse ist weiterhin wichtig, Verlängerungsanträge ARS sind die Regel und nicht die Ausnahme, das ARS-Rahmenkonzept aus 2008 ist überarbeitungsbedürftig, die Katamnese-Durchführung liegt im Interesse der Leistungserbringer, insgesamt steht die ambulante Suchthilfe sehr unter Druck.
Fazit: Auch zukünftig sollten Fachveranstaltungen dieser Art durchgeführt werden.
Kontakt:
Dr. Theo Wessel
Gesamtverband für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
Invalidenstraße 29
10115 Berlin
Tel. 030/83 001-501 wessel@sucht.org www.sucht.org
Angaben zu den Autoren:
Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.
Renate Walter-Hamann ist Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe und Leiterin des Referats Basisdienste und besondere Lebenslagen beim Deutschen Caritasverband e.V. in Freiburg.
Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).
Ausgangssituation
Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.
Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).
Das Projekt „Alkohol 2020“
Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.
In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.
Versorgung von alkoholkranken Menschen
Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.
Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.
Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.
Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.
Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.
Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.
Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.
Gemeinsamer Bewilligungsprozess
Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.
Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.
Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.
Finanzierung
Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.
Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.
Pilotprojekt Phase 1
Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.
In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.
Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.
Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.
Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum
In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.
Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne
Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.
Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.
Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.
Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)
Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).
Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.
Fallbeispiele aus der Pilotphase 1
Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.
***
Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.
Ausblick: Pilotprojekt Phase 2
Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.
Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.
Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.
Kontakt:
Lenea Reuvers, M.A.
Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
1030 Wien
Österreich lenea.reuvers@sd-wien.at Projekt „Alkohol 2020“
Angaben zur Autorin:
Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.
Literatur:
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO, 2005) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/WHO) erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen. Mit der ICF liegt ein personenzentriertes und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt berücksichtigendes Instrument der Hilfeplanung vor, mit dem sich alltagsrelevante Fähigkeiten und Einschränkungen in vereinheitlichter Sprache konkret beschreiben lassen.
Durch eine detaillierte Klassifikation von Beeinträchtigungen ist es möglich, den Bedarf an professioneller Hilfe konkret zu beschreiben und eine passgenaue Hilfeplanung einzuleiten. Die ICF berücksichtigt individuelle Ressourcen und hat gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel, zwei Aspekte, denen auch in der Arbeit mit Suchtkranken eine entscheidende Bedeutung zukommt. Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen erreichen nicht zuletzt aufgrund einer besseren medizinischen und psychosozialen Betreuung ein durchschnittlich höheres Lebensalter. Abhängigkeitserkrankungen gehen oftmals mit funktionalen Problemen und Einschränkungen im Bereich der Alltagsbewältigung, der sozialen Beziehungen und der Erwerbstätigkeit einher (Schuntermann, 2011). Mit der Dauer der Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden physischen und psychischen Begleiterscheinungen steigen auch die Beeinträchtigungen von individuellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten. Im Bereich der Suchthilfe ist eine ausschließlich auf Psychodiagnostik basierende Betreuung/Behandlung in der Regel nicht ausreichend, da der Hilfebedarf der Klientel nicht adäquat abgebildet wird. Die Diagnose Sucht sagt alleine wenig über die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen aus. Selbst beim Vorliegen weiterer Diagnosen bei derselben Person lassen sich nur schwer valide Aussagen hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ableiten. Instrumente wie der Addiction Severity Index (ASI), der lange Zeit zur Standarddokumentation des Suchthilfeträgers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) in Frankfurt am Main zählte, liefern zwar Hinweise auf Belastungen und Beeinträchtigungen, jedoch keine auf den konkreten Hilfebedarf.
ICF in der Suchthilfe
Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen, die die Sucht auf das Leben eines Betroffenen ausübt, also auf die Mobilität, die Kommunikation, die Selbstversorgung, das häusliche Leben, die Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und das Erwerbsleben. Die Gesamtheit der Auswirkungen sowie das Zusammenwirken von Aktivitätsbeeinträchtigungen und Rollenanforderungen sollten im Rahmen einer professionellen Hilfeplanung berücksichtigt werden. Eine wirksame Rehabilitation benötigt umfassende Daten, um die Betreuung/Behandlung planen zu können. „Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen.“ (Fleischmann, 2011)
Es geht nicht darum, nur Defizite zu lokalisieren, sondern auf der Grundlage der individuellen Ressourcen des Beurteilten die soziale Reintegration und gesellschaftliche Teilhabe unter Berücksichtigung der aktuellen Fähigkeiten zu fördern. Eine „Beeinträchtigung“ wird im Rahmen des ICF-Gesundheitsbegriffes nicht als Eigenschaft der Person interpretiert, sondern als funktionale Störung im Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt, was die Veränderbarkeit (gesundheits-)politischer und sozialer Verhältnisse miteinschließt.
Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung, einem der zentralen Ziele der medizinischen Rehabilitation, wie es auch in den Empfehlungen zur „Beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) dargestellt wird (Koch, 2015). Wenn von Erwerbsbezug in der Rehabilitation die Rede ist, dann spielen berufsspezifische Fähigkeitsprofile eine wichtige Rolle, die sich mithilfe der ICF in sehr konkreter Weise abbilden und für den beruflichen Wiedereingliederungsprozess nutzbar machen lassen.
Von Vorteil ist die ICF weiterhin in professionstheoretischer Hinsicht. Die einheitliche Sprache ermöglicht eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Einrichtungen, Disziplinen und Versorgungsbereichen sowie die Evaluation der Hilfemaßnahmen hinsichtlich der Zielerreichung und der Verringerung des Schweregrades der Beeinträchtigungen. Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden ‚Sprache‘ mit der Möglichkeit, das medizinische, suchtpsychiatrische und suchthilfespezifische Versorgungssystem stärker zu integrieren. Damit lässt sich eine bessere Nutzung von Synergien erreichen statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen.
Vor diesem Hintergrund wird seit April 2015 in den Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) der ICF-basierte Fremdratingbogen Mini-ICF-APP („Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen“; Linden, Baron, Muschalla, 2009) eingesetzt. Erste Erfahrungen mit diesem Instrument werden im Folgenden vorgestellt.
Datenerhebung und Auswertung
Ziel des Einsatzes des Mini-ICF-APP ist es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Teilhabe- und Aktivitätsbeeinträchtigungen im Vordergrund der betreuten/behandelten Klientel stehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, individuelle und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung weiterzuentwickeln.
Zudem soll festgestellt werden, ob zwischen unterschiedlichen Einrichtungstypen (stationäre Rehabilitation, ambulante Betreuung/Behandlung, Betreutes Wohnen), unterschiedlichen Konsummustern und den Konsument/innen verschiedener Hauptsuchtmittel (Cannabis, Opiate, Stimulanzien) signifikante Unterschiede hinsichtlich der im Alltag auftretenden Beeinträchtigungen deutlich werden. Am Ende des Artikels werden die Ergebnisse mit Blick auf die Suchthilfepraxis zur Diskussion gestellt.
Das Instrument: Mini-ICF-APP
Zwischenzeitlich liegen einige ICF-basierte Instrumente für den Indikationsbereich psychische Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen vor (Breuer, 2015). Eines dieser Instrumente ist das Mini-ICF-APP, ein Fremdbeurteilungsinstrument mit 13 Items zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. Die maßgebliche Bewertung des jeweiligen Klienten bzw. der Klientin in den 13 Fähigkeitsdimensionen findet durch den geschulten Bezugsbetreuer/die geschulte Bezugsbetreuerin statt. Beim Ausfüllen des Fragebogens werden alle zur Verfügung stehenden Informationen genutzt: anamnestische Angaben, fremdanamnestische Angaben, psychologische und testpsychologische Befunde ebenso wie Beobachtungen der Bezugsbetreuer/innen oder Mitteilungen durch den Klienten/die Klientin. Das Verfahren ermöglicht die einfache Erfassung des Hilfebedarfs in wesentlichen Bereichen. So kann mit dem Instrument eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß die betreffende Person in ihrer Fähigkeit zur Ausübung lebens- und berufsrelevanter Tätigkeiten beeinträchtigt ist.
Das Mini-ICF-APP liefert neben der Erfassung des Hilfebedarfs auch die Möglichkeit, über eine Wiederholungsmessung die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu überprüfen. Die Skalierung zur Einschätzung der Fähigkeitseinschränkungen ist wie folgt strukturiert: 0 = keine Beeinträchtigung, 1 = leichte Beeinträchtigung, 2 = mittelgradige Beeinträchtigung, 3 = erhebliche Beeinträchtigung, 4 = vollständige Beeinträchtigung. Zusätzlich zum Mini-ICF-APP wird ein Deckblatt eingesetzt, das von JJ extra für den Arbeitsbereich der Suchthilfe entwickelt wurde. Mit dem Deckblatt werden soziodemografische Angaben, Angaben zum Erwerbsleben und zum Suchtmittelkonsum erfasst.
Beschreibung der Stichprobe
Seit Mitte 2015 wird in allen Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) das Mini-ICF-APP eingesetzt. Dazu zählen stationäre und ambulante Suchthilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen des Betreuten Wohnens. Der Rücklauf verwertbarer Fragebögen lag bis zum September 2016 bei N=1.243. Alle Bögen wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es gab keine Ausschlusskriterien.
Die ICF-basiert beurteilten Klient/innen aller JJ-Einrichtungen sind im Durchschnitt 35,3 Jahre alt. 78,1 Prozent sind männlich, 21,9 Prozent weiblich. Nur 26,4 Prozent gingen im letzten Jahr einer beruflichen Tätigkeit nach. Eine psychiatrische Zusatzdiagnose liegt bei 31,2 Prozent der Personen vor. Die durchschnittliche Dauer der Abhängigkeit beträgt 14,9 Jahre. 38,4 Prozent der Befragten wurden zum Zeitpunkt der Messung substituiert. Das am häufigsten genannte Hauptsuchtmittel ist Heroin (45,9 Prozent), gefolgt von Cannabis (20,6 Prozent), Alkohol (13,9 Prozent), Amphetaminen (7,3 Prozent), Kokain (5,3 Prozent) und Sonstige (2,5 Prozent).
Ergebnisse
Im Folgenden (Tabelle 1) werden die Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen dargestellt (N=1.243).
Tabelle 1: Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen
Die Mittelwerte liegen größtenteils zwischen einer leichten und mittelgradigen Beeinträchtigung. Das impliziert, dass bei einem Teil der untersuchten Gruppe deutliche Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, die in vielen Fällen interventionsbedürftig sind. Am höchsten sind die Beeinträchtigungen in den Bereichen „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „ Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“. Vergleicht man die Beeinträchtigungswerte mit den Daten von Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken (N=213; Linden et al., 2015), die in den empirischen Studien zur Entwicklung des Mini-ICF-APP untersucht wurden, so treten die hohen Fähigkeitsbeeinträchtigungen der Klientel aus den Suchthilfeeinrichtungen von JJ noch deutlicher hervor. Während der Globalwert der 13 Items in der JJ-Untersuchung bei 1,58 liegt, ist er in der genannten Vergleichsgruppe mit 0,84 nur etwa halb so hoch.
Beispiel: Widerstands- und Durchhaltefähigkeit
Am Beispiel des Items „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, das am höchsten geratet wurde, lässt sich aufzeigen, wie schwer die Beeinträchtigungen konkret eingeschätzt wurden (Tabelle 2).
Tabelle 2: Einschätzung des Items Widerstands- und Durchhaltefähigkeit
34,6 Prozent der beurteilten Klient/innen sind in diesem Bereich mittelgradig beeinträchtigt, 21,5 Prozent sogar erheblich bzw. 3,7 Prozent vollständig. Die Einschätzung „mittelgradige Beeinträchtigung“ verweist auf „deutliche Probleme, die beschriebenen Fähigkeiten/Aktivitäten auszuüben“ (Linden et al., 2015, S. 5). Erhebliche und vollständige Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen bedeuten, dass die Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung so auffällig sind, dass die Unterstützung von Dritten notwendig ist.
Bezogen auf das Item „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ bedeutet eine mittelgradige Beeinträchtigung nach der Definition der Autor/innen des Mini-ICF-APP: „Der Proband kann keine volle Leistungsfähigkeit über die ganze Arbeitszeit hin zum Einsatz bringen. Sein Durchhaltevermögen ist deutlich vermindert. Durch Nichterfüllung von Aufgaben ergibt sich ein reduziertes Leistungsniveau und gegebenenfalls Ärger mit dem Arbeitgeber oder Partner.“ Eine erhebliche Beeinträchtigung (21,5 Prozent der Klient/innen) bedeutet: „Um die Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, ist immer wieder Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder vom Partner erforderlich, die ihn auffordern oder ermutigen, bei der Sache zu bleiben oder weiterzumachen, oder die selbst gelegentlich eingreifen und zeitweise Arbeiten von ihm übernehmen.“ (Linden et al., 2015, S. 14)
Folglich besteht in vielen Fällen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des individuellen Leistungsvermögens und vor allem auch hinsichtlich der Eigeninitiative. Dieser Unterstützungsbedarf ist in der individuellen Hilfeplanung zu berücksichtigen. Die Kenntnis solcher Fähigkeitsbeeinträchtigungen soll nicht nur zur Auswahl adäquater Hilfemaßnahmen führen, sondern auch zur realistischen Einschätzung der Fähigkeiten des Betreffenden beitragen, um zu verhindern, dass durch zu hohe Erwartungen – insbesondere im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung – strukturelle Überforderungssituation entstehen, die ihrerseits neue negativen Auswirkungen nach sich ziehen.
Eine interne JJ-Untersuchung (N=189) mit dem ICF-basierten Selbstrating-Instrument ICF AT 50-Psych (Nosper, 2008), das ebenfalls die Dimensionen der Aktivität und Partizipation abbildet, zeigt ferner, dass die befragten Patient/innen sich selbst als deutlich weniger beeinträchtigt einschätzen. Mit Blick auf den therapeutischen Alltag bietet sich an, die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Patient/innen und der Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen zu thematisieren und die unterschiedlichen Einschätzungen der Fähigkeitsdimensionen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.
Gruppenunterschiede
Das Geschlecht und das Alter haben auf den Mini-ICF-Globalwert keinen signifikanten Einfluss, lediglich in einzelnen Bereichen: Männer sind im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ (1,47 vs. 1,17) sowie „Planung und Strukturierung von Aufgaben“ (1,71 vs. 1,43) höher belastet. Ältere haben höhere Beeinträchtigungen im Bereich „Selbstpflege“ und „Mobilität und Verkehrsfähigkeit“. Jüngere haben im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ größere Schwierigkeiten. Der Zusammenhang beschränkt sich auf einzelne Items. Einen globalen Einfluss auf den Schweregrad hat die Dauer der Abhängigkeit. Zwölf der 13 Items korrelieren in signifikanter Weise. Lediglich beim Item „Selbstbehauptungsfähigkeit“ ist die Dauer der Abhängigkeit nicht entscheidend.
Tabelle 3: Einfluss der Dauer der Abhängigkeit auf den Beeinträchtigungsgrad
Einfluss auf den Globalwert hat auch der Berufsstatus: Diejenigen, die während der letzten zwölf Monate vor Behandlungsbeginn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, weisen signifikant höhere Beeinträchtigungswerte auf. Ferner korrelieren die BORA-Stufen, denen insbesondere im Rahmen der stationären Rehabilitation eine wachsende Bedeutung zukommt, mit dem Schweregrad der ICF-spezifisch gemessenen Beeinträchtigungen.
Globalwerte nach Einrichtungstypen
Der Einsatz ICF-basierter Instrumente soll zur verbesserten Hilfeplanung beitragen. Insofern wurde auch untersucht, ob in verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und Hilfsangeboten spezifische Beeinträchtigungen festzustellen sind (Abbildung 1).
Abbildung 1: Globalwerte in verschiedenen JJ-Einrichtungen
Die Werte entsprechen den Erwartungen und zeigen, dass die Einschätzungen in realistischer Weise erfolgen, was auch hohe Interrater-Reliabilität bestätigt. Ambulant betreute Klient/innen sind weniger beeinträchtigt als stationär Behandelte, was der Indikationsstellung entspricht. Besonders hoch sind die Beeinträchtigungswerte im Drogennotdienst, einer Einrichtung mit ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten, und in der Tagesstätte Rödelheimer Bahnweg. Zur Zielgruppe dieser Einrichtung zählen suchtkranke Männer und Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die in einem schlechten Allgemeinzustand und/oder chronisch krank sind und bei denen auf Grund der chronifizierten Suchtmittelabhängigkeit die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit meist nicht mehr möglich erscheint.
Praktisch hilfreich wird das Ganze, wenn man sich die Einrichtungswerte in den einzelnen Fähigkeitsdimensionen anschaut. Unterschiede in den einzelnen Items zeigen an, wo der einrichtungsspezifische Hilfebedarf am größten ist. In der Einrichtung Rödelheimer Bahnweg mit dem höchsten Globalwert (2,18) liegt die Beeinträchtigung im Bereich „Proaktivität und Spontanaktivität“ bei 2,32. Dies verdeutlicht nicht nur, in welchem Bereich große Schwierigkeiten bestehen, sondern verweist zugleich darauf, dass Unterstützungs- und Förderungsleistungen im Bereich der Eigeninitiative, der häuslichen Aktivitäten und der Freizeitgestaltung anstehen.
Im Betreuten Wohnen ist der Beeinträchtigungswert im Bereich „Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen“ mit 1,85 am höchsten. Der Verlust stützender familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und fortwährende gesellschaftliche Isolation prägen nicht selten die Lebenslage von langjährig Abhängigen. Im Betreuten Wohnen soll solchen Vereinsamungstendenzen entgegengewirkt und die gesellschaftliche Reintegration bewerkstelligt werden. Entsprechende Hilfsangebote sind zu forcieren.
In der stationären Rehabilitation wurden die höchsten Beeinträchtigungswerte im Bereich „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ (2,06) festgestellt, was auf die Ambivalenz in Bezug auf Abstinenzbemühungen verweist. Bei der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit geht es darum, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, rational zu urteilen und unter Abwägung der Sachlage differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen – Fähigkeiten also, die im Falle einer Abhängigkeitserkrankung stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die anspruchsvolle und mitunter von Rückschlägen begleitete Aufgabe, sich gegen die Sucht und für ein abstinentes Leben zu entscheiden, scheint hier zum Ausdruck zu kommen.
Hauptsubstanz
Untersucht wurde außerdem, ob sich im Zusammenhang mit dem Hauptsuchtmittel Unterschiede hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades feststellen lassen (Tabelle 4). Verglichen wurden die Konsument/innen der Hauptsuchtmittel Opiate, Cannabis und Stimulanzien (Amphetamine und Kokain).
Tabelle 4: Einfluss des Hauptsuchtmittels auf den Beeinträchtigungsgrad
Auffällig ist zunächst, dass sich die Globalwerte kaum unterscheiden. Diese liegen bei 1,47 (Opiate), 1,44 (Cannabis) und 1,35 (Stimulanzien). Überraschend sind die Ergebnisse, weil in der Bezeichnung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen die Vorstellung mitschwingt, dass Cannabis eine in den Auswirkungen zu vernachlässigende Droge sei. Dies ist nach den hier angegebenen Werten nicht der Fall, im Gegenteil: Mehrere Beeinträchtigungen der Cannabiskonsument/innen werden im Vergleich mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit sogar höher eingeschätzt (s. Markierung in Tabelle 4).
Verlaufsmessungen
Das Mini-ICF-APP ermöglicht die Evaluation der Hilfemaßnahmen. Durch Verlaufsmessungen kann festgestellt werden, ob es zu Veränderung des Beeinträchtigungsgrades in den jeweiligen Fähigkeitsdimensionen kommt. Sofern der Klient/die Klientin längere Zeit in der Einrichtung betreut oder behandelt wird, findet drei bis fünf Monate nach der Ersterhebung eine Wiederholungsmessung statt. Eine erste Auswertung der Verlaufsmessung zeigt positive Veränderungen (Tabelle 5). Bei denjenigen, die eine längere Behandlung/Betreuung in Anspruch nehmen, bilden sich in allen Bereichen positive Trends ab, die – bis auf die Verkehrsfähigkeit – signifikant sind.
Tabelle 5: Auswertung der Wiederholungsmessung
Zusammenfassung
Als Resümee der Einführung des Mini-ICF-APP ist zunächst festzuhalten, dass es einen erfreulich hohen Rücklauf von Fragebögen gibt. Das spricht nicht nur für die Akzeptanz des Instruments, sondern auch für seine Praktikabilität. Die Bögen sind weitgehend korrekt ausgefüllt, es gibt wenig Datenverlust.
Die untersuchte Gruppe zeigt deutlich höhere Beeinträchtigungswerte als die Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken ohne Suchtdiagnose. Die Beeinträchtigungen sind in den Bereichen „Widerstand- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ am höchsten. Geschlechts- und altersspezifische Differenzen gibt es keine wesentlichen. Die Dauer der Abhängigkeit beeinflusst den Schweregrad der gemessenen Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen in direkter Weise. Berufsstatus und Schweregrad der Beeinträchtigung korrelieren ebenfalls. Auffällig hoch waren die Beeinträchtigungswerte der Cannabiskonsument/innen, was sich mit anderen Untersuchungen in diesem Bereich deckt. In den Einrichtungstypen lassen sich unterschiedliche Belastungen feststellen. Verlaufsmessungen zeigen, dass es zu Verbesserungen während der Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt.
Diskussion
1.) Das ICF-basierte Instrument Mini-ICF-APP ist im Suchtbereich einfach anwendbar, das bestätigen die Rückläufe sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen. Insgesamt bietet die Implementierung des Mini-ICF-APP ein positives Beispiel der ICF-Umsetzung im Suchtbereich. Die standardisierte Routinebeschreibung der funktionalen Gesundheit stellt eine sinnvolle Ergänzung zur medizinischen und psychologischen Diagnostik dar.
2.) Der Hilfebedarf kann konkret beschrieben werden. Es werden Fähigkeitsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Aktivitäten und Teilhabe erfasst, beschrieben und bei der Betreuung bzw. Behandlung berücksichtigt, die bei einer rein medizinischen oder psychologischen Diagnostik nicht im Fokus stehen. Es kann auf der Grundlage des umfangreichen Datenmaterials differenziert werden nach:
Konsummustern
Dauer der Abhängigkeit
Einrichtungstypen
BORA-Stufen
Die Aufbereitung der vereinsweit gesammelten Daten ermöglicht den Datenvergleich zwischen verschiedenen Behandlungsgruppen und Gesundheitsbereichen.
3.) Die Beschreibung und Differenzierung des Hilfebedarfs erleichtert nicht nur die individuelle Hilfeplanung, sondern ermöglicht es auch, diesen Hilfebedarf bei der Etablierung schwerpunktmäßiger Angebote zu berücksichtigen. Mittelfristiges Ziel ist eine verbesserte Zuweisungspraxis bei der Weitervermittlung in passgenaue Behandlungsangebote. ICF-basierte Instrumente sollten bei der Feststellung des adäquaten Behandlungsbedarfs standardmäßig eingesetzt werden.
4.) Mit Blick auf die zunehmend wichtiger werdende Erwerbsorientierung und berufliche Wiedereingliederung der Klientel in der Suchthilfe lassen sich mit dem Mini-ICF-APP die aus einer Krankheit resultierenden Fähigkeits- und Aktivitätsstörungen – im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen einer beruflichen Tätigkeit – konkret beschreiben. Dadurch, dass die Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF abgebildet wird, können Fähigkeiten beurteilt werden, die im Erwerbsleben zentral sind.
5.) Die Aktivitäten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen eines Suchtkranken hängen stark mit seinem Konsumstatus zusammen. Dadurch, dass das Mini-ICF-APP keine explizit suchtspezifischen Items beinhaltet, kann der Einfluss des Konsumverhaltens auf die aktuellen Aktivitäten nicht abgebildet werden. Abhilfe schafft das zusätzlich eingesetzte JJ-Deckblatt. Außerdem entwickelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitarbeiter/innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der Suchtverbände ein „Core Set Sucht“. Einige Items lassen sich insbesondere bei neu betreuten Klient/innen im Fremdrating nur schwer beurteilen, der zusätzliche Einsatz von Selbstbeurteilungsinstrumenten wird empfohlen.
6.) Die Verlaufsmessungen zeigen, dass Hilfemaßnahmen zur Verringerung des Schweregrades der Fähigkeitsbeeinträchtigungen führen. Die Evaluation und der Wirksamkeitsnachweis der durchgeführten Maßnahmen werden von den Leistungs- und Kostenträgern zunehmend erwartet. Die international anerkannte und standardisierte ICF-Diagnostik stellt eine große Hilfe dabei dar, durchgeführte Maßnahmen zu evaluieren.
Linden, M., Baron, S., Muschalla, B. (2009 und 2015). Mini- ICF-App – Mini-ICF-Rating für Aktivitäts-und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen. Bern: Verlag Hans Huber.
In diesem Artikel werden ausgewählte Ergebnisse einer Evaluation der Eingliederungshilfe Sucht in Hamburg vorgestellt. Die Studie wurde von der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) in Hamburg in Auftrag gegeben und vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) realisiert. Der entsprechende Studienbericht liegt seit April 2016 vor (Degkwitz et al. 2016).
Eingliederungshilfe als Versorgungsbereich bei Abhängigkeitserkrankungen
Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) für Menschen mit Suchterkrankungen erhalten Personen, „die durch eine Behinderung (…) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (SGB XII, §53). Diese Leistungen werden nach § 54, SGB XII, nachrangig zu Rehabilitationsmaßnahmen der Kranken-, Renten- und Unfallversicherung (als den vorrangig verpflichteten Kostenträgern) gewährt. Die EGH Sucht hat sich ab Mitte der 1970er Jahre als spezialisierter Leistungsbereich für Abhängigkeitserkrankte mit kooperierenden Einrichtungen in Hamburg und Umgebung als eine wichtige Säule der Hamburger Sozial- und Gesundheitspolitik etabliert. Die Angebote der EGH Sucht dienen als Vorbereitungsmaßnahmen zur medizinischen Rehabilitation (Vorsorge) sowie als sich anschließende Übergangsmaßnahmen nach einer Rehabilitation bzw. Adaption (Nachsorge). Unter die EGH fallen auch langfristige stationäre, teilstationäre und ambulante Maßnahmen für chronisch beeinträchtigte Abhängigkeitserkrankte, sofern der Anspruch auf medizinische Rehabilitation nicht oder nicht mehr besteht (BGV 2014).
Fragestellung und Design
Die Zunahme an Personen pro Jahr, die Neu- bzw. Weiterbewilligungen erhalten, der Anstieg der Gesamtdauer bewilligter Maßnahmen sowie die generelle Kostensteigerung der EGH für Suchtkranke sind der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Die Studie sollte Hintergründe der genannten Entwicklungen klären sowie die Zielerreichung der Maßnahmen der Eingliederungshilfe Sucht untersuchen.
Die besondere Aufgabe oder Zielsetzung der Eingliederungshilfe besteht darin, „den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen“ (SGB XII, §53) und dabei „möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände“ zu lassen und Selbstbestimmung zu fördern (SGB IX, §9, Abs. 3). Das zeigt sich an Kriterien wie finanzieller Unabhängigkeit, eigenem Wohnraum, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und dem Nachgehen einer Beschäftigung. Bei Klientinnen und Klienten mit multiplen und chronischen Problemlagen, die sich häufig in Maßnahmen der Eingliederungshilfe befinden, nachdem vorrangige Kostenträger ausgeschieden sind, ist die Erreichung dieser Ziele allerdings nicht in einem Schritt, sondern nur koordiniert in der Versorgungskette möglich. Bei der Evaluation der Maßnahmen der EGH gelten daher die folgenden Verläufe am Ende einer Maßnahme als wichtige Indikatoren von Zielerreichung: der dauerhafte Maßnahmeabschluss (ohne Wiedereintritt), die Vermittlung in Maßnahmen vorrangiger Träger sowie die Vermittlung in Maßnahmen, die den Übergang in eine selbstbestimmte Lebensführung unterstützen.
Die Fragestellungen zur Zielerreichung in der EGH sowie zu maßnahme- und personenbezogenen Faktoren der Zielerreichung wurden insbesondere durch den Vergleich von Gruppen mit unterschiedlich intensiver Inanspruchnahme (gemessen in Tagen der Nutzung von EGH-Maßnahmen über fünf Jahre) retrospektiv untersucht.
In einer zusätzlichen prospektiven Untersuchung von Klientinnen und Klienten, die neu in Maßnahmen der EGH eingetreten sind, geht es vorrangig um die Wirksamkeit bezogen auf vereinbarte Ziele der Maßnahmen innerhalb eines 6-Monats-Zeitraums.
Die Evaluation der Eingliederungshilfe erfolgt anhand dreier Untersuchungsmodule: retrospektiv auf Grundlage der Dokumentation aller Maßnahmen der Eingliederungshilfe der letzten fünf Jahre (A), vertiefend aufgrund einer Aktenanalyse intensiverer Nutzer (B) sowie prospektiv für Neuaufnahmen in Maßnahmen der EGH (C).
A) Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe Sucht über fünf Jahre (Gesamtübersicht)
Die Untersuchung des Versorgungsgeschehens erfolgte retrospektiv über einen 5-Jahres Zeitraum (2010 bis 2014). In dieser Zeit wurden in Hamburg fast 10.000 Maßnahmen der Eingliederungshilfe von etwa 3.000 unterschiedlichen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung in Anspruch genommen. Dabei wurden pro Jahr knapp 2.000 Maßnahmen der EGH von 1.100 bis 1.200 verschiedenen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung genutzt (Abbildung 1). Die Anzahl der Personen erhöht sich, aber noch stärker steigt die Anzahl an Tagen, die pro Person pro Jahr insgesamt in EGH-Maßnahmen verbracht wurden. Die durchschnittliche Maßnahmedauer pro Person steigt im 5-Jahresverlauf von 148 auf 181 Tage an.
Abbildung 1: Entwicklung der Maßnahmedauer in Tagen (MW) pro bewilligter Maßnahme und pro Person sowie Entwicklung der Anzahl von Maßnahmen und Personen über die Jahre 2010 bis 2014
Hinsichtlich der Art der Beendigungen von Maßnahmen wird insgesamt, bezogen auf den 5-Jahres-Zeitraum, ein Drittel der Maßnahmen regulär beendet, und bei einem weiteren Drittel folgen fortgesetzte Maßnahmen in der Eingliederungshilfe. Das übrige Drittel der EGH-Maßnahmen wird abgebrochen (durch den Klienten oder durch die Einrichtung). Im Verlauf der fünf Jahre geht der Anteil regulärer Beendigungen zurück, und es steigt der Anteil an Maßnahmen, die in der EGH fortgesetzt bzw. verlängert werden.
Die Fortsetzung von Maßnahmen konzentriert sich auf bestimmte Maßnahmetypen. Die Typen von Maßnahmen werden in der Eingliederungshilfe Sucht traditionell unterteilt nach dem Inhalt, und zwar nach Vorsorge, Nachsorge, Übergang sowie nach der Art der Erbringung: stationär, teilstationär oder ambulant. Bei den fortgesetzten Maßnahmen handelt es sich eher um Maßnahmen am Ende der Versorgungskette der Eingliederungshilfe, bei denen, wenn der Übergang in eine selbstbestimmte Lebensführung oder die Vermittlung an vorrangige Kostenträger noch nicht gelingt, weitere Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgen, die längerfristig angelegt sind. Ein fortlaufender, dauernder Verbleib in Maßnahmen der Eingliederungshilfe betrifft etwa ein Zehntel des Personenkreises mit Abhängigkeitsstörungen in der EGH.
B) Merkmale intensiver Nutzer der Eingliederungshilfe
Die Frage nach personenbezogenen Merkmalen von Menschen, die EGH intensiver in Anspruch nehmen, sollte durch eine Analyse von Personenakten untersucht werden. Die vorliegenden Akten wurden konsekutiv nach folgenden Kriterien einem Screening unterzogen: innerhalb der letzten fünf Jahre mindestens zwei Jahre ununterbrochen in Maßnahmen oder im selben Zeitraum mehr als dreimalige Inanspruchnahme von Maßnahmen in Einrichtungen der EGH.
Es wurden 302 Akten nach den genannten Kriterien zufällig ausgewählt. Die betroffenen Personen waren im Durchschnitt in den letzten fünf Jahren 902 (±538) Tage in EGH-Maßnahmen. Bei den Personen, deren Akten nicht in die Analyse einbezogen wurden, waren es 221 (±294) Tage, woraus erkennbar wird, dass sich die hier untersuchten intensiven Nutzerinnen und Nutzer im Vergleich zu der übrigen Klientel seit 2010 viermal länger in EGH-Maßnahmen befanden.
Die intensiven Nutzer wurden nochmal anhand des Kriteriums über/unter 730 Tage (also zwei Jahre) Inanspruchnahme im Verlauf von fünf Jahren in zwei Gruppen „intensive“ und „sehr intensive Nutzer“ unterteilt. Damit sollten personen- und maßnahmebezogene Aspekte identifiziert werden, die mit einer besonders intensiven Inanspruchnahme assoziiert sind.
Die „sehr intensiven Nutzer“ waren bei einer Gesamtzahl von 1.312 Aufenthaltstagen seit 2010 (das sind mehr als drei von fünf Jahren) gegenüber den „intensiven Nutzern“ mit durchschnittlich 404 Tagen (etwas über einem Jahr) erheblich länger in EGH-Maßnahmen (Tabelle 1). Sie sind im Durchschnitt fast fünf Jahre älter. Andere personenbezogene Faktoren, darunter Primärdroge, Störungsbeginn und ‑dauer, Komorbiditäten (psychiatrisch, körperlich), Kinder sowie Partnerbeziehung, differenzieren nicht zwischen den Gruppen, d. h., bezogen auf diese Aspekte haben beide Gruppen gleich problematische Ausgangsbedingungen. Nur in gesetzlicher Betreuung sind die „sehr intensiven Nutzer“ signifikant häufiger.
Die letzte Maßnahme in der Eingliederungshilfe dauerte bei der Klientel, die sich durch eine „sehr intensive“ Inanspruchnahme auszeichnet, mit durchschnittlich 29 Monaten (also 2,5 Jahren) deutlich länger als in der Vergleichsgruppe (ein halbes Jahr). Während „intensive“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger zuletzt Maßnahmen der stationären Vorsorge und Nachsorge wahrgenommen haben, befinden sich die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger in teilstationären Übergangseinrichtungen und ambulanten Maßnahmen, in denen vermehrt die längerfristig angelegten Betreuungen erfolgen.
Unter den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern beträgt der Anteil derer, die die Maßnahme dauerhaft beenden („Beendigung der Maßnahme“) 30 Prozent und ist damit geringer als bei den „intensiven“ Nutzern (70 Prozent). Das heißt, die Maßnahme wird mehrheitlich über den letzten Bewilligungszeitraum hinaus verlängert. Bei diesem Verbleib der „sehr intensiven“ Nutzer in Maßnahmen handelt es sich, wie oben angedeutet, häufig um Aufenthalte in längerfristig angelegten teilstationären und ambulanten Maßnahmen wie z. B. die Betreuung im eigenen Wohnraum.
Hinsichtlich der zu erreichenden Zielsetzungen zeigen sich in den wiederholten längerfristigen Maßnahmen positive Effekte. Das gilt z. B. für funktionale Beeinträchtigungen nach ICF, die zu Beginn und am Ende von Maßnahmen dokumentiert werden. Das Ausmaß an „funktionalen Beeinträchtigungen insgesamt“ bezogen auf die letzte Maßnahme nimmt im Verlauf in beiden Gruppen signifikant ab. Dabei verbessern sich die „sehr intensiven Nutzer“ etwas weniger (Tabelle 1).
Die vereinbarten Zielsetzungen der beiden Gruppen unterscheiden sich kaum. Am häufigsten werden in beiden Gruppen suchtmittelbezogene Ziele zur Einleitung bzw. Sicherung der Abstinenz vereinbart. Inhaltlich geht es für die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger um gesundheitsbezogene Ziele und um Ziele im Hinblick auf die grundlegende Bewältigung von Alltag und Haushalt. Bei den „intensiven Nutzern“ geht es häufiger um Ziele, die sich auf das eigenständige Wohnen beziehen. Eine Verbesserung in den Zielbereichen Sucht und Alltagsbewältigung ist im Rahmen des letzten Bewilligungszeitraums insgesamt häufiger bei den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern zu beobachten. Bei „intensiven Nutzern“ finden sich zu einem geringeren Anteil Verbesserungen (und damit häufiger Verschlechterungen) in den Zielbereichen persönliches Ziel, Alltagsbewältigung, Wohnen und Sucht (Tabelle 1).
C) Prospektive Untersuchung der Wirksamkeit
Mit der prospektiven Untersuchung wurde für neu in die Eingliederungshilfe eintretende Klientinnen und Klienten die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen hinsichtlich der vereinbarten suchtbezogenen und teilhabebezogenen Zielsetzungen untersucht. Für die Erhebung konnten über einen Zeitraum von zwölf Monaten 255 Klientinnen und Klienten erreicht werden, von denen in der Nach- bzw. Abschlusserhebung 247 Klienten durch die Fachkräfte wieder erreicht wurden, wobei nur von einem Teil (N=136) auch der selbst ausgefüllte Klientenfragebogen vorlag.
Die Mehrheit der Untersuchungsteilnehmer befand sich in einem stationären Setting, nur ein Zehntel war in einer teilstationären Maßnahme. Bei über der Hälfte der Maßnahmen handelt es sich um Vorsorge, womit dieser Maßnahmetyp in der prospektiven Untersuchung aufgrund des Einschlusskriteriums des Neueintritts überrepräsentiert ist. Zu Maßnahmebeginn waren die Klienten im Durchschnitt gut 40 Jahre alt und liegen damit nur leicht unter dem Durchschnittsalter der Klienten der Eingliederungshilfe in Hamburg insgesamt (41,7 Jahre). Mehr als vier Fünftel sind Männer. Bei zwei Dritteln geht es vorrangig um Alkoholprobleme, etwa ein Fünftel gab ‚harte‘ illegale Drogen wie Heroin oder Kokain als Hauptproblemsubstanz an.
Die Evaluation zeigt, dass die Zielsetzungen mehrheitlich erreicht werden. So haben aus Sicht der Fachkräfte mehr als zwei Drittel der Untersuchungsteilnehmer ihre suchtbezogene Zielsetzung überwiegend oder sogar vollständig erreicht (Abbildung 2, linke Seite). Bei mehr als zwei Dritteln hat sich der Umgang mit Suchtmitteln verbessert (Abbildung 2, rechte Seite).
Abbildung 2: Erreichung suchtbezogener Zielsetzung (links) und Umgang mit Suchtmitteln (rechts) wäh¬rend der Maßnahme aus Sicht der Betreuer (N=246)
In zentralen Lebensbereichen wie z. B. Gesundheit, Freizeitaktivitäten oder sozialen Beziehungen kam es während der Maßnahme aus Sicht der Klientinnen und Klienten sowie der Fachkräfte zu deutlichen Verbesserungen.
Gefragt nach dem Grad der Zielerreichung bei den von den Klientinnen und Klienten persönlich formulierten „zwei wichtigsten“ Zielsetzungen, gab die Mehrheit für beide Ziele an, dass eine Erreichung „eher“ oder sogar „völlig“ zutreffe. Insbesondere das erstgenannte Ziel, das sich vorrangig auf die Bewältigung ihrer Suchtproblematik bezieht, wurde von fast zwei Dritteln vollständig erreicht (Abbildung 3, linke Seite). Nur knapp sechs Prozent teilten mit, dass dies nicht zutrifft. Bezogen auf das zweite persönliche Ziel ist es ein Zehntel, das angab, dieses nicht erreicht zu haben (Abbildung 3, rechte Seite). Schaut man auf die Ziele, die nicht erreicht wurden, so sind es unter den wichtigsten hauptsächlich wohnungsbezogene Zielsetzungen (zu 40,0 Prozent) und unter den zweitwichtigsten ebenfalls wohn- (zu 46,7 Prozent) und arbeitsbezogene Ziele (zu 37,5 Prozent).
Abbildung 3: Erreichung der zwei wichtigsten persönlichen Zielsetzungen während der Maßnahme aus Sicht der Klienten
In fast allen standardisiert erhobenen Untersuchungsbereichen sind statistisch signifikante positive Veränderungen während der Eingliederungshilfemaßnahme eingetreten. Die Leistungsbeeinträchtigungen nach ICF sind zurückgegangen, und die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich im körperlichen und psychischen Bereich während der Maßnahme signifikant verbessert. Auch die psychische Symptombelastung hat sich insgesamt verringert. In der prospektiven Untersuchung zeigt sich eine hohe Zufriedenheit bei den Teilnehmern mit den Bereichen Ausstattung und Atmosphäre, Betreuung, Behandlungsverlauf sowie Vorbereitung auf die Zeit nach der Betreuung.
Ferner erhöhte sich die Selbstwirksamkeitserwartung unter der Betreuung deutlich, was für eine Stabilisierung der eingetretenen Veränderungen von Bedeutung sein dürfte. Bezogen auf die Ziele der Eingliederungshilfe erweisen sich die hier untersuchten Maßnahmen überwiegend als erfolgreich.
Mit der prospektiven Untersuchung konnte im Rahmen einer externen Evaluation für die Eingliederungshilfe gezeigt werden, dass die definierten Ziele zu einem großen Anteil vollständig erreicht werden. Das bekräftigt die Stellung der Eingliederungshilfe als ein Versorgungssegment für Menschen mit Abhängigkeitsproblemen, die im Rahmen der regulären Gesundheitsversorgung sowie des Rehabilitationswesens nicht erreicht werden bzw. denen die (vorwiegend stationären) Behandlungsmaßnahmen der Regelversorgung nicht zugänglich sind.
Kontakt:
Dr. Peter Degkwitz
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS)
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Tel. 040/74 10 57 904 p.degkwitz@uke.de www.zis-hamburg.de
Angaben zum Autor:
Dr. Peter Degkwitz, Sozialwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg. Er arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre in epidemiologischen Projekten sowie zur Evaluation von harm reduction-Maßnahmen und Substitutionsbehandlung. Sein besonderes Interesse gilt interdisziplinaren Suchtmodellen.
Literatur:
Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) (2014) Suchthilfebericht 2013.Hamburg