Kategorie: Kurzmeldungen

  • Mitte-Studie 2022/23

    Die Mitte der Gesellschaft wird zunehmend empfänglich für extremistische und demokratiefeindliche Einstellungen. Das zeigt die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Menschenfeindliche Einstellungen nehmen zu, ein Teil der Mitte radikalisiert sich.

    Folgende Ergebnisse sind der Website der Friedrich-Ebert-Stiftung entnommen:

    Rechtsextreme Einstellungen sind stark angestiegen und weiter in die Mitte gerückt.

    Jede zwölfte Person in Deutschland teilt ein rechtsextremes Weltbild. Mit acht Prozent ist der Anteil von Befragten der Mitte-Studie 2022/23 mit klar rechtsextremer Orientierung gegenüber dem Niveau von knapp zwei bis drei Prozent in den Vorjahren erheblich angestiegen. Dabei befürworten mittlerweile über sechs Prozent eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland (2014-2021: zwei bis vier Prozent). Über 16 Prozent behaupten eine nationale Überlegenheit Deutschlands, fordern „endlich wieder“ Mut zu einem starken Nationalgefühl und eine Politik, deren oberstes Ziel es sein sollte, dem Land die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zustehe (2014-2021: neun bis 13 Prozent). Zudem vertreten die Befragten mit fast 6 Prozent vermehrt sozialdarwinistische Ansichten und stimmen zum Beispiel der Aussage zu „Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ (2014-2021: zwei bis drei Prozent). Auch der Graubereich zwischen Ablehnung und Zustimmung zu den rechtsextremen Einstellungen ist jeweils deutlich größer geworden. Die politische Selbstverortung von Befragten hat rechts der Mitte mit 15,5 Prozent ebenfalls von zuvor knapp zehn Prozent deutlich zugenommen.

    Ein Teil der Mitte distanziert sich von der Demokratie, ein Teil radikalisiert sich.

    Das Vertrauen in die Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie sinkt auf unter 60 Prozent. Ein erheblicher Teil der Befragten vertritt verschwörungsgläubige (38 Prozent), populistische (33 Prozent) und völkisch-autoritär-rebellische (29 Prozent) Positionen. Im Vergleich zur Befragung während der Coronapandemie 2020/21 ist dies ein Anstieg um rund ein Drittel, und auch zum Jahr 2018/19 ist der Anteil potenziell demokratiegefährdender Positionen gestiegen. So denken beispielsweise inzwischen 32 Prozent, die Medien und die Politik würden unter einer Decke stecken (2020/21: 24 Prozent). Zudem stimmen in der aktuellen Mitte-Studie mit 30 Prozent fast doppelt so viele Befragte wie noch vor zwei Jahren der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk“, und ein Fünftel meint: „Unser Land gleicht inzwischen mehr einer Diktatur als einer Demokratie“ (2020/21: jeweils 16 Prozent). Die Billigung und Rechtfertigung politischer Gewalt haben auch deutlich zugenommen. 13 Prozent sind der Auffassung, einige Politiker:innen hätten es verdient, wenn „die Wut gegen sie“ in Gewalt umschlägt (2020/21: fünf Prozent).

    Menschenfeindliche Einstellungen sind wieder auf hohem Niveau.

    34 Prozent der Befragten meinen, Geflüchtete kämen nur nach Deutschland, um das Sozialsystem auszunutzen. 16,5 Prozent unterstellen jüdischen Menschen, heute ihren Vorteil aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen zu wollen. Weitere 19 Prozent schließen sich diesem Vorwurf teilweise an – diese ambivalenten und uneindeutigen Haltungen gegenüber antisemitischen Positionen wie auch anderen Formen von Abwertungen und Vorurteilen nehmen zu. 17 Prozent machen die Identität von Trans*Menschen verächtlich und rund elf Prozent fordern, Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle als Ehefrau und Mutter besinnen. Auch Klassismus als die Abwertung aufgrund des sozialen Status von Menschen ist weit verbreitet. Etwas mehr als ein Drittel teilt etwa die Auffassung, Langzeitarbeitslose würden sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen (35 Prozent). Insgesamt übersteigt die Tendenz zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der aktuellen Mitte-Studie sogar das hohe Vor-Corona-Niveau von 2018/19. Jede:r zehnte Befragte ist dabei grundsätzlich verschiedenen Minderheiten in der Gesellschaft gegenüber feindselig und diskriminierend eingestellt.

    Eine nationale Orientierung zur Krisenbewältigung geht mit demokratiegefährdenden Einstellungen einher.

    Angesichts der vielen jüngeren Krisen wie der Pandemie, dem Ukrainekrieg, der Inflation, dem Klimawandel und anderen ungelösten Problemen äußern rund 42 Prozent der Befragten Unsicherheit. Doch zur Frage, wie die Gesellschaft den Mehrfachkrisen begegnen soll, ist die Bevölkerung zwiegespalten: 53 Prozent befürworten eine Rückbesinnung auf das Nationale, fordern eine Schließung nach außen und erachten vermeintlich deutsche Werte, Tugenden und Pflichten als wesentlich für den Umgang mit den Krisen. Dies geht mit einer höheren Zustimmung zu demokratiegefährdenden Einstellungen einher. Demgegenüber stehen rund drei Viertel der Befragten zu einer offenen Gesellschaft und sagen, es komme jetzt vor allem auf Zusammenhalt (79 Prozent), Solidarität mit den Schwächsten (68,5 Prozent) und auch darauf an, auf die Wissenschaft und Expert:innen zu hören (62 Prozent). Diese Befragten haben wiederum deutlich seltener demokratiegefährdende und häufiger demokratiewahrende Einstellungen.

    Die Mehrheit der Bevölkerung sieht den Klimawandel als große Bedrohung und hat eine klimapolitisch progressive Haltung.

    Knapp ein Drittel zeigt Verständnis für die Proteste und Blockaden von Klimaaktivist:innen, und weitere 23 Prozent finden diese zumindest teilweise nachvollziehbar. Sorgen vor den Folgen des Krieges in der Ukraine wie etwa steigende Energiepreise dämpfen jedoch die Zustimmung zur Energiewende und zum Klimaschutz. Mit 26,5 Prozent aller Befragten meint sogar rund jede:r Vierte: „Wir sollten uns mit Russland einigen und wieder mehr Gas und Öl von dort beziehen.“ Wer darüber hinaus zum Krieg die Position vertritt, Russland wehre sich gegen eine „Bedrohung durch den Westen“ (22,5 Prozent), argumentiert auch sonst eher gegen die Energiewende und den Klimaschutz. Dieser Teil der Bevölkerung neigt wiederum deutlich häufiger zu Demokratiemisstrauen, Populismus und rechtsextremen Einstellungen. Umgekehrt gilt: Wer Vertrauen in die Demokratie hat, und Populismus zurückweist, ist klimapolitisch progressiver eingestellt. 65 Prozent der Befragten halten jedoch mehr Bürger:innenbeteiligung bei der Energiewende für nötig. Daran kann demokratische Kultur anknüpfen.

    Einsamkeit und soziale Ungleichheit schwächen die gesellschaftliche Teilhabe und Demokratie.

    13 Prozent der Befragten berichten, öfter oder häufig Einsamkeit zu erleben. Zugleich fühlen sie sich zuhause (28 Prozent), auf der Arbeit (36 Prozent), aber besonders auch im öffentlichen Raum (46 Prozent) vermehrt unwohl. Wer denkt, ausgeschlossen und isoliert zu sein, und das Gefühl hat, dass einem Gesellschaft fehlt, ist weniger krisenresilient, beteiligt sich politisch weniger und neigt eher zu menschenfeindlichen wie auch antidemokratischen Einstellungen als Personen, die seltener Einsamkeit erleben. Dabei wirkt sich der sozioökonomische Status ebenso auf das Erleben und Denken der Menschen zur Politik und Gesellschaft aus. Befragte mit weniger Einkommen, niedrigerem Schulabschluss sowie jene, die angeben, eher „unten“ in der Gesellschaft zu stehen, äußern häufiger Vorurteile gegenüber als „fremd“ markierten Gruppen. Doch gerade auch Befragte der sozioökonomischen Mitte gehen zunehmend auf gefährliche Distanz zu demokratischen Normen und Werten der Gleichwertigkeit aller Menschen. Entsicherung hat dabei ebenfalls einen entscheidenden Einfluss.

    Print-Publikation:
    Andreas Zick, Beate Küpper, Nico Mokros (Hg.)
    Die distanzierte Mitte
    Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23
    Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter
    Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2023
    424 Seiten, 17,00 €
    ISBN 978-3-8012-0665-9

    Friedrich-Ebert-Stiftung, 21.9.2023

  • Erste Europäische Studie zur Ausbildung medizinischer und psychologischer Suchtfachkräfte

    Die Ausbildung für Suchtspezialist:innen aus den Disziplinen Medizin und Psychologie ist in Europa sehr unterschiedlich gestaltet. Deutschland gerät hinsichtlich Ausbildungsdauer und Ausbildungsstandards im europäischen Vergleich ins Hintertreffen. Das zeigt eine Studie, die mit Beteiligung der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen erstmals die Ausbildung medizinischer und psychologischer Suchtfachkräfte untersucht.

    Die jetzt im Fachblatt „European Addiction Research“ veröffentlichte Studie der Europäischen Föderation der Suchtfachgesellschaften (EUFAS) zeigt, dass die Ausbildung für Suchtspezialist:innen europaweit sehr unterschiedlich gestaltet ist. So existiert eine offiziell anerkannte, spezialisierte suchtpsychologische Ausbildung in 17 der 24 untersuchten Länder. In diesen 17 Ländern gab es jedoch große Unterschiede: Während in Deutschland die Zusatzqualifikation „Suchtmedizin“ bereits nach einigen Wochenendkursen erlangt werden kann, gibt es beispielsweise in Norwegen hierfür einen eigenen Facharztstandard. Für die Ausbildung von psychologischen Psychotherapeut:innen sind in Deutschland noch weniger Standards vorgesehen, da laut Gesamt-Curriculum zur Psychotherapie formal gar kein Seminar notwendig ist – in der Praxis ist zumindest oft ein Wochenendseminar zum Thema Sucht enthalten.

    Nur zwei Vollzeit-Professuren für Suchtmedizin in Deutschland

    Diese Ausbildungsstandards sind in vielen anderen europäischen Ländern deutlich höher, etwa in Kroatien, Griechenland oder eben Norwegen. „Allein die Tatsache, dass es in ganz Deutschland nur zwei Vollzeit-Professuren für Suchtmedizin gibt, in Frankreich hingegen 23, belegt, dass hierzulande die Strukturen in der Suchtmedizin und der Suchtpsychologie denen in anderen medizinischen Bereichen deutlich nachstehen“, sagt Prof. Dr. Ulrich Frischknecht vom Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho), der an der Studie beteiligt war. Das erfüllt Frischknecht mit Blick auf die Cannabis-Legalisierung mit Sorge: „Im Gesetz sind die Finanzierung für die Suchtprävention, -hilfe und -forschung, aber auch die Einhaltung des Jugendschutzes nicht sicher verankert“, erklärt der Psychologe, „das stellt die Suchthilfe und vermutlich bald die Jugendämter vor weitere Herausforderungen, die bereits jetzt mit den Folgen der legalen Drogen Tabak und Alkohol zu kämpfen haben.“

    Auch seien in anderen Medizingebieten die internationalen Standards der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weit verbreitet, so der Suchtexperte, „aber gerade bei den Suchterkrankungen, die für die Betroffenen, deren Kinder und Angehörige, für Wirtschaft und Gesellschaft mit massiven Folgekosten verbundenen sind, scheinen die Interessen derer, die am Suchtmittelkonsum verdienen, deutlich zu dominieren.“ Frischknecht spricht sich zwar für eine Entkriminalisierung von Cannabis aus, jedoch nicht für eine Legalisierung, die mittelfristig einen zusätzlichen Konsummarkt eröffnet.

    In der Suchthilfe finden WHO-Standards kaum Anwendung

    Die WHO hat wichtige Standards zu Prävention, Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen wie Suchterkrankungen erarbeitet. Der wissenschaftsbasierten Forschung sind eine Vielzahl von medizinischen, psychologischen und sozialen Maßnahmen bekannt, wie man Suchtprobleme verhindern, abmildern oder sogar beheben kann. Diese sogenannte Evidenzbasierung ist in nationalen und internationalen Leitlinien niedergeschrieben und sollte in einer teuren medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung Berücksichtigung finden, um hier kosteneffizient eine gute Gesundheitsförderung und Krankenversorgung zu gewährleisten. In Deutschland jedoch findet die Evidenzbasierung in der Praxis der Suchthilfe keine oder wenig Anwendung, da wie überall zunächst gut ausgebildete Fachkräfte notwendig sind.

    Fachkräfte der Sozialen Arbeit stemmen einen Großteil der Suchthilfe

    Die Studie ist der Anfang einer Reihe von Folgestudien, da die Suchthilfe auch in vielen europäischen Ländern heterogen und damit für die Betroffenen, aber auch für die Expert:innen, nicht leicht zu überblicken ist. So wurde in der aktuellen Studie beispielsweise die Rolle der Sozialen Arbeit gar nicht untersucht. Aber insbesondere in Deutschland stemmen Fachkräfte der Sozialen Arbeit einen Großteil der Suchthilfe. „Daher sollten wir diese Berufsgruppe und deren Ausbildung in wissenschaftlich fundierten Verfahren in Zukunft fest in den Blick nehmen“, fordert Frischknecht.

    Originalpublikation:
    Jørgen G. Bramnessa, Marja Leonhardt, Geert Dome Albert Batallaf, Gerardo Flórez Menéndez, Karl Mann, Friedrich Martin Wurst, Marcin Wojnar, Colin Drummond, Emanuele Scafato, Antoni Gual, Cristina Maria Ribeiro, Olivier Cottencin, Ulrich Frischknecht, Benjamin Rolland (2023): Education and Training in Addiction Medicine and Psychology across Europe: A EUFAS Survey. European Addiction Research. DOI: 10.1159/000531502.

    Pressestelle der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, 21.9.2023

  • FREIHEIT beginnt, wo die Sucht endet

    Klinikleiter Joachim J. Jösch stellt Corinna Mäder-Linke, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Suchthilfe, die in einem Therapie-Projekt entstandene Schrift-Skulptur FREIHEIT vor. Foto: FK Vielbach

    Am Rand von Vielbach im Westerwald findet sich, eingebettet in einen alten Eichenwald, ein historischer Gebäudekomplex. Ein unauffälliges Schild informiert am Eingangstor darüber, dass es sich hier um das „Fachkrankenhaus Vielbach“ handelt. Wer oder was hier behandelt wird, erfährt man nicht.

    Bewohner der angrenzenden Gemeinde sprechen vom „Trockendock“, der „Entzugsklinik“, ältere Anwohner von der „Trinkerheilanstalt“. Was die dort Behandelten über Sinn und Zweck ihres Aufenthaltes denken, wollte vor einiger Zeit eine klinikinternen Befragung herausfinden. Die Auswertung der Rückmeldungen erbrachte unter anderem eine Sammlung negativ assoziierter Begriffe, die vor allem die entbehrungsreiche Seite einer Entwöhnungsbehandlung betonen: Abstinenz, Verzicht, Askese, Nein-Sagen-Müssen und mehr. Ein „ernüchterndes“ Ergebnis.

    Aus diesem Grund lud Klinikleiter Joachim J. Jösch die Rehabilitanden (in Vielbach werden nur Männer behandelt) zu einem Therapie-Workshop ein. Hier überlegten die Teilnehmer, wie ein für die Sucht-Rehabilitation ganz wichtiges Anliegen, nämlich die Befreiung von der Abhängigkeit, nach innen und außen besser kommuniziert bzw. dargestellt werden könnte.

    Die kollektive Erkenntnis lautete: „Freiheit beginnt da, wo die Sucht endet!“ Freiheit als zentrales Therapieziel sollte deshalb vor der Klinik deutlich sichtbar gemacht werden. Ermutigt und gefördert vom Klinikleiter beschlossen die Rehabilitanden, diesem Statement eine Form zu geben und diese vor der Klinik zu platzieren. In einer Kooperation von Kunst- und Arbeitstherapie sollten sie den Auftrag therapeutisch vorbereiten und anschließend umsetzen.

    In der Klinik-Schlosserei stellten die Männer, begleitet von ihrem Arbeitstherapeuten, acht zwei Meter hohe Metall-Buchstaben her. Im Frühjahr 2020 sollte mit diesen Lettern eine sogenannte Schrift-Skulptur vor der Klinik installiert werden.

    Doch dann kam Corona. Mit den bekannten, zuvor unvorstellbar großen Einschränkungen der (Bewegungs-)Freiheit einschließlich „Lockdown“ und vielen anderen Disziplinierungen für die Rehabilitanden. Die Installation wurde verschoben. Die Beteiligten glaubten fest daran, das Kunst-Projekt noch 2020 vollenden zu können.

    Fachkrankenhaus Vielbach mit Schrift-Skulptur. Foto: FK Vielbach

    Es sollte dann erheblich länger dauern. Aber im Spätsommer 2023 war es soweit: FREIHEIT konnte vor der Klinik errichtet werden. Zur Einweihung kamen auch etliche der Männer, die 2020 an der Entstehung mitgewirkt hatten. Sie sind, ebenso wie die jetzt bei der Montage beteiligten Rehabilitanden, mächtig stolz, an diesem für viel Aufmerksamkeit sorgenden Therapie-Projekt beteiligt gewesen zu sein.

    Das prächtige Vielbacher Klinik-Hauptgebäude war schon immer ein beliebtes Fotomotiv. Das wird, zusammen mit der FREIHEIT, nun zu Recht noch einmal getoppt.

    Joachim J. Jösch, Leiter des Sucht-Hilfe-Zentrums Vielbach, 14.9.2023

  • Frankfurter Cannabis-Studie

    Hintergrund für die Befragung sind die von der Bundesregierung geplanten weitreichenden Änderungen in Bezug auf den Umgang mit Cannabis zum Freizeitkonsum. Im Eckpunktepapier der Bundesregierung vom April ist als erster Schritt eine Entkriminalisierung vorgesehen. Eigenanbau und die Mitgliedschaft in Anbauvereinen sollen ermöglicht werden. Dafür liegt mittlerweile ein erster Gesetzentwurf vor. Der zweite Schritt sieht die modellhafte Erprobung einer kommerziellen Lieferkette für Genusscannabis in ausgewählten Regionen vor. Die Stadt Frankfurt am Main hat bereits angekündigt, sich gemeinsam mit der Stadt Offenbach als Modellregion zu bewerben.

    „Viele Fragen zur Ausgestaltung der Neuregelungen sind noch offen“, betont Dr. Artur Schroers, der Leiter des Drogenreferats. „Doch unabhängig von der konkreten Umsetzung werden sich die kommenden Veränderungen auf eine Großstadt wie Frankfurt am Main auswirken. Deswegen war es uns wichtig, belastbare Daten über die Einstellungen, Erwartungen und Bedarfe der Stadtbevölkerung rund um das Thema Cannabis zu erhalten.“

    Eigentlich sollte die Studie bereits im Juni 2023 veröffentlicht werden. Aufgrund eines Manipulationsversuchs der Studienergebnisse verzögerte sich der Termin. 350 sehr aufwändig gefälschte Fragebögen waren in ebenfalls gefälschten Rückumschlägen an das auswertende Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (ISD) in Hamburg geschickt worden. Durch eine umfangreiche Überprüfung aller eingegangenen Fragebögen konnten alle Fälschungen zweifelsfrei aufgespürt und aus dem Datensatz entfernt werden.

    Hohe Zustimmungswerte zu einer Legalisierung

    10.000 zufällig ausgewählte Erwachsene in Frankfurt wurden angeschrieben. Es gab die Möglichkeit zur postalischen Beantwortung und zu einer Online-Teilnahme. Die Netto-Rücklaufquote betrug 27,3 Prozent. Das ist für eine postalische Befragung dieser Art ein guter Wert.

    Die Frankfurterinnen und Frankfurter sprechen sich mehrheitlich für eine Legalisierung von Cannabis aus: 65,8 Prozent der Befragten befürworten uneingeschränkt oder eher die kontrollierte Abgabe von Cannabis zu Genusszwecken an Erwachsene. Dies gilt etwas mehr für Männer (70,6 Prozent) als für Frauen (60,5 Prozent). Die Zustimmung steigt zudem mit der Höhe der Bildungsabschlüsse. Die Befragten ohne Schulabschluss oder mit einem Hauptschulabschluss sprechen sich zu 56,1 Prozent eher oder absolut für die Legalisierung aus, Befragte mit Mittlerer Reife zu 62,2 Prozent und Befragte mit (Fach-)Abitur zu 70,1 Prozent. Starke Unterschiede werden auch beim Alter sichtbar: Tendenziell ist die Zustimmung unter den jüngeren Befragten stärker ausgeprägt: Während bei den 25- bis 34-Jährigen ungefähr drei von vier Befragten (78,2 Prozent) einer Legalisierung absolut oder eher zustimmen, sind es bei den 65- bis 79-Jährigen nur etwas mehr als die Hälfte (52,1 Prozent).

    Hilfesystem stößt auf hohe Akzeptanz, aber auf geringe Bekanntheit

    Von großer Bedeutung sind für den Leiter des Drogenreferats Schroers die Einschätzungen der Befragten zum Hilfesystem. 87,6 Prozent der Befragten würden einer Person aus ihrem Freundes- oder Familienkreis mit problematischem Cannabiskonsum sicher oder wahrscheinlich empfehlen, Hilfe-Einrichtungen aufzusuchen. Und sogar 92,9 Prozent würden bei problematischem Cannabiskonsum sicher oder wahrscheinlich Drogen- und Suchtberatungsstellen für sich in Anspruch nehmen oder einer anderen Person empfehlen. Schroers schließt daraus: „Die Frankfurter Bürgerinnen und Bürger vertrauen dem vorhandenen Hilfesystem und insbesondere den Drogen- und Suchtberatungsstellen.“

    Der hohen Akzeptanz des Hilfesystems steht allerdings die geringe Bekanntheit gegenüber: Mehr als die Hälfte der Befragten (54,9 Prozent) wissen ganz sicher oder wahrscheinlich nicht, wo sie für sich oder andere Personen Hilfe bei einem problematischen Cannabiskonsum in Frankfurt bekommen könnten. Das betrifft vor allem Personen mit geringer formaler Bildung: Zwei von drei Befragten (63,8 Prozent) ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss geben an, ganz sicher oder wahrscheinlich nicht zu wissen, wo sie sich bei einem problematischen Cannabiskonsum in Frankfurt hinwenden könnten. Für Schroers ergibt sich daraus: „Der Bekanntheitsgrad der Hilfsangebote muss verbessert werden.“

    Interessanterweise geben auch fast zwei von drei Personen (63,6 Prozent) an, sicher oder wahrscheinlich eine Beratung in einer Cannabis-Verkaufsstelle als Informationsmöglichkeit in Anspruch nehmen zu wollen, wenn es zu einer Legalisierung kommt. Noch mehr sind es bei den besonders betroffenen Gruppen wie den Personen mit Cannabiskonsum in den letzten 30 Tagen, den jungen Erwachsenen bis 25 Jahren und den Personen, die im Falle einer Legalisierung erstmals oder zum ersten Mal nach langer Zeit Cannabis konsumieren würden. Für Schroers unterstreichen diese Daten die hohen Anforderungen, die an Abgabestellen bezüglich Vernetzung mit dem Drogen- und Suchthilfesystem und Qualifikation der Mitarbeiterschaft zu richten wären.

    Prävention und Jugendschutz sind wichtig, ebenso die Bedarfe der Konsumierenden

    „Mir ist die Beachtung von Prävention und Jugendschutz sehr wichtig“, erklärt Schroers. „Ich bin froh, dass ich damit in Frankfurt offensichtlich nicht alleine bin.“ Eine deutliche Mehrheit von 91,3 Prozent der Befragten hält schulische Prävention über die Risiken des Cannabiskonsums ab Klassenstufe 7 für sehr oder eher sinnvoll, wenn Cannabis legalisiert wird. Fast genauso hoch ist der Anteil (91 Prozent) der Personen, die sich Fortbildungen für Hausärztinnen und Hausärzte wünschen. Und eine sehr große Mehrheit setzt sich auch dafür ein, dass Cannabis nur an Volljährige abgegeben werden darf: 90,6 Prozent stimmen diesem Regelungsvorschlag absolut oder eher zu.

    Zahlreiche Ziele einer Legalisierung, wie die Zurückdrängung des Schwarzmarkts oder eine Reduzierung von Gesundheitsschäden durch verunreinigtes Cannabis, lassen sich nur erreichen, wenn Konsumentinnen und Konsumenten, die Cannabis bisher illegal beziehen, für einen dann legalen Markt gewonnen werden. Viele Details der bisherigen Überlegungen, insbesondere Eigenanbau, Cannabis Social Clubs und spezialisierte Cannabis-Verkaufsstellen, stoßen bei dieser Personengruppe auf hohe Zustimmungswerte. Zu einer THC-Obergrenze äußert sich hingegen eine Mehrheit (53,9 Prozent) mit Cannabiskonsum in den letzten 30 Tagen (absolut oder eher) ablehnend. Schroers schließt daraus: „Eine pauschale THC-Obergrenze erscheint vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nicht sinnvoll.“

    Kein massiver Anstieg des Cannabiskonsums zu erwarten

    Eine häufig geäußerte Sorge in Bezug auf eine Cannabis-Legalisierung bezieht sich auf eine daraus resultierende massive Zunahme des Konsums („Dammbruch-Szenario“). Die hier vorliegenden Daten legen einen solch dramatischen Anstieg nicht nahe. Drei von vier Befragten würden an ihrem bisherigen Konsumverhalten nichts ändern: 61 Prozent geben an, auch nach einer Legalisierung weiterhin nicht Cannabis konsumieren zu wollen. 11,7 Prozent würden ihren bisherigen Cannabiskonsum beibehalten. 13,5 Prozent können noch nicht einschätzen, ob sie ihr Verhalten ändern werden. Fast genauso viele Befragte würden Cannabis erstmalig (3,6 Prozent) oder nach einer langen Zeit ohne Konsum wieder konsumieren (8,2 Prozent). 1,4 Prozent der Befragten geben die Einschätzung ab, mehr Cannabis als bisher zu konsumieren. Immerhin 0,6 Prozent denken, es wird weniger. Diese Selbsteinschätzung der Frankfurter Bevölkerung deckt sich mit empirischen Daten aus Ländern, die bereits Erfahrungen mit einer Cannabis-Legalisierung gesammelt haben. Übersichtsarbeiten legen für den US-amerikanischen und kanadischen Raum einen eher moderaten Anstieg des Konsums unter Erwachsenen nahe.

    Für den Leiter des Drogenreferats ist es wichtig, auch die positiven Auswirkungen von Entkriminalisierung und Legalisierung in den Blick zu nehmen. Vor allem bereits Konsumierende wären von einer Reihe von Verbesserungen betroffen, ist er überzeugt: „Sie müssen keine Strafverfolgung mehr fürchten. Durch qualitätsgesicherte Produkte sind sie weniger gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Und sie treten nicht mehr zwangsläufig in Kontakt mit dem Schwarzmarkt.“

    Schroers erhofft sich von einer Legalisierung zudem eine Enttabuisierung des Themas: „Dadurch kann über Cannabis offener und ehrlicher kommuniziert werden. Dies wird sich sowohl für die Prävention bei jungen Menschen als auch für den Gesundheitsschutz als hilfreich erweisen.“

    Der vollständige Abschlussbericht sowie eine Kurzfassung davon stehen auf der Homepage des Drogenreferats zum Download zur Verfügung.

    Pressestelle der Stadt Frankfurt am Main, 5.9.2023

  • Zum Weltsuizidpräventionstag

    Anlässlich des Weltsuizidpräventionstages am 10. September macht die „Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention“ darauf aufmerksam, dass in Deutschland aktuell täglich 25 Menschen einen Suizid und schätzungsweise 500 Personen einen Suizidversuch begehen. Die aktuell diskutierten Neuregelungen zum assistierten Suizid könnten die Suizidzahlen in Folge noch einmal erhöhen. Verstärkte Bemühungen im Bereich der Suizidprävention sind nötig. Der in Deutschland entwickelte 4-Ebenen-Ansatz der Bündnisse gegen Depression ist laut eines neueren systematischen Reviews der weltweit beste und am häufigsten implementierte Interventionsansatz zur Prävention suizidaler Handlungen.

    Mehrheit der Suizide erfolgt im Kontext psychischer Erkrankungen

    2021 verstarben in Deutschland 9.215 Menschen durch Suizid – das sind mehr Menschen als im Verkehr (ca. 2.900), durch Drogen (ca. 1.800) und durch AIDS (ca. 220) zu Tode kommen (Statistisches Bundesamt, 2021). Die Zahl der Suizidversuche wird mehr als 20-mal so hoch geschätzt.

    Suizide erfolgen fast immer vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression. „Die überwältigende Mehrheit der Suizide in Deutschland sind keine Freitode, sondern die tragische Folge schwerer psychischer Erkrankungen. So geht Depression mit großem Leiden und tiefer Hoffnungslosigkeit einher. Bestehende Probleme werden in der Depression vergrößert und als unlösbar wahrgenommen. In ihrer Verzweiflung sehen Menschen dann im Suizid den einzigen Weg, diesem unerträglichen Zustand zu entkommen“, erklärt Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Die konsequente und leitlinienkonforme Behandlung der Depression und anderer psychischer Erkrankungen ist zentraler Baustein jeder Suizidprävention. Ansprechpartner sind Psychiater, Psychologische Psychotherapeuten und Hausärzte.

    In den letzten 40 Jahren hat sich die Zahl der Suizidopfer halbiert. „Der Rückgang der Suizide dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass mehr Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen sich Hilfe holen und eine Diagnose bzw. Behandlung erhalten“, so Prof. Ulrich Hegerl, der auch die Senckenberg-Professur an der Universität Frankfurt am Main inne hat. Aufgrund von Wissensdefiziten, Stigmatisierungen, der krankheitsbedingten Antriebs- und Hoffnungslosigkeit sowie vor allem auch Defiziten im Gesundheitssystem bestehen jedoch weiter große Versorgungslücken. „Es ist völlig inakzeptabel, dass ein suizidgefährdeter Mensch oft erst nach Wochen einen Facharzttermin bekommt“, so Hegerl weiter.

    Neuregelungen zum assistierten Suizid

    Über die gesetzliche Neuregelung zum assistierten Suizid soll sichergestellt werden, dass es zuverlässige Hilfsangebote für ein selbstbestimmtes Sterben gibt. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention sieht in Verbindung mit diesen Neuregelungen auch Risiken:

    „Eine verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe wird darin bestehen, sicherzustellen, dass die Entscheidung, sterben zu wollen, tatsächlich freiverantwortlich getroffen wurde und nicht Folge einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung durch die schwarze Brille der Depression ist. Problematisch ist auch, dass das Bundesverfassungsgerichtsurteil eine Normalisierung des Suizids befördern könnte. Ich habe viele depressiv erkrankte Menschen betreut, die ihre depressive Krankheitsphase nur überlebt haben, weil das Tabu sie vom Suizid abgehalten hat. Sie wollten das ihrer Familie nicht antun. Wird Suizid zu einer jedem offenstehenden Option, so kann dies die oft lebensrettende Schwelle für suizidales Verhalten senken und zu einem Anstieg auch der nicht-assistierten, krankheitsbedingten Suizide führen“, befürchtet Hegerl.

    In den Niederlanden sind im Zuge der Liberalisierung der Sterbehilfe pro Jahr nicht nur um die 6.000 Menschen durch einen assistierten Suizid aus dem Leben geschieden, sondern entgegen der Erwartung nahmen auch die Raten für die einsamen, nicht-assistierten Suizide zu. Dieser Anstieg stand im Gegensatz zu der positiven Entwicklung der Suizidraten in fast allen anderen europäischen Ländern.

    Wie Suizidprävention gelingen kann: international etablierter 4-Ebenen-Ansatz

    Der von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention unter Leitung von Prof. Ulrich Hegerl entwickelte 4-Ebenen-Interventionsansatz hat sich als ein wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen Suizidversuche und Suizide gezeigt. Es ist zudem das weltweit am häufigsten implementierte Suizidpräventionsprogramm. Der 4-Ebenen-Ansatz verbindet zwei Ziele: die bessere Versorgung von Menschen mit Depression und die Prävention von Suiziden sowie Suizidversuchen. In einer umschriebenen Region (Stadt, Gemeinde) werden dafür gleichzeitig Interventionen auf vier Ebenen gestartet:

    • Kooperation mit Hausärzten (u.a. Schulungen)
    • Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Plakatkampagne, öffentliche Veranstaltungen)
    • Schulungen von Multiplikatoren (z.B. Pfarrer, Lehrer, Journalisten, Altenpflegekräfte, Polizisten)
    • Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige, u.a. durch Informationsmaterialien, die Förderung der Selbsthilfe und das digitale Selbstmanagement-Programm iFightDepression (tool.ifightdepression.com/).

    Dieser Ansatz wurde zudem in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern (Australien, Neuseeland, Kanada und Chile) übernommen.

    Eine neue systematische Überblicksarbeit zu Ansätzen der Suizidprävention von Linskens et al. (2022) kommt zu dem Schluss, dass die 4-Ebenen-Intervention zur Suizidprävention am vielversprechendsten von allen untersuchten Ansätzen ist. „Bisher werden diese lokalen Bündnisse zur Suizidprävention durch Bürgerengagement, Ehrenamt und Spenden getragen. Äußerst hilfreich wäre es, wenn diese gerade vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuregelungen zum assistierten Suizid eine staatliche Förderung erhalten würden“, so Hegerl.

    Originalpublikationen:

    • Hegerl, U., Heinz, I., O’Connor, A., & Reich, H. (2021). The 4-Level Approach: Prevention of Suicidal Behaviour Through Community-Based Intervention. Front. Psychiatry, 12: 760491.
    • Hegerl, U., Maxwell, M., Harris, F., Koburger, N., Mergl, R., Székely, A., Arensman, E. [ … ], on behalf of The OSPI-Europe Consortium (2019). Prevention of suicidal behaviour: Results of a controlled community-based intervention study in four European countries. PLoS ONE, 14(11): e0224602.
    • Linskens, E. J., Venables, N. C., Gustavson, A. M. […] (2022). Population- and community-based interventions to prevent suicide: A systematic review. Crisis, 44(4), 330-340.

    Weitere Informationen:
    International Association for Suicide Prevention

    Pressestelle der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 7.9.2023

  • Kein Alkohol in der Schwangerschaft

    Zum Tag des alkoholgeschädigten Kindes am 9. September machen der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) darauf aufmerksam, dass Alkoholkonsum während der Schwangerschaft die Gesundheit des ungeborenen Kindes gefährdet.

    Sogenannte Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) sind in Deutschland die häufigsten angeborenen Erkrankungen. Jedes Jahr werden bundesweit mehr als 10.000 Kinder mit Schädigungen geboren, die durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft bedingt sind. Viele Betroffene sind ihr Leben lang aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten eingeschränkt. Bei etwa 3.000 Kindern jährlich liegt die schwere Form vor – das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), bei dem Fehlbildungen des Skeletts, der Extremitäten und des Gesichts sowie Nierenschäden oder Herzfehler hinzukommen können.

    Die BZgA-Kampagne „Alkohol? Kenn dein Limit.“ unterstützt werdende Eltern dabei, in der Schwangerschaft keinen Alkohol zu konsumieren: Unter www.kenn-dein-limit.de bietet sie Informationen zu den Risiken des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft und gibt Tipps, wie der Alkoholverzicht gelingen kann.

    Schwangere, denen der Verzicht schwerfällt, können sich mit dem BZgA-Online-Programm „IRIS“ unter www.iris-plattform.de kostenlos, anonym und persönlich unterstützen lassen.

    Gynäkologinnen und Gynäkologen, Hebammen sowie Geburtshelferinnen und Geburtshelfer erhalten umfassende Informationen und können Broschüren und Faltblätter kostenlos bei der BZgA bestellen, um sie im Wartebereich auszulegen oder im persönlichen Gespräch zu übergeben. Fachkräften der Schwangerenvorsorge stellt die BZgA einen Leitfaden für die Beratung Schwangerer zum Alkoholverzicht zur Verfügung.

    Auch Schülerinnen und Schüler werden adressiert: In Kooperation mit der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung e. V. werden für Schulklassen Informationsstunden zum Thema „Prävention des Fetalen Alkoholsyndroms“ angeboten. Informationen: www.äggf.de/gesundheitsthemen/fetales-alkoholsyndrom-fasd/

    Infomaterialien der BZgA:

    Gemeinsame Pressemitteilung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, 7.9.2023

  • Regionale Verteilung von ambulant versorgten HIV-Patient:innen

    Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat eine aktuelle Versorgungsatlas-Studie zu „Regionalen Variationen in der Häufigkeit von Patient:innen mit HIV im ambulanten Sektor in Deutschland 2021“ vorgelegt.

    2021 waren in Deutschland insgesamt 72.636 gesetzlich Versicherte wegen HIV (Human Immunodeficiency Virus = Humanes Immundefizienz-Virus) in vertragsärztlicher Behandlung. Dies entspricht einer HIV-Diagnoseprävalenz von 101 je 100.000 Versicherten. Von diesen waren 56.895 männlich (78 Prozent) und 15.741 (22 Prozent) weiblich.

    Auf Kreisebene variierte dieser Wert um den Faktor 32 zwischen 13 und 417 je 100.000 Versicherten. Die höchsten Diagnoseprävalenzen zeigten sich in den kreisfreien Großstädten Berlin (417), Frankfurt am Main (406), Köln (389), Hamburg (270), München (266), Stuttgart (257), Offenbach am Main (248), Mannheim (222) und Nürnberg (191). Dünn besiedelte ländliche Kreise wiesen hingegen die niedrigsten Werte auf.

    Es fand sich ein bundeslandübergreifendes Cluster mit vergleichsweise hohen HIV-Diagnoseprävalenzen vorwiegend in Südhessen mit sieben Kreisen (Frankfurt am Main, Groß-Gerau, Hochtaunuskreis, Main-Taunus-Kreis, Stadt Offenbach am Main, Landkreis Offenbach und Wiesbaden) und einem Kreis in Rheinland-Pfalz (Mainz). Weitere größere Cluster waren mit vier Kreisen in Nordrhein-Westfalen (Köln, Düsseldorf, Leverkusen und Rhein-Erft-Kreis) und zwei länderübergreifenden Kreisen in Mannheim (Baden-Württemberg) und Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) zu erkennen.

    Auf Ebene der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) variierte die HIV-Diagnoseprävalenz um den Faktor 11 zwischen 37 und 417 je 100.000 Versicherten. Sie war am niedrigsten in allen östlichen KV-Bereichen mit Thüringen (37), Sachsen-Anhalt (40), Sachsen (56), Mecklenburg-Vorpommern (58) und Brandenburg (61) sowie im westlichen KV-Bereich Westfalen-Lippe (59). Hohe Diagnoseprävalenzen waren in Hessen (123), Nordrhein (132), Bremen (165) und Hamburg (270) zu verzeichnen. Der höchste Wert zeigte sich in Berlin mit 417 Patient:innen mit HIV je 100.000 Versicherten.

    Das sind die zentralen Ergebnisse einer aktuellen Versorgungsatlas-Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zu „Regionalen Variationen in der Häufigkeit von Patient:innen mit HIV im ambulanten Sektor in Deutschland 2021“, die Ende August veröffentlicht wurde. Bei der Untersuchung haben außerdem die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä) und das Robert Koch-Institut (RKI) mitgewirkt.

    Anwendung der Ergebnisse

    „Unsere kleinräumige Datenanalyse liefert für Deutschland erstmals belastbare Kennzahlen zur regionalen Verteilung von Patientinnen und Patienten mit HIV. Diese Daten bis hinunter auf die Kreisebene sind von besonderer Bedeutung, da sie die Planung der medizinischen Versorgung unterstützen können. Zudem ist es wichtig, potenzielle Risikogebiete mit erhöhter HIV-Diagnoseprävalenz zu identifizieren, um dort gezielte Präventionsmaßnahmen anbieten zu können. Vor allem in urbanen Schwerpunktregionen, in denen die Zahlen der besonders betroffenen Risikogruppen wie intravenös Drogengebrauchende und Männer, die Sex mit Männern haben, überdurchschnittlich hoch sind, kann gezielt mit Aufklärungsmaßnahmen und Versorgungsangeboten angesetzt werden“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.

    Nun könne bewertet werden, wie sich der in der aktuellen Studie ermittelte regionale Bedarf in die bestehenden Strukturen der in Deutschland etablierten ambulanten HIV-Schwerpunkt-Versorgung übertragen lässt, so von Stillfried weiter. „Eine Folgestudie sollte untersuchen, in welchem Verhältnis regionale Nachfrage- und Angebotsstrukturen in der HIV-Versorgung zueinanderstehen – und welche Schlüsse sich daraus zur Sicherstellung und zu Versorgungseffekten ziehen lassen können.“

    HIV-Infektion

    Eine Infektion mit dem Virus HIV (Human Immunodeficiency Virus = Humanes Immundefizienz-Virus) schädigt oder zerstört bestimmte Zellen der Immunabwehr. Sie macht den Körper anfällig für Erkrankungen, die bei nicht infizierten Menschen in der Regel unproblematisch verlaufen. Unbehandelt kann eine HIV-Infektion zu AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome) führen. Die Ansteckung mit dem HI-Virus erfolgt am häufigsten beim Geschlechtsverkehr. Ein weiterer Übertragungsweg ist die Ansteckung durch HIV-infiziertes Blut. Dies gilt insbesondere für den gemeinsamen Gebrauch von Spritzen und Spritzenzubehör unter Drogengebrauchenden. Ebenso können Schwangerschaft, Geburt und Stillen bei Müttern mit HIV zu einer Ansteckung des Kindes führen. Kondome, saubere Spritzen und Spritzutensilien schützen vor einer HIV-Infektion. Bei Menschen mit HIV führt die regelmäßige Einnahme von antiretroviralen Medikamenten dazu, dass die Virusmenge im Blut sehr gering ist, so dass HIV nicht nachweisbar ist und nicht übertragen werden kann. Die meisten Menschen mit HIV, die unter Behandlung stehen, können lange Zeit mit dem Virus leben, ohne an AIDS zu erkranken.

    Datengrundlage

    Datengrundlage waren die bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten gemäß § 295 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) aus dem Jahr 2021. Die Studienpopulation bildeten alle gesetzlich Versicherten mit mindestens einem Arztkontakt im Jahr (N = 72.041.683). Versicherte, bei denen die Diagnosecodes B20, B22 oder B24 mit der Zusatzbezeichnung „gesichert“ nach ICD-10-GM (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, German Modification) in mindestens einem Quartal im Kalenderjahr codiert waren, wurden als vertragsärztliche Patient:innen mit HIV definiert. Berechnet wurde die Diagnoseprävalenz je 100.000 insgesamt sowie nach Geschlecht, Alter und verschiedenen geographischen Regionen. Kleinräumige Unterschiede in der Diagnoseprävalenz sind auf Ebene der Landkreise und der kreisfreien Städte (n = 401 Kreise) untersucht worden.

    Originalpublikation:
    Akmatov MK, Hu E, Rüsenberg R, Kollan C, Schmidt D, Kohring C, Holstiege J, Bickel M, Bätzing J. Kurzbericht: Regionale Variationen in der Häufigkeit von Patient:innen mit HIV im ambulanten Sektor in Deutschland, 2021. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas-Bericht Nr. 23/09. Berlin 2023. https://doi.org/10.20364/VA-23.09

    Pressestelle des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung, 31.08.2023

  • Begutachtungszahlen für die Fahreignung im Jahr 2022

    Zu den von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) veröffentlichten Begutachtungszahlen für die Fahreignung im Jahr 2022 sagt Marc-Philipp Waschke, Referent für Fahrerlaubnis, Fahreignung und Verkehrssicherheit beim TÜV-Verband:

    „Gibt es Zweifel an der Fahreignung oder besteht nach einer Auffälligkeit im Straßenverkehr Wiederholungsgefahr, müssen Betroffene eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) absolvieren. Die aktuellen Zahlen der Bundesanstalt für Straßenwesen für das Jahr 2022 zeigen, dass die Begutachtungsanlässe im Rahmen einer MPU zurückgehen, im Vergleich zum Vorjahr um rund vier Prozent. Während im Jahr 2021 rund 90.000 Begutachtungen stattfanden, waren es im Jahr 2022 noch 87.180.

    Um die Zahlen einzuordnen, müssen die Effekte der Corona-Pandemie berücksichtigt werden. Denn im Vergleich zu 2019 sind die Gesamtzahlen gestiegen. Besonders die steigende Anzahl von Begutachtungen aufgrund des Fahrens unter Drogen- oder Medikamenteneinfluss ist beunruhigend. Trotz eines leichten Rückgangs zum Vorjahr stiegen sie im Vergleich zu 2019 um 17 Prozent.

    Drogen am Steuer stellen ein immer größeres Problem dar. Im Gegensatz zu Alkohol gilt bei anderen Rauschmitteln eine Nulltoleranz. Wer unter dem Einfluss von Drogen wie Kokain, Heroin oder Ecstasy am Steuer eines Kraftfahrzeugs aufgegriffen wird, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Bereits beim ersten Verstoß zahlen Fahrer:innen ein Bußgeld von 500 Euro, erhalten zwei Punkte in Flensburg und müssen ihren Führerschein für einen Monat abgeben. Außerdem wird in der Regel eine MPU angeordnet.

    Werden Fahrauffälligkeiten und Ausfallerscheinungen festgestellt und ist der Drogennachweis im Blut positiv, wird sogar ein Strafverfahren eingeleitet. Dann droht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Außerdem erfolgt der Entzug der Fahrerlaubnis für mindestens zehn Monate und die Eintragung von zwei bzw. drei Punkten ins Fahreignungsregister. Um den Führerschein wiederzuerlangen, ist eine erfolgreiche MPU nötig.“

    Alkoholbedingte Verstöße weiterhin wichtiger Grund für Anordnung einer MPU

    „Trunkenheitsfahrten und andere Alkoholdelikte sind mit knapp 36 Prozent immer noch ein dominierender Grund für die Anordnung einer MPU. Ab einer Alkoholkonzentration von 1,1 Promille im Blut gelten Fahrer:innen als absolut fahruntüchtig und begehen eine Straftat. Diese wird mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe und dem Entzug der Fahrerlaubnis für mindestens sechs Monate geahndet. Eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung wird in der Regel aber erst bei wiederholten Alkoholauffälligkeiten im Straßenverkehr unabhängig von der Blutalkoholkonzentration oder ab 1,6 Promille angeordnet.

    Bei Alkohol-Fahrer:innen, die mit mehr als 1,1 Promille aufgegriffen werden, ist die Rückfallgefahr für eine erneute Fahrt unter Alkoholeinfluss besonders hoch. Deshalb muss die Promillegrenze für die grundsätzliche Anordnung einer MPU von 1,6 Promille auf 1,1 Promille abgesenkt werden.“

    MPU: Wichtiger Baustein der Verkehrssicherheit

    „Im Gegensatz zu den Anordnungszahlen haben sich die MPU-Ergebnisse kaum verändert. Von 87.180 begutachteten Personen hielten die 13 aktiven, amtlich anerkannten Begutachtungsstellen 57 Prozent für geeignet und rund 38 Prozent für ungeeignet zur Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr. Damit wird deutlich, dass die MPU ein wirksames Instrument zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit ist.

    Das sieht auch die Mehrheit der Bundesbürger:innen so. Gut vier von fünf halten die MPU grundsätzlich für sinnvoll. Fast ebenso viele sind der Meinung, dass die MPU der Verkehrssicherheit dient. Das ergab eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag des TÜV-Verbands unter 1.003 Personen ab 16 Jahren. Die MPU schafft eine objektive Beurteilungsgrundlage für die Straßenverkehrsbehörden, ob eine Person zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist und somit eine Fahrerlaubnis erhalten oder neu erteilt bekommen kann. Sie zeigt auf, ob sich die Betroffenen selbstkritisch mit dem eigenen Fahrverhalten auseinandergesetzt haben und sich der möglichen Folgen ihres Handelns bewusst sind. Sie bietet auffällig gewordenen Verkehrsteilnehmenden die Chance, Zweifel an ihrer Fahreignung auszuräumen, und ist damit eine wichtige Maßnahme für die Verkehrssicherheit.“

    Pressestelle des TÜV-Verbands e. V., 4.9.2023

  • Erste Studie zur offenen Drogenszene im Umfeld des Kölner Neumarkts

    Die Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) und das Deutsche Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) haben mit Unterstützung von Mitarbeiter:innen des Gesundheitsamtes die offene Drogenszene im Umfeld des Kölner Neumarkts untersucht. Die Studie zeigt, dass der inhalative Kokain-Konsum nun auch in Köln angekommen ist. Die Ergebnisse wurden am 28. August auf einem Pressegespräch vorgestellt.

    Für zwei Monate im Frühsommer 2023 hat ein Forschungsteam der katho, unterstützt von den Mitarbeitenden des Kölner Drogenkonsumraums, 119 drogenkonsumierende Personen am Neumarkt befragt. Die Studie zeigt, dass der inhalative Kokain-Konsum (das Kokain wird als Crack geraucht) nun auch in Köln angekommen ist: So gaben 21 Prozent der Befragten an, Crack zu konsumieren.

    „Einen nennenswerten Crack-Konsum kannten wir bisher nur aus den Städten Hamburg, Frankfurt am Main, Hannover oder Bremen. In Nordrhein-Westfalen ist ein Anstieg der Crack-Konsument:innen seit dem Jahr 2016 zu verzeichnen“, sagte der Leiter der Studie, Prof. Dr. Daniel Deimel. „Allerdings sind hochfrequente Konsummuster, die für Crack aufgrund der kurzen Wirkungsdauer typisch sind, in Köln die Ausnahme“, so der Professor für Klinische Sozialarbeit weiter. „Mit rauchbarem Crack, also Kokain-Steinen, wird aktuell noch nicht in der Szene gehandelt.“ Menschen, die Crack konsumierten, benötigten eine spezifische Unterstützung wie Tagesruhestätten und eine niedrigschwellige Substitutionsbehandlung, wenn zusätzlich Heroin konsumiert werde, so Deimel.

    79 Prozent der für die Studie am Neumarkt befragten Konsument:innen sind männlich, 65 Prozent sind deutscher Herkunft. Das Durchschnittsalter beträgt 42 Jahre. Jeder Zweite (55 Prozent) hatte bereits Erfahrungen mit Drogenüberdosierungen, die im Zusammenhang mit Heroin lebensbedrohlich sein können. Rund ein Drittel der Befragten (32 Prozent) ist obdachlos und übernachtet auf der Straße. 65 Prozent der Befragten konsumieren Heroin, häufig auch in den sehr späten Abendstunden. 22 Prozent von ihnen sind nicht krankenversichert.

    Bedarfsgerechte Angebote und längere Öffnungszeiten des Drogenkonsumraumes sind wichtig

    „Die Menschen, die sich in der Drogenszene am Neumarkt aufhalten, sind eine heterogene Gruppe“, sagte Deimel. Sie vereine jedoch, dass sie sich in einer gesundheitlichen und psychosozial hoch belasteten Situation befänden. „Mit den vorliegenden Daten können nun die Angebote der Suchthilfe an die unterschiedlichen Bedarfe angepasst werden“, so der Suchtforscher.

    Ein weiteres Ergebnis dieser Studie ist, dass die Angebote des Drogenkonsumraums am Neumarkt zwar sehr gut genutzt werden, aber noch nicht ausreichend bekannt sind. Dr. Harald Rau, Beigeordneter für Soziales, Gesundheit und Wohnen der Stadt Köln, sagte auf dem Pressegespräch: „Ich bin froh, dass wir nun eine solche Datenbasis haben. Diese Studie hilft dabei, unsere Unterstützungsangebote noch besser an die Bedürfnisse der suchtkranken Menschen anzupassen. Insbesondere die Konsumzeiten in den späten Abendstunden zeigen, wie wichtig es ist, die Öffnungszeiten unseres Drogenkonsumraumes deutlich auszuweiten.“

    Der „Open Drug Scene Cologne Survey“ (ODSC) ist die erste Studie dieser Art in Köln.

    Pressestelle der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, 28.8.2023

  • Sexuelle Gesundheit und HIV / STI in trans und nicht-binären Communitys

    Medizinische Einrichtungen und Beratungsstellen zu Fragen der sexuellen Gesundheit in Deutschland sind auf trans und nicht-binäre Menschen nicht ausreichend vorbereitet. Dabei unterliegen diese besonderen Risiken und sind zum Beispiel deutlich häufiger von HIV betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung (0,7 statt 0,1 Prozent). Das sind die zentralen Ergebnisse der Studie „Sexuelle Gesundheit und HIV / STI in trans und nicht-binären Communitys“ der Deutschen Aidshilfe und des Robert Koch-Instituts (RKI), deren Abschlussbericht nun veröffentlicht wurde (STI = Sexually Transmitted Infections, dt. sexuell übertragbare Infektionen).

    Als trans und nicht-binär verstehen wir Menschen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Diese Bezeichnungen werden individuell sehr verschieden genutzt, Überschneidungen sind möglich. Deshalb verzichten wir hier auf eine genauere Definition.

    Im Rahmen der Studie wurden Fragestellungen zur sexuellen Gesundheit mit qualitativen und quantitativen Methoden untersucht. Damit liegen erstmals Daten und wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse zur sexuellen Gesundheit dieser vielfältigen Gruppen in Deutschland vor. Der Abschlussbericht gibt außerdem Empfehlungen, wie Lücken geschlossen werden können und die Qualität der Versorgung gesteigert werden kann.

    Für die genannte Studie befragte das Robert Koch-Institut mehr als 3.000 Menschen mit einem Online-Fragebogen. Die Deutsche Aidshilfe sprach in Workshops und Interviews mit 59 Personen ausführlich über ihre Erfahrungen. Die gemeinsame Studie wurde partizipativ durchgeführt: Die Zielgruppen waren in jede Phase des Forschungsprojektes eingebunden, die Forschenden gehörten teilweise selbst zu den erforschten Communitys.

    Erhöhte Belastung

    Die Ergebnisse bestätigen, was in der internationalen Forschung bereits bekannt war: Trans und nicht-binäre Menschen sind generell erhöhten gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Psychische Belastungen entstehen etwa durch Diskriminierungserfahrungen und Stigmatisierung, aber auch, weil der eigene Körper oder bestimmte Körperteile als unpassend empfunden werden (Geschlechtsdysphorie). Die physische Gesundheit ist zum Beispiel durch fehlende Kompetenz bei Ärzt:innen gefährdet.

    Besonderheiten bei Sexualität

    Sexualität ist für trans und nicht-binäre Menschen ein besonders sensibles Thema. Eine wichtige Rolle spielt für viele der Aushandlungsprozess, welche Art von Sexualität stattfinden soll und welche Körperteile beteiligt sein dürfen und welche nicht. Das sexuelle Wohlbefinden wird oft beeinträchtigt durch Angst vor Ablehnung und Diskriminierung sowie verinnerlichte Abwertung und Erwartungshaltungen. So gaben 79 Prozent in der Online-Befragung an, dass sie schon mindestens einmal das Gefühl hatten, in sexuellen Situationen ihre Geschlechtsidentität durch ihr Verhalten beweisen zu müssen. 55 Prozent fällt es nicht leicht, ihre Bedürfnisse beim Sex zu äußern und diesen aktiv mitzugestalten. 31 Prozent der online Befragten fällt es schwer, Nein zu Sex zu sagen, den sie nicht möchten. Einige Teilnehmer:innen berichteten, dass sie sich nicht trauten, auf ihre Safer-Sex-Wünsche zu bestehen. „Mein Körper ist schon ein Umstand für die andere Person, da mag ich nicht noch weitere Forderungen stellen“, erklärte eine befragte Person in der qualitativen Studie.

    Beratung von trans und nicht-binären Menschen muss daher psychosoziale Komponenten besonders berücksichtigen und die Klient:innen dabei unterstützen, ein positives Selbstbild zu entwickeln, die eigene Sexualität zu erkunden und zu entwickeln sowie Bedürfnisse zu äußern und durchzusetzen.

    Mangelnde Kenntnisse im Gesundheitssystem

    Trans und nicht-binäre Menschen treffen jedoch auf ein Gesundheitssystem, das sich noch immer fast ausschließlich an der überkommenen Einteilung in lediglich zwei Geschlechter orientiert – vom Aufnahmebogen über Beratung und Medikation bis zur Abrechnung.

    Lediglich 32 Prozent gaben an, dass bei ihrer letzten Beratung zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen der selbstgewählte Name, die geschlechtliche Identität und das gewünschte Pronomen erfragt wurden. Werden Anamnesebögen geschlechtsspezifisch verteilt, stimmen die darauf abgebildeten Genitalien und Schleimhäute oft nicht mit den körperlichen Gegebenheiten der Ratsuchenden überein. Ein strukturelles Hindernis besteht zum Beispiel, wenn Gynäkolog:innen die Gebärmutterhalskrebsvorsorge nicht abrechnen können, weil bei der Krankenkasse das Geschlecht „männlich“ gespeichert ist.

    Auch in der Beratung mangelt es oft an entscheidenden Kenntnissen. Wenn eine beratende Person zum Beispiel nicht weiß, dass einige trans Männer aufnehmenden Vaginalsex praktizieren, kann das bei der Beratung zur HIV-Prophylaxe PrEP gefährliche Folgen haben. Für aufnehmenden Vaginalverkehr gilt ein besonderes Einnahmeschema, weil es länger dauert, bis sich in der Vaginalschleimhaut ein ausreichender PrEP-Schutz aufgebaut hat.

    „Auf trans und nicht-binäre Menschen sind weder Mediziner:innen noch Berater:innen ausreichend vorbereitet. Die Menschen fühlen sich im Medizinsystem deswegen oft nicht willkommen und gesehen, sondern gefährdet. Wenn Ratsuchende zunächst ihre Berater:innen aufklären müssen, ist das kontraproduktiv und inakzeptabel“, sagt Projektleitung Chris Spurgat.

    Wenig Vertrauen führt zu Vermeidung

    Nicht spezialisierte Angebote werden dementsprechend häufig mit Skepsis betrachtet und mit Erwartungen von Diskriminierung, fehlender Sensibilität und mangelndem Fachwissen zu trans und nicht-binären Körpern verknüpft. 17 Prozent der online Befragten gaben an, sie hätten aus Angst vor Diskriminierung bereits auf bestimmte Leistungen verzichtet, etwa auf Beratung zu Fragen sexueller Gesundheit oder Tests auf HIV und andere sexuelle übertragbare Infektionen. Das kann lebensgefährliche Folgen haben, etwa, wenn HIV-Infektionen unbehandelt bleiben oder Krebserkrankungen erst spät entdeckt werden.

    „Ich kenne viele trans Personen, die seit Jahren keine Vorsorgeuntersuchungen gemacht haben, gynäkologische zum Beispiel, weil es nicht funktioniert. Sie bleiben zu Hause, obwohl sie Beschwerden haben“, fasst eine Berater:in das Problem im Interview zusammen.

    Empfehlungen für eine bessere Versorgung für sexuelle Gesundheit

    Um etwas an der desolaten Situation zu verändern, gibt der Abschlussbericht Empfehlungen für eine bessere Versorgung für trans und nicht-binäre Menschen. Zentrale Punkte sind aus Sicht der Deutschen Aidshilfe:

    • Benötigt werden mehr Test- und Beratungsangebote speziell für trans und nicht-binäre Menschen – communitynah und mit Profis, die selbst aus den adressierten Gruppen stammen.
    • In breiter aufgestellten Einrichtungen sollte es spezielle Angebote geben, etwa Testtage für trans und nicht-binäre Menschen – sie finden große Akzeptanz und wirken bestärkend.
    • Informationsmaterial zu Sexualität und Safer Sex muss die Bedürfnisse von trans und nicht-binären Menschen abbilden. Darüber hinaus müssen mehr spezifische Informationsquellen entwickelt werden.
    • Geeignetes Informationsmaterial muss es auch für Fachpersonal in Beratungs- und Teststellen sowie medizinischen Einrichtungen geben.
    • Das Thema muss in der Ausbildung und bei Fortbildungen für medizinisches und beraterisches Personal berücksichtigt werden. Dringend erforderlich sind flächendeckende Grundlagenschulungen.
    • Medizinische Strukturen und Verfahren müssen endlich die real existierende geschlechtliche Vielfalt akzeptieren und abbilden, etwa bei Anamnese- und Meldebögen, in Studien und so weiter.
    • Qualitätssiegel für Einrichtungen mit Kompetenz in diesem Bereich können bei der Orientierung helfen.
    • Angebote für Selbsterfahrung, Körperarbeit und Selbsthilfe können helfen, Scham ab- und Selbstbewusstsein aufzubauen.
    • Generell gilt: Angebote aus den Communitys für die Communitys müssen gefördert werden – sie genießen hohe Akzeptanz und werden als gut und sicher bewertet.

    Publikationen

    Vollständiger Forschungsbericht:
    Robert Koch-Institut und Deutsche Aidshilfe. Forschungsbericht zum Projekt „Sexuelle Gesundheit und HIV/STI in trans und nicht-binären Communitys“. Berlin 2023. DOI: 10.25646/11221

    Broschüre mit den wichtigsten Ergebnissen und Empfehlungen:
    Deutsche Aidshilfe und Robert Koch-Institut (2023). Broschüre zum Forschungsprojekt „Sexuelle Gesundheit und HIV/STI in trans und nicht-binären Communitys“, mit Illustrationen von Tomka Weiß, Berlin

    Pressestelle der Deutschen Aidshilfe, 15.5.2023