Kategorie: Kurzmeldungen

  • DAK-Fehlzeitenanalyse für das erste Halbjahr 2023

    Im ersten Halbjahr 2023 gab es in Deutschland ungewöhnlich viele krankheitsbedingte Arbeitsausfälle. Die Hälfte der Beschäftigten hatte bis Ende Juni bereits mindestens eine Krankschreibung. So eine hohe Quote (50,1 Prozent) wird gewöhnlich erst am Ende eines Jahres erreicht. Die Fallzahlen stiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 61 Prozent. Im Durchschnitt fehlten die Beschäftigten von Januar bis einschließlich Juni fast zehn Tage mit einer Krankschreibung im Job. Das zeigt eine aktuelle Analyse der DAK-Gesundheit. Insgesamt liegt der Krankenstand mit 5,5 Prozent deutlich über dem Vorjahreshalbjahr (2022: 4,4 Prozent). Es ist der höchste Wert, den die Kasse für ihre 2,4 Millionen erwerbstätigen Versicherten seit dem Start der Halbjahresanalysen 2013 gemessen hat. Im Branchenvergleich stehen die Personalmangelberufe Altenpflege und Kitabetreuung an der Spitze der Statistik.

    Die Analyse zeigt, dass krankheitsbedingter Arbeitsausfall in Berufen mit Personalmangel besonders stark ist. So hatten Beschäftigte in nichtmedizinischen Gesundheitsberufen wie der Altenpflege im ersten Halbjahr 2023 besonders viele Fehlzeiten. Hier lag der Krankenstand bei 7,4 Prozent. Damit waren in diesen Berufen an jedem Tag des ersten Halbjahrs von 1.000 Beschäftigten 74 krankgeschrieben. Auch in dem durch Personalmangel gekennzeichneten Bereich der Kitabetreuung war der Krankenstand mit 7,1 Prozent weit überdurchschnittlich hoch.

    „Unsere Analyse mit neuen Rekordwerten zeigt, dass der Krankenstand der Beschäftigten auch nach dem Ende der Pandemie ein wichtiges Thema für Unternehmen und Betriebe ist“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Hier müssen wir Berufsgruppen mit Personalmangel besonders im Blick behalten, weil Stress und Überstunden den Krankenstand hochtreiben können. So droht ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss.“ Storm bekräftigt seine Forderung nach einem Runden Tisch zum Thema Fachkräftemangel und Gesundheit unter Beteiligung von Politik, Sozialpartnern und Krankenkassen. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Gesundheit der Beschäftigten zu schützten und gleichzeitig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen nachhaltig zu sichern.

    Atemwegserkrankungen waren für die Fehlzeiten der Beschäftigten im ersten Halbjahr 2023 so maßgeblich wie keine andere Erkrankungsart. Bei den Krankschreibungen wegen Husten, Schnupfen und anderen Infekten gab es fast eine Verdoppelung der Fälle – von 17,2 auf 34,1 je 100 Beschäftigte. Auch Krankschreibungen wegen Muskel-Skelett- und psychischer Erkrankungen waren deutlich häufiger als im Vorjahreshalbjahr (59 beziehungsweise 60 Prozent höhere Fallzahlen.)

    Die DAK-Gesundheit erklärt den Anstieg durch ein Bündel von Gründen: Zum einen kam es nach Ende der Pandemie zu einem Nachholen von Infekten und Immunisierungen. Zum anderen gab es in den Belegschaften eine gestiegene Sensibilität dafür, mit einer potenziell ansteckenden Erkrankung dem Arbeitsplatz besser fernzubleiben. Auch das neue elektronische Meldeverfahren spielt eine Rolle, da es sicherstellt, dass Krankschreibungen automatisch und zuverlässig in die Statistik der Krankenkassen eingehen.

    „Der hohe Krankenstand im ersten Halbjahr 2023 macht deutlich, dass sich beim Thema Arbeit die gesundheitliche Dimension nicht wegblenden lässt“, betont Andreas Storm. „Firmen und Betriebe in Deutschland sollten auch im eigenen Interesse verstärkt auf den Gesundheitsschutz ihrer Mitarbeitenden achten und weitere Ressourcen ins Betriebliche Gesundheitsmanagement investieren.“ Die DAK-Gesundheit hilft Unternehmen dabei, die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten und zu stärken.

    Pressestelle der DAK-Gesundheit, 31.7.2023

  • DHS nimmt Stellung zum geplanten Cannabisgesetz

    In einer Stellungnahme setzt sich die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) kritisch mit dem Referentenentwurf des Cannabisgesetzes (CanG) auseinander. Vor allem hinsichtlich der finanziellen Ausstattung im Bereich der Frühintervention und Prävention sieht die DHS erheblichen Nachbesserungsbedarf. Selbst bei unverändertem Konsum besteht ein erhöhter Informations-, Aufklärungs- und Beratungsbedarf. Der Entwurf bleibt eine Antwort schuldig, wie die kommunalen Dienste der Suchtprävention und -hilfe flächendeckend und nachhaltig zu finanzieren sind.

    Insgesamt sollte das Gesetzesvorhaben dazu beitragen, die Sucht- und Drogenpolitik in Deutschland weiterzuentwickeln. Das Ziel sind sorgfältig aufeinander abgestimmte Maßnahmen, die auch Tabak, Alkohol und Glücksspiel berücksichtigen. Die Entkriminalisierung von Menschen, die sich durch Cannabiskonsum einem Gesundheitsrisiko aussetzen und derer, die Hilfe benötigen, ist aus Sicht der DHS ein Schritt in die richtige Richtung.

    Die DHS Stellungnahme zum Referentenentwurf des Cannabisgesetzes (CanG) wurde am 24. Juli 2023 gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit abgegeben. Sie ist auf der DHS Website einzusehen.

    Pressemitteilung der DHS, 25.7.2023

  • Lassen sich Kinder vom Stress ihrer Mütter anstecken?

    Kinder können den akuten Stress ihrer Mütter subjektiv und körperlich messbar nachempfinden, sind zur Stress-Empathie fähig. Sie lassen sich aber weniger davon aus der Ruhe bringen als angenommen. Das ist das Ergebnis einer DFG-geförderten Studie im Rahmen des Forschungsprojektes „Empathic Stress in the Family System (EMILY)“ am Uniklinikum Jena und dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, die nun im renommierten „Journal of Experimental Psychology: General“ veröffentlicht wurde.

    In der Arbeit steht ein wichtiges Projekt an, Überstunden, Arbeiten bis spät in die Nacht – und dann sind da noch die Kinder, die versorgt werden müssen: Viele Mütter erleben Stress nicht nur im Beruf, sondern auch zuhause. Hält eine derartige Beanspruchung über längere Zeit an, kann dieser Stress chronisch werden. Aber ist Stress wirklich nur eine individuelle Erfahrung? Was geschieht mit Kindern, die dauerhaft dem Stress der Mutter ausgesetzt sind? Genau dieser Frage geht ein Forschungsteam am Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums Jena (UKJ) um Veronika Engert, Professorin für Soziale Neurowissenschaft, in dem DFG-Forschungsprojekt nach: Lassen sich Kinder vom Stress ihrer Mutter anstecken? Das Ergebnis: „Kinder fühlen den akuten Stress ihrer Mütter sowohl emotional als auch physiologisch mit“, sagt Jost Blasberg, Psychologe und Erstautor der Studie.

    Die Wissenschaftler haben sich zunächst auf die Übertragung emotionaler und körperlicher Zustände von Müttern auf ihre Kinder und somit auf die Mutter-Kind-Beziehung konzentriert. Die ist nicht nur besonders eng, sondern auch für die langfristige psychische Gesundheit von Kindern bedeutend. Das Besondere am Studienaufbau der Jenaer Psychologen: Beurteilt haben sie nicht die Reaktionen der Mütter auf die Stresserfahrungen ihrer Kinder, sondern die Reaktion der Kinder auf den akuten Stress der Mutter. In die Studie eingeschlossen wurden 76 Mütter und ihre Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren.

    Jungen lassen sich eher vom Stress ihrer Mutter anstecken

    Ein Teil der Kinder hat ihre Mütter bei einem klassischen Stresstest beobachtet, ein anderer Teil in einer Kontrollgruppe die Mütter beim Vorlesen. Ob sich die Kinder vom Stress ihrer Mutter anstecken lassen, haben die Wissenschaftler anhand von vier Stressindikatoren gemessen:

    • dem Kortisol-Spiegel – Kortisol, landläufig als Stresshormon bekannt, produziert unser Körper vermehrt bei Stress.
    • der Herzrate, also dem Pulsschlag – Je aufgeregter und damit gestresster wird sind, desto schneller schlägt unser Herz.
    • der Herzratenvariabilität, die zeigt, wie stark sich die Abstände der einzelnen Herzschläge im Laufe der Zeit verändern – Je niedriger die Herzratenvariabilität, desto höher ist das Stresslevel.
    • und einer subjektiven Stresseinschätzung – Sowohl Kinder als auch Mütter bewerteten ihren empfundenen Stress anhand einer Skala von eins bis sieben.

    Im Ergebnis zeigte sich, dass die Kinder in der Stressgruppe den Stress ihrer Mutter tatsächlich mitempfanden. Das ließ sich konkret daran zeigen, dass die Kinder der gestressten Mütter eine stärkere subjektive Stressbelastung empfanden und, vor allem die Jungen, eine höhere Menge des Stresshormons Kortisol freisetzten. Außerdem wiesen sie einen stärkeren, mit den Müttern proportionalen, Abfall der Herzratenvariabilität auf. Ganz besonders niedrig war die Herzratenvariabilität bei Kindern, die sich gut in andere Menschen hineinversetzen konnten. Das wiederum ergab ein Fragebogen.

    „Grundsätzlich lassen sich Kinder im mittleren Alter aber nicht so leicht vom Stress ihrer Mütter anstecken, wie wir das erwartet hatten. Überrascht hat uns auch ein bisschen, dass Jungen stärker auf den Stress ihrer Mütter reagieren als Mädchen im selben Alter. Dafür haben wir noch keine Erklärung“, sagt Psychologe Jost Blasberg. „Gezeigt hat sich aber auch, dass sich die Kinder in ihre Mütter hineinversetzen und ihren Stress nachempfinden können. Das ist gut, denn wer Stress nachempfinden kann, ist eher gewillt, anderen zu helfen.“

    Die Jenaer Psychologen werden ihre Untersuchungen zur Stressübertragung weiterführen und als nächstes das Stressempfinden von Teenagern beobachten. Insgesamt erhoffen sich die Wissenschaftler, die Bedeutung und die Mechanismen der Stressübertragen innerhalb der Familie besser zu verstehen. Denn auch wenn in einzelnen Situationen eine Ansteckung mit dem Stress der Eltern sicherlich ungefährlich ist, „könnte angesichts der hohen kindlichen Abhängigkeit von den Eltern, gerade in Familien mit chronischer Stressbelastung, das häufige Erleben von empathischem Stress die kindliche Entwicklung negativ belasten“, so Professorin Engert, Leiterin der Arbeitsgruppe Soziale Neurowissenschaft.

    Originalpublikation:
    Blasberg JU, Jost J, Kanske P, Engert V. Empathic stress in the mother-child dyad: Multimodal evidence for empathic stress in children observing their mothers during direct stress exposure. J Exp Psychol Gen. 2023 Jun 8. doi: 10.1037/xge0001430.

    Pressestelle des Universitätsklinikums Jena, 28.6.2023

  • Berliner Gesundheitspreis 2023

    Gemeinsam mit dem „Kooperationsnetzwerk SGB-übergreifende familienorientierte Versorgung für von psychischen und Suchterkrankungen betroffene Familien“ hat die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF) bei der Verleihung des Berliner Gesundheitspreises am 21.6.2023 einen Sonderpreis erhalten. Der Berliner Gesundheitspreis wird von der AOK verliehen. Das Kooperationsnetzwerk erhielt den Sonderpreis für das Engagement zur Verbesserung der Situation betroffener Familien. In diesem Kooperationsnetzwerk sind folgende Fachgesellschaften und Organisationen vertreten:

    • Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF)
    • Deutsche Gesellschaft für Psychologie e. V. (DGPs) (Interessengruppe Familienpsychologie)
    • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) (Fachreferat Frauen- u. Männergesundheit und Familienpsychiatrie/ -Psychotherapie)
    • Bundeserziehungshilfeverband AFET
    • Schatten & Licht e. V.
    • Marcé-Gesellschaft
    • BAG Kinder psychisch erkrankter Eltern (BAG KipE)
    • Dachverband Gemeindepsychiatrie
    • CHIMPS-NET
    • NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e. V.
    • Paritätischer Gesamtverband e. V.
    • weitere Akteure der Suchthilfe
    • Nationales Zentrum Frühe Hilfen

    Stellvertretend für das Netzwerk haben Claudia Langholz vom Bundesverband für Erziehung e. V. (AFET) und PD Dr. Rieke Oelkers-Ax (DGPPN und DGSF) die Auszeichnung dankend entgegengenommen.

    Zentraler Fokus des Projekts ist die Vernetzung von Akteuren der Jugendhilfe und weiterer sozialer Institutionen mit Akteuren der Gesundheitsversorgung (z. B. Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie). Ebenso geht es darum, die Bedarfe der betroffenen Familien an die Politik zu bringen. So sollen überall in Deutschland abgestimmte und systemübergreifende Hilfsstrukturen aufgebaut werden, die aus der Perspektive der Familie denken und den individuellen Bedarfen der Kinder, Jugendlichen und Eltern gerecht werden.

    Die Auszeichnung ist ein positiver Impuls für weiteres Engagement in der so dringend benötigten systematischen Verbesserung der Situation von Familien, die von psychischen und Suchterkrankungen betroffen sind, gerade auch als Antwort auf die zunehmende Zahl psychischer Störungen und die massive Belastung von Familien als Begleiterscheinung der Pandemie und weiterer Krisen.

    Die nächste verbändeübergreifende Fachtagung des Kooperationsnetzwerks, die den hierzu dringend nötigen Dialog zwischen Betroffenen, Experten, Kostenträgern und Politik weiterführt, wird vom 6.-7. Mai 2024 in der Berliner Stadtmission unter dem Titel „Und wer fragt mich? 2.0“ stattfinden. Weitere Infos sind demnächst auf der Webseite der DGSF zu finden.

    Weitere Informationen zum Berliner Gesundheitspreis und den Preisträgern sind hier zu finden: https://www.aok-bv.de/engagement/berliner_gesundheitspreis/

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF), 27.6.2023

  • Handy aus, Gehirn an

    Unterhaltungsangebote, Informationen, soziale Kontakte – und das alles im Hosentaschenformat: Das Smartphone ist längst zentraler – ja elementarer – Bestandteil unseres Alltags. Wir schreiben E-Mails, geben Bestellungen auf, hören Musik. Aber: Das Handy lenkt uns ab. Und zwar selbst dann, wenn es ausgeschaltet auf dem Tisch liegt. „Die Entwicklung hin zu einer fortwährenden Präsenz des Smartphones hat negative Konsequenzen für die Aufmerksamkeit“, sagt Prof. Dr. Sven Lindberg, Leiter der Klinischen Entwicklungspsychologie an der Universität Paderborn. Der Wissenschaftler hat eine Studie zum Einfluss des Smartphones auf kognitive Fähigkeiten durchgeführt. Die Ergebnisse wurden jetzt im renommierten Nature-Journal „Scientific Reports“ veröffentlicht.

    Langsam und unkonzentriert

    „Die bloße Anwesenheit des Smartphones wirkt sich ungünstig auf die Produktivität aus, dabei muss es nicht mal zu einer Interaktion mit dem Gerät kommen. Die Tatsache, dass das Handy in Sichtweite ist – selbst wenn es ausgeschaltet ist – beeinflusst die kognitive Leistung. Nutzer:innen arbeiten langsamer und unkonzentrierter“, erklärt Lindberg. Dem Wissenschaftler zufolge benötigt es eine übergeordnete Instanz, um den Drang zu unterdrücken, sich augenblicklich mit dem Smartphone beschäftigen zu wollen. „Die Fähigkeit, Handlungen zu organisieren, zu analysieren und zu vergleichen sowie Impulse zu kontrollieren wird als exekutive Funktion bezeichnet. Die dafür notwendigen kognitiven Ressourcen, sprich das Arbeitsgedächtnis, sind allerdings anfällig und begrenzt“, so Lindberg weiter, der die Studie zusammen mit seiner Doktorandin Jeanette Skowronek durchgeführt hat.

    Handysucht hat keinen Einfluss

    „Es gibt bisher nur wenige Studien zum Einfluss des ausgeschalteten Smartphones, weshalb unsere Arbeit einen wichtigen Beitrag zur bestehenden Forschung leisten kann“, ist sich der Wissenschaftler sicher. Das Team um Lindberg hat mit 42 Teilnehmer:innen im Alter von 20 bis 34 Jahren Konzentrations- und Aufmerksamkeitstests in Gegenwart und Abwesenheit eines Smartphones durchgeführt. Neben der Erfassung der Aufmerksamkeitsleistung wurde auch die Handy-Abhängigkeit der Proband:innen untersucht. Das Ergebnis überrascht: Die individuelle Ausprägung der gemessenen Handysucht hatte keine Auswirkungen auf den Effekt.

    Informationsverarbeitung wird gestört

    Lindberg erläutert: „Verglichen mit der anderen Gruppe haben die Proband:innen ohne Smartphone eine signifikant höhere Aufmerksamkeitsleistung gezeigt. Insgesamt belegen die meisten Studien den Einfluss eines eingeschalteten oder verfügbaren Smartphones im Kontext von komplexen Aufmerksamkeitsaufgaben. Zum Beispiel schnelles Wechseln zwischen verschiedenen Anforderungen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass insbesondere die Geschwindigkeit der kognitiven Leistung und die Verarbeitung von Informationen beeinträchtigt werden.“

    Laut Lindberg ist es bei Aufgaben, die eine hohe Konzentration erfordern, deshalb sinnvoll, das Handy in einem anderen Raum zu platzieren, um negative Auswirkungen auf die Arbeits- und Aufmerksamkeitsleistung zu verringern. Es reiche allerdings nicht aus, lediglich den Bildschirm des Smartphones abzudecken oder es auszuschalten.

    Originalpublikation:
    https://www.nature.com/articles/s41598-023-36256-4

    Pressestelle der Universität Paderborn, 29.6.2023

  • Eine Woche ohne Handy

    Eine Welt ohne Smartphone? Für junge Menschen eigentlich unvorstellbar! Doch wie ist es, wenn sie das Mobiltelefon eine Woche lang nicht nutzen dürfen? In „Flugmodus – 4 Jugendliche ohne Handy“ begleitet die Leipziger Autorin Greta Taubert das spannende Sozialexperiment an einer Dresdner Schule. Den sechsteiligen Podcast von MDR KULTUR gibt es ab sofort in der ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/sendung/flugmodus-4-jugendliche-ohne-handy/94542694/

    Je jünger der Mensch und je häufiger der Konsum, desto schwieriger ist das Loslassen … Ohne Handy können Jugendliche heute plötzlich vor existentiellen Fragen stehen: Bin ich süchtig? Wie bewältige ich meinen Alltag ohne Smartphone? Und schaffe ich es überhaupt, die Finger davon zu lassen?

    In sechs 20-minütigen Folgen begleitet Autorin und Host Greta Taubert Dresdner Schülerinnen und Schüler einer 12. Klasse beim Versuch, eine Woche ohne Mobiltelefon zu leben. Während dieser Schulwoche führen sie Tagebuch über ihr Leben „im Flugmodus“ und reflektieren, wie sich ihr Leben durch Digital Detox verändert, wie sie mit der plötzlich aufkommenden Langeweile umgehen, wie sich Alltagsroutinen und auch die Wahrnehmung der Umwelt merklich verändern.

    „Flugmodus“ erzählt von einem Experiment des Verzichtens. Verzichten auf das, was zwar so alltäglich, aber auch zum Stressfaktor geworden ist – das Smartphone.

    Pressemeldung von MDR Mitteldeutscher Rundfunk, 29.6.2023

  • Drogenproblematik in Zentralasien und China

    Sommerschule 2022 mit Prof. Dr. Heino Stöver (2. Reihe Mitte). Foto: Frankfurt UAS/Benedikt Bieber

    Das Institut für Suchtforschung (ISFF) der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) veranstaltet noch bis 14. Juli die insgesamt zweiwöchige Sommerschule zum Thema „Soziale Arbeit und Drogenhilfe“. Die „SOLID Summer School“ bringt über zwanzig internationale Studierende der Sozialen Arbeit aus China und Zentralasien mit Mitarbeiter:innen von Nonprofit-Organisationen, ausgebildeten Sozialarbeiter:innen und Ärztinnen und Ärzten sowie Dozent:innen der Partneruniversitäten aus Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und China zusammen. Sie alle haben die Möglichkeit, spannende Einblicke in die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit und der Drogenhilfe in Deutschland zu erhalten.

    Die Sommerschule findet im Rahmen des vom DAAD geförderten Projektes SOLID (Social work and strengthening NGOs in development cooperation to treat drug addiction) statt und dient dazu, die Entwicklung der Sozialen Arbeit in der Drogenhilfe mit den Projektpartnern aus Zentralasien und China zu diskutieren und neue Perspektiven zu entwickeln. Zentralasien und China werden mit einer wachsenden Drogenproblematik konfrontiert, die auch das Gesundheitswesen vor enorme Probleme stellt: Drogenschmuggel einerseits und eine wachsende Zahl von Drogenabhängigen, insbesondere injizierende Heroinabhängigen, andererseits. Soziale Arbeit mit Drogenabhängigen als zentraler Bestandteil der Hilfen (wie hier in Deutschland) wird dort weder in der universitären Ausbildung noch in der Praxis angeboten. Das Projekt möchte dazu beitragen, diese Lücke im Wissenschaftsbereich zu schließen.

    Auf dem Programm der Sommerschule stehen Seminare, Workshops, Podiumsdiskussionen sowie Besuche von sozialen Einrichtungen in Frankfurt, darunter der Drogenkonsumraum in der Niddastraße, die Einrichtung Eastside und die AIDS Hilfe Frankfurt. Die Teilnehmenden der Sommerschule werden sich auch mit 20 Studierenden der Sozialen Arbeit der Frankfurt UAS treffen und sich über das jeweilige Studium austauschen.

    Weitere Informationen zum SOLID Projekt:

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 28.6.2023

  • Angehörigenarbeit in der Suchthilfe – Warum Verbesserungen in der Praxis notwendig sind

    Anlass

    Die negativen Auswirkungen von Substanzgebrauchsstörungen (SGS) auf die Gesundheit von Angehörigen wurden in verschiedenen Studien vielfach und eindeutig belegt (u. a. Fals-Stewart et al. 2004). Auch gibt es einen wissenschaftlich-fachlichen Konsens darüber, dass es sich bei Substanzgebrauchsstörungen gleichermaßen um Störungen im Familiensystem handelt und die Familiendynamik von den oftmals massiven psycho-sozialen Auswirkungen der SGS mitbetroffen ist (Lander et al. 2013). Angehörige stellen folglich eine wichtige Zielgruppe für die Suchthilfe dar, für die es gilt, ein flächendeckendes und bedarfsorientiertes Unterstützungsangebot zu schaffen.

    In der Praxis sind Unterstützungsmöglichkeiten für diese Zielgruppe jedoch nach wie vor nicht flächendeckend implementiert. Auch nutzt ein großer Teil der Angehörigen von Menschen mit SGS die bestehenden Angebote im Suchthilfesystem nicht oder nur selten (Bischof et al. 2018a), und die Abbruchquote von Angehörigen bei der Inanspruchnahme von Hilfeangeboten fällt hoch aus (Berndt et al. 2017). Das von Larissa Hornig (Institut für Suchtforschung/ISFF, Frankfurt a. M.) verfasste und von akzept e. V. herausgegebene Positionspapier gibt einen Überblick über die gegenwärtigen Problemlagen und die hieraus resultierenden Empfehlungen und Möglichkeiten einer Weiterentwicklung in der Angehörigenarbeit. Sehr deutlich wird in dem Papier, wie wichtig und groß der Handlungs- und Forschungsbedarf im Hinblick auf die Gruppe der Angehörigen von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen ist.

    Problembereiche

    Die Angehörigenarbeit wird mittlerweile als fester Bestandteil der Behandlung von Substanzgebrauchsstörungen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen aufgeführt (DRV o. J.). Der Einbezug von Angehörigen in den Therapieverlauf der Betroffenen findet somit statt und stellt einen günstigen Prognosefaktor dar. Eine einheitliche und konzeptionelle Verortung der Angehörigenarbeit mit eigenständigem Beratungs- und Behandlungsanspruch für diese Zielgruppe gibt es bislang jedoch nicht. Für Menschen mit einer SGS besteht ein flächendeckendes breites Spektrum an Angeboten, die Angebotsstruktur für Angehörige dagegen ist deutlich geringer ausgebaut (DHS 2019). Folglich werden die Auswirkungen von SGS auf das soziale Umfeld in Behandlungsleitlinien und der deutschen Suchtpolitik bislang nur eingeschränkt benannt, und Verweise auf evidenzbasierte Behandlungsangebote fehlen durchgängig (Bischof et al. 2018b).

    Was muss passieren?

    Um Angebote für Angehörige zu gestalten, die deren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen, sollten folgende Empfehlungen umgesetzt werden:

    • Forschung im Hinblick auf soziodemographische Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildungsstatus etc.), aber auch auf suchtspezifische Belastungsfaktoren (je nach Suchtmittel) von Angehörigen; auch sollten spezifische Bedarfe von bestimmten Angehörigengruppen wie Eltern, Kindern oder Partner:innen erforscht werden.
    • Entwicklung und Erprobung familientherapeutischer Konzeptionen sowie deren Integration in rehabilitative Behandlungskonzepte
    • Sensibilisierung von Kostenträgern zur Schaffung einer Regelfinanzierung von Angeboten für Angehörige im Rahmen der ambulanten und stationären Rehabilitation
    • Flächendeckender Aufbau von systemisch-familientherapeutischen Weiterbildungen in der Suchttherapie
    • Interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation an Schnittstellen zwischen Einrichtungen der Suchthilfe und Institutionen außerhalb des Suchthilfesystems wie Hausärzt:innen, Jugendhilfe, Polizei oder Gerichtsbarkeit
    • Schaffung niedrigschwelliger Zugänge durch beispielsweise die Anonymisierung von Unterstützungsangeboten oder die Etablierung von Chatfunktionen
    • Abbau von Stigmata und Enttabuisierung der Thematik der Mit-Betroffenheit von Angehörigen durch weitere Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit (Entstigmatisierungskampagnen, Werbung von Einrichtungen der Suchthilfe für Unterstützungsangebote, themenspezifische Fachtagungen/Kongresse etc.)

    Das vollständige Positionspapier steht auf der Website von akzept e. V. (Drogenpolitik National) zum Download zur Verfügung.

    Text: Larissa Hornig, Institut für Suchtforschung/ISFF, Frankfurt a. M., 28.6.2023

    Literatur:

    Berndt J, Bischof A, Besser B. et al. Abschlussbericht. Belastungen und Perspektiven Angehöriger Suchtkranker: ein multi-modaler Ansatz (BEPAS). Lübeck; 2017. Im Internet: www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Abschlussbericht/171109_Abschlussbericht_BEPAS.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Bischof G, Meyer C, Batra A et al. Angehörige Suchtkranker: Prävalenz, Gesundheitsverhalten und Depressivität. SUCHT 2018a, 64:2, 63-72. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000530.

    Bischof G, Besser B, Bischof A et al. Positionspapiere und Leitbilder zu Angehörigen Suchtkranker POLAS. Abschlussbericht an das Bundesministerium für Gesundheit. Lübeck; 2018b. Im Internet: www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Abschlussbericht/2018-07-18POLAS-Abschlussbericht.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analysen der Hilfen und Angebote & Zukunftsperspektiven. Update 2019. Im Internet: https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/suchthilfe/Versorgungssystem/Die_Versorgung_Suchtkranker_in_Deutschland_Update_2019.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Deutsche Rentenversicherung. Die Rolle der Angehörigen in der medizinischen Rehabilitation. Aufgaben, Erwartungen, Empfehlungen; o.J. Im Internet: file://///fsa/share/home/uas0023819/Downloads/download_angehoerige_reha-1.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Fals-Stewart W, O’Farrell TJ, Birchler GR. Behavioral couples therapy for substance abuse: rationale, methods, and findings. Sci Pract Perspect. 2004 Aug; 2(2): 30-41. doi: 10.1151/spp042230.

    Lander L, Howsare J, Byrne M. The Impact of Substance Use Disorders on Families and Children: From Theory to Practice. Soc Work Public Health 2013; 28(0): 194–205. Im Internet: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23731414/; Stand: 30.03.2023. DOI:10.1080/19371918.2013.759005.

  • Neue Auflage der Beurteilungskriterien zur Fahreignungsbegutachtung

    Die Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) und die Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) haben Ende 2022 die 4. Auflage der Beurteilungskriterien zur Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung veröffentlicht. TÜV NORD stellt die seit 1. Juli 2023 geltenden neuen Bewertungsgrundlagen vor.

    Wenn Fahrerinnen und Fahrer mit schweren oder wiederholten Verkehrsverstößen auffallen, ordnet das Straßenverkehrsamt in der Regel eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) an. Hierbei wird geprüft, ob von dem/der Fahrenden zukünftig keine Gefahr mehr für den Straßenverkehr zu erwarten ist. TÜV NORD ist seit vielen Jahrzehnten als vertrauensvoller Partner an bundesweit über 50 Standorten im Bereich der MPU tätig und unterstützt Fahrende bei der Wiedererlangung der Fahrerlaubnis.

    Die nun vorgestellte 4. Auflage der Beurteilungskriterien zur Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung behält die bekannte Unterteilung in Hypothesen und Kriterien bei den genannten Bereichen (Alkohol, Drogen, Verkehrsauffälligkeit und Straftaten) bei und führt zudem neue Hypothesen für Dauermedikation und Medikamentenmissbrauch ein. Eine weitere bedeutende Ergänzung in dieser Auflage ist die Aufnahme von PEth (Phosphatidylethanol) als zusätzlicher Marker für den Nachweis eines chronischen Alkoholkonsums. PEth ermöglicht, ähnlich wie das bereits etablierte EtG (Ethylglucuronid), durch seine Halbwertszeit von vier bis zehn Tagen Rückschlüsse auf das Konsumverhalten. Die Bestimmung von PEth erfordert nur eine geringe Blutmenge, die aus der Fingerbeere oder dem Ohrläppchen entnommen werden kann.

    Bisher wurde PEth bereits zur Untersuchung erhöhter Leberwerte im Rahmen medizinisch-psychologischer Untersuchungen eingesetzt, wenn eine Haaranalyse nicht möglich war. Mit der neuen Auflage der Beurteilungskriterien ist nun auch der Einsatz von PEth im Rahmen von Alkohol-Abstinenzkontrollprogrammen möglich. Kundinnen und Kunden haben so die Möglichkeit, PEth als dritte Alternative zur Bestätigung von Alkoholabstinenz oder moderatem Alkoholkonsum zu nutzen, falls sie keine Haarproben abgeben möchten oder eine Urinkontrolle unter Aufsicht als unangenehm empfinden. Über das Online-Portal „meinMPI“ von TÜV NORD können sich Klientinnen und Klienten über diese Alternative informieren. Das Unternehmen bietet zudem Informationen und Unterstützung bei PEth-Untersuchungen und Alkoholabstinenz-Kontrollprogrammen durch seine deutschlandweiten Untersuchungsstellen.

    „Die neue Auflage der Beurteilungskriterien schafft auf vielen Ebenen der Fahreignungsbegutachtungen deutlich mehr Klarheit und bietet unseren Gutachterinnen und Gutachtern einen transparenten Leitfaden bei Ihren Untersuchungen“, unterstreicht Svenja Schroerschwarz, Bereichsleiterin des Medizinisch-Psychologisches Instituts bei TÜV NORD.

    Pressestelle von TÜV NORD, 3.7.2023

    Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung – Beurteilungskriterien, 4. Auflage
    Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP)
    Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM)
    Kirschbaum Verlag, Bonn 2022, 470 Seiten, 174 €, ISBN 978-3-7812-2047-8

  • Mitten unter uns? – Populismus wird mehrheitsfähig

    In aktuellen Debatten zum Umfrage-Hoch der AfD gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Wenig wird dabei bislang betrachtet, wie sich die Wählerinnen und Wähler der AfD soziokulturell zusammensetzen, d. h. mit Blick auf ihre Werteorientierung.

    Die Gesellschaftstypologie der Sinus-Milieus zeigt, in welchen gesellschaftlichen Gruppen populistische Narrative und Parteien Resonanz finden. Die Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zusammen. Demnach besteht die deutsche Gesellschaft derzeit aus zehn Milieus mit jeweils ähnlichen Werten, Lebensstilen oder Konsumverhalten. Die Sinus-Milieus sind Ergebnis der jahrzehntelangen soziokulturellen Forschung des SINUS-Instituts.

    Bürgerliches Segment wächst unter AfD-Wähler:innen

    In der Zusammensetzung der AfD-Wähler:innen zeigen sich deutliche Gewichtsverschiebungen in den letzten zwei Jahren. Laut repräsentativen Eigenforschungen des SINUS-Instituts gehörten 2021 43 Prozent der AfD-Wähler:innen dem bürgerlichen Segment an (Sinus-Milieus der Nostalgisch-Bürgerlichen, Adaptiv-Pragmatischen Mitte und Konservativ-Gehobenen). 2022 stieg dieser Anteil auf 50 Prozent, 2023 sind es 56 Prozent.

    Dr. Silke Borgstedt, Geschäftsführerin des SINUS-Instituts, erläutert: „Die Milieus der Mitte, also das bürgerliche Segment, definieren in hohem Maß, was in einer Gesellschaft als normal gilt. Daher sind die Ergebnisse insbesondere mit Blick auf mögliche Kipp-Punkte in den politischen Mehrheitsverhältnissen von Bedeutung.“

    Insbesondere steigt der Anteil der modernen Adaptiv-Pragmatischen Mitte (von zwölf Prozent auf 19 Prozent) und der Anteil der Konservativ-Gehobenen (von acht Prozent auf zwölf Prozent). Verglichen mit früheren Erhebungen des SINUS-Instituts zeigen diese beiden bürgerlichen Milieus derzeit ein stärkeres Interesse an der AfD.

    Dem Milieu der Adaptiv-Pragmatische Mitte (zwölf Prozent der Gesellschaft) kommt eine besondere Rolle zu, denn sie ist eine wichtige Brücke zwischen progressiven und traditionellen Gruppen in der Gesellschaft. Sie bildet den modernen Mainstream, der sich stets im Spagat zwischen Spaß, Risiko und Aufbrechen sowie Sicherheit, Verankerung und Zugehörigkeit befindet.

    In diesem Milieu findet sich ein großer Anteil an Wechselwähler:innen, die sich stark an tagesaktuellen Themenkonjunkturen orientieren. In jüngster Zeit sieht sich dieses eigentlich veränderungsbereite und zukunftsorientierte Milieu erheblichen transformativen Zumutungen gegenüber, die die Verwirklichung einer angestrebten bürgerlichen Normalbiografie von Haus, Kinder, Auto gefährden. Sie sind verunsichert und frustriert von der mangelnden Lösungsfähigkeit von Regierung und politischem System.

    In diesem modernen Teil des bürgerlichen Segmentes ist diese Verunsicherung eine neue Entwicklung. Das Milieu der Nostalgisch-Bürgerlichen (elf Prozent der Bevölkerung) befürchtet schon seit Jahren Verluste. Die harmonieorientierte (untere) Mitte wünscht sich gesicherte Verhältnisse und einen angemessenen Status. Milieuangehörige empfinden starke Angriffe auf ihre Werte und Lebensstil, die bisher als „normal“ galten. Je stärker diese Entwertung empfunden wird, desto größer sind Frust und starke Nostalgiegefühle, also der Wunsch, dass alles so bleibt, wie es womöglich aber nie war.

    Dr. Silke Borgstedt fasst zusammen: „Je mehr der Zukunftsoptimismus schwindet, desto mehr wächst der Anteil des bürgerlichen Segmentes unter AfD-Wähler:innen. Das bedeutet aber auch: Die gesellschaftliche Mitte ist für die Politik weiterhin erreichbar. Gewünscht ist eine konstruktive und zukunftsorientierte Politik. Die Mitte braucht eine Perspektive mit Zielorientierung und eine Roadmap, wie dies gelingen kann. Wir sehen auch: Bei der Frage nach langfristigen Parteibindungen, also welche Partei einem am nächsten steht, schneidet die AfD deutlich schlechter ab als in aktuellen Umfragen. Das heißt, die anderen Parteien können die Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen.“

    Populistische Haltungen sind mehrheitsfähig in Deutschland und Österreich

    Eine aktuelle Befragung des SINUS-Instituts zeigt insgesamt eine hohe Zustimmung zu populistischen Narrativen in Deutschland. Das Grundvertrauen in den institutionalisierten Politikbetrieb scheint gestört, aber der Glaube an die Demokratie wankt (noch) nicht.

    So erreichen einige populistische Narrative (vgl. Andreas Zick, Beate Küpper (Hg.): Die geforderte Mitte. 2021) mittlerweile Mehrheiten in Deutschland:

    • 68 Prozent stimmen zu, dass sich Politiker mehr Rechte herausnehmen als normale Bürger.
    • 56 Prozent stimmen zu, dass Parteien nur die Stimmen der Wähler wollen, sich aber nicht für ihre Ansichten interessieren.
    • Jeweils 53 Prozent stimmen zu, dass demokratische Parteien alles zerreden und keine Probleme lösen bzw. wichtige Fragen nicht in Parlamenten, sondern in Volksabstimmungen entschieden werden sollen.
    • Die Aussage „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten dahinter stehender Mächte“ erreicht 49 Prozent

    Gleichzeitig setzt ein großer Teil der Befragten weiterhin Vertrauen in die Demokratie. Es sind weiterhin nur Minderheiten, die demokratische Grundprinzipien in Frage stellen:

    • 64 Prozent lehnen die Aussage ab, dass Demokratie eher zu faulen Kompromissen führt als zu sachgerechten Entscheidungen.
    • 69 Prozent bestreiten, dass zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen wird.
    • 62 Prozent sind der Meinung, dass wir in einem gerechten Land leben, in dem es jeder zu etwas bringen kann, der sich anstrengt.

    Eine wenige Monate vorher mit identischen Fragen durchgeführte Befragung des SINUS-Partners INTEGRAL in Österreich zeigt, dass die Zustimmung zu populistischen Narrativen in Deutschland mittlerweile kaum von denen in Österreich abweicht. Zudem zeigen Befragungen in Österreich, dass die FPÖ die Adaptiv-Pragmatische Mitte schon seit langem erreicht.

    Methodischer Hinweis

    Anlass:

    Eigenforschung von SINUS-Institut (DE) und INTEGRAL (AT); ergänzt um Vergleiche zu vorangegangen Studien mit SINUS-Kooperationspartnern (2021 und 2022). Für die Abfrage zum Populismus wurde u .a. die Itembatterie aus der „Mitte“-Studie von Zick und Küpper (2021) verwendet.

    Befragung Deutschland:

    Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage (CAWI) des SINUS-Instituts im Online-Access-Panel der GapFish GmbH, an der 1.049 Personen zwischen 22.05. und 31.05.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 bis 69 Jahren.

    Befragung Österreich:

    Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage (CAWI) von INTEGRAL unter Mitgliedern des AUSTRIAN ONLINEPOOL, an der 1.000 Personen zwischen 26.01. und 31.01.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 16 bis 75 Jahren.

    Über das SINUS-Institut

    Die SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH mit Standorten in Heidelberg und Berlin ist seit über 40 Jahren Spezialist für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung. Das Institut entwickelt Strategien für Unternehmen und Institutionen, die den soziokulturellen Wandel als Erfolgsfaktor nutzen. Ein zentrales Tool dafür sind die Sinus-Milieus – ein Gesellschafts- und Zielgruppenmodell, das Menschen nach ihren Lebenswelten in „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammenfasst. Die Sinus-Milieus zählen seit Jahrzehnten zu den bekanntesten und einflussreichsten Segmentationsansätzen und sind mittlerweile für über 48 Länder verfügbar. SINUS kooperiert eng mit den Schwesterunternehmen INTEGRAL Markt- und Meinungsforschung in Wien und OPINION Market Research & Consulting, Nürnberg (INTEGRAL-SINUS-OPINION Gruppe).

    Pressestelle des SINUS-Instituts, 29.06.2023