Kategorie: Kurzmeldungen

  • Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen

    Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht derzeit im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), ob die Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen Vorteile im Vergleich zu anderen Behandlungen oder zu keiner Behandlung hat. Vorläufiges Ergebnis: Bei Essstörungen und bei psychischen Störungen, die auf die Einnahme von die Psyche beeinflussenden Substanzen wie Drogen („psychotrope Substanzen“) zurückgehen, zeigt sich in Studien ein Vorteil der Systemischen Therapie gegenüber anderen Behandlungen. Stellungnahmen zum Vorbericht sind möglich bis zum 16.09.2022.

    Für Erwachsene ist die Systemische Therapie bereits Kassenleistung

    Die Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung von psychischen Störungen. Leitgedanke der Systemischen Therapie ist, dass soziale Beziehungen – vor allem innerhalb der Familie – eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Behandlung von psychischen Störungen spielen. Anders als die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie zählt die Systemische Therapie bislang in Deutschland nicht zu jenen psychotherapeutischen Verfahren, die als ambulante Leistung in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt und erstattet werden. Die Systemische Therapie zur Behandlung von Erwachsenen wurde hingegen 2019 in die dafür maßgebliche Psychotherapie-Richtlinie des G-BA aufgenommen. Vor diesem Hintergrund hat der G-BA das IQWiG im August 2021 mit der Nutzenbewertung der Systemischen Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen mit einer psychischen Störung beauftragt.

    Sinkender Cannabiskonsum und Hilfe bei Essstörungen

    Die nun vom IQWiG vorgelegte vorläufige Nutzenbewertung „Systemische Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen“ basiert auf der Auswertung von 37 randomisierten kontrollierten Studien.

    • Im Anwendungsbereich „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ zeigen die Studien Vorteile für die Systemische Therapie im Vergleich zu den bislang von den Krankenkassen gemäß Psychotherapie-Richtlinie erstatteten Psychotherapieverfahren („Richtlinientherapie“). Beispielsweise waren in einer Studie mit 450 Cannabiskonsumenten im Alter zwischen 13 und 18 Jahren in der Systemischen-Therapie-Gruppe im Vergleich zur Richtlinientherapie-Gruppe bei Studienende sowohl der Cannabisgebrauch geringer als auch die Anzahl der Symptome einer Cannabiskonsumstörung.
    • Bei Essstörungen lässt sich gegenüber Psychotherapien, die nicht zur Richtlinientherapie gezählt werden, und auch gegenüber sonstigen Behandlungen ein Vorteil der Systemischen Therapie ableiten.
    • Bei affektiven Störungen wie Depressionen sowie bei Angst- und Zwangsstörungen zeigen die Daten Vorteile der Systemischen Therapie gegenüber einer Placebo- oder keiner Behandlung.
    • Für die Anwendungsbereiche „Störungen des Sozialverhaltens“ und „Seelische Krankheit aufgrund frühkindlicher emotionaler Mangelzustände“ skizziert die IQWiG-Projektgruppe in ihrem Vorbericht jeweils Eckpunkte für Erprobungsstudien, mit denen geprüft werden kann, ob die Systemische Therapie hier die Versorgung verbessert.

    Zum Ablauf der Berichterstellung

    Den Berichtsplan für dieses Projekt hatte das IQWiG im November 2021 veröffentlicht. Stellungnahmen zum Vorbericht werden nach Ablauf der Frist ab dem 16.09.2022 gesichtet. Sofern sie Fragen offenlassen, werden die Stellungnehmenden zu einer mündlichen Erörterung eingeladen.

    Originalpublikation:
    Vorbericht (vorläufige Nutzenbewertung): Systemische Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen

    Weitere Informationen:
    Abschlussbericht N14-02: Systemische Therapie bei Erwachsenen als Psychotherapieverfahren

    Pressestelle des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), 22.8.2022

  • Erholung von der Pandemie

    Die mentale Gesundheit von Schülerinnen und Schülern hat sich in den letzten Monaten deutlich verbessert. Dies ist das zentrale Ergebnis einer Studie des Forschungszentrums Demografischer Wandel (FZDW) der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS). Bereits zwischen 2014 und 2020 befragten die Forschenden jährlich mehr als 10.000 Schüler:innen der Geburtsjahrgänge 2003/2004 an weiterführenden Regelschulen. Unter anderem fragten sie danach, an wie vielen Tagen in der letzten Woche sie sich traurig, einsam oder unglücklich gefühlt haben und wie häufig sie gereizt und schlecht gelaunt gewesen sind. Dabei wurden stets dieselben Jugendlichen befragt. Eine kleine Gruppe dieser Schüler:innen wurde über die Pandemie (2020–2022) weiter begleitet und zu ihrem Wohlbefinden befragt.

    „Schon vor der Pandemie konnten wir einen stetigen Anstieg mentaler Gesundheitsprobleme bei den befragten Jugendlichen erkennen“, blickt Studienleiter Prof. Dr. Andreas Klocke auf die früheren Ergebnisse zurück. Ihm zufolge sei dies jedoch nichts Ungewöhnliches und decke sich mit vergleichbaren Studien, da die Pubertät, zunehmende Konflikte mit den Eltern und steigende schulische Anforderungen allgemein für ein abnehmendes psychisches Wohlbefinden im Prozess des Älterwerdens verantwortlich seien. Nach Ausbruch der Pandemie habe das Wohlbefinden der Teilnehmenden jedoch nochmals empfindlich gelitten: „Ende 2021 gaben in unserer Studie plötzlich 61 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler an, an mindestens zwei Tagen in der Woche gereizt oder schlecht gelaunt gewesen zu sein. 39 Prozent hätten sich unglücklich und deprimiert gefühlt. Das waren vor der Pandemie mit 44 bzw. 19 Prozent in dieser Gruppe noch deutlich weniger“, so Dr. Sven Stadtmüller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am FZDW, der seit 2014 die Durchführung der Befragungen organisiert. Dabei verweist er darauf, dass zum Jahresende 2021 Lockdowns und Schulschließungen schon einige Zeit hinter den Jugendlichen lagen.

    Nun, acht Monate später, entspanne sich die Situation wieder – dies zeigte eine zweite, abschließende Befragung im August 2022, deren Ergebnis bei fast allen Indikatoren des psychischen Wohlbefindens geringere Belastungswerte vorweist. So berichtete noch die Hälfte der teilnehmenden Jugendlichen, an mindestens zwei Tagen in der Woche gereizt oder schlecht gelaunt gewesen zu sein. 30 Prozent gaben an, sich unglücklich und deprimiert gefühlt zu haben. Dennoch sei dies kein Grund zur Euphorie, denn: „Die Belastungswerte liegen noch allesamt über dem Niveau vor der Pandemie, auch wenn dies zum Teil dem allgemeinen Trend eines sinkenden psychischen Wohlbefindens zuzuschreiben ist“, so Stadtmüller.

    Er verweist zudem darauf, dass sich die Studienergebnisse nur auf Schüler:innen der gymnasialen Oberstufe beziehen, die sich zum Zeitpunkt der Befragung in ihrem letzten Schuljahr befunden oder das Abitur gerade abgeschlossen haben. So nahmen an der ersten Befragung Ende 2021 noch rund 1.450 Schüler:innen teil, wohingegen sich bei der abschließenden zweiten Befragung nur noch rund 270 Schüler:innen beteiligten. Entsprechend, so warnen die Forscher, müsse man bei der Interpretation der Ergebnisse vorsichtig sein. „Es ist vorstellbar, dass sich vorrangig jene Jugendliche an beiden Online-Befragungen beteiligt haben, denen die Begleitumstände der Pandemie besonders zu schaffen machten“, erklärt Stadtmüller. „Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass sie sich von den entstandenen Belastungen allmählich erholen.“

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 24.8.2022

  • Rauchstopp: Es ist nie zu spät!

    Ein aktueller Cochrane Review zeigt, dass es sich auch nach einem ersten Herzinfarkt noch lohnt, mit dem Rauchen aufzuhören: Das Risiko eines weiteren Infarkts oder Schlaganfalls lässt sich dadurch um rund ein Drittel senken.

    Über ein Drittel aller Todesfälle in Deutschland sind auf kardiovaskuläre Erkrankungen (cardiovascular disease, CVD) zurückzuführen, die sich insbesondere in Form von Herzinfarkten und Schlaganfällen manifestieren. Zu den wichtigsten beeinflussbaren Risikofaktoren für CVD gehört neben der Ernährung das Rauchen – Schätzungen zufolge ist das Tabakrauchen für rund jeden zehnten Todesfall durch CVD verantwortlich.

    Dabei ist es nie zu spät, um mit dem Rauchen aufzuhören: Wie auch das Risiko für Lungenkrebs, so sinkt auch das kardiovaskuläre Risiko nach einem Rauchstopp wieder deutlich ab. Dass sich dies selbst dann noch lohnt, wenn man bereits einen ersten Herzinfarkt erlitten hat, belegt die Evidenz aus dem eben erschienenen Cochrane Review „Rauchentwöhnung zur Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen“ auf Basis von 68 Studien mit insgesamt mehr als 80.000 Teilnehmenden.

    Die Kernaussagen des Reviews:

    • CVD-Risiko: Menschen mit koronarer Herzerkrankung, die mit dem Rauchen aufhören, verringern wahrscheinlich ihr Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden und daran zu sterben, um rund ein Drittel. Die Autor:innen schätzten die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE hierfür als moderat (für CVD-Todesfälle) bzw. gering (für nicht tödliche CVD-Ereignisse) ein.
    • Lebensqualität: Viele Raucher lieben ihr Laster und fürchten einen Verlust an subjektiver Lebensqualität, wenn sie damit aufhören. In den acht Studien, die den Endpunkt „Lebensqualität“ mindestens sechs Monate lang nachverfolgten, bestätigte sich diese Sorge nicht. Vielmehr fühlten sich die Studienteilnehmenden, die sich zum Rauchstopp entschlossen, langfristig sogar geringfügig besser als jene, die weiter rauchten.

    „Unsere Ergebnisse belegen, dass das Risiko sekundärer CVD-Ereignisse bei denjenigen, die mit dem Rauchen aufhören, im Vergleich zu denjenigen, die das Rauchen fortsetzen, sinkt und dass sich die Lebensqualität als Folge des Rauchstopps verbessert“, schlussfolgern die Autor:innen. „Wir hoffen, dass diese Ergebnisse mehr Menschen zu einem Rauchstopp motivieren und Gesundheitspersonal dazu ermutigen, Patient:innen beim Aufhören aktiver zu unterstützen.“

    Originalpublikation:
    Wu AD, Lindson N, Hartmann-Boyce J, Wahedi A, Hajizadeh A, Theodoulou A, Thomas ET, Lee C, Aveyard P. Smoking cessation for secondary prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database of Systematic Reviews 2022, Issue 8. Art. No.: CD014936. DOI: 10.1002/14651858.CD014936.pub2

    Pressestelle von Cochrane Deutschland, 12.8.2022

  • Was bringt uns zum Weinen?

    Der Mensch ist wohl das einzige Lebewesen, das aufgrund von Gefühlen weinen kann. In einer Studie haben Psychologinnen und Psychologen der Universitäten Ulm und Sussex untersucht, warum dies so ist. Die Forschenden konnten thematische Auslöser identifizieren, die uns zu Tränen rühren. Dazu gehören beispielsweise Einsamkeit oder Überforderung.

    Anhand von insgesamt über eintausend Berichten erwachsener Personen konnten die Forschenden eine Reihe thematischer Auslöser identifizieren, die häufig mit emotionalen Tränen assoziiert sind. Dazu zählen die Kategorien Einsamkeit, Machtlosigkeit, Überforderung, Harmonie und Medienkonsum. Erschienen ist die Arbeit zu den fünf Gründen des Weinens im Journal „Motivation and Emotion“.

    Neben den untersuchten emotionalen Tränen wie Freudentränen oder Tränen aus Trauer, Angst oder Wut existieren auch basale Tränen, die das Auge stets feucht halten und schützen. Die dritte Art sind Reflextränen, die beispielsweise bei Kälte, Wind oder beim Zwiebelnschneiden auftreten. Laut einer neuen Untersuchung von Forschenden der Universität Ulm und der University of Sussex in Brighton, Großbritannien, lassen sich die meisten Episoden, in denen Erwachsene aus emotionalen Gründen weinen, zuverlässig einer von fünf Kategorien zuordnen. Dazu zählen Einsamkeit, Machtlosigkeit, Überforderung, Harmonie und Medienkonsum.

    Der Einteilung in diese Kategorien liegt die Überlegung zugrunde, dass emotionale Tränen immer dann auftreten, wenn psychologische Grundbedürfnisse entweder verletzt oder sehr intensiv befriedigt werden. „Ähnlich wie bei biologischen Grundbedürfnissen wie Schlaf oder Essen geht man davon aus, dass die Frustration oder die Befriedigung dieser psychologischen Faktoren unser subjektives Wohlbefinden beeinflussen“, erklärt Erstautor Michael Barthelmäs, inzwischen Postdoc in der Abteilung Sozialpsychologie der Universität Ulm.

    Als zentrale psychologische Grundbedürfnisse haben sich in der Forschung die Bedürfnisse nach „Nähe“ (sich verbunden fühlen), „Autonomie“ (Dinge beeinflussen können) und „Kompetenz“ (etwas erfolgreich ausführen können) etabliert. Wie erwartet zeichnete sich in der Studie „Einsamkeit“ insbesondere durch eine erlebte Frustration des Bedürfnisses nach Nähe aus. Dieser Kategorie wurden Tränen aus Liebeskummer oder aufgrund von Heimweh zugeordnet. Tränen der Kategorie „Harmonie“ waren hingegen durch eine intensive Befriedigung des Bedürfnisses nach Nähe gekennzeichnet und traten beispielsweise als Freudentränen bei einer Hochzeitsfeier auf. Ein Beispiel für „Machtlosigkeit“ waren Tränen in Reaktion auf eine Todesnachricht (Frustration von Autonomie); Tränen der „Überforderung“ wurden häufig im Arbeitskontext berichtet (Frustration von Kompetenz).

    Jede vierte beobachtete Episode fiel in die Kategorie „Medienkonsum“, die mehrere Besonderheiten aufweist. Im Vergleich zu den anderen Kategorien ist die weinende Person dabei nur indirekt betroffen und die Tränen treten „stellvertretend“ auf. Der Auslöser ist ein Erlebnis, das der Hauptfigur eines Buches oder Filmes widerfährt, in die sich die Person hineinversetzt. Zudem kann man Tränen bei einem Drama, aber eben auch bei einer Komödie vergießen, in dieser Kategorie können also Freudentränen und Tränen der Traurigkeit fließen.

    Insgesamt führten die Forschende drei Studien durch, in denen neben Personen aus der Allgemeinbevölkerung auch Studierende befragt wurden. Der Altersdurchschnitt lag bei 30,3 Jahren. Der Anteil weiblicher Versuchspersonen betrug 64 Prozent. In zwei Studien wurden die Versuchsteilnehmenden in Online-Umfragen gebeten, im Rückblick Auskunft über die letzte Episode zu geben, in der sie emotionale Tränen vergossen hatten. In einer dritten Studie wurden die Teilnehmenden im Rahmen einer 30-tägigen elektronischen Tagebuchstudie einmal täglich via Smartphone zu ihrem Befinden sowie zum Weinen befragt. Es zeichnete sich der Trend ab, dass jüngere Personen im Vergleich zu älteren häufiger aufgrund von Überforderung weinten. Zudem wurden in der Tagebuchstudie weniger Episoden der Machtlosigkeit berichtet als in den beiden retrospektiven Studien. Es könnte also sein, dass eine Todesnachricht eher mit Weinen verknüpft wird als andere Kategorien. Somit erinnern sich die Studienteilnehmer besser daran und berichten davon häufiger.

    Die neuen Untersuchungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Sussex schließen eine Lücke in der Erforschung von emotionalen Tränen. Die Einteilung bildet einen wichtigen Grundstein in der weiteren Erforschung des Phänomens emotionale Tränen. „Bislang weiß man relativ wenig darüber, welche Rolle emotionale Tränen bei psychischen Erkrankungen spielen. Außerdem fehlen systematische Erkenntnisse darüber, wie Tränen soziale Interaktionen regulieren. Das heißt, welchen Einfluss Tränen zum Beispiel darauf haben, ob ein Mensch einen anderen unterstützt“, so Professor Johannes Keller, Leiter der Abteilung Sozialpsychologie der Uni Ulm, an der die Studie entstanden ist. Die Identifikation der fünf häufigsten Gründe des Weinens kann dabei helfen, diese Fragen in Zukunft zu beantworten.

    Originalpublikation:
    Barthelmäs, M., Kesberg, R., Hermann, A. et al. Five reasons to cry—FRC: a taxonomy for common antecedents of emotional crying. Motiv Emot (2022). https://doi.org/10.1007/s11031-022-09938-1

    Pressestelle der Universität Ulm, 15.8.2022

  • Pandemie sorgt für Digitalisierungsschub in der Sozialwirtschaft

    Die Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie hatten die Sozialwirtschaft kalt erwischt. Kaum eine Organisation war Anfang 2020 dazu in der Lage, Videokonferenzen für Klienten und Mitarbeitende durchzuführen oder Arbeitsplätze ins Homeoffice zu verlagern. Doch was ist seitdem passiert? Der jährlich von der Arbeitsstelle für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) in Zusammenarbeit mit der Hochschule Hof herausgegebene „IT-Report für die Sozialwirtschaft“ verfolgt die Digitalisierungsprozesse sozialer Organisationen mit wissenschaftlichen Methoden und kann somit auch die pandemiebedingten Veränderungen genau erfassen.

    Das Fazit fällt eindeutig aus: Zwar hat diese Krise den sozialen Organisationen an vielen Stellen stark zugesetzt, doch für ihre digitale Entwicklung war sie ein Segen.

    Wie die Autoren, Prof. Helmut Kreidenweis (KU) und Prof. Dr. Dietmar Wolff (Hochschule Hof), betonen, scheint mit der Pandemie das gelungen zu sein, was die Sozialbranche anders als andere Branchen in den Jahren zuvor nur sehr zögerlich vorangetrieben hatte: eine Mobilisierung und Flexibilisierung des IT-Einsatzes und eine deutliche Aufwertung und Professionalisierung des IT-Betriebes.

    Dass die IT-Ausgabenquote seit 2019 um zwölf Prozent gestiegen sei, könne nach Ansicht der Autoren als klares Zeichen dafür gewertet werden, dass der Nachholbedarf vielerorts erkannt wurde. „Doch das war nicht nur ein Strohfeuer“, so Professor Kreidenweis, „die Daten unseres Reports zeigen, dass weiterhin beträchtliche IT-Investitionen getätigt werden.“ Dabei habe sich das Geschehen jedoch deutlich verlagert: Künftig soll statt primär in Software vor allem in die Netzwerk- und Geräte-Infrastruktur investiert werden.

    Gleichzeitig wurden die IT-Abteilungen qualitativ aufgewertet und sind näher an die oberste Leitungsebene gerückt. In das gleiche Bild passt, dass IT-Leitungsstellen auch bei kleineren Trägern mittlerweile meist in Vollzeit besetzt werden. Darin drückt sich, so die Autoren, wohl am deutlichsten aus, dass Digitalisierung zu einem Thema mit strategischer Relevanz geworden ist.

    Gute Stimmung herrscht in der Softwareanbieter-Branche für die Sozialwirtschaft. Auch hier scheint die Pandemie als Geschäftstreiber fungiert zu haben: Die Zufriedenheit mit dem Geschäftsverlauf des letzten Jahres hat einen Allzeit-Spitzenwert erreicht. Investieren wollen die Anbieter laut Professor Wolff vor allem in den Ausbau der Funktionalität vorhandener Programme, die Entwicklung von Mobil-Lösungen, die Verbesserung der Usability und den Ausbau der Prozessunterstützung. Wolff: „Endlich genau das, was auch die Sozialunternehmen fordern.“

    Erstmals wurde das Thema Anbieter-Fusionen unter die Lupe genommen. Die Mehrzahl der teilnehmenden Unternehmen geht davon aus, dass die Anzahl der Fusionen weiter zunehmen wird und dabei die großen Unternehmen vorwiegend Firmen mittlerer Größe übernehmen werden.

    Neben zahlreichen weiteren Statistik-Analysen liefert der IT-Report auch die jährlich von der Branche mit Spannung erwarteten Rankings der Softwareanbieter sowie ein Firmenverzeichnis, das Auskunft über Umsatz-, Kunden- und Mitarbeitendenzahlen der teilnehmenden Firmen gibt.

    Bibliografische Angaben und Bestellung:

    IT-Report für die Sozialwirtschaft 2022
    digitale Standard-Ausgabe, 77 Seiten
    Preis: 72,- EUR (digitale Version) und 36,- EUR für Studierende (gegen Nachweis, Scan der Immatrikulationsbescheinigung genügt)
    Preis: 82,- EUR (gedruckte Version, inkl. Versand)

    Der IT-Report kann bezogen werden über:

    Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
    Fakultät für Soziale Arbeit
    Arbeitsstelle für Sozialinformatik
    Tel.: 08421/93-21472
    Fax: 08421/93-214720
    Mail: christine.vetter(at)ku.de
    Der Versand erfolgt gegen Rechnung!

    Weitere Informationen auf der Homepage der Arbeitsstelle Sozialinformatik unter http://www.sozialinformatik.de.

    Pressestelle der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, 9.8.2022

  • Wird die digitale Spieleindustrie schrumpfen?

    Gaming Area in Waiblingen, Deutschland. Foto©Ella Don

    Mit der Gamescom findet Ende August wieder die weltweit größte Messe für digitale Spiele statt. Die digitale Spieleindustrie erwartet für 2022 einen neuen Umsatzrekord von über 200 Milliarden US$. Prof. Dr. André Marchand, geschäftsführender Direktor des Instituts für Service und Relationship Management an der Universität Leipzig, nennt Umsatzrückgänge bei den Smartphone-Spielen, während Abonnement-basierte Modelle und E-Sport weiter wachsen.

    Digitale Spiele während der Corona-Pandemie

    Die digitale Spielindustrie profitierte von pandemiebedingten Offline-Kontaktbeschränkungen und wuchs entsprechend in den Jahren 2020 und 2021 enorm. Viele digitale Spiele ermöglichen bereits seit mehreren Jahrzehnten soziale Austauschprozesse zwischen Spieler:innen und virtuelle gemeinsame Erlebnisse.

    Zurück zur Normalität?

    2022 gibt es mehr Offline-Freizeitmöglichkeiten als in den beiden Jahren zuvor und somit mehr Konsum-Konkurrenz für digitale Spiele. Analysten erkennen bereits einen Nachfragerückgang auf Smartphones. Mehr Homeoffice und eine mögliche Wirtschaftskrise könnte die Nutzung und Werbeeinnahmen für diese oft unterwegs genutzten Spiele negativ beeinflussen. Im Gegensatz dazu prognostizieren viele Analysen ein weiteres Nachfragewachstum für so genannte AAA-Spiele mit hohem Entwicklungsbudget, ähnlich wie Blockbuster in der Filmindustrie.

    Schrumpfender Spielemarkt?

    Die Anzahl der Menschen mit geeigneter Spiele-Hardware und schnellen Internetzugängen wächst weiterhin signifikant. Hinzu kommen spannende Innovationen der Spielindustrie. Das 2016 erschienene Virtual Reality Headset von Sony (PlayStation VR) hatte zwar trotz einer beeindruckenden Anzahl von über 600 VR-Spielen mit nur fünf Millionen Verkäufen keinen durchschlagenden Erfolg. Das könnte sich für Sonys zweite VR-Generation oder neue VR- und Augmented Reality (AR)-Angebote der Konkurrenz (z. B. Meta und Apple) in Zukunft ändern. Auch entdecken mehr Konsument:innen derzeit Abo-Modelle für Spiele (z. B. Xbox Game Pass). Dort können sie sich, ähnlich wie z. B. bei Netflix, einen Zugriff auf riesige Spiele-Bibliotheken freischalten, ohne diese Spiele separat kaufen zu müssen. Ein weiterer interessanter Trend ist die wachsende Begeisterung für E-Sport, also der sportliche Wettkampf innerhalb digitaler Spiele in Einzel- oder Mannschaftswettbewerben. Nachdem der jährliche Umsatz im professionellen E-Sport längst die Milliarden US$-Grenze überschritten hat, nimmt auch die Relevanz für den Breitensport zu.

    Pressestelle des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V., 9.8.2022

  • WHO warnt: Tabak vergiftet unseren Planeten

    Ein Totenschädel ziert das Deckblatt. Eine Hälfte des Symbols wird aus den Resten von Zigaretten und anderen Rauchutensilien gebildet. Die andere Hälfte sieht aus wie eine Luftaufnahme eines von Brandrodungen gezeichneten Waldes. Mit eindrücklichen Bildern und deutlichen Worten warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einer aktuellen Publikation vor den gewaltigen Umweltschäden, die vom Tabakrauchen ausgehen.

    „Lange bevor diese tödlichen Produkte die Verbraucherinnen und Verbraucher erreichen, hinterlassen sie bereits eine Spur der Verwüstung“, mahnt die WHO. Vom Anbau des Tabaks über die Produktion von Zigaretten bis zur Entsorgung der Kippen verursacht das Rauchen enorme Schäden. Nicht nur an der Gesundheit der Menschen, sondern auch an der unseres Planeten. Damit unterstreicht die WHO ihre Warnung, die sie in einem früheren Bericht veröffentlicht hat.

    Tabakproduktion treibt den Klimawandel voran

    Jährlich werden etwa 200.000 Hektar Wald für die Tabakproduktion gerodet. Der Tabakanbau wird für rund 5 Prozent des jährlichen Verlusts an Waldflächen verantwortlich gemacht. Die Entwaldung findet zumeist in Regionen statt, die ohnehin gefährdet sind für eine zunehmende Wüstenbildung.

    Bei der Produktion von Tabak werden jährlich etwa 22 Milliarden Tonnen Wasser verbraucht. Damit könnten 15 Millionen olympische Schwimmbecken befüllt werden. Und dieser Wert sei laut WHO vermutlich noch unterschätzt. Beim Anbau werden auch jede Menge Pestizide und andere Chemikalien eingesetzt, die Seen, Flüsse und schließlich auch unser Trinkwasser vergiften.

    Die Herstellung von Tabak ist zudem besonders energiehungrig. Die grünen Tabakblätter werden getrocknet, bevor aus ihnen Zigaretten hergestellt werden. Die Trocknung erfolgt meist mit warmer Luft. Dafür wird unter anderem Holz und Kohle verbrannt. Neben der enormen Luftverschmutzung in den Produktionsländern werden so insgesamt etwa 84 Megatonnen Kohlendioxid freigesetzt. Das ist etwa so viel, wie beim Start von 280.000 Weltraumraketen in die Atmosphäre gelangt. Die Tabakproduktion ist damit ein bedeutsamer Treiber die Klimakatastrophe.

    Jährlich landen 4,5 Milliarden Kippen im Müll

    Hinzu kommt der Müll. Jährlich müssen rund 4,5 Milliarden Zigarettenkippen entsorgt werden. Etwa zwei Drittel davon werden achtlos weggeworfen. Die Kippen enthalten Schwermetalle und andere Giftstoffe. Was viele Menschen nicht wissen: Die Filter basieren zwar auf Zellulose, werden aber mit Kunststoffen behandelt. Viele Stummel finden ihren Weg ins Meer, wo sie zu Mikroplastik zerfallen.

    Die Beseitigung des Müllbergs falle jedoch zulasten der Steuerzahlenden. Die WHO rechnet vor, dass beispielsweise in Deutschland jährlich über 200 Millionen US-Dollar dafür aufgewendet werden müssen. Die Hersteller müssten stärker in die Pflicht genommen werden, sich an den Müllbeseitigungskosten zu beteiligen, fordert die WHO. In einigen Ländern wie Frankreich oder Spanien sei das auch schon der Fall.

    Quelle: www.drugcom.de 13.07.2022

  • Abendliche Belohnung verhindert Depressionen

    Zucker und Aktivierung des Belohnungssystems können Fruchtfliegen aus einem depressionsartigen Zustand herausholen. Foto/©: Tim Hermanns

    Auf den ersten Blick haben Menschen und Taufliegen nicht viel gemeinsam. Und doch lässt sich anhand der Fliegen viel über den Menschen herausfinden, etwa wenn es um Depressionen geht. So arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) daran, dem Verständnis und damit der Behandlung depressiver Zustände näherzukommen. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der renommierten Zeitschrift Current Biology veröffentlicht.

    „Anhand der Drosophila-Fliege untersuchen wir unter anderem Naturstoffe aus der traditionellen asiatischen Heilkunde – etwa aus dem Bereich des Ayurveda“, erläutert Prof. Dr. Roland Strauss aus dem Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie der JGU. „Einige könnten antidepressiv wirken oder prophylaktisch die Resilienz gegenüber chronischem Stress stärken, es kommt also erst gar nicht zu einem depressionsartigen Zustand.“ Eines der Ziele ist es, die Wirkung der Stoffe nachzuweisen, die optimale Zubereitung herauszufinden und die Reinstoffe zu isolieren, welche die Wirkung innerhalb des Pflanzenmaterials verursachen. Dann könnten diese langfristig als Medikament auf den Markt gebracht werden. Doch der Weg dahin ist noch weit – schließlich handelt es sich um Grundlagenforschung.

    „Bei der Drosophila-Fliege können wir genau untersuchen, wo die jeweiligen Stoffe eingreifen, denn wir können die gesamte Signalkette analysieren“, sagt Strauss. „Und: Jeder Schritt im Signalpfad kann auch bewiesen werden.“ Die Forschenden setzen die Fliegen mildem, wiederkehrenden Stress aus – etwa unregelmäßig auftretende Vibrationen der Unterlage. Daraufhin bilden die Drosophila einen depressionsartigen Zustand aus: Sie laufen langsamer, bleiben für zufällig entdeckten Zucker nicht stehen, klettern anders als entspannte Artgenossen nicht über Lücken. Wie ändert sich das Verhalten, wenn die Fliegen die verschiedenen Naturstoffe erhalten? Das Ergebnis: Es kommt entscheidend auf die Zubereitung des Naturstoffes an, z. B. ob dieser mit Wasser oder mit Alkohol extrahiert worden ist.

    Abendliche Belohnung verhindert Depressionen

    Was die Forschenden außerdem herausfanden: Belohnen sie die Fliegen am Abend eines stressigen Tages für eine halbe Stunde – geben sie ihnen also Futter mit höherem Zuckergehalt als üblich – oder aktivieren sie jeweils den Signalpfad für Belohnung, verhindert dies den depressionsartigen Zustand. Doch was geschieht, wenn die Fliege Zucker bekommt? Bekannt waren die Zuckerrezeptoren an den Tarsen und am Rüssel sowie das Ende des Signalweges, bei dem Serotonin in die Pilzkörper ausgeschüttet wird. Die Pilzkörper sind das Lernzentrum der Fliege, sie entsprechen dem Hippocampus des Menschen.

    Doch ist der Weg – wie die Untersuchungen zeigten – wesentlich komplexer als die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen anfangs vermuteten. Drei verschiedene Neurotransmitter-Systeme sind beteiligt, bis der Serotoninmangel – der bei Fliegen in einem depressionsartigen Zustand herrscht – an den Pilzkörpern durch Belohnung ausgeglichen wird: Unter anderem durch Dopamin, das auch beim Menschen Belohnung signalisiert. Diese Erkenntnisse aus der Fliegenforschung sollten allerdings Menschen keinesfalls dazu verleiten, besonders zuckerhaltige Nahrung zu sich zu nehmen. Die Süße wird von der Fliege als Belohnung empfunden, die Menschen auf eine gesündere Art erlangen können.

    Resilienz stärken: Wie kann man Depressionen vorbeugen?

    Zudem suchen die Forschenden nach Resilienz-Faktoren im Genom. Denn: Genau wie die Menschen haben auch Drosophila eine individuelle genetische Ausstattung – keine zwei Fliegen sind gleich. Wie, so fragen sich die Forschenden, unterscheiden sich die Genome von Fliegen, die Stress besser aushalten, von Genomen derjenigen Fliegen, die auf wiederkehrenden milden Stress mit depressiven Zuständen reagieren? Langfristig könnte es somit möglich sein, die genetische Anfälligkeit von Menschen für depressive Erkrankungen zu untersuchen – und etwa mit den ebenfalls im Projekt untersuchten Naturstoffen vorzubeugen.

    Originalpublikation:
    Tim Hermanns, Sonja Graf-Boxhorn, Burkhard Poeck, Roland Strauss. Octopamine mediates sugar relief from a chronic-stress-induced depression-like state in Drosophila. Current Biology, 31. Juli 2022. DOI: https://doi.org/10.1016/j.cub.2022.07.016

    Pressestelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2.8.2022

  • Wie entsteht Gewaltbereitschaft?

    Eine neue Studie belegt Zusammenhänge zwischen emotionaler Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen, so genannten dunklen Persönlichkeitseigenschaften und gesteigerter Gewaltbereitschaft. Dr. Alexander Yendell und Professor Dr. Oliver Decker sehen in den Ergebnissen die Notwendigkeit für einen Ausbau und eine entsprechende Ausrichtung von Präventionsprogrammen.

    Kinder und Jugendliche, die emotional vernachlässigt wurden sowie strafende und kontrollierende Eltern hatten, neigen dazu, so genannte dunkle Persönlichkeitseigenschaften wie Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie zu entwickeln. Diese Eigenschaften wiederum erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer hohen Gewaltbereitschaft bei den betroffenen Personen. Das ist das zentrale Ergebnis einer Studie unter 1.366 Leipziger Kindern und Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren, die in Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI), des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ, Teilinstitut Leipzig) und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm durchgeführt wurde.

    Die Ergebnisse sind einerseits als Grundlagenforschung für laufende Projekte zu Radikalisierungsprozessen und Rechtspopulismus an FGZ und EFBI zu begreifen – denn die ausgemachten Persönlichkeitsmerkmale und eine gesteigerte Gewaltbereitschaft sind potenzielle Erklärungsfaktoren für erstarkende autoritäre Dynamiken. Zugleich sollten die Ergebnisse unmittelbar politisches Gehör finden, denn sie zeigen deutlich den Bedarf nach einem Ausbau von Präventionsmaßnahmen und deren notwendige inhaltliche Ausrichtung.

    In der Befragung, die in den Jahren 2017 und 2018 durchgeführt wurde, wurden Jugendlichen Fragen zu Persönlichkeitsmerkmalen und zur Gewaltbereitschaft gestellt. Darüber hinaus fragten die Forscherinnen und Forscher der Leipziger Jugendstudie danach, ob die Jugendlichen in den letzten zwölf Monaten Gewalt beobachtet haben. Beides, sowohl negative Eigenschaften, die von Narzissmus, Opportunismus, Empathielosigkeit und Impulsivität geprägt seien, als auch die Beobachtung von Prügeleien unter anderen Jugendlichen bewirke eine hohe Bereitschaft, selbst Gewalt anzuwenden oder die Gewalt durch andere zu befürworten.

    Dr. Alexander Yendell und Professor Dr. Oliver Decker fordern vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse, die Erziehung von Kindern- und Jugendlichen auf die politische Agenda zu setzen. Gleichzeitig kritisieren sie, dass sehr viel Geld für Sicherheit und jüngst in Militär investiert wird, dabei werde allerdings vergessen, dass der Nährboden für Gewalt in der frühen Sozialisation liege. „Wir bekommen die Grausamkeit und Gewalt auf dieser Welt nur in den Griff, wenn wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche liebevoll und ohne verbale, physische und sexuelle Gewalt aufwachsen“, so Alexander Yendell.

    Problematisch ist aus Sicht beider Forscher, dass es nicht nur zu wenig wichtige Projekte zur Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter gibt, sondern diese häufig nur kurzfristig angelegt sind. Anstatt vorwiegend in mehr Sicherheit durch Polizei und Militär zu investieren, müssten sich politische Interventionen auch auf den Bereich konzentrieren, wo Gewalt noch verhindert werden kann, sprich in der frühen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Hier würde viel zu wenig und zu kurzfristig investiert „Es passiert immer nur etwas, wenn es schon brennt“, so Yendell und Decker. Dabei sei der Bereich der Familie allerdings nicht der einzige wichtige: „Menschen werden nicht nur in Familien unter Zwang gestellt und erfahren dort Gewalt, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft“ so Oliver Decker. Aus diesem Grund wollen die Forscher zukünftig auch Bildungsinstitutionen und andere möglicherweise einflussreiche Kontexte in den Blick nehmen. Darüber hinaus forschen Decker und Yendell zur Kriegsbereitschaft und -verherrlichung.

    Die Durchführung der Studie zur Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen wurde vom BMFSFJ im Programmpaket „Demokratie leben!“ gefördert. Aktuelle Projekte von Alexander Yendell und Oliver Decker am BMBF-gefördertem FGZ (Teilinstitut Leipzig) beschäftigen sich mit autoritären Dynamiken und Populismus.

    Originalpublikation:
    Yendell, Alexander; Clemens, Vera; Schuler, Julia; Decker, Oliver (2022): What makes a violent mind? The interplay of parental rearing, dark triad personality traits and propensity for violence in a sample of German adolescents. In: PLOS ONE 17 (6), e0268992. DOI: 10.1371/journal.pone.0268992.

    Pressestelle des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, 2.8.2022

  • Begleiterhebung des BfArM zu Cannabis

    Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.: BfArM-Begleiterhebung zu Cannabis zeigt Lücken des Wissens über Wirksamkeit der Cannabisprodukte auf

    Am 6. Juli 2022 veröffentlichte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Abschlussbericht einer Begleiterhebung zur Therapie mit Cannabisarzneimitteln. Zwischen April 2017 und März 2022 waren alle Ärztinnen und Ärzte, die Cannabisarzneimittel außerhalb ihrer Zulassung nach § 31 Absatz 6 SGB V („Cannabisgesetz“) gesetzlich Versicherten verschrieben hatten, zur Beantwortung weniger Fragen zu Indikation, Durchführung und Ergebnissen der Cannabistherapie verpflichtet. Sie sollte nach einem Jahr Behandlung bzw. bei einem vorzeitigen Abbruch erfolgen.

    Die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. stellt hierzu fest:

    Das Bemühen um mehr Transparenz zum medizinischen Gebrauch von Cannabisprodukten ist zu begrüßen. Bemerkenswert ist, dass über drei Viertel aller Verordnungen mit der Indikation chronische Schmerzen erfolgt sind. Dies verdeutlicht den Bedarf an wirkungsvollen Therapieverfahren in diesem Bereich, unterstreicht andererseits die Notwendigkeit von methodisch belastbaren Studien bei dieser Indikation. Denn: Die Begleiterhebung ist kaum geeignet, Aussagen über eine Wirksamkeit der Cannabisprodukte zu treffen, wie auch deren Autoren anmerken.

    Insgesamt wurden nur 21.000 Behandlungsfälle gemeldet, von denen 16.800 ausgewertet werden konnten – gleichzeitig wird geschätzt, dass bis zu 70.000 Patientinnen und Patienten mit Cannabisarzneimitteln behandelt wurden. Und besonders häufig (zu 52 %) haben Anästhesisten Daten erhoben – also auf Schmerzmedizin spezialisierte Ärztinnen und Ärzte. Aus Kassendaten ist jedoch bekannt, dass die Hauptverschreiber von Cannabis Hausärztinnen und Hausärzte sind, deren Behandlungen in der Erhebung also deutlich unterrepräsentiert sind. Durch diese Selektion besonders qualifizierter Ärzte, die auch dokumentieren, ist die Erhebung nicht repräsentativ.

    Ferner fällt auf, dass die Nutzer von Cannabisblüten deutlich jünger und häufiger männlich waren als die Patientinnen und Patienten, die Dronabinol oder Cannabisextrakte erhielten. Sie litten häufiger unter neurologischen Erkrankungen und Spastik. Die Behandlung mit Blüten erfolgte in einer sehr viel höheren Dosierung als bei den anderen Substanzen. Die Verordner bescheinigten der Blütentherapie zwar eine gute Effektivität, aber auch dreimal häufiger eine euphorisierende Wirkung. Diese Daten deuten auf eine mögliche positive Wirkung einer Cannabisblütentherapie bei speziellen Erkrankungen hin, es ist aber auch nicht auszuschließen, dass nichtmedizinische Vorerfahrungen einiger Patientinnen und Patienten mit dieser Cannabisform die Verordnung beeinflusst haben könnte. Die Deutsche Schmerzgesellschaft fordert daher eine besondere Sorgfalt bei der Indikationsstellung für Cannabisprodukte.

    Die aus Sicht der Deutschen Schmerzgesellschaft wichtigsten Schlussfolgerungen aus der Datenerhebung:

    Behandelnde Ärzte und Ärztinnen beschreiben bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen und Schmerzen oft einen positiven Effekt von Cannabismedikamenten. Bei ausgewählten Patienten mit chronischen Schmerzen und besonders in der Palliativmedizin sollten sie von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten bürokratielos verschrieben werden können.

    „Für die zukünftige Entwicklung sollten die Kriterien, nach denen eine Erkrankung für eine Cannabisbehandlung in Frage kommt, besser charakterisiert werden“, so apl. Prof. Dr. Winfried Meißner, Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. „Eine Ausweitung der Indikation von Cannabisarzneimitteln mit Erstattung durch die Solidargemeinschaft sollte wie bei allen anderen Medikamenten entsprechend der etablierten Zulassungsverfahren erfolgen“, so der Schmergesellschaftspräsident.

    Pressestelle der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., 8.7.2022

    Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.: Begleiterhebung zu Cannabisarzneimitteln – Ergebnisse entsprechen den Erfahrungen in der Praxis

    Im Juli hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Abschlussbericht der Begleiterhebung zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln veröffentlicht. In vielen Fällen wurde eine Verbesserung der Symptome und der Lebensqualität bei gutem Sicherheitsprofil berichtet. „Bezogen auf Menschen mit chronischen Schmerzen bestätigen die Ergebnisse unsere Erfahrungen aus der Praxis“, sagt Dr. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS). Besonders Palliativpatienten können seiner Erfahrung nach von den Cannabis-Wirkungen profitieren.

    Nach Ausschöpfung der Standardtherapien kann seit März 2017 Cannabis in bestimmten Fällen nach Genehmigung der Krankenkasse verordnet werden. Verknüpft mit der Einführung von Cannabis als Medizin war der Auftrag an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu einer Begleiterhebung. Deren Ergebnisse wurden nun veröffentlicht.

    Die wichtigsten Ergebnisse der Begleiterhebung im Überblick:

    • 76,4 % Einsatz bei chronischen Schmerzen
    • 75 % der Fälle Verbesserung der Symptomatik
    • 70 % der Fälle Verbesserung der Lebensqualität
    • verordnete Arzneimittel: Dronabinol (62,2 %), Blüten (16,5 %), Extrakte (13 %), Sativex® (8 %)
    • mittlere Tagesdosis an THC bei Verwendung von Dronabinol, Cannabisextrakten und Sativex®: ca. 15 mg
    • mittlere Tagesdosis an THC bei Verwendung von Cannabisblüten: 249 mg
    • Nebenwirkungen waren häufig, aber in der Regel nicht schwerwiegend (Müdigkeit und Schwindel)
    • mit Cannabisblüten Behandelte bewerten den Therapieerfolg höher

    DGS-Präsident: Positive Effekte von Cannabis, besonders in der Palliativmedizin

    Die wichtigste Nachricht aus dem Abschlussbericht ist für Dr. Johannes Horlemann, dass Cannabinoide schwerkranken Menschen helfen können, wenn Standardtherapien erschöpft sind. „Viele Patienten berichten über positive Effekte und wenig Nebenwirkungen, wenn die Dosis vorsichtig auftitriert wird. Selbst Patienten oberhalb des 70. Lebensjahres berichten von einer guten Verträglichkeit“, so Horlemann. Die Bandbreite der Wirkungen komme seiner Erfahrung nach besonders Palliativpatienten zugute.

    So wie die Autoren des Abschlussberichts sieht Horlemann die hohe THC-Dosis bei der Anwendung von Cannabis-Blüten kritisch: „Das Risiko von Missbrauch und Abhängigkeit ist beim Einsatz von Cannabisblüten eindeutig höher als bei anderen Applikationsformen, da häufig übertherapeutische Dosierungen erreicht werden.“

    Weitere Evidenz erforderlich

    Insgesamt hoffe die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin auf eine Verbesserung der Evidenzlage. Denn: „Cannabinoide können nicht jedem Patienten helfen“, so Horlemann. Außerdem bekräftigt der DGS-Präsident, dass die Verordnung dieser besonderen Substanzen eine Schulung der entsprechenden Fachgruppen erfordert.

    Bei der Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln handelt es sich um eine nicht-interventionelle Untersuchung. BfArM und DGS weisen übereinstimmend darauf hin, dass die Daten klinische Studien nicht ersetzen können und bedauern, dass viele Ärzte die Verordnungen nicht gemeldet hatten. Von etwa 70.000 genehmigten Verordnungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherungen wurden nur 21.000 Fälle an das BfArM gemeldet.

    Originalpublikation:
    Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln. 2022. www.bfarm.de/cannabis-begleiterhebung

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V., 25.7.2022