Kategorie: Kurzmeldungen

  • Welt-Aids-Tag am 1. Dezember: HIV in Deutschland

    Im Epidemiologischen Bulletin 47/2021 hat das Robert Koch-Institut seine Schätzung der Zahl der HIV-Neuinfektionen im Jahr 2020 und der Gesamtzahl von Menschen, die Ende 2020 mit HIV in Deutschland leben, veröffentlicht.

    Zusammenfassung

    HIV-Diagnosen werden oft erst Jahre nach der Infektion gestellt. Die Routine-Surveillance auf Grundlage der Labormeldungen liefert deshalb nur begrenzte Informationen zur aktuellen Ausbreitung von HIV in Deutschland. Die Zahl der HIV-Neuinfektionen und die Gesamtzahl der Menschen, die mit HIV in Deutschland le­ben, können nur mit Hilfe von Modellrechnun­gen abgeschätzt werden.

    Die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutsch­land sowie bei Menschen deutscher Herkunft, die sich im Ausland mit HIV infiziert haben, wird für das Jahr 2020 auf 2.000 geschätzt und nimmt damit gegenüber 2019 (nach aktueller Schätzung 2.300 Neuinfektionen) ab.

    Die Anzahl der geschätzten HIV-Neuinfektio­nen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) lag im Jahr 2020 bei etwa 1.100, ein Rückgang von 300 Neuinfektionen gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 2020 haben sich etwa 370 Menschen beim Gebrauch intravenöser Drogen mit HIV infiziert, diese Zahl steigt seit dem Jahr 2010 auf niedrigem Niveau an. Etwa 530 Menschen haben sich in Deutschland auf he­terosexuellem Weg mit HIV infiziert. Auch in dieser Gruppe sehen wir auf niedrigem Niveau seit 2013 einen Anstieg.

    Im Jahr 2020 wurden etwa 35 % der HIV-Infek­tionen (2020: N = 900; 2019: N = 1.100; 2018: N = 990) erst mit einem fortgeschrittenen Immun­defekt und etwa 18 % erst mit dem Vollbild AIDS (2020: N = 460; 2019: N = 510 2018: N = 460) diagnostiziert. Aufgrund des Rückgangs von Neuinfektionen steigt der Anteil der Diagnosen fortgeschrittener Infektionen seit dem Jahr 2014.

    Bis Ende 2020 stieg die Zahl der Menschen mit einer HIV-Infektion in Deutschland auf 91.400. Von diesen sind etwa 9.500 HIV-Infektionen noch nicht diagnostiziert. Während diese Zahl bei MSM zurückging, stieg sie in den anderen Gruppen an. Insgesamt sinkt die geschätzte Zahl der noch nicht diagnostizierten Infektionen seit dem Jahr 2010. Der Anteil der diagnostizierten HIV-Infektionen stieg an und liegt nun bei etwa 90 %, womit das vom gemeinsamen Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (UNAIDS) bis 2020 gesetzte Ziel knapp erreicht wäre.

    Seit 2015 empfehlen die HIV-Behandlungsleit­linien, jede diagnostizierte HIV-Infektion in Deutschland umgehend antiretroviral zu thera­pieren. Der Anteil der Menschen mit diagnos­tizierter HIV-Infektion, die eine antiretrovirale Therapie erhalten, ist von etwa 81 % im Jahr 2006 auf etwa 97 % im Jahr 2020 angestiegen. Etwa 96 % dieser Therapien verliefen erfolg­reich, d. h., es wurde eine Viruslast von weniger als 200 Viruskopien/ml Blut erreicht.

    Die aktuellen Daten legen die Schlussfolgerung nahe, dass der Ausbau von zielgruppenspezifi­schen Testangeboten und ein früherer Behand­lungsbeginn auch in Deutschland Erfolge ge­zeigt haben. Es bedarf aber weiterer Maßnah­men insbesondere zur weiteren Verbesserung der Testangebote und um den Zugang zur Therapie für alle in Deutschland mit HIV lebenden Menschen zu gewährleisten.

    Der beobachtete Rückgang von HIV-Neudiag­nosen und der geschätzte Rückgang von Neuin­fektionen könnten auf einer Verminderung von Übertragungsrisiken durch Einschränkung se­xueller Kontakte, verminderten Routinetestun­gen und damit Wegfall von Diagnosen, und si­cherlich zum Teil auch auf Verhinderung von Neuinfektionen durch HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe-(PrEP-)Gebrauch beruhen. Eine ge­nauere Quantifizierung dieser drei Einflussfak­toren ist derzeit noch nicht möglich.

    Der Einfluss der zunehmend vor allem von MSM verwendeten PrEP auf das Infektionsge­schehen kann auf Grund der Pandemie-assozi­ierten Veränderungen des Sexual- und Testver­haltens im Jahr 2020 nicht verlässlich einge­schätzt werden.

    Quelle: Epidemiologischen Bulletin, hrsg. v. Robert Koch-Institut, Berlin, 47/2021, S. 3

  • Suchthilfe ist für Menschen ohne Wohnung überlebenswichtig

    Fachgespräch auf dem Podium: Ziel ist eine bessere Kooperation zwischen Sucht- und Wohnungslosenhilfe

    „Da geht noch was!“ lautete der Titel einer Fachtagung, die am 4. November 2021 im Fachkrankenhaus Vielbach stattgefunden hat. 2010 wurde dort durch den Klinikleiter Joachim J. Jösch die „Initiative für das Recht auf Teilhabe von abhängigkeitskranken Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz“ (TAWO-Initiative) gestartet. Die Übernahme der Schirmherrschaft durch die damalige Sozialministerin Malu Dreyer zeigte, welch hohe Relevanz die Politik dieser Teilhabe-Initiative beimisst. Nach zehn Jahren ist es Zeit, Bilanz zu ziehen, und so hatte das Fachkrankenhaus Vielbach namhafte rheinland-pfälzische Fachkräfte aus Wohnungslosenhilfe, Suchthilfe, Politik und Wissenschaft eingeladen, um über den aktuellen Stand und die Weiterentwicklung der Hilfen zu diskutieren.

    Menschen ohne Wohnung leben in gravierend-komplexen Problemlagen. Etwa zwei Drittel von ihnen sind suchtkrank und/oder psychisch krank. Ohne medizinische Behandlung sterben suchtkranke Wohnungslose meist früh, enden in psychiatrischen Einrichtungen oder in der Palliativmedizin.

    Im Vorfeld der Tagung hatten neue Erkenntnisse aus einer „Erhebung zur Suchthilfe für Wohnungslose“ dem Treffen Brisanz verliehen. Abhängigkeitskranke Klienten ohne Wohnung waren in drei rheinland-pfälzischen Suchthilfeeinrichtungen – Haus Eichen in der Mühle, Stationäre Vorsorge „Neue Wege“ sowie Fachkrankenhaus Vielbach – freiwillig und anonym zu ihrem Ausstieg aus Sucht und Wohnungslosigkeit befragt worden. Joachim J. Jösch stellte die Ergebnisse bei der Tagung vor. Die Auswertung von 117 Fragebögen ergab: 91 % der Antworter hatten schon vor dem Verlust der Wohnung zu viel Alkohol/Drogen konsumiert, 65 % hatten schon vor ihrer Wohnungslosigkeit psychische Probleme, und 82 % war klar, dass ihr Suchtproblem die Rückkehr in Wohnung und Arbeit stark behindert. 74,2 % gaben an, ihnen sei von der Wohnungslosenhilfe keine Hilfe wegen ihrer Suchtprobleme angeboten worden. Diese hohe Zahl machte den Tagungsteilnehmer*innen den großen Handlungsbedarf deutlich.

    Grundlagen für eine gelingende Suchthilfe-Kooperation

    Nach verschiedenen Einzelvorträgen zu den Themen Veränderungsmotivation, Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe und Zu-, Aus- und Übergänge für wohnungslose Klient*innen wechselten die Referent*innen zu einem Fachgespräch aufs Podium. Ziel war es, Grundlagen für eine gelingende Suchthilfe-Kooperation schaffen.

    Dr. Dirk Kratz (Therapieverbund Ludwigsmühle) berichtete für die Landesstelle für Suchtfragen von zielgruppenspezifischen Angeboten der Suchtberatungsstellen im Land, von deren derzeitiger Netzwerkarbeit und dem Interesse an Kooperationen, die sozial Benachteiligte besonders fördern.

    Gabriel Blass vom Haus Eichen schilderte, wie das Hilfeangebot der Einrichtung schon Hunderten Wohnungslosen den Weg für einen suchtmittelfreien Neuanfang geebnet hat. Er bot Suchthilfe-Informationsgespräche in allen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe an.

    Joachim J. Jösch, Leiter des Sucht-Hilfe-Zentrums Vielbach, wies auf einen besonderen Glücksfall für rheinland-pfälzische Wohnungslose hin: In ihrem Bundesland liegt mit dem Fachkrankenhaus Vielbach die bundesweit einzige Suchtklinik, deren spezieller Auftrag die medizinische und soziale Rehabilitation suchtkranker Menschen ohne Wohnung ist. Er bot mehrtägige kostenfreie Schulungen in Motivierender Gesprächsführung sowie kostenfreie suchtmedizinische Schulungen für Mitarbeitende der Wohnungslosenhilfe an.

    Andreas Geiger, Joachim Grämer und Jennifer Möllers, Vertreter*innen der Fachgruppe Wohnungslosenhilfe in der LIGA Rheinland-Pfalz, informierten über vielfältige suchtbezogene Kooperationen ihrer Einrichtungen. Wegen knapper Personalressourcen sowie zunehmend komplexer psychischer Störungen der Klienten seien mehr Suchthilfe und spezifische Hilfen nur schwer leistbar. Konkrete Suchthilfe-Kooperationen, die Klient*innen niedrigschwellige Auswege ermöglichen, seien aber erwünscht.

    Olaf Noll, Abteilungsleiter im rheinland-pfälzischen Sozialministerium, bekundete das große Interesse der Landesregierung an einer nachhaltigen Kooperation zugunsten der suchtkranken Wohnungslosen. Er lobte das langjährige Engagement der Vielbacher Gastgeber, die Lebens- und Teilhabechancen dieser Menschen zu verbessern, und versprach, die sich anbahnende Kooperationsvereinbarung nachhaltig zu unterstützen.

    Moderiert wurde die Tagung von Professor Robert Frietsch vom Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW) der Hochschule Koblenz. Der ehemalige Drogenbeauftragte des Landes ist durch langjährige Forschungsarbeit mit der Wohnungslosenhilfe fachlich sehr verbunden.

    Es wurde abschließend vereinbart, dass als Ergebnis dieser Fachtagung ein Entwurf einer Sucht- und Wohnungslosenhilfe-Vereinbarung zur Verstetigung einer nachhaltigen fachlichen Kooperation erarbeitet wird. Mit dem Sozialministerium abgestimmt, soll diese dann zur landesweiten Anwendung kommen.

    Link zum Tagungsflyer

    Joachim J. Jösch, Leiter des Sucht-Hilfe-Zentrums Vielbach, 17.11.2021

  • Niedrigschwellige Corona-Impfangebote und „Booster-Impfungen“ für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. ruft zur niedrigschwelligen Durchführung von Corona-Schutzimpfungen und der Auffrischung des Impfschutzes für Menschen, die von Abhängigkeitserkrankungen betroffen sind, auf.

    In der aktuellen Entwicklung der Corona-Pandemie sorgt die vierte Welle im November 2021 bereits für neue Höchststände bei den Infektionen mit dem Corona-Virus. Dies ist besonders problematisch für vulnerable Personengruppen, für die die aktuellen Möglichkeiten der Schutzimpfung und der Impfauffrischung mit Zugangshürden verbunden sind.

    Für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen trifft dies im besonderen Maße zu, denn sie zählen aufgrund häufiger Vorerkrankungen zur Hochrisikogruppe für Infektionen mit dem Corona-Virus und schwere Verläufe einer Covid-19-Erkrankung. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Menschen, deren Lebenssituation es schwierig macht, die pandemiebedingt notwendigen Hygieneregeln umzusetzen (z. B. wohnungslose Personen mit einer Abhängigkeitsproblematik), Infektionsketten induzieren, sollten sie über keinen ausreichenden Impfschutz verfügen. Weitere soziale und gesundheitliche Problemlagen kennzeichnen die Lebenssituation vieler Betroffener zusätzlich und sorgen für ein hohes Schutzbedürfnis dieser Gruppe.

    Menschen in besonders unsicheren und problematischen Lebensbedingungen sind durch Hilfsangebote schwierig zu erreichen. Während der ersten Jahreshälfte 2021 bemühten sich u. a. Einrichtungen der Suchthilfe um niedrigschwellige Impfangebote. Dazu gehörte oftmals der Einsatz des Impfstoffs Janssen® von Johnson & Johnson. Dieser hat den Vorteil, dass ein Impfschutz bereits nach der einmaligen Vergabe besteht und er somit aus organisatorischen und logistischen Gründen für schwer erreichbare Personengruppen (z. B. für wohnungslose Suchtkranke oder Suchtkranke mit ungeklärtem Aufenthalts- und/oder Versicherungsstatus) gut geeignet war.

    Mittlerweile gibt es klare Empfehlungen für die Auffrischung des Impfschutzes („Booster-Imfpungen“):

    • Bei Erstimpfung mit zwei Impfterminen nach sechs Monaten (bei allen entsprechenden Impfstoffen).
    • Bei Erstimpfung mit Johnson & Johnson nach vier Wochen.

    Die Auffrischung des Impfschutzes bzw. ein Impfangebot für alle bislang noch nicht Geimpften ist dringend erforderlich, um Hochrisikogruppen vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen. Diese Angebote müssen bekannt und niedrigschwellig zugänglich sein, um von schwer erreichbaren Gruppen in Anspruch genommen werden zu können.

    Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. und ihre Mitgliedsverbände appellieren daher an alle beteiligten Akteure, sich für die Schaffung und Bereitstellung von niedrigschwelligen Impfangeboten einzusetzen und an der Umsetzung mitzuwirken.

    Diese Akteure können einen Beitrag dazu leisten:

    • Träger und Einrichtungen der Suchthilfe, insbesondere niedrigschwellige Angebote und Reha-Einrichtungen, aber auch weitere Einrichtung mit entsprechenden Möglichkeiten, können an der Bereitstellung von Impfangeboten mitwirken. Hierfür können auch neue Wege und Kooperationen angeregt werden, z. B. der Ausbau der Zusammenarbeit mit Hausärztinnen und Hausärzten, die in niedrigschwelligen Einrichtungen Impfungen durchführen können.
    • Örtliche Gesundheitsämter können neben bestehenden – und wünschenswerterweise wieder vermehrt geöffneten – Impfzentren verstärkt niedrigschwellige und mobile Impfangebote ausbauen, um in problembehafteten Regionen und Stadtvierteln eine höhere Inanspruchnahme der Impfangebote durch schwer erreichbare Zielgruppen zu ermöglichen.
    • Verbände und Träger der Suchthilfe, Landesstellen und Landesverbände der Suchthilfe können sich im Sinne dieses Appells einsetzen und an der Erreichung einer möglichst hohen Impfquote mitwirken. Die Aufklärung und Motivation zur Impfung und deren Auffrischung sowie die Organisation und Bekanntmachung von niedrigschwelligen Impfangeboten kann durch die Verbände entscheidend gefördert werden. Die Kenntnis um die Angebote und Möglichkeiten, sich impfen zu lassen, muss bei den Betroffenen ankommen. Hieran mitzuwirken, sollte unser Anliegen sein.
    • Verbände und Gruppen der Sucht-Selbsthilfe können ebenfalls Überzeugungsarbeit leisten. Der Kontakt auf Augenhöhe ist ein Prinzip der Selbsthilfe, das hierfür genutzt werden sollte. Die Sensibilisierung für die Risiken eines unzureichenden Impfschutzes und die Vorteile der Impfung sowie die Motivation zur Auffrischung oder erstmaligen Impfung können durch Verbände der Selbsthilfe sowie den direkten Kontakt in Gruppen vermittelt werden.
    • Politische Entscheidungstragende auf kommunaler, Landes- und Bundesebene schaffen die Rahmenbedingungen, die für eine Umsetzung niedrigschwelliger Impfangebote maßgeblich sind. Hindernisse und Hürden zu erkennen und abzubauen, gelingt durch Kooperation mit durchführenden Akteuren in der Suchthilfe, ärztlichem Fachpersonal und den örtlich zuständigen Behörden. Auf Bundes- und Landesebene können politische Entscheidungstragende im Sinne dieses Appells auf die Notwendigkeit der niedrigschwelligen Impfangebote aufmerksam machen und sich für deren Durchführung einsetzen.

    Appell der DHS zum Download

    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
    Hamm, November 2021

  • DBDD-Bericht 2021 zur Situation illegaler Drogen

    Workbook Drogen

    Am 18.11.2021 hat die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) ihren jährlichen Bericht veröffentlicht. Dieser bietet einen vollständigen Überblick über das Konsumverhalten in der Altersgruppe der 12- bis 64-Jährigen. Darüber hinaus fasst er Hintergrundinformationen sowie aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Prävention, Beratung, Behandlung, Schadensminderung und Bekämpfung des Angebots zur Verbreitung illegaler Drogen in Deutschland zusammen.

    Corona-Pandemie

    Im Bericht werden mehrere Studien zum Konsum von Cannabis und anderen illegalen Substanzen während der Corona-Pandemie vorgestellt. Es zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Die Auswirkungen der Pandemie unterscheiden sich je nach Lebenssituation und vorherigem Konsumverhalten. In zwei deutschen Studien nennen Cannabiskonsumierende die Zunahme von Stress, Ängsten, Langeweile oder sehr viel Freizeit als Konsummotive.

    Cannabis ist nach wie vor die mit Abstand am weitesten verbreitete illegale Substanz in Deutschland bei insgesamt steigenden Wirkstoffgehalten. So hat sich der THC-Gehalt von Cannabisharz seit dem Jahr 2010 (6,8 Prozent) bis zum Jahr 2020 (20,4 Prozent) verdreifacht. Langzeittrends der ambulanten und stationären Suchtbehandlung zeigen, dass im Jahr 2020 der Anteil der erstmalig aufgrund von Cannabinoiden Behandelten erneut gestiegen ist.

    Die Corona-Pandemie hat in Deutschland auch Auswirkungen auf das Suchthilfesystem. Auch wenn keine repräsentativen Daten zur Situation des Suchthilfesystems verfügbar sind, geht aus Umfragen hervor, dass u. a. Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen dazu führten, dass Beratungs- und Behandlungsangebote nur noch reduziert und/oder eingeschränkt möglich waren. Online-Angebote wurden, wo möglich, ausgebaut, um die Betroffenen weiterhin unterstützen zu können.

    Die geschäftsführende Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, mahnt: „Wir dürfen jetzt nicht nachlassen. 2020 wurden fast ein Drittel weniger Suchtpräventionsmaßnahmen dokumentiert als im Jahr davor. Viele Maßnahmen sind weggefallen, da der persönliche Kontakt nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich war. Selbsthilfegruppen konnten nicht wie gewohnt stattfinden, Präventionsmaßnahmen im Schulbereich gingen um zehn Prozent zurück. Wir haben hier dringenden Handlungsbedarf, denn die Suchthilfe wird mehr gebraucht denn je! Niedrigschwellige Angebote müssen erreichbar sein. Alle müssen jetzt an einem Strang ziehen: die Akteure der Suchthilfe, aber auch Kommunen und Länder, wenn es darum geht, schnell und pragmatisch effektive Angebote zu ermöglichen.“

    Für die substitutionsgestützte Therapie von Opioidkonsumierenden wurden die Rahmenbedingungen flexibilisiert, um auch unter Pandemie-Bedingungen diese lebenswichtige Versorgung aufrechtzuerhalten. 2020 wurden am Stichtag (1. Juli) 81.300 Personen substituiert; dies ist ein kleiner Zuwachs gegenüber den Vorjahren.

    Drogentodesfälle und Modellprojekt „Naltrain“

    Im Jahr 2020 kamen 1.581 Menschen durch den Konsum illegaler Drogen ums Leben. Dies ist der höchste Wert seit 20 Jahren. Nach wie vor ist der Konsum von Opioiden die häufigste Todesursache. Das Notfallmedikament Naloxon, das durch Laien eingesetzt werden kann, um bei einer Opioidüberdosis Leben zu retten, wird aktuell in 18 Städten im Rahmen von Notfallschulungen an Drogenkonsumierende vergeben. 2021 hat das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte neue Modellprojekt „Naltrain“ seine Fahrt aufgenommen. Ziel ist es, den Ausbau der Notfalltrainings mit Naloxonvergabe bundesweit wissenschaftlich evaluiert voranzubringen.

    Esther Neumeier, Leiterin der DBDD: „Die Wirksamkeit der Vergabe von Naloxon an Laien ist wissenschaftlich gut belegt und wird unter anderem von der WHO empfohlen. Dass sie nun in Deutschland flächendeckend ausgebaut wird, ist ein wichtiger Schritt in Richtung evidenzbasierte Schadensminderung. In diesem Zusammenhang wäre auch der weitere Ausbau von Drogenkonsumräumen in Deutschland als evidenzbasierte Maßnahme zur Verhinderung von Drogentodesfällen wünschenswert.“

    Der Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht erscheint jährlich und fasst als Teil des europäischen Drogenbeobachtungssystems die Situation illegaler Drogen in Deutschland zusammen.

    Weitere Informationen zum Thema sowie den vollständigen Bericht finden Sie unter www.dbdd.de

    Gemeinsame Pressemitteilung des BMG und der DBDD, 18.11.2021

  • Pandemie-Folgen für die Psyche

    Die Corona-Pandemie bringt weltweit vielfältige psychische Folgen mit sich. Welche allgemeinen Tendenzen es dabei in Bevölkerungen gibt und welche auch länderübergreifend sind, ist indes noch schwer zu quantifizieren. Um solche Tendenzen besser beleuchten zu können, hat ein Forschungsteam bestehend aus Valentin Klotzbücher vom Institut für Wirtschaftswissenschaften und Dr. Stephanie Reich von der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Universität Freiburg sowie Prof. Dr. Marius Brülhart und Prof. Dr. Rafael Lalive von der Universität Lausanne nun acht Millionen Anrufe bei Sorgentelefonen in 19 Ländern analysiert.

    Dabei fanden sie unter anderem heraus, dass bisweilen 35 Prozent mehr Anrufe eingingen als zu vorpandemischen Zeiten und der Höhepunkt sechs Wochen nach dem Beginn der Pandemie erreicht war. Anlässe waren zumeist Angst, Einsamkeit und später Sorgen um die körperliche Gesundheit. Zugleich stellten die Wissenschaftler*innen fest, dass die sonst vorherrschenden Anlässe, etwa Beziehungs- oder wirtschaftliche Probleme, oder Themen wie Gewalt oder Suizid nicht verstärkt vorkamen, sondern von akuten Pandemie-Sorgen verdrängt wurden. Anrufe mit Bezug zu Suizidalität nahmen indes zu, als restriktive politische Maßnahmen verstärkt wurden, und sie nahmen ab, als finanzielle Unterstützungsleistungen ausgebaut wurden. Die Forschenden veröffentlichten ihre Studienergebnisse in der Fachzeitschrift Nature.

    „Die allgemeine mentale Verfassung einer Bevölkerung zu erheben oder gar länderübergreifende Tendenzen, ist sehr schwierig“, sagt Valentin Klotzbücher. „Nicht zuletzt deshalb werden psychische Aspekte in politischen Entscheidungsprozessen oftmals ausgeklammert – mit potenziell gravierenden Folgen. Mit unserer Studie wollten wir einen Beitrag leisten, um dem entgegenzuwirken.“ Die Wissenschaftlerinnen untersuchten Daten von 23 Sorgentelefonen in 14 europäischen Ländern, den USA, China, Hong Kong, Israel und im Libanon.

    Die vorherrschenden Anlässe für Telefonsorgenanrufe waren vor der Pandemie Beziehungsprobleme (37 Prozent), Einsamkeit (20 Prozent) und unterschiedliche Ängste (13 Prozent). „Mit der Pandemie stiegen die Anrufzahlen zu Ängsten um 2,4 Prozentpunkte und Einsamkeit um 1,5 Prozentpunkte, zu Beziehungsproblemen sanken sie indes um 2,5 Prozentpunkte“, erläutert Stephanie Reich. Ansonsten häufig auftauchende Themen sanken ebenfalls, wie etwa wirtschaftliche Lage (-0,6 Prozentpunkte), Abhängigkeit (-0,3 Prozentpunkte) oder Gewalt (-0,3 Prozentpunkte). Allerdings nahmen bei den weiblichen Anrufenden unter 30 Jahren die Anrufe zum Thema Gewalt um 0,9 Prozent zu.

    Eine Analyse von Anrufen zum Thema Suizidalität in mehreren US-Bundesstaaten sowie in Deutschland und Frankreich zeigt, dass tendenziell höhere Anruferzahlen verzeichnet wurden, wenn striktere Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung implementiert wurden, während großzügigere staatliche Unterstützung von Privatpersonen mit einem geringeren Anrufvolumen einhergingen.

    Originalpublikation:
    Brülhart, M., Klotzbücher, V., Lalive, R. et al. Mental health concerns during the COVID-19 pandemic as revealed by helpline calls. Nature (2021). https://doi.org/10.1038/s41586-021-04099-6

    Pressestelle der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, 18.11.2021

  • Alkohol trinken, um gesund zu bleiben?

    Es war eine paradoxe Studienlage, dass Menschen, die gar keinen Alkohol trinken, eine kürzere Lebenserwartung haben. Die soeben in der renommierten Fachzeitschrift „PLOS Medicine“ erschienene Greifswalder Studie konnte nun zeigen, dass die kürzere Lebenserwartung alkoholabstinent lebender Menschen auf Faktoren wie frühere Alkohol- oder Drogenprobleme, tägliches Tabakrauchen und eine schlechtere selbst eingeschätzte Gesundheit zurückzuführen ist.

    „Bisherige Studien legten nahe, dass Menschen, die geringfügige bis moderate Mengen trinken, länger leben. Dies führte lange zur Schlussfolgerung, mäßiger Alkoholkonsum könne gesundheitsfördernde Effekte haben, insbesondere in Bezug auf das Herz-Kreislauf-System. Dies konnten wir nun klar widerlegen“, sagt der Leiter der Studie, Professor Ulrich John, aus der Abteilung für Präventionsforschung und Sozialmedizin am Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald.

    In einer eigenen Studie haben die Forscher*innen um Ulrich John bereits in den Jahren 1996 und 1997 in Schleswig-Holstein eine Zufallsstichprobe von 4.028 Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sehr sorgfältig befragt. Dank eines international standardisierten Interviews konnte sogar die An- oder Abwesenheit einzelner psychiatrischer Erkrankungen festgestellt werden. Ebenso wurden frühere Alkohol- und Drogenerkrankungen sowie der Konsum von Alkohol und Nikotin erfasst. Durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) konnte nun, rund 20 Jahre später, untersucht werden, welche damaligen Studienteilnehmer*innen wann gestorben sind.

    Rund jede zehnte Person (11 Prozent, 447 Personen) dieser befragten Zufallsstichprobe hatte in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung keinen Alkohol getrunken. Die große Mehrheit dieser Personen waren frühere Alkoholkonsumenten (91 Prozent, 405 Personen). Zudem hatten fast drei Viertel von ihnen (72 Prozent, 322 Personen) mindestens einen Risikofaktor für eine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit. Zu diesen Risikofaktoren zählten eine frühere Alkohol- oder Drogenabhängigkeit oder erhöhter Alkoholkonsum (35 Prozent), tägliches Tabakrauchen (50 Prozent) sowie eine nach eigener Einschätzung mäßige oder schlechte Gesundheit (11 Prozent). Ohne Risikofaktoren waren 125 alkoholabstinente Personen.

    „Überraschend war für uns der Befund, dass alkoholabstinente Personen ohne Risikofaktoren sich in ihrer Sterbewahrscheinlichkeit nicht von Menschen mit geringem bis moderatem Alkoholkonsum unterscheiden“, sagt Ulrich John und ergänzt: „Lange Zeit wurde angenommen, dass geringer bis moderater Alkoholkonsum günstige Wirkungen auf die Gesundheit haben kann. Wir fanden nun jedoch, dass die meisten alkoholabstinent lebenden Personen unserer Studie zuvor Alkohol- oder Drogenprobleme, hohen Alkohol- oder täglichen Nikotinkonsum hatten oder ihre Gesundheit als mäßig bis schlecht bewerteten – alles Faktoren, die bekannt dafür sind, dass sie vorzeitigen Tod vorhersagen.“

    „Die Ergebnisse stützen die Einschätzung, dass Menschen, die gerade alkoholabstinent leben, nicht zwangsläufig eine kürzere Lebenszeit haben als diejenigen, die moderat Alkohol konsumieren. Die Ergebnisse widersprechen damit der Empfehlung, aus gesundheitlichen Gründen Alkohol zu trinken“, resümiert Ulrich John.

    Publikation:
    John U, Rumpf H-J, Hanke M, Meyer C.: Alcohol abstinence and mortality in a general population sample of adults in Germany: A cohort study. https://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1003819
    PLOS Medicine 2021 https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1003819

    Pressestelle der Universität Greifswald, 15.11.2021

  • Väterreport 2021

    Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat im Oktober den „Väterreport. Update 2021“ veröffentlicht. Der Väterreport beschreibt regelmäßig auf Basis amtlicher Statistiken, wissenschaftlicher Studien und repräsentativer Bevölkerungsbefragungen die Lebenslagen von Vätern in Deutschland. Neben ihren Werten und Einstellungen nimmt der Report das Familienleben der Väter und ihre berufliche Situation in den Blick. Zum zweiten Mal stellt der Report auch die Situation von Vätern, die in Trennung leben, dar. Ein eigenständiges Kapitel thematisiert die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf Beruf und Familie.

    Der Väterreport zeigt: Immer mehr Väter wollen heute die Familienaufgaben und die Verantwortung für das Familieneinkommen partnerschaftlich teilen, anders als die Generation zuvor. Väter wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Sie wollen gemeinsam mit der Mutter für die Kinder verantwortlich sein.

    Auch nach einer Trennung wollen sich viele Väter aktiv an Kinderziehung und -betreuung beteiligen. Getrennt lebende Väter geben zu großen Anteilen (48 Prozent) an, dass sie sich gerne mehr um Erziehung und Betreuung ihrer Kinder kümmern möchten.

    Elterngeld und Elternzeit sind wirksame Instrumente, die immer mehr Väter dabei unterstützen, zumindest zeitweise im Beruf kürzer zu treten und sich stärker familiär zu engagieren. Mittlerweile nehmen über 42 Prozent der Väter Elternzeit, beziehen dabei Elterngeld und nehmen sich damit Zeit für ihre Kinder. Die „Väterzeit“ ist von einer Ausnahme zum in Wirtschaft und Gesellschaft weithin akzeptierten und gelebten Modell geworden. Zusätzlich unterstützen Unternehmen die Väter und passen ihr Angebot familienbewusster Personalmaßnahmen auf ihre Bedürfnisse an.

    Weder die sich wandelnden Einstellungen noch die stärkere Teilhabe am Familienleben durch das Elterngeld haben jedoch nachhaltig die Erwerbstätigkeit von Vätern verändert. Väter sind nach der Elternzeit immer noch überwiegend in Vollzeit erwerbstätig. 68 Prozent der Mütter von minderjährigen Kindern arbeiten in Teilzeit, aber nur 7 Prozent der Männer. Hier zeigen sich Wunsch und Wirklichkeit: Nur 17 Prozent der Eltern übernehmen etwa gleiche Teile bei der Kinderbetreuung, während sich 45 Prozent eine partnerschaftliche Aufteilung wünschen. 52 Prozent der Väter würden gerne weniger arbeiten. 42 Prozent der Mütter wollen dagegen gerne ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen oder ausweiten. Der Report empfiehlt daher, die positiven Effekte von Elternzeit und Elterngeld deutlich zu verlängern und über eine Familienarbeitszeit zu einer existenzsichernden und vollzeitnahen Erwerbstätigkeit sowohl von Müttern als auch von Vätern beizutragen.

    Auswirkungen der Corona-Pandemie

    Der Väterreport zeigt erhebliche Auswirkungen der Corona-Pandemie. Während viele Väter in Kurzarbeit oder im Homeoffice tätig waren, engagierten sie sich stärker in der Familienarbeit. Die tägliche Kinderbetreuungszeit von Vätern aus Paarfamilien stieg auf durchschnittlich 5,3 statt 2,8 Stunden täglich (+ 89 Prozent). Mütter übernahmen dennoch weiter den deutlich größeren Teil der Familienarbeit: während der Lockdowns durchschnittlich 9,6 statt bisher 6,7 Stunden Kinderbetreuungszeit pro Tag (+ 43 Prozent). Der Väterreport wertet diese Pandemie-Erfahrungen als Chance, die Familienarbeit nachhaltiger partnerschaftlich aufzuteilen.

    Der Väterreport stützt sich unter anderem auf Erkenntnisse einer aktuellen Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach zu „Elternzeit, Elterngeld und Partnerschaftlichkeit“. Den Väterreport. Update 2021 finden Sie hier: www.bmfsfj.de/vaeterreport

    Pressestelle des Bundesfamilienministeriums, 6.10.2021

  • Wie Menschen ihre eigenen Erinnerungen manipulieren

    Menschen erinnern sich an vergangene Erlebnisse mithilfe des so genannten episodischen Gedächtnissystems. Dabei können sie ihre Erinnerungen auf drei Ebenen manipulieren, beschreiben Dr. Roy Dings und Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum in einer theoretischen Arbeit für die Zeitschrift „Review of Philosophy and Psychology“, online veröffentlicht am 13. August 2021. Die Forscher erklären, wie Menschen vergangene Erlebnisse ins Gedächtnis rufen und dabei verändern. „Erinnerungen an wichtige Ereignisse konstruieren wir oft so, wie sie uns in den Kram passen“, folgert Albert Newen.

    Erwachsene erinnern sich vor allem an bedeutende Erlebnisse, die mit besonders positiven oder besonders negativen Gefühlen verknüpft waren, etwa einen besonderen Urlaubstag, die Führerscheinprüfung oder die Hochzeit. Die Erinnerung ist dabei kein fotografischer Ausschnitt der Vergangenheit, sondern ein Konstrukt, das zwar von der Wahrnehmung eines zurückliegenden Ereignisses gespeist ist, aber beim Einspeichern und vor allem beim Abruf der wahrgenommenen Situation setzen vielfältige Konstruktionsprozesse ein. „Mit Pippi Langstrumpfs Worten könnte man sagen: Ich mache mir die vergangene Welt, wie sie mir gefällt“, veranschaulicht Roy Dings.

    Die Konstruktion des vergangenen Szenarios können Menschen auf drei Ebenen der Verarbeitung beeinflussen, was normalerweise automatisch und unbewusst geschieht. Die Quelle des Einflusses ist das narrative Selbstbild: „Wenn wir uns mit Freunden unterhalten, erzählen wir über uns selbst genau das, was uns wichtig ist“, sagt Roy Dings. „Diese Aspekte bezeichnen wir als das narrative Selbstbild.“

    Das konstruktive Modell des Erinnerungsabrufs

    Die Autoren wie auch alle Mitglieder der in Bochum angesiedelten Forschungsgruppe „Constructing Scenarios of the Past“ gehen davon aus, dass eine Erinnerung dann entsteht, wenn durch einen Reiz eine Gedächtnisspur aktiviert wird: Die Hochzeitseinladungskarte an der Pinnwand aktiviert beispielsweise eine Gedächtnisspur von der Hochzeitstafel. Die Situation wird allerdings – gemäß Bochumer Modell zum episodischen Erinnern – dann noch angereichert durch allgemeines Hintergrundwissen, welches in dem semantischen Gedächtnis verfügbar ist. Mit der Zusammenfügung von Gedächtnisspur und Hintergrundwissen entsteht ein lebhaftes Erinnerungsbild, etwa von der Begrüßung durch die Braut, und schließlich erzählt man, wie man das Ereignis erlebt hat.

    Drei Ebenen der Beeinflussung

    Zum Prozess der Szenario-Konstruktion gehören der Reiz, der die Erinnerung auslöst, der eigentliche Verarbeitungsprozess und das Ergebnis, also das Erinnerungsbild und die damit verknüpfte Beschreibung. Alle drei Komponenten können Menschen beeinflussen. Sie neigen erstens dazu, den auslösenden Reiz für positive Erinnerungen gezielt zu suchen und für negative Erinnerungen zu vermeiden. Sie stellen zum Beispiel ein Hochzeitsfoto auf den Bürotisch, meiden aber Begegnungen mit Personen, mit denen unangenehme Erinnerungen verknüpft sind.

    Zweitens kann das Selbstbild auch beeinflussen, welche Hintergrundinformationen herangezogen werden, um die sparsame Gedächtnisspur zu einer lebendigen Erinnerung anzureichern; das bestimmt erst das reiche Erinnerungsbild.

    Drittens kann die Beschreibung, die mit einem Erinnerungsbild verknüpft wird, sehr konkret oder eher abstrakt sein. Das Erinnerungsbild kann konkret entweder als der Beginn der Ansprache durch die Braut oder abstrakter als der Anfang des Zusammenwachsens zweier Familien beschrieben werden. Je abstrakter die verknüpfte Beschreibung, desto eher erinnert sich ein Mensch an das Erlebte aus einer Beobachterperspektive, also als Objekt in der Szene, und desto weniger intensive Gefühle sind damit verbunden. Die vom Selbstbild gewählte Beschreibungsebene beeinflusst das Erinnerungsbild und wie es erlebt wird – und zwar insbesondere, in welcher Form es dann weiter festgehalten wird.

    „Wir formen unsere Erinnerungen also im Prinzip so, dass wir unser positives Selbst schützen und die Herausforderungen durch negative Erinnerungen, die nicht zu unserem Selbstbild passen, gerne abmildern“, resümiert Albert Newen.

    Originalpublikation:
    Roy Dings, Albert Newen: Constructing the past: The relevance of the narrative self in modulating episodic memory, in: Review of Philosophy and Psychology, 2021, DOI: 10.1007/s13164-021-00581-2

    Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 18.8.2021

  • Auswirkung von Essstörungen auf Föten

    Essstörungen bei werdenden Müttern können sich ungünstig auf die Hirnentwicklung der Kinder auswirken. Das konnte die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums Tübingen im Rahmen einer Pilotstudie zeigen. Zum Einsatz kam dabei ein fetaler Magnetoenzephalograph (fMEG), ein europaweit einzigartiges Gerät, mit dem die Hirnströme von Föten ohne Belastung von Mutter und ungeborenem Kind gemessen werden können. Die Studie ist aktuell in der Fachzeitschrift „European Eating Disorder Review“ publiziert.

    Bei Anorexia Nervosa, auch Magersucht genannt, handelt es sich um eine Essstörung. Betroffene zeigen dysfunktionales Essverhalten wie extreme Kalorienrestriktion, Essanfälle oder induziertes Erbrechen, was oftmals zu einer unzureichenden Nährstoffzufuhr führt. Leiden Frauen während der Schwangerschaft unter einer solchen Essstörung, kann sich diese dadurch bedingte Fehlernährung auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Denn: Die grundlegenden Gehirnsysteme werden bereits im Mutterleib aufgebaut. Wie stark diese kindlichen Beeinträchtigungen ausgeprägt sein können, so das Ergebnis einer neuen Pilotstudie des Universitätsklinikums Tübingen, liegt an der Schwere der Essstörung.

    Das Studienteam um Prof. Dr. Katrin Giel (Leiterin des Arbeitsbereichs Psychobiologie des Essverhaltens), Prof. Dr. Hubert Preissl, (Arbeitsgruppenleiter Metabolic Neuroimaging) und Prof. Dr. Stephan Zipfel (Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) untersuchte Schwangere mit und ohne Essstörungen während der 27. und 37. Schwangerschaftswoche. Um die Auswirkung von Essstörungen auf die Kindesentwicklung zu erforschen, ermittelten sie mithilfe eines für Mutter und Kind schonenden sowie europaweit einzigartigen Geräts, einem fetalen Magnetoenzephalograph (fMEG), die Aktivität und den Entwicklungstand des fetalen Gehirns. Zur Erfassung der Hirnaktivität wurden auditorische Reize (Tonsignale) geboten. Das fMEG registrierte mithilfe dieser Tonsignale, ob und wie schnell das ungeborene Kind diese Reize erfasst und auf sie reagiert.

    Die Daten der Pilotstudie zeigten, dass mit zunehmender Schwere der Essstörung die Reaktionszeit der Föten auf das Tonsignal verlängert war. Während eine kurze Latenzzeit auf eine reifere Hirnfunktionalität hinweist, kann eine verlängerte Reaktion auf Entwicklungsstörungen hindeuten. Inwiefern diese Reaktionszeiten Aufschluss über die spätere kognitive und verhaltensbezogene Kindesentwicklung gibt, muss nun in Folgestudien untersucht werden.

    Originalpublikation:
    Maternal eating disorder severity is associated with increased latency of foetal auditory event-related brain responses; https://doi.org/10.1002/erv.2870

    Pressestelle des Universitätsklinikums Tübingen, 2.11.2021

  • Gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen im Umgang mit Drogenproblemen

    Miniguide Konsummuster Cannabis

    Welches sind die wirksamsten Behandlungsoptionen für Cannabisprobleme? Wie kann auf neue Trends beim Kokainkonsum reagiert werden? Wie kann die nichtmedizinische Anwendung von Arzneimitteln verhindert werden? Diese Fragen werden in einer neuen Sammlung von Miniguides untersucht, die Mitte Oktober von der Europäischen Beobachtungstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) vorgestellt wurde. Die Sammlung stellt die Aktualisierung des Bandes „Health and social responses to drug problems: a European guide 2017“ („Gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen im Umgang mit Drogenproblemen: ein europäischer Leitfaden 2017“) dar.

    Die Miniguides – die zwischen Oktober 2021 und Anfang 2022 in vier Paketen veröffentlicht werden – thematisieren Konsummuster, Schäden, Settings und gefährdete Gruppen. Sie stellen einen Überblick über die zurzeit zur Verfügung stehenden Maßnahmen und Interventionen dar, um auf die Folgen des illegalen Drogenkonsums zu reagieren.

    Gestützt auf neue globale Daten und Erkenntnisse aus 29 Ländern (27 EU-Mitgliedstaaten, Türkei und Norwegen) sollen die Miniguides Fachleute und politische Entscheidungsträger bei der Bewältigung der negativen Folgen des Drogenkonsums unterstützen. Die Inhalte werden digital in einem modularen Format präsentiert, das darauf ausgelegt ist, die Zugänglichkeit, die Lektüre über eine Reihe von Instrumenten sowie regelmäßige Aktualisierungen und Übersetzungen zu erleichtern.

    In allen Miniguides erläutern „Spotlights“ verschiedene brandheiße Themen, die heute besondere Aufmerksamkeit verlangen. Dazu gehören COVID-19, Drogenkonsum und sexuelle Gesundheit sowie der Konsum von synthetischen Cannabinoiden, Fentanylen und leistungssteigernden Drogen. Wie Probleme identifiziert und die dafür am besten geeigneten Lösungen gefunden werden können, wird in einem beigefügten Aktionsrahmen behandelt.

    Die jetzt im Oktober veröffentlichten Miniguides befassen sich mit Mustern des Drogenkonsums, darunter Cannabis, Arzneimittel, Opioide, polyvalenter Drogenkonsum, Stimulanzien und neue psychoaktive Substanzen. Jeder Miniguide gibt einen Überblick über die wichtigsten Aspekte, die bei der Planung oder Durchführung gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen zur Bewältigung bestimmter drogenbedingter Probleme zu berücksichtigen sind. Es werden Verfügbarkeit und Wirksamkeit der Interventionen und ihre Auswirkungen auf Politik und Praxis überprüft.

    Alexis Goosdeel, Direktor der EMCDDA: „Die EMCDDA unterstützt politische Entscheidungsträger und Fachkräfte bei der Planung und Durchführung von Strategien und Programmen, die zu einem gesünderen und sichereren Europa beitragen. Unsere neuesten, in digitaler und modularer Form bereitgestellten Miniguides behandeln einige der wichtigsten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit im Drogenbereich und bieten aktuelle und praktische Ratschläge für die Konzeption, Ausrichtung und Umsetzung wirksamer Maßnahmen. Wir hoffen, dass die Miniguides Praktikern die Instrumente an die Hand geben, mit denen sie auf die heutigen Drogenprobleme reagieren und sich auf die Probleme von morgen vorbereiten können.“

    Weitere Informationen: www.emcdda.europa.eu/publications/health-and-social-responses-a-european-guide

    Pressestelle der Europäischen Beobachtungstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 18.10.2021