Kategorie: Kurzmeldungen

  • Ein Spaziergang fürs Gehirn

    Zeit im Freien wirkt sich positiv auf unser Gehirn aus. Wer regelmäßig an der frischen Luft ist, tut seinem Gehirn und seinem Wohlbefinden etwas Gutes. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in einer neuen Studie. Die Längsschnittstudie ist in der Fachzeitschrift „The World Journal of Biological Psychiatry“ erschienen.

    Während der Corona-Pandemie wurden Spaziergänge zu einer beliebten und regelmäßigen Freizeitbeschäftigung. Dass sich diese Angewohnheit nicht nur gut auf unser allgemeines Wohlbefinden auswirkt, sondern auch auf unsere Gehirnstruktur, deutet eine neurowissenschaftliche Studie an. Sie zeigt, dass das menschliche Gehirn bereits von kurzen Aufenthalten im Freien profitiert. Bisher wurde angenommen, dass uns Umwelten nur über längere Zeiträume beeinflussen.

    Die Forscher*innen untersuchten sechs gesunde, in der Stadt lebende Personen mittleren Alters über ein halbes Jahr lang regelmäßig. Insgesamt wurden über 280 Scans von ihren Gehirnen mittels Magnetresonanztomographie (MRT) gemacht. Der Fokus der Untersuchung lag auf den letzten 24 Stunden, die die Teilnehmenden vor der Aufnahme im Freien verbrachten. Zusätzlich wurden sie nach ihrer Flüssigkeitsaufnahme, der Menge an koffeinhaltigen Getränken, dem zeitlichen Umfang ihrer Freizeit und körperlichen Aktivität befragt, um zu überprüfen, ob diese Faktoren den Zusammenhang zwischen Zeit im Freien und dem Gehirn verändern. Um saisonale Unterschiede einbeziehen zu können, wurde auch die Sonnenscheindauer in dem Studienzeitraum berücksichtigt.

    Positiver Zusammenhang mit grauer Substanz im rechten dorsolateral-präfrontalen Kortex

    Die Gehirnscans zeigen, dass die Zeit, die die Studienteilnehmenden im Freien verbrachten, in einem positiven Zusammenhang mit der grauen Substanz im rechten dorsolateral-präfrontalen Kortex stand. Beim dorsolateral-präfrontalen Kortex handelt es sich um den oben (dorsal) und seitlich (lateral) gelegenen Teil des Stirnlappens in der Großhirnrinde. Dieser Teil des Kortex ist an der Planung und Regulation von Handlungen und an der sogenannten kognitiven Kontrolle beteiligt. Zudem ist bekannt, dass viele psychiatrische Störungen mit einer Reduktion der grauen Substanz im präfrontalen Bereich des Gehirns einhergehen.

    Die Ergebnisse blieben auch bestehen, wenn die anderen Faktoren, die den Zusammenhang zwischen der verbrachten Zeit im Freien und der Gehirnstruktur alternativ erklären könnten, konstant waren. Die Forscher*innen führten zur Überprüfung statistische Berechnungen durch, um den Einfluss von Sonnenscheindauer, Anzahl der Stunden an Freizeit, körperlicher Aktivität und Flüssigkeitsaufnahme auf die Ergebnisse zu überprüfen. Die Berechnungen belegten, dass Zeit im Freien unabhängig von den anderen Einflussfaktoren einen positiven Effekt auf das Gehirn hatte.

    „Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich unsere Gehirnstruktur und unsere Stimmung verbessern, wenn wir Zeit im Freien verbringen. Es ist anzunehmen, dass sich dies auch auf die Konzentration, das Arbeitsgedächtnis und die Psyche insgesamt auswirkt. Dies untersuchen wir in einer aktuell laufenden Studie, in der die Probanden zusätzlich Denkaufgaben lösen müssen und zahlreiche Sensoren tragen, die beispielsweise die Lichtmenge messen, der sie am Tag ausgesetzt sind“, sagt Simone Kühn, Leiterin der Lise-Meitner-Gruppe Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Erstautorin der Studie.

    Neurowissenschaftliche Unterstützung für die Behandlung von psychischen Störungen

    Die Ergebnisse belegen demnach die bereits angenommenen positiven Effekte des Spazierengehens auf die Gesundheit und erweitern sie um die konkreten positiven Auswirkungen aufs Gehirn. Da die meisten psychiatrischen Erkrankungen mit Defiziten im präfrontalen Kortex in Verbindung gebracht werden, ist dies von großer Bedeutung für den Bereich der Psychiatrie.

    „Diese Erkenntnisse bieten neurowissenschaftliche Unterstützung für die Behandlung von psychischen Störungen. So könnten Ärztinnen und Ärzte einen Aufenthalt an der frischen Luft als Teil der Therapie verschreiben, ähnlich wie es bei Kuren üblich ist“, sagt Anna Mascherek, Postdoc in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Co-Autorin der Studie.

    In den aktuell laufenden weiterführenden Studien möchten die Forscher*innen zudem untersuchen, wie sich grüne Umgebungen im direkten Vergleich zu städtischen Räumen auf das Gehirn auswirken. Um nachvollziehen zu können, wo genau die Studienteilnehmenden ihre Zeit draußen verbringen, wollen die Forscher*innen GPS-Daten (Global Positioning System beziehungsweise Globales Positionsbestimmungssystem) nutzen und weitere Einflussfaktoren wie Verkehrslärm oder Luftverschmutzung miteinbeziehen.

    Originalpublikation:
    Kühn, S., Mascherek, A., Filevich, E., Lisofsky, N., Becker, M., Butler, O., Lochstet, M., Mårtensson, J., Wenger, E., Lindenberger, U., & Gallinat, J. (2021). Spend time outdoors for your brain: An in-depth longitudinal MRI study. The World Journal of Biological Psychiatry. Advance online publication. https://doi.org/10.1080/15622975.2021.1938670

    Pressestelle des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, 15.7.2021

  • Psychische Folgen von Covid-19 im Gesundheitswesen

    MTAs litten in der Pandemie besonders oft unter Depressions- und Angstsymptomen. ©Johann Saba, Universitätsklinikum Bonn

    Ärztliches Personal, Pflegekräfte, Technische Angestellte, Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Kliniken: Sie alle waren durch die Covid-19-Pandemie schwer belastet. Welche Schutzfaktoren helfen können, mit diesen Belastungen umzugehen, zeigt nun eine Studie der Universität Bonn. Sie basiert auf einer gemeinsamen großen Online-Befragung an den Universitätskliniken Bonn, Erlangen, Ulm, Dresden und Köln. Auch viele andere Kliniken in Deutschland beteiligten sich. Als besonders wichtig stellte sich darin die empfundene Kohärenz heraus – vereinfacht gesagt: das Gefühl, dass das Leben sinnvoll ist und Herausforderungen verständlich eingeordnet werden können. Die Ergebnisse erscheinen in der Fachzeitschrift PLOS ONE.

    Die Forschenden hatten von April bis Juli 2020, also während der ersten Covid-19-Pandemiewelle, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen zu der Online-Befragung eingeladen. „Darunter waren neben dem ärztlichen Personal und den Pflegekräften auch zwei Gruppen, die in der Diskussion bislang vernachlässigt wurden“, erklärt Prof. Dr. Franziska Geiser, Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. „Einerseits die vergleichsweise kleine Zahl der Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Kliniken. Und andererseits die vielen medizinisch-technischen Angestellten – die MTAs in den Untersuchungsbereichen, der Radiologie und den Laboren.“

    In der aktuellen Studie wurden mehr als 4.300 ausgefüllte Fragebögen ausgewertet. Gut 80 Prozent der Teilnehmenden arbeiteten zum Zeitpunkt der Erhebung in Krankenhäusern, 11 Prozent am Uniklinikum Bonn. Sie sollten unter anderem angeben, wie sehr sie sich aktuell und vor der Umfrage durch ihre Arbeit belastet fühlten und wie oft sie unter Depressions- und Angstsymptomen litten. Zudem wurden drei mögliche so genannte „Resilienzfaktoren“ erhoben, von denen man annimmt, dass sie gegen psychische Folgen von Stress schützen: soziale Unterstützung, Religiosität und Kohärenzgefühl.

    Mehr als 20 Prozent mit ausgeprägten Depressionssymptomen

    Jeweils mehr als 20 Prozent der Befragten gaben Depressions- oder Angstsymptome in einem behandlungsbedürftigen Ausmaß an. „Wir wissen nicht, wie es bei genau dieser Stichprobe vor der Pandemie aussah“, erklärt Geiser. „Die gefundenen Werte liegen jedoch höher als in früheren Untersuchungen bei Ärzten und Pflegepersonal, wir können also von einer Zunahme in der Pandemie ausgehen. Während aber in Normalzeiten Ärzte und Pflegepersonal eine höhere psychische Belastung aufweisen als die restliche Bevölkerung, hatten sie in der Pandemie in unserer Befragung geringere Angstwerte. Das macht natürlich neugierig auf mögliche Schutzfaktoren.“ Dies umso mehr, da Geiser Teil einer interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe an der Universität Bonn ist, die sich der Erforschung der Resilienz widmet.

    Unter den potenziellen Resilienzfaktoren stach besonders das Kohärenzgefühl hervor. Der Begriff stammt aus der Salutogenese, einem in den 1980er Jahren von dem Mediziner Aaron Antonovsky entwickelten Konzept, das die Suche nach gesundheitsfördernden Faktoren und Einstellungen in den Mittelpunkt stellt. „Das Kohärenzgefühl bezeichnet das Ausmaß, in dem wir unser Leben als verstehbar, sinnhaft und bewältigbar empfinden“, erklärt Jonas Schmuck aus Geisers Arbeitsgruppe, der zusammen mit Dr. Nina Hiebel Erstautor der Studie ist. Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war, desto seltener litten sie unter psychischen Symptomen. „Daraus lässt sich aber nicht unbedingt ein kausaler Zusammenhang ableiten“, warnt Geiser vor voreiligen Schlüssen. „Es könnte auch sein, dass Angst oder Depression ihrerseits die empfundene Kohärenz mindern.“

    MTAs litten am stärksten unter psychischen Folgen

    Dennoch glaubt sie, dass dieser Faktor uns tatsächlich resilienter gegen Stress und besondere Herausforderungen macht. Aus ihrer Sicht ergeben sich aus der Studie daher einige wichtige Schlussfolgerungen, wie man in Zukunft mit Krisen wie der Covid-19-Pandemie umgehen sollte: „Je komplexer die Situation, desto besser müssen wir kommunizieren“, betont sie. „In einer neuen Situation wie der Pandemie lassen sich Unsicherheiten und auch Widersprüche, zum Beispiel bei Schutzmaßnahmen oder Behandlungsabläufen, nicht vermeiden. Je besser Mitarbeiter*innen erklärt wird, warum dies so ist, und je mehr persönlichen Sinn sie in ihrer Arbeit erleben, desto besser können sie damit umgehen. Zeitnahe Information ist deshalb elementar.“ Diese Information solle nicht in eine Richtung erfolgen. „Es ist wichtig, in einen Dialog zu treten, der auch Rückfragen und die Rückmeldung von Bedenken zulässt“, sagt sie.

    Diejenigen, die am stärksten unter den psychischen Folgen der Pandemie litten, waren in der Studie übrigens die MTAs. „Warum das so ist, darüber können wir nur spekulieren“, erklärt die Forscherin. „Wir sollten aber auf jeden Fall im Auge behalten, dass in derartigen Situationen nicht nur die Intensivstationen belastet sind, sondern das ganze System. Wir müssen auch diejenigen stärken, die vielleicht nicht so sehr im Rampenlicht stehen, sondern als Helfer im Hintergrund häufig vergessen werden.“ Auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger gaben einen Anstieg der Belastung durch die Pandemie an, sie zeigten aber im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen das am stärksten ausgeprägte Kohärenzgefühl und die wenigsten Angst- oder Depressionssymptome.

    Beteiligte Institutionen und Förderung:
    An der Studie waren die Universitätskliniken in Bonn, Erlangen, Ulm und Köln sowie die Medizinische Fakultät der TU Dresden beteiligt. Sie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Forschungsgruppe „Resilienz in Religion und Spiritualität“ sowie durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM) gefördert. Franziska Geiser ist außerdem Mitglied des Transdisziplinären Forschungsbereichs „Leben und Gesundheit“ der Universität Bonn.

    Originalpublikation:
    Jonas Schmuck, Nina Hiebel, Milena Rabe, Juliane Schneider, Yesim Erim, Eva Morawa, Lucia Jerg-Bretzke, Petra Beschoner, Christian Albus, Julian Hannemann, Kerstin Weidner, Susann Steudte-Schmiedgen, Lukas Radbruch, Holger Brunsch & Franziska Geiser: Sense of coherence, social support and religiosity as resources for medical personnel during the COVID-19 pandemic: A web-based survey among 4324 health care workers within the German Network University Medicine. PLOS ONE; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0255211

    Pressestelle der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 28.7.2021

  • Auswirkungen der Cannabislegalisierung und -regulierung

    Bericht auf Französisch mit Zusammenfassung auf Deutsch

    18 Bundesstaaten der USA, Kanada und Uruguay haben in den letzten Jahren Cannabis legalisiert und legale Märkte eingeführt. Wie eine umfassende Literaturrecherche von Sucht Schweiz im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigt, ist es heute meist noch zu früh, Rückschlüsse zu den Auswirkungen der äußerst unterschiedlichen Regulierungsmodelle zu ziehen. Die Analyse zeigt jedoch erste, kurzfristige Erkenntnisse, besonders für die USA.

    Die Regulierungsmodelle in den Ländern und Regionen mit legalisiertem Cannabis sind sehr unterschiedlich und werden kontrovers diskutiert. Um die Erkenntnisse zu den bisherigen Erfahrungen zu sichten, ging Sucht Schweiz im Auftrag des BAG der Frage nach, wie sich die Legalisierung von nicht-medizinischem Cannabis in den USA, Kanada und Uruguay auf die Märkte, den Konsum, die Gesundheit oder die Verkehrssicherheit und Kriminalität bislang auswirkte. Berücksichtigt wurde der Stand der Forschung bis Anfang 2021, sieben Jahre nach der Einführung des ersten legalen Cannabismarktes im US-Bundesstaat Colorado und nur zwei Jahre nach der Legalisierung in Kanada.

    Fakt ist: Die veröffentlichten Studien lassen bis jetzt nur wenig Rückschlüsse zu den Auswirkungen der Cannabislegalisierung zu. Zu viel bleibt unbekannt. Es braucht noch einige Jahre mehr an Erfahrung und bessere Daten, um die Auswirkungen wissenschaftlich benennen zu können, etwa jene auf die Gesundheit der Bevölkerung. Dies ist auch das Fazit anderer Forscher, die eine solche Bilanz gezogen haben.

    USA mit wirtschaftlich orientiertem Regulierungsmodell

    Die Literaturrecherche von Sucht Schweiz zeigt jedoch erste, kurzfristige Beobachtungen, wobei die meisten Studien die Situation in den USA betrachten. Anfang 2021 lebte hier rund ein Drittel der Bevölkerung in einem Bundesstaat, in dem Cannabis zu nicht-medizinischen Zwecken legalisiert wurde. Umfragen zeigen, dass fast zwei Drittel der Amerikanerinnen und Amerikaner eine Cannabislegalisierung unterstützen. Von 18 Bundesstaaten, die Cannabis bisher legalisierten, haben zehn regulierte Märkte für Konsumierende ab 21 Jahren eingeführt. Sie wählten meist wirtschaftlich orientierte Marktmodelle. Die gesetzlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Konsumierenden, von Jugendlichen und von Dritten sind vergleichsweise schwach ausgeprägt.

    Die meisten Forschungsarbeiten deuten bis jetzt darauf hin, dass es in diesen Staaten zu keinem Konsumanstieg unter Minderjährigen kam. Aber mehrere Studien legen eine Zunahme des Konsums unter Erwachsenen und insbesondere unter jungen Erwachsenen (18–25 Jahre) nahe – dies im Vergleich zu anderen Bundestaaten, die Cannabis nicht legalisierten.

    Die verfügbaren Daten weisen auch darauf hin, dass in den USA die Produktevielfalt (z. B. Esswaren oder Konzentrate) größer wurde und der THC-Gehalt oft zunahm. Diese Entwicklungen bringen verschiedene Herausforderungen für die Qualitätskontrolle sowie für die Vermarktung (Mengen, Verpackung, Informationen) der Cannabisprodukte mit sich. Die Zahl der Besuche in der Notaufnahme, der Krankenhausaufenthalte und der Anrufe bei Giftnotrufzentralen ist nach der Legalisierung gestiegen – eine Entwicklung, die stark mit dem Konsum neuer Produkte in Verbindung steht.

    Die Anzahl legaler Verkaufsstellen und die Verkaufsmengen nehmen in den meisten

    US-Bundesstaaten immer noch zu. Die Preise sind nur kurz nach der Öffnung der Märkte gestiegen und anschließend oft deutlich gesunken. Es gibt Hinweise darauf, dass der Schwarzmarkt zurückgedrängt wurde. Die Anzahl der Verzeigungen wegen Cannabis-besitzes ging wie erwartet stark zurück.

    Bisherige Erkenntnisse deuten auf einen Anstieg von Unfalltoten im Zusammenhang mit Cannabis in einigen Staaten, welche die Substanz legalisiert haben, sowie auf einen Anstieg der Zahl der Lenker und Lenkerinnen, die im Straßenverkehr positiv auf Cannabis getestet wurden.

    Kanada: zu früh für umfassende Rückschlüsse

    In Kanada regelt die Bundesregierung die Produktion sowie Gesundheits- und Sicherheitsaspekte, während die Provinzen die Vertriebs- und Verkaufsprozesse definieren. Ab Oktober 2018 haben die kanadischen Provinzen und Territorien begonnen, den Verkauf von nicht-medizinischem Cannabis in privaten oder staatlichen Verkaufsorten einzuführen. Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass der legale Cannabismarkt mit zunehmend mehr Verkaufsstellen den Schwarzmarkt schrittweise verdrängt. Der Konsum stieg in den Monaten nach der Legalisierung insbesondere bei Erwachsenen an, wobei sich bis jetzt kein klares Muster für diese Veränderungen oder eine eindeutige Ursache ermitteln lässt.

    Uruguay: Modell unter staatlicher Aufsicht, aber mit wenig Forschung

    Das südamerikanische Land hat im Jahr 2013 als erstes Land überhaupt nicht-medizinisches Cannabis legalisiert, wobei Produktion, Handel und Konsum unter staatlicher Aufsicht bleiben. Der Zugang erfolgt über den Eigenanbau, Konsumentenvereinigungen oder über Apotheken. Auch hier lassen die wenigen vorhandenen Studien kaum konkrete Rückschlüsse zu den Auswirkungen zu. Erschwerend wirkt sich aus, dass die Einführung dieses Regulierungsmodells sehr langsam erfolgt. Weniger als ein Drittel der Konsumierenden haben das Cannabis im Jahr 2018 über den stark regulierten Markt bezogen. Die Anzahl der Cannabiskonsumierenden hat seit der Legalisierung allgemein zugenommen, insbesondere bei Minderjährigen und Personen zwischen 26 und 35 Jahren, wobei Studien von ähnlichen Entwicklungen in Nachbarländern berichten, die Cannabis nicht legalisiert haben.

    Und die Schweiz?

    In den nächsten Jahren werden weitere Studien erlauben, die Auswirkungen der Cannabislegalisierung besser zu verstehen und verschiedene Regulierungsmodelle zu vergleichen. Auch in der Schweiz – mit dem revidierten Betäubungsmittelgesetz – sind Pilotversuche mit erwachsenen Teilnehmenden zur kontrollierten Cannabis-Abgabe in Städten jetzt möglich. Für diese gelten strenge Vorgaben. Im Sinne des Gesundheitsschutzes muss das geschulte Verkaufspersonal für die Risiken sensibilisiert werden, und die Qualität der Produkte mit nur begrenztem THC-Gehalt muss kontrolliert werden. Es gelten ein generelles Werbeverbot und die Vorgabe von kindersicheren Verpackungen. Erste Projekte sollten im Jahr 2022 starten und dazu beitragen, ein besseres Verständnis über die Auswirkungen verschiedener Cannabisregulierungen zu entwickeln.

    Link zur Publikation: Revue de littérature sur l’impact de la légalisation du cannabis aux Etats-Unis, au Canada et en Uruguay. Bericht auf Französisch mit Zusammenfassung auf Deutsch (S. 9–12).

    Pressestelle von Sucht Schweiz, 14.7.2021

  • Rauschgiftkriminalität in Deutschland steigt weiter an

    Die Rauschgiftkriminalität in Deutschland steigt weiter an. 365.753 Fälle wurden im Jahr 2020 polizeilich registriert – 1,7 Prozent mehr als im Vorjahr.

    Der Rauschgifthandel ist auch weiterhin das größte Betätigungsfeld von Gruppierungen der Organisierten Kriminalität (OK). 2020 wurden erneut über ein Drittel der OK-Verfahren wegen des Verdachts des Rauschgifthandels/-schmuggels geführt. Die Erkenntnisse aus diesen Verfahren zeigen auch, dass die Gewaltbereitschaft im Bereich des organisierten Rauschgifthandels steigt. 284.723 Tatverdächtige wurden im Jahr 2020 ermittelt. Eine zunehmende Zahl von ihnen war bewaffnet.

    Substanzen

    Der größte Zuwachs der Handelsdelikte war im Jahr 2020 bei den Neuen Psychoaktiven Stoffen (NPS) zu verzeichnen. Die Zahl stieg gegenüber dem Vorjahr um 16,2 Prozent. Bei Kokain stiegen die Handelsdelikte im gleichen Zeitraum um 9,6 Prozent, beim sogenannten Crystal, also kristallinem Methamphetamin, um 7,2 Prozent. Das meistgehandelte Betäubungsmittel war mit 31.961 erfassten Fällen auch 2020 Cannabis, gefolgt vom Amphetamin mit 5.581 erfassten Delikten.

    Rückläufig hingegen war der Handel mit Heroin: Die der Polizei bekannt gewordenen Fälle gingen gegenüber 2019 um 4,9 Prozent zurück. Es kann jedoch weiterhin von einer weitreichenden Verfügbarkeit und der fortgesetzten Nachfrage auf dem deutschen Rauschgiftmarkt ausgegangen werden, nicht zuletzt, da nach Schätzungen des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) die Schlafmohn-Anbauflächen in Südwestasien im Jahr 2020 erheblich angewachsen sind.

    Ein neuer Höchstwert war mit mindestens 11 t bei der Gesamtsicherstellungsmenge von Kokain zu verzeichnen. Im Jahr 2018 waren es noch mindestens 5 t sichergestelltes Kokain, 2019 bereits mindestens 10 t. Eine Rekord-Sicherstellung von 16 t Kokain im Hamburger Hafen im Februar 2021 zeigt, dass sich dieser Trend fortsetzten wird.

    Kokainhandel

    Schon allein mit dem international organisierten Kokainhandel erzielen die beteiligten kriminellen Gruppierungen in Deutschland und Europa erhebliche Gewinne. Neben der Reinvestition in die Betäubungsmittelkriminalität dienen diese auch dem Erwerb von Luxusgütern und werden letztlich auch in die legale Wirtschaft investiert. Die zunehmende finanzielle Potenz der Gruppierungen durch milliardenschwere Gewinne aus dem Kokainhandel erhöhen das Machtpotential krimineller Gruppierungen und können nicht nur gewaltsam ausgetragene Konflikte zwischen rivalisierenden OK-Strukturen forcieren, sondern auch legale Wirtschaftsstrukturen infiltrieren und zu massiven Wettbewerbsverzerrungen führen.

    Deutschland als Transitland

    Kriminelle Strukturen nutzen Deutschland auch weiterhin als Transitland für Chemikalien, die zur Rauschgiftproduktion verwendet werden können. An deutschen Flughäfen wurden 2020 mehrere Lieferungen von Grundstoffen für Amphetamin und erstmalst auch größere Mengen von Chemikalien für die Herstellung von NPS aus China beschlagnahmt. Bestimmt waren sie für die Niederlande. Dort konnten in der Vergangenheit zunehmend Produktionsstätten für die Herstellung Synthetischer Drogen festgestellt werden.

    Die Einschränkungen der COVID-19-Pandemie hatten kaum Einfluss auf die Rauschgiftkriminalität. Rauschgift ist weiterhin in hohem Maße verfügbar. Die Vertriebs- und Bezugsmöglichkeiten des mittlerweile etablierten Online-Handels werden verstärkt genutzt, da der Post- und Paketversand im Vergleich zu anderen Transportmöglichkeiten von den Maßnahmen zum Schutz gegen das Coronavirus nicht betroffen ist.

    Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes: „Die Rauschgiftkriminalität steigt seit Jahren an und gewinnt weiter an sicherheitspolitischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Auch unsere Ermittlungen und die Auswertung der EncroChat-Daten zeigen das erhebliche Ausmaß und das wachsende Gewaltpotential in diesem Phänomenbereich. Die gewonnenen Erkenntnisse werden wir nutzen, um unsere Ressourcen sowie die technischen Möglichkeiten optimal einzusetzen und so dieser Kriminalitätslage angemessen zu begegnen.“

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig: „Wir sehen eine steigende Anzahl an Straftaten im Zusammenhang mit Drogen in Deutschland und der EU, die immer brutaler, immer skrupelloser ausgeführt werden. Das ist eine Entwicklung, die wir gemeinsam mit den zuständigen Behörden, aber auch als Bund mit den Ländern unbedingt stoppen müssen. Ich erwarte, dass wir hier eine Allianz aufbauen, die starke Prävention betreibt und der organisierten Drogenkriminalität in Deutschland Einhalt gebietet. Wo weniger Nachfrage, da weniger Angebot. Wir müssen verhindern, dass Kriminelle sich in Deutschland aufführen, als hätte ihr Tun keinerlei Konsequenzen, als befänden sie sich in einem rechtsfreien Raum. Das ist hier keineswegs der Fall und das müssen wir zukünftig noch deutlicher machen!“

    Ergänzende Zahlen und Informationen können über die Webseite des BKA unter www.bka.de abgerufen werden.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und des Bundeskriminalamtes, 27.7.2021

  • Rahmenempfehlungen zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation – Allgemeiner Teil

    Die auf BAR-Ebene erarbeiteten trägerübergreifenden Rahmenempfehlungen zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation beinhalten Grundsätze und Ziele der medizinischen Rehabilitation sowie die allgemeinen personellen, räumlichen und apparativen Anforderungen. Der Allgemeine Teil wurde überarbeitet und gilt indikationsübergreifend sowie im Zusammenhang mit allen indikationsspezifischen Teilen, die zukünftig ebenfalls nach und nach überarbeitet werden (Rehabilitation bei muskuloskeletalen Erkrankungen, Kardiologische Rehabilitation, Neurologische Rehabilitation, Onkologische Rehabilitation, Dermatologische Rehabilitation, Rehabilitation bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, Pneumologische Rehabilitation).

    Die Rahmenempfehlungen gelten nicht für Kinder- und Jugendrehabilitation, Medizinische Rehabilitation für Mütter und Väter, geriatrische Rehabilitation, Phase II-Einrichtungen, ambulante mobile Rehabilitation, Rehabilitation psychisch kranker Menschen (RPK) sowie die ambulante Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen (Gemeinsames Rahmenkonzept der DRV und GKV zur ambulanten Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 03.12.2008) (s. Fußnote S. 9).

    Wichtigste Neuerung der aktuellen Auflage ist, dass erstmals auch der stationäre Bereich zur medizinischen Rehabilitation erfasst wurde und trägerübergreifend beschrieben wird. Ebenso sind erstmals folgende Kapitel enthalten:

    • Teilhabeorientierung der medizinischen Rehabilitation
    • Zulassung zur Leistungserbringung
    • Abbruch der Rehabilitationsmaßnahme
    • Wechsel der Rehabilitationsmaßnahme
    • Soziale Teilhabe und Qualitätsmanagement

    Es existieren viele trägerspezifische Konzepte zu Kriterien und Standards der medizinischen Rehabilitation. Das Besondere an diesen Rahmenempfehlungen zur medizinischen Rehabilitation ist, dass es sich um eine trägerübergreifende Vereinbarung handelt. Die Beteiligten erklären ihre Zustimmung und die Verbindlichkeit der Vereinbarungen mit dem Ziel, bundesweit eine einheitliche, qualitativ hochwertige rehabilitative Versorgung zu gewährleisten. Gleichzeitig verpflichten sich die Vereinbarungspartner, die Rahmenempfehlungen in ihrem Zuständigkeitsbereich umzusetzen. Dies gewährleistet Planungssicherheit für alle in der medizinischen Rehabilitation operativ tätigen Berufsgruppen.

    Die neu erarbeiteten Rahmenempfehlungen können als Print-Publikation im BAR-Shop bestellt oder kostenfrei heruntergeladen werden.

    Quelle: BAR-Website, 14.7.2021

  • 21. Juli – Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige

    Am 21. Juli wird bundesweit der verstorbenen Drogenabhängigen gedacht. In Brandenburg starben 2020 offiziell 48 Menschen in Verbindung mit Rauschgift – mehr als doppelt so viele wie noch im Vorjahr. 19 von ihnen nahmen sich das Leben. Das zeigt einerseits, wie sehr abhängige Menschen unter ihrer Sucht leiden, und verdeutlicht andererseits die Notwendigkeit von Angeboten der Suchtprävention und Suchthilfe.

    Bereits seit 1998 findet am 21. Juli der Nationale Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige statt. Mit diesem wollten die ursprünglichen Initiatoren, der Landesverband der Eltern und Angehörigen für humane und akzeptierende Drogenarbeit NRW e.V., nicht nur an all die Menschen erinnern, die an den Folgen ihres Drogenkonsums verstorben sind, sondern auch für eine wirksamere Drogenpolitik eintreten.

    Die Zahl der Rauschgifttodesfälle in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich an. 2020 erfassten die zuständigen Behörden insgesamt 1.581 Fälle. In Brandenburg fielen die Zahlen zuletzt. Doch mit 48 Verstorbenen verzeichnet das Landeskriminalamt nun für das Corona-Jahr 2020 einen drastischen Anstieg und den Höchstwert unter den neuen Bundesländern.

    „Die aktuellen Zahlen der infolge ihres Drogenkonsums verstorbenen Menschen in Brandenburg sind ein ernstzunehmendes Warnzeichen“, erklärt Andrea Hardeling, Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (BLS). „Dabei sind hier nicht einmal die Todesfälle berücksichtigt, die auf legale Drogen zurückzuführen sind. Denn in Brandenburg sterben jedes Jahr tausende Menschen an den Folgen ihrer Alkohol- und Tabakabhängigkeit. Und die Verstorbenen sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche verbirgt sich die viel größere Menge suchterkrankter und gerade jetzt, während der Pandemie, suchtgefährdeter Menschen, denen wir nun dringend mit qualifizierten Angeboten der Suchthilfe und vor allem Suchtprävention zur Seite stehen müssen.“

    Um hier die bestehenden Strukturen auszuweiten, startete die BLS zu Beginn des Jahres in Kooperation mit dem GKV-Bündnis für Gesundheit das Projekt „Suchtprävention für vulnerable Zielgruppen“. Dieses soll Akteur*innen auf kommunaler Ebene dabei unterstützen, neue Suchtpräventions-Projekte in ihren Landkreisen auf den Weg zu bringen. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf besonders gefährdeten Zielgruppen. „Wir haben damit begonnen, Mitarbeitende, beispielsweise aus Kita und Jugendämtern, in Fortbildungen für den Umgang mit Kindern aus suchtbelasteten Familien zu sensibilisieren“, so Andrea Hardeling. „Parallel arbeiten wir aber auch an Konzepten für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationsgeschichte und Älteren. Denn diese Gruppen sind besonders gefährdet, eine Suchterkrankung zu entwickeln und verdienen daher unsere besondere Aufmerksamkeit.“

    Pressemitteilung der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (BLS), 19.7.2021

  • Mit Nasenspray Leben retten

    Ein Nasenspray mit Naloxon, das Drogengebrauchende immer mit sich führen, kann Leben retten. Im Falle einer Überdosierung mit Opioiden kann das Spray verabreicht werden, noch bevor der Rettungsdienst eintrifft. Naloxon ist das wirksamste Medikament gegen eine Überdosis. Die einfache Anwendung ermöglicht auch medizinischen Laien schnelle Hilfe im Drogennotfall. Hier setzt das Projekt „NALtrain“ an, das am 1. Juli 2021 gestartet ist.

    „Das erste Bundesmodellprojekt zum Thema Take Home Naloxon soll in den nächsten drei Jahren den Grundstein dafür legen, dass Ärztinnen und Ärzte das Medikament verordnen und möglichst viele Opioidkonsumentinnen und -konsumenten sowie Patientinnen und Patienten in Opioidsubstitutionsbehandlung dieses lebenswichtige Medikament mit sich führen und anwenden können“, erklärt Prof. Dr. Heino Stöver, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS).

    1.581 Drogentodesfälle wurden im Jahr 2020 verzeichnet. Etwa 600 Drogentodesfälle stehen in Verbindung mit dem Konsum von Heroin und anderen Opioiden (Stöver/Schäffer 2021). „Die Verschreibung eines Naloxon-Nasensprays geschieht hingegen lediglich in Einzelfällen – 2019 etwa 370 Sprays. Unser Projekt soll die Zahl der Verschreibungen deutlich erhöhen“, so Stöver. Gefördert wird NALtrain vom Bundesministerium für Gesundheit für die Dauer von drei Jahren.

    Akzept, die Deutsche Aidshilfe und das ISFF als Projektträger verbinden mit dem Modellprojekt zudem folgende Ziele:

    • Mitarbeiter*innen in Einrichtungen der Aids- und Drogenhilfe sollen durch halbtägige Schulungen zu Trainer*innen ausgebildet werden, die ihr Wissen in Kurzinterventionen an Drogengebraucher*innen und Substituierte weitergeben.
    • Verbindliche Kontakte zu Ärztinnen und Ärzten der jeweiligen Stadt werden hergestellt und bringen beide Partner*innen miteinander ins Gespräch, um zu gewährleisten, dass alle geschulten Drogengebraucher*innen und Substituierte auch ein Rezept erhalten, das sie in der Apotheke einlösen können.
    • Im Rahmen einer Begleitevaluation werden Daten zur Anzahl der ausgebildeten Personen sowie zur Zahl der Rezepte erfasst. Ebenfalls soll ein Rückmeldesystem nach erfolgter Anwendung des Nasensprays installiert werden. Viele tausend Drogengebraucher*innen und Substituierte sollen künftig das Naloxon-Nasenspray mit sich führen und im Notfall anwenden lassen können.
    • Zudem soll das Thema Drogennotfall ein fester Baustein in der Arbeit und Ausbildung aller in der Drogen- und Aids-Hilfe tätigen Mitarbeiter*innen werden.

    „Im Juli wird sich der Naloxonzug NALtrain in Bewegung setzen und wir wünschen uns sehr, dass möglichst viele Einrichtungen aufsteigen und uns begleiten. Wir haben Haltestellen in 40 Städten und allen Bundesländern vorgesehen. Wir freuen uns auf zahlreiche Unterstützung, denn es gilt, gemeinsam die Zahl der opioidbedingten Drogentodesfälle zu reduzieren“, betont Stöver. Der Suchtexperte macht aber auch deutlich, dass eine Gabe des Nasensprays bei einer Überdosis immer nur eine Erste-Hilfe-Maßnahme sei und ein Rettungsteam herbeigerufen werden müsse. Da aber gerade die schnelle Reaktion derjenigen Person wichtig sei, die die überdosierte Person auffindet, könne das Spray über Leben und Tod entscheiden.

    Wird Naloxon bei einer Überdosierung gegeben, kommt die betroffene Person wieder zu Bewusstsein und atmet. Da das Zeitfenster, in welchem Naloxon als Gegenspieler die Wirkungen von Heroin, Methadon, Fentanyl und anderen Opioiden teilweise oder ganz aufhebt, nur etwa 30 bis 90 Minuten beträgt, muss die Person in jedem Fall im Anschluss an die Verabreichung des Sprays professionell medizinisch versorgt werden. Da Nebenwirkungen bei der Naloxon-Gabe auftreten können, ist eine Überwachung des/der Überdosierten durch den Ersthelfenden bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zwingend erforderlich.

    Weitere Informationen zu Naloxon unter: https://www.naloxontraining.de/; mehr zum Institut für Suchtforschung unter www.frankfurt-university.de/isff.

    Literatur:
    Stöver, H., Schäffer, D. (2021): Maßnahmenplan für eine nachhaltige Reduktion drogenbedingter Todesfälle in Deutschland. In: akzept e.V. (Hg.): 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht, S. 99-102

    Kontakt:
    Prof. Dr. Heino Stöver, hstoever(at)fb4.fra-uas.de

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 5.7.2021

  • COVID-19 ist auch ein Stresstest für das Internet

    Am 11. März 2020 griff SARS-CoV-2 auch das weltweite Internet an: An diesem Tag erklärte die WHO das Virus zu einer Pandemie. In der Folge verordneten viele Regierungen auf dem gesamten Globus Ausgangssperren, Homeoffice und Homeschooling. Innerhalb von einer Woche stieg die Nutzung des Internets daraufhin um rund 25 Prozent – ein Anstieg, wie er zu normalen Zeiten innerhalb eines Jahres beobachtet werden kann. Addiert man dazu die Steigerung aus dem zweiten Lockdown im Herbst 2020, stieg die Nutzung der Internetdienste 2020 – je nach Netzwerk – sogar zwischen 35 und 50 Prozent. Diese Zahlen veröffentlichte eine internationale, interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler*innen, geleitet von Prof. Dr. Georgios Smaragdakis, Professor für Internet Measurement and Analysis an der TU Berlin und Mitglied des Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD), in den „Communications“ der Association for Computing Machinery (ACM). Das Paper erhielt jetzt eine Auszeichnung als Research Highlight dieser weltweit führenden Fachgesellschaft für Informatik.

    Nahezu von einem Tag auf den anderen ging 2020 ohne eine stabile Internetverbindung gar nichts mehr. Seit März 2020 finden dienstliche Teamsitzungen, Schulunterricht, aber auch private Feiern im Wesentlichen digital auf dem Bildschirm statt. Wer nicht über eine Breitbandverbindung und ausreichend elektronische Endgeräte verfügt, hat das Nachsehen. Doch trotz der weltweiten Einschränkungen durch COVID-19 ging das Leben weiter, wobei das Internet eine enorm wichtige unterstützende Rolle für Unternehmen, Bildung, Unterhaltung, Einkäufe und soziale Interaktionen spielt. „Im Frühjahr 2020 wusste niemand mit Sicherheit, ob das Internet in der Lage sein würde, diesen Ansturm zu verkraften“, erläutert Georgios Smaragdakis. „Mit einem plötzlichen Anstieg der Internetnutzung in diesem Ausmaß hatte vorher niemand gerechnet.“ In ihrem Forschungsprojekt analysierten die Wissenschaftler*innen Internet-Datenströme von verschiedenen Internetprovidern aus mehreren europäischen Ländern. „Zusammen ermöglichen sie uns ein gutes Verständnis der Auswirkungen, die die COVID-19-Wellen und die Lockdown-Maßnahmen auf den Internetverkehr hatten“, so der Netz-Experte, dessen Teilprojekt vom BIFOLD finanziert wurde.

    In dem einen Jahr nach Einführung der ersten Lockdown-Maßnahmen stieg der aggregierte Datenverkehr im Internet insgesamt um etwa 40 Prozent, was deutlich über dem erwarteten jährlichen Wachstum liegt. In der gleichen Zeit sank der mobile Datenverkehr zuerst leicht ab und wuchs dann nur moderat, da die Menschen gezwungenermaßen weniger unterwegs waren und dadurch weniger mobile Daten nutzten. „Unsere Auswertungen zeigen dabei, dass die Nutzung von Diensten wie Videokonferenzen oder VPN-Diensten um bis zu 300 Prozent angestiegen ist. Auch Gaming-Anwendungen sind dramatisch gestiegen. Nach einem moderaten Anstieg im Frühjahrslockdown kam es im Herbstlockdown zu einem Anstieg um rund 300 Prozent. Auffällig: Wurden diese Anwendungen vor Corona vor allem Abends oder am Wochenende genutzt, verteilten sich die Nutzungssteigerungen im Gaming-Bereich im zweiten Lockdown gleichmäßig auf alle Wochentage, mit einem Schwerpunkt auf den Vormittagen“, differenziert der Wissenschaftler die Ergebnisse.

    Insgesamt haben sich die Verkehrsmuster der Internetnutzung deutlich gewandelt: Lagen die Spitzenauslastungen vor der Pandemie vor allem am Wochenende und in den Abendstunden, hat das rasante Wachstum der Internetnutzung vor allem an den Wochentagen zu Arbeitszeiten stattgefunden. Genau in diesem asynchronen Anstieg sehen die Expert*innen einen der Gründe, warum das Internet mit der drastisch gewachsenen Nutzung relativ gut klar gekommen ist. Die weiteren Gründe sieht Georgios Smaragdakis in der guten Struktur und Überprovisionierung vieler Netzwerkbetreiber.

    „Im Sinne der Digitalisierung waren die letzten Monate eine Erfolgsgeschichte“, ist Georgios Smaragdakis überzeugt. Deutsche Universitäten und auch Regierungsbehörden haben innerhalb weniger Wochen Entwicklungen nachgeholt, die sie vorher über Jahre verpasst hatten. Eine Breitbandverbindung ist heute nicht ‚nice to have‘, sondern essentiell, um arbeiten zu können. Dieser Level an Digitalisierung ist jetzt die neue Normalität. Dahinter wird man nicht mehr zurückgehen können.“

    Gleichzeitig zeigt die Studie der Wissenschaftler*innen auch, dass Überprovisionierung, proaktives Netzwerkmanagement und Automatisierung die Schlüssel zur Bereitstellung widerstandsfähiger Netzwerke sind, die drastischen und unerwarteten Nachfrageschwankungen standhalten können, wie sie während der COVID-19-Pandemie auftraten. „Das ist vielen, aber nicht allen, Netzwerkanbietern sehr gut gelungen. Da die Pandemie jedoch noch andauert, ist es wichtig, den Datenverkehr weiter zu untersuchen, um zu verstehen, wie sich die Nutzung in diesen beispiellosen Zeiten verändert“, fasst der Wissenschaftler zusammen.

    Originalpublikation:
    Anja Feldmann, Oliver Gasser, Franziska Lichtblau, Enric Pujol, Ingmar Poese, Christoph Dietzel, Daniel Wagner, Matthias Wichtlhuber, Juan Tapiador, Narseo Vallina-Rodriguez, Oliver Hohlfeld, Georgios Smaragdakis (2021): A Year in Lockdown: How the Waves of COVID-19 Impact Internet Traffic. Communications of the ACM, July 2021, Vol. 64 No. 7, Pages 101-108. https://cacm.acm.org/magazines/2021/7/253468-a-year-in-lockdown/fulltext

    Pressestelle der Technischen Universität Berlin, 22.06.2021

  • Konsum von Online-Pornografie unter Jugendlichen weit verbreitet

    Es ist ein Multi-Milliarden-Geschäft: Pornografie ist nahezu überall im Internet präsent, angeblich geht es in jeder vierten Suchanfrage im Netz um explizite Inhalte. Der Konsum also ist enorm. Und so dürfte es kaum verwundern, dass schon Jugendliche gut dabei sind, schließlich sind die Inhalte mit ein paar Klicks erreichbar.

    Neil Thurman, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), hat jetzt zusammen mit Fabian Obster, Statistiker an der Universität der Bundeswehr München, eine Umfrage unter rund 1.000 britischen Jugendlichen gemacht, die auch für Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden Aufschluss über die Situation in Deutschland geben könnte.

    78 Prozent der Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren sind bereits im Netz auf pornografische Inhalte gestoßen. Und zum Teil besuchen sie pornografische Websites nicht eben selten: Der Umfrage zufolge war es im Schnitt sechs Tage her, dass sie auf solchen Seiten unterwegs waren. Viele von ihnen haben sich noch an dem Tag, an dem sie den Fragebogen ausfüllten, Pornovideos oder Galleries angeschaut. Auf einschlägigen kommerziellen Websites sind die Jugendlichen im Schnitt gut zwei Stunden im Monat unterwegs, fast ausschließlich auf dem Handy oder dem Tablet. Auch in Social-Media-Portalen suchen sie nach entsprechenden Videos und Bildern. Pornos zu schauen, ist vor allem Jungens-Sache.

    Geschickt mit VPN und Tor Browser

    In Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Kanada werden gerade gesetzliche Regelungen diskutiert beziehungsweise implementiert, die den Zugang zu legaler Online-Pornografie regeln sollen; einige Maßnahmen sind bereits eingeführt. Das beinhaltet auch Vorschriften, Altersprüfungen vor die Websites zu schalten. Fast die Hälfte der Jugendlichen aber hat der Umfrage zufolge schon VPNs oder den Tor Browser ausprobiert – Tools, mit denen sich die Verbindungsdaten anonymisieren und länderspezifische Restriktionen umgehen lassen.

    „Noch ist der Markt konzentriert, er wird von wenigen global operierenden Firmen beherrscht“, sagt Thurman. Um Minderjährige zu schützen, schlägt der Kommunikationswissenschaftler neben länderspezifischen Maßnahmen vor, Druck auf die weltweit tätigen Pornografie-Anbieter auszuüben und sie so anzuregen, funktionierende Altersprüfungen für jeweils alle Märkte zu gewährleisten, auf denen sie operieren. Gleichzeitig sollten die geplanten Regulierungen wie in Großbritannien Social-Media-Plattformen einbeziehen.

    Publikation:
    Neil Thurman und Fabian Obster: The regulation of internet pornography: What a survey of under-18s tells us about the necessity for and potential efficacy of emerging legislative approaches, Policy & Internet, 2021

    Pressestelle der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), 5.5.2021

  • Erhöhte psychische Belastung bereits während der 1. Welle der COVID-19-Pandemie

    Wissenschaftler*innen des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung und des Nationalen Forschungsnetzwerks Universitätsmedizin (NUM) haben Studiendaten von weltweit mehr als 70.000 Teilnehmer*innen an Umfragen zu psychischen Belastungen durch die COVID-19-Pandemie ausgewertet und diese mit Daten aus der Zeit vor der Pandemie verglichen. Die Analysen zeigen moderat erhöhte Belastungen durch depressive und Angst-Symptome in der Allgemeinbevölkerung. Junges Lebensalter, eine schlechte wirtschaftliche Situation sowie ein niedriges Bildungsniveau stellen u. a. Risikofaktoren für eine erhöhte psychische Belastung dar und bieten Ansatzpunkte für präventive Ansätze.

    Die COVID-19-Pandemie stellt für die Allgemeinbevölkerung und insbesondere für spezifische Risikogruppen wie Mitarbeitende im Gesundheitswesen oder Menschen mit psychischen Erkrankungen eine erhebliche psychische Belastung dar. Eine Forschungsgruppe um Angela Kunzler und Klaus Lieb vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz hat die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit während der 1. Welle der Pandemie untersucht und diese mit Daten aus der Zeit vor der Pandemie verglichen sowie potenzielle Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert. In die Analysen flossen Studienergebnisse zu mehr als 208.000 Teilnehmer*innen aus über 100 wissenschaftlichen Publikationen ein, die bis zum 29.05.2020 veröffentlicht worden waren. Quantitativ konnten hierbei Daten aus 43 Studien zu mehr als 70.000 Teilnehmer*innen zusammengefasst werden (Metaanalysen).

    Die Analyse entstand im Rahmen des Projekts CEOsys (www.covid-evidenz.de) innerhalb des Nationalen Forschungsnetzwerks Universitätsmedizin (NUM) in Zusammenarbeit mit der Universitätsmedizin Mainz (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie), dem Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung an der LMU München sowie dem Institut für Medizinische Biometrie und Statistik (IMBI) und dem Institut für Evidenz in der Medizin (IfEM) am Universitätsklinikum Freiburg.

    „Die Studie stellt eine der bisher umfassendsten Analysen der psychischen Auswirkungen der 1. Welle der Pandemie dar“, erklärt die Erstautorin der Studie Angela Kunzler vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz. „Im Vergleich zu Daten aus der Zeit vor der Pandemie konnten wir nachweisen, dass bereits während der 1. Welle der Pandemie moderat erhöhte Belastungen durch depressive Symptome und Ängste in der Allgemeinbevölkerung bestanden, und das weltweit.“ Der Leiter der Studie, Professor Dr. Klaus Lieb, Direktor des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz, ergänzt: „Die Daten unterstreichen, dass auch die psychischen Folgen der COVID-19-Pandemie pandemische Ausmaße annehmen und die psychischen Folgen der Pandemie bei Infektionsschutzmaßnahmen stärker mitberücksichtigt und präventive Ansätze zur Förderung der psychischen Gesundheit und Resilienz verstärkt zum Einsatz kommen müssen.“

    Weitere Analysen zeigten, dass weder die psychische Belastung noch das Stresserleben von Personal im Gesundheitswesen während der ersten Phase der Pandemie verglichen mit präpandemischen Daten erhöht war und sowohl bei Teilnehmer*innen aus der Allgemeinbevölkerung als auch bei Beschäftigten im Gesundheitswesen bestehende psychische Störungen, weibliches Geschlecht und die Sorge, sich zu infizieren, die relevantesten Risikofaktoren für eine psychische Belastung darstellten. Höheres Alter, eine persönlich gute wirtschaftliche Situation und ein höheres Bildungsniveau wurden hingegen als Schutzfaktoren identifiziert.

    „Zuverlässige Daten, wie sich die psychische Belastung bis zur 3. Welle in 2021 weiterentwickelt hat und ob die Belastung auch mit einer erhöhten Rate an psychischen Erkrankungen einhergeht, liegen bisher noch nicht vor“, erklärt Professor Dr. Klaus Lieb. „Erste Daten weisen jedoch darauf hin, dass die Belastungen eher zunehmen. Es sieht so aus, als konnten die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen während der 1. Welle der Pandemie noch gut auf Vorerfahrungen und Ressourcen zurückgreifen. Diese scheinen jetzt zunehmend erschöpft zu sein.“

    Die Forschungsgruppe führt fortlaufend systematische Auswertungen veröffentlichter Studien in der Pandemie durch und arbeitet insbesondere daran, möglichst alle veröffentlichten Studien zu identifizieren und in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Dies ermöglicht ein sehr viel differenzierteres Bild, als es einzelne Studien vermitteln können. Die Sorgfalt der Analysen ist Voraussetzung dafür, wissenschaftlich belegte Empfehlungen für präventive Maßnahmen und Interventionen zur Bewältigung psychischer Auswirkungen der Pandemie geben zu können.

    Originalpublikation:
    Angela M. Kunzler, Nikolaus Röthke, Lukas Günthner, Jutta Stoffers-Winterling, Oliver Tüscher, Michaela Coenen, Eva Rehfuess, Guido Schwarzer, Harald Binder, Christine Schmucker, Joerg J. Meerpohl and Klaus Lieb: Mental burden and its risk and protective factors during the early phase of the SARS-CoV-2 pandemic: systematic review and meta-analyses; https://globalizationandhealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12992-021-00670-y

    Pressestelle des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung gGmbH, 4.5.2021