Kategorie: Kurzmeldungen

  • „Selbsthilfe reloaded! – SoberGuides“

    Der Digitalisierungsprozess ermöglicht es, neue fortschrittliche Wege der Sucht-Selbsthilfe zu beschreiten. Die Corona-Pandemie hat zudem im laufenden Jahr die Bedeutung der digitalen Kommunikation aufgezeigt. Ohne zu wissen, was uns im Jahr 2020 erwartet, haben die Guttempler in Deutschland mit freundlicher Unterstützung der BARMER im Oktober 2019 ein innovatives, mehrjähriges Sucht-Selbsthilfeprojekt gestartet, das sich von bisherigen Projekten der Selbsthilfeförderung deutlich unterscheidet.

    Das Projekt ist beispielgebend und richtungsweisend durch die digitale Erweiterung und die Ausbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen. Diese wurden in Präsenzschulungen und Online-Seminaren für ihre neue ehrenamtliche Aufgabe im so genannten Blended Learning qualifiziert. Der Bundesverband der Guttempler in Deutschland hat hierfür eine eigene E-Learning-Plattform aufgebaut, die den Ehrenamtlern zur Verfügung steht. Die hierfür qualifizierten ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen kommen aus ganz Deutschland und werden als SoberGuides bezeichnet.

    Die Guttempler richten ihre Sucht-Selbsthilfearbeit mit diesem Projekt neu aus, weil sich Bedürfnisse der Hilfesuchenden verändert haben. Zentraler Bestandteil ist eine modern gestaltete Projekthomepage, über die die freiwilligen und kompetenten Helfer*innen unkompliziert erreichbar sind.

    Das Besondere an dem Konzept ist, dass Hilfesuchende sich über die Homepage www.soberguides.de ihre ehrenamtlichen Begleiter*innen aussuchen und diese direkt ansprechen können. „Das Angebot von ‚Selbsthilfe reloaded!‘ richtet sich an Menschen, die weniger Suchtmittel konsumieren möchten oder sich für eine abstinente Lebensweise entscheiden wollen. Auch den Angehörigen und Freunden von Menschen mit Suchterfahrung bietet SoberGuides eine Anlaufstelle“, sagt Jens Krug, Selbsthilfe-Beauftragter bei der BARMER.

    „Es ist vor allem für Menschen konzipiert, die den Umgang mit Online-Medien kennen, denn der erste Kontakt findet über das Internet statt. Wir bringen die Selbsthilfegruppen ins heimische Wohnzimmer und fungieren als Begleiter in ein selbstbestimmtes suchtmittelfreies Leben. Die Hilfesuchenden bestimmen den Kanal (die Kommunikationsebene), entweder das persönliche Treffen, das Telefonat mit uns oder über die Online-Präsenz im Internet und Smartphone“, beschreibt SoberGuide Andreas das neue Hilfeangebot. Durch das Angebot werden auch jüngere Menschen und solche mit eingeschränkter Mobilität erreicht.

    Das Projekt „Selbsthilfe reloaded – SoberGuides“ wird ermöglicht über die BARMER im Rahmen der Selbsthilfeförderung nach § 20 h Sozialgesetzbuch V.

    Pressemitteilung der Guttempler in Deutschland, 10.08.2020

  • Vertrauensvolle Zusammenarbeit fördert den Therapieerfolg

    Eine vertrauensvolle Beziehung und eine gezielte Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Patient sind für die erfolgreiche Behandlung psychischer Erkrankungen zentral. Und es lohnt sich, früh damit anzufangen. Dies zeigt eine Taskforce der American Psychological Association (APA) unter der Leitung von Christoph Flückiger, Psychologieprofessor an der Universität Zürich (UZH), in einer Serie von Metastudien.Depressionen, Angstzustände, Abhängigkeitserkrankungen – 30 Prozent der weltweiten Bevölkerung leiden mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung. Situationen der Unsicherheit und Isolation wie die aktuelle Corona-Pandemie bergen in dieser Hinsicht ein besonderes Risiko. Gemäß Weltgesundheitsorganisation WHO zählen psychische Erkrankungen zu den größten und am stärksten stigmatisierten Herausforderungen moderner Gesellschaften. Entsprechend intensiv arbeiten Gesundheitssysteme daran, Behandlungsangebote zu verbessern und möglichst kosteneffizient zu gestalten. Psychotherapie erweist sich dabei als flexible und niedrigschwellige primäre Behandlungsmöglichkeit.

    Internationale Meta-Analysen zu knapp 400 Studien

    Die Beziehung zwischen Arzt respektive Therapeut und Patient sowie ihr Einfluss auf den Behandlungserfolg wurde in der Medizin lange vernachlässigt. Seit einigen Jahren rückt diese Beziehung jedoch stärker in den Fokus des Interesses. „Bei der Behandlung psychischer Erkrankungen ist diese Therapiebeziehung besonders bedeutsam“, sagt Christoph Flückiger, Professor für Allgemeine Interventionspsychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich. „Denn der Therapieprozess kann unangenehme Gefühle aktivieren und von Patientinnen und Patienten eine bewusste, intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben und Verhalten erfordern.“

    Unter Flückigers Leitung und mit Beteiligung von Forschenden aus 17 Ländern hat eine Taskforce der American Psychological Association (APA) eine Serie von Meta-Analysen durchgeführt: Untersucht wurden knapp 400 empirische Studien zum Zusammenhang von Therapiebeziehung und Behandlungserfolg. Die Auswertungen zeigen, dass sich die Qualität der Therapiebeziehung in fast allen bestehenden Studien als robuste Prognose für den Therapieerfolg erwies, und zwar über die verschiedenen Therapieansätze, Erfolgsmessungen, Patientencharakteristika und Länder hinweg.

    Bedeutung der Arbeitsallianz ist nicht nur eine Begleiterscheinung

    „Psychische Störungen werden dann besonders erfolgreich behandelt, wenn Therapeutin und Patientin innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung zielgerichtet zusammenarbeiten“, fasst Flückiger zusammen. Innerhalb dieser therapeutischen „Arbeitsallianz“, wie sie in der Fachliteratur genannt wird, verständigen sich die beiden Seiten über die Aufgaben, das Vorgehen und die Ziele der Therapie und arbeiten gemeinsam auf diese hin.

    In der wissenschaftlichen Debatte zum Thema wurde verschiedentlich die Vermutung geäußert, dass die Arbeitsallianz und der damit zusammenhängende Therapieerfolg bloß eine Begleiterscheinung anderer Faktoren seien. Als mögliche Einflüsse wurden zum Beispiel frühere Behandlungserfahrungen, Symptomstärke, die therapeutische Ausrichtung oder auch die Fortschritte während des Therapieprozesses diskutiert. Die Taskforce um Christoph Flückiger fand jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass diese Faktoren die Bedeutung der Arbeitsallianz für den Therapieerfolg schmälern könnten.

    Frühe Therapiephase ist entscheidend

    Was die Ergebnisse hingegen unterstreichen, ist, dass die frühe Phase der Therapie für den Behandlungserfolg entscheidend ist. „In dieser frühen Phase stehen Symptomschwere und Arbeitsallianz in einem positiven wechselseitigen Verhältnis zueinander, was häufig zu einer Aufwärtsspirale führt“, erklärt Flückiger. Sprich: Eine starke vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient hilft, die Symptome zu reduzieren, was umgekehrt wiederum die therapeutische Beziehung stärkt.

    „Unsere Studien liefern den Nachweis, dass es sich lohnt, in eine in eine respektvolle, vertrauensvolle therapeutische Zusammenarbeit zu investieren“, so Flückiger, „gerade auch in der Behandlung psychischer Erkrankungen.“ Dies werde in anderen Bereichen der Medizin zwar auch gefordert, oftmals jedoch noch unzureichend geschult und umgesetzt.

    Originalpublikation:
    Flückiger, C., Rubel, J., Del Re et al. (2020). The reciprocal relationship between alliance and early treatment symptoms: A two-stage individual participant data meta-analysis. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 88 (9), 829-843. DOI: 10.1037/ccp0000594

    Pressestelle der Universität Zürich, 12.08.2020

  • Gaming, Social-Media & Corona

    Die DAK-Gesundheit untersucht mit Suchtexperten am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) in einer Längsschnittstudie erstmalig die krankhafte Nutzung von Computerspielen und Social-Media nach den neuen ICD-11 Kriterien der WHO. Auch die Folgen der Covid-19-Pandemie werden erforscht. Erste Zwischenergebnisse: Bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen ist das Gaming riskant oder pathologisch. Im Vergleich zum Herbst 2019 nehmen die Spielzeiten unter dem Corona-Lockdown werktags um 75 Prozent zu. Als Reaktion auf die Ergebnisse verbessert die DAK-Gesundheit die Früherkennung. Ab 1. Oktober bietet die Kasse gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in fünf Ländern das bundesweit erste Mediensuchtscreening für 12- bis 17-Jährige an. Gemeinsam mit der Bundesdrogenbeauftragten wird die Medienkompetenz gestärkt: „Digitale Medien sind für uns selbstverständlich und hilfreich im Alltag. Doch Smartphones, Tablets und Co. stellen uns auch vor Herausforderungen, in Bezug auf Inhalt und Ausmaß der Mediennutzung“, sagt Daniela Ludwig.

    Häufigkeiten pathologischer und riskanter Internetnutzung

    Die aktuelle DAK-Studie führt das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE Hamburg durch. Erstmalig untersucht eine repräsentative Längsschnittstudie mit rund 1.200 Familien die Häufigkeiten pathologischer und riskanter Internetnutzung für Spiele und soziale Medien bei Kindern und Jugendlichen nach den neuen ICD-11-Kriterien der WHO. Im September 2019 zeigen zehn Prozent der 10- bis 17-Jährigen ein riskantes Spielverhalten. Pathologisches Gaming wird bei 2,7 Prozent festgestellt: Die Zahl der betroffenen Jungen liegt mit 3,7 Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei Mädchen (1,6 Prozent).

    „Die ersten Ergebnisse sind alarmierend“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Hochgerechnet auf die Bevölkerung ist bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen das Gaming riskant oder pathologisch. Die Corona-Krise kann die Situation zusätzlich verschärfen. Es gibt erste Warnsignale, dass sich die Computerspielsucht durch die Pandemie ausweiten könnte.“

    Nutzungszeiten für Gaming und Social Media

    Laut der DAK-Studie nehmen unter dem Corona-Lockdown die Nutzungszeiten deutlich zu. Im Vergleich zum September 2019 steigt im Mai 2020 die Spieldauer in der Woche um 75 Prozent an. Werktags klettern die durchschnittlichen Gamingzeiten von 79 auf 139 Minuten an. Am Wochenende gibt es einen Anstieg um fast 30 Prozent auf 193 Minuten am Tag. „Die Nutzungszeiten der Kinder und Jugendlichen haben die größte Vorhersagekraft für ein problematisches und pathologisches Verhalten“, sagt Professor Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen. Ob die Mediensucht durch Schulschließungen und eingeschränkte Freizeitaktivitäten tatsächlich wächst, soll die Längsschnittstudie in einer abschließenden Befragung der teilnehmenden Familien im Frühjahr 2021 zeigen.

    Ähnlich problematisch wie Onlinespiele sind Social-Media-Aktivitäten. Im September zeigen 8,2 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen eine riskante Nutzung. Das entspricht hochgerechnet fast 440.000 der 10- bis 17-Jährigen. Eine pathologische Nutzung wird bei rund 170.000 Jungen und Mädchen (3,2 Prozent) festgestellt. Unter dem Corona-Lockdown steigen die Social-Media-Zeiten werktags um 66 Prozent an – von 116 auf 193 Minuten pro Tag. Gaming und soziale Medien werden vor allem genutzt, um Langeweile zu bekämpfen oder soziale Kontakte aufrechtzuerhalten. Rund ein Drittel der Jungen und Mädchen will online aber auch der „Realität entfliehen“ oder Stress abbauen. Laut Studie geben 50 Prozent der Eltern an, dass es in ihrer Familie vor und unter Corona keine zeitlichen Regeln für die Mediennutzung gibt.

    Pilotprojekt Mediensuchtscreening bei 12- bis 17-Jährigen

    „Unsere Studie zeigt, dass wir dringend ein verlässliches und umfassendes Frühwarnsystem gegen Mediensucht brauchen“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Es darf nicht länger Zufall sein, Risiko-Gamer zu erkennen und ihnen Hilfsangebote zu machen. Als Vorreiter bei der Vorsorge bietet die DAK-Gesundheit deshalb als bundesweit erste Krankenkasse ein neues Mediensuchtscreening an.“ In einem Pilotprojekt mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) gibt es bei 12- bis 17-Jährigen eine neue zusätzliche Vorsorgeuntersuchung. In den fünf Bundesländern Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen können ab 1. Oktober 2020 rund 70.000 Jungen und Mädchen die Früherkennung ergänzend zur J1 und J2 nutzen. Grundlage für das Mediensuchtscreening ist die so genannte GADIS-A-Skala (Gaming Disorder Scale for Adolescents), die von Suchtforschern des UKE Hamburg entwickelt wurde und jetzt erstmals in der Praxis eingesetzt wird. „Dieser Schritt ist für Eltern und Ärzte gleichermaßen sehr wichtig, denn Computerspielsucht ist ein wichtiges Gesundheitsthema bei Kindern und Jugendlichen“, sagt Dr. Sigrid Peter, Vizepräsidentin des BVKJ. „Die Einbettung des Screenings in die regulären Vorsorgeuntersuchungen hilft dabei, eine drohende Sucht frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.“

    Neue Online-Anlaufstelle Mediensucht

    Als zusätzliches Hilfsangebot hat die DAK-Gesundheit gemeinsam mit der Computersuchthilfe Hamburg eine neue Online-Anlaufstelle Mediensucht entwickelt. Ab August 2020 erhalten Betroffene und deren Angehörige unter www.computersuchthilfe.info Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Online-, Gaming- und Social-Media-Sucht. Das kostenlose DAK-Angebot ist offen für Versicherte aller Krankenkassen. „Die neue Anlaufstelle hilft Kindern im Umgang mit Online-Medien und gibt deren Eltern gleichzeitig Orientierung“, sagt Vorstandschef Storm.

    Pressestelle der DAK-Gesundheit, 29.07.2020

  • Bewusstes Genießen verhilft zu einem zufriedenen Leben

    Foto©Image’in – stock.adobe.com

    Auf dem Sofa faulenzen oder sich ein gutes Essen gönnen: Vergnügen und kurzfristig ausgerichteter Genuss tragen mindestens genauso zu einem zufriedenen Leben bei wie Selbstkontrolle, die es für das Erreichen langfristiger Ziele braucht. Zu dieser Erkenntnis kommt eine neue Studienreihe der Universität Zürich und der Radboud Universität in Nijmegen. Die Forscherinnen plädieren dafür, dass Hedonismus in der Psychologie mehr Wertschätzung erfährt.

    Wer nimmt sich nicht hie und da vor, endlich mehr Sport zu treiben, weniger Süßes zu essen oder endlich seine Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern? Die Wissenschaft hat sich bereits viel damit beschäftigt, wie wir unsere langfristigen Ziele besser und effektiver verfolgen können. Die generelle Auffassung: Selbstkontrolle hilft uns Menschen, langfristige Ziele über kurzfristiges Vergnügen zu stellen, und führt in der Regel zu einem zufriedeneren und erfolgreicheren Leben.

    „Doch es ist Zeit umzudenken“, sagt Katharina Bernecker, Motivationspsychologin an der Universität Zürich. „Selbstkontrolle ist natürlich wichtig für ein Leben, das als sinnhaft und erfolgreich empfundenen wird. Die Forschung zur Selbstregulation sollte dem kurzfristigen Vergnügen und der Fähigkeit zu genießen aber genauso Aufmerksamkeit schenken.“ Denn – so die Ergebnisse von Berneckers Forschung – die Fähigkeit, lustvolle Aktivitäten zu genießen, trägt mindestens ebenso viel zur Lebenszufriedenheit bei wie eine gute Selbstkontrolle.

    Ablenkende Gedanken trüben Genusserfahrung

    Bernecker und ihre Forschungspartnerin Daniela Becker von der Radboud Universität entwickelten einen Fragebogen, der die hedonistische Fähigkeit misst: die Fähigkeit also, unmittelbaren Bedürfnissen und kurzfristigem Vergnügen nachzugehen und dies zu genießen. Anhand des Fragebogens untersuchten sie in verschiedenen Kontexten, ob sich Menschen in dieser Fähigkeit unterscheiden und wie sich dies auf ihr Wohlbefinden auswirkt.

    Dabei zeigte sich, dass sich gewisse Menschen in Genuss- oder Entspannungsmomenten gedanklich ablenken lassen, indem sie an Aktivitäten oder Aufgaben herumstudieren, die sie stattdessen erledigen sollten. „Man liegt also auf dem Sofa und will sich erholen, denkt aber trotzdem ständig daran, dass man doch eigentlich Sport treiben sollte“, führt Becker aus. „Der Gedanke an das langfristige, an Selbstkontrolle gekoppelte Ziel untergräbt so das unmittelbare Bedürfnis, sich zu entspannen.“ Menschen hingegen, die sich dem Genuss ungeteilt hingeben können, erleben nicht nur kurzfristig mehr Wohlbefinden, sondern weisen generell eine höhere Lebenszufriedenheit auf und erleben unter anderem auch weniger Depressions- und Angstsymptome.

    Selbstkontrolle und Hedonismus ergänzen sich

    „Das Verfolgen kurzfristig-hedonistischer Genussziele einerseits und langfristiger Erfolgsziele andererseits steht jedoch nicht im Widerspruch zueinander“, betont Bernecker. Im Gegenteil: „Unsere Forschung zeigt, dass für ein zufriedenes und erfolgreiches Leben beide Fähigkeiten wichtig sind und sich gegenseitig ergänzen. Es gilt, im Alltag die richtige Balance zu finden.“

    Sich einfach nur häufiger einen Abend auf dem Sofa, ein gutes Essen oder ein Treffen mit Freunden zu gönnen, führt also nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit. „Die Forschung ging immer davon aus, dass Hedonismus im Vergleich zur Selbstkontrolle die leichtere Wahl ist“, so Bernecker. „Doch von dieser Wahl dann vollumfänglich zu profitieren, ohne gedanklich abgelenkt und im Genuss gestört zu werden, ist offenbar nicht ganz so leicht.“

    Vergnügen und Genuss bewusst einplanen

    Dies kann sich derzeit zum Beispiel im Home-Office zeigen: Die Umgebung, in der man sich normalerweise erholt und genießt, wird plötzlich auch mit Arbeit und Leistung in Verbindung gebracht. „Gedanken an unerledigte Angelegenheiten können die Erholungsphasen so einfacher durchkreuzen und sie beeinträchtigten“, sagt Bernecker.

    Wie sich die Hedonismus-Fähigkeit verbessern ließe, muss laut Studienautorinnen noch weiter untersucht werden. Das bewusste Einplanen bestimmter Genusszeiten im Alltag könnte aber helfen, sie klarer von anderen Tätigkeiten abzugrenzen und so ungestörter auszukosten.

    Originalpublikation:
    Katharina Bernecker u. Daniela Becker (in press). Beyond self-control: Mechanisms of hedonic goal pursuit and its relevance for well-being. Personality and Social Psychology Bulletin. 27 July 2020. DOI: 10.1177/0146167220941998

    Pressestelle der Universität Zürich, 27.07.2020

  • fdr+Standards der ambulanten Suchthilfe. Update 2020

    2005 wurden erstmalig „Mindeststandards für die ambulante Suchthilfe“ als Ergänzung für vorhandene Arbeitsgrundlagen von Beratungsstellen für Suchtkranke durch den fdr+ formuliert und veröffentlicht. Diese Standards schreibt der fdr+ nun mit einem „Update 2020“ fort. Die neue Broschüre wurde von einer Arbeitsgruppe aus erfahrenen Praktikern im Bereich der ambulanten Suchthilfe erarbeitet.

    Das Update stellt die ambulante Suchthilfe in den Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und neuer Fragestellungen. Der fachliche Diskurs um Kommunalisierung, ganzheitlichere Teilhabe (ICF), Gender, Anti-Stigma, neue Drogen, Verhaltenssüchte und Digitalisierung führt dazu, dass die Möglichkeiten und Grenzen im System neu ausgelotet werden. Daraus entstehen für  die ambulante Suchthilfe ethisch-moralisch und fachlich neue Herausforderungen.

    „Unverändert bleibt allerdings bislang die traditionell prekäre Finanzierung der ambulanten Suchthilfe. Zur Umsetzung ihrer bedarfsgerechten, sozialraum-, teilhabeorientierten und nachhaltig wirksamen Aufgaben muss die ambulante Suchthilfe, als verpflichtende Leistung, gesetzlich in der kommunalen Daseinsvor- und fürsorge verankert und somit verlässlich und leistungsgerecht finanziert werden. Dementsprechend stellen die nachfolgenden Standards sowohl eine ‚politische Erklärung‘ nach außen als auch eine ‚Strukturhilfe‘ im System dar.“

    Quelle: Vorwort von Janina Tessloff, Vorstandsvorsitzende des fdr+

    Die Broschüre „fdr+Standards der ambulanten Suchthilfe. Update 2020“ kann gegen eine Schutzgebühr von 7,00 Euro inkl. Versand im fdr+Shop auf der Website bestellt werden.

  • PlayChange

    Die Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) hat mit der Online-Beratungsplattform PlayChange seit 15. Juli 2020 ihr Hilfe-Portfolio für Menschen mit glücksspielbezogenen Problemen erweitert (www.playchange.de). Damit bekommen Betroffene und Angehörige schnell, einfach und online eine direkte Hilfe und Ansprache.

    Konrad Landgraf, Geschäftsführer der LSG und Suchtexperte: „Mit PlayChange haben wir ein Angebot für all jene geschaffen, die ohnehin viel online sind und im Internet oder über Gambling-Apps an Online-Glücksspielen teilnehmen. Wir freuen uns sehr, dass PlayChange unser breit aufgestelltes Portfolio ab heute sinnvoll ergänzt und abrundet.“

    Bayernweit zeigen rund 70.000 Menschen ein problematisches oder pathologisches Glücksspielverhalten, viele davon suchen sich keine oder erst viel zu spät Hilfe. Landgraf: „Häufig verspielen Betroffene alles und häufen mitunter immense Schuldenberge an. Diese Form der Sucht ist deshalb sehr schambehaftet. Aus diesem Grund ist der Gang in eine Suchtberatungsstelle oft ein Riesenproblem für Betroffene und Angehörige. Die Problematik ist psychisch stark belastend für alle Beteiligten. Mit PlayChange wollen wir diesen ersten und wichtigen Schritt, sich endlich Hilfe zu suchen, deutlich vereinfachen.“ Die neue Hilfeplattform, die es auch als App für Smartphones gibt, ist aber auch für Menschen konzipiert, die terrestrische Glücksspielangebote in Spielhallen, Sportwettbüros oder Spielbanken nutzen. Auch sie können über PlayChange schnell und einfach Hilfe in Anspruch nehmen.

    Über ein Jahr hat die Entwicklung von PlayChange gedauert – mit einem guten Ergebnis, wie Landgraf sagt: „PlayChange erscheint in moderner Optik, ist für jeden einfach zu bedienen und erfüllt die hohen Standards für Datenschutz und Sicherheit.“ Zur ersten Orientierung dienen die häufig gestellten Fragen (FAQ) mit Informationen rund um das Thema Glücksspielsucht und zu den entsprechenden Hilfemöglichkeiten. Wer sich über PlayChange beraten lassen will, kann mittels geschütztem E-Mailsystem, Chat oder Messenger mit den Beraterinnen und Beratern in Kontakt treten. Online, anonym und via Smartphone oder PC erreichbar, bietet Play-Change für Betroffene und Angehörige einen niedrigschwelligen Zugang zur Beratung. „Gerade auch in Zeiten der Corona-Pandemie ist das ein nicht zu unterschätzender Aspekt“, sagt Konrad Landgraf.

    Die Fachkräfte am anderen Ende der Leitung beraten die Hilfesuchenden über verschiedene Tools: entweder asynchron per E-Mail und Messenger oder synchron bei einem zuvor vereinbarten Chat-Termin. Bei Bedarf können die Expertinnen und Experten der LSG auch weitere Unterstützungsmöglichkeiten empfehlen und Betroffene in eine Beratung und Therapie vor Ort vermitteln. Landgraf: „Die Beratungsleistung via PlayChange wird von Mitarbeitenden der Fachstellen für Glücksspielsucht und den Kolleginnen und Kollegen der Geschäftsstelle der LSG bayernweit erbracht. Alle Beratenden haben langjährige Erfahrung, sind im Bereich Glücksspielsucht speziell geschult und werden durch die LSG regelmäßig weitergebildet.“

    Besonders stolz ist Landgraf auf die Messenger-Beratung von PlayChange: „Viele Menschen kommunizieren inzwischen nahezu ausschließlich über die sozialen Medien oder Messenger wie beispielsweise WhatsApp. Sensible Inhalte sind dort aber häufig nicht ausreichend vor fremdem Zugriff gesichert. PlayChange bietet deshalb eine datenschutzsichere Beratung, was insbesondere bei dem äußerst sensiblen Thema Glücksspielsucht sehr wichtig ist.“ Ein weiteres Tool, eine Online-Videoberatung, ist laut Landgraf bereits in Planung und wird zu einem späteren Zeitpunkt in PlayChange ergänzt.

    PlayChange kann auf Desktop-Rechnern, Tablets und Smartphones genutzt werden, ist plattformübergreifend, anonym, sicher und kostenlos. Die kostenlose App von PlayChange für iOS und Android gibt es in den Appstores von Apple und Google.

    Pressemitteilung der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern, 14.07.2020

  • Neuer Glücksspielstaatsvertrag 2021

    Zahlreiche Fachgesellschaften sorgen sich um den Schutz von Glücksspieler*innen, wenn der Entwurf zum Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens (GlüNeuRStV) in Kraft treten sollte. Sie haben einen Brief an die Ministerpräsident*innen verfasst, in dem sie fordern, die Verabschiedung zunächst auszusetzen. Federführend ist hierbei der Fachbeirat Glücksspielsucht, der befürchtet, dass durch die geplante Neuregulierung die Gefährdung von Glücksspieler*innen deutlich ansteigen würde.

    Der Fachbeirat und 20 weitere Verbände kritisieren, dass Wissenschaftler*innen, Betroffene und Angehörige bei der Entstehung des Entwurfs nicht beteiligt waren. Die Maßnahmen berücksichtigen nicht ausreichend den Stand der Forschung im Hinblick auf die Suchtgefahr der Glücksspiele. Die Fachleute sehen insbesondere die Öffnung des Marktes für Online-Glücksspiele kritisch, da Forschungsstudien zeigen, dass gerade diese Angebote besondere Suchtrisiken aufweisen. Im Brief an die Entscheidungsträger wird betont, dass die erhöhte und besonders einfache Verfügbarkeit von Online-Glücksspielangeboten zu neuen Risiken der Suchtentwicklung, -aufrechterhaltung und Rückfallgefährdung führt. Die Verführung ist besonders hoch, wenn zu jeder Tages- und Nachtzeit vom Smartphone aus gespielt werden kann. Hochrechnungen legen nahe, dass dadurch die Zahl der problematischen und süchtigen Glücksspieler steigen wird.

    Der Versuch, Nutzer*innen von Online-Angeboten dadurch zu schützen, dass Glücksspieler*innen nicht mehr als 1.000 Euro pro Monat verspielen dürfen, greift aus Sicht der Suchtexpert*innen zu kurz. Zu berücksichtigen sei dabei auch, dass Glücksspieler*innen neben den Online-Angeboten meist auch noch offline spielen, also in der Spielhalle oder im Wettbüro. Zusammengenommen entstünden sehr schnell hohe Verlustsummen, die die Betroffenen in die Schulden treiben und den Teufelskreislauf der Sucht aufrechterhalten. Weiterhin fordern die Experten*innen u. a., auf Werbung weitestgehend zu verzichten. Ins-besondere die Risikogruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen fühle sich dadurch besonders angesprochen. Sie bemängeln auch, dass die Maßnahmen der vergangenen Glücksspielstaatsverträge nicht wissenschaftlich auf ihre Wirkung hin untersucht wurden. Das müsse diesmal anders sein, aber dafür bräuchte man zunächst eine Erhebung des jetzigen Stands, sonst könnte man nicht untersuchen, was sich durch die neuen Regelungen ändert.

    Die Suchtexpert*innen bitten die Ministerpräsident*innen dringlich, den jetzigen aus ihrer Sicht übereilten Entwurf nicht zu verabschieden, sondern den noch gültigen 3. Staatsvertrag zu verlängern. Gleichzeitig sollte ein aus der Perspektive des Spielerschutzes verbesserter GlüNeuRStV in Zusammenarbeit mit Fachleuten und Betroffenen entwickelt werden.

    Website des Fachbeirats:
    https://innen.hessen.de/buerger-staat/gemeinsame-geschaeftsstelle-gluecksspiel/fachbeirat

    Pressemitteilung des Fachbeirates Glücksspielsucht nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GlüStV – eine unabhängige Einrichtung zur Beratung der Länder, 10.03.2020

    Eine ausführliche Stellungnahme des Fachbeirates, weitere Empfehlungen und Hintergrundinformationen finden Sie hier:
    https://innen.hessen.de/buerger-staat/geschaeftsstelle-gluecksspiel/gluecksspielkollegium/fachbeirat/beschluesse-und 

  • Neue Impulse jetzt nutzen!

    Die COVID-19-Pandemie hat die Organisationen und Einrichtungen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe mit außergewöhnlichen Herausforderungen konfrontiert. Um diese Herausforderungen und deren Konsequenzen praxisorientiert zu konkretisieren sowie Unterstützungsbedarfe zu formulieren, hat der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+) eine Online-Mitgliederbefragung durchgeführt. Die Befragung erfolgte im Zeitraum 10.–17.Juni 2020 und stellt somit eine Momentaufnahme dar. Die zentralen Ergebnisse fasst der fdr+ in einem Positionspapier zusammen und stellt davon abgeleitete Forderungen für eine wirkungsvolle Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe auf.

    Das vollständige Positionspapier und die Ergebnisse der Mitgliederbefragung stehen zum Download zur Verfügung.

    Ausgewählte Ergebnisse der fdr+ Mitgliederbefragung zur Corona-Pandemie 2020

    Rücklauf

    Es konnten insgesamt 95 vollständig ausgefüllte Fragebögen ausgewertet werden. Die Hälfte der Organisationen/Einrichtungen hat ihren Arbeitsschwerpunkt in der ambulanten Suchthilfe; die andere Hälfte teilt sich in stationäre Einrichtungen, Suchtselbsthilfe, Behörden und Sonstige auf.

    Aufrechterhaltung der Angebote

    Differenziert betrachtet konnten bzw. können die meisten spezifischen Angebote (N=683) sowohl während als auch (perspektivisch) nach der Corona-Pandemie aufrechterhalten werden. Bedeutende Einschränkungen der Angebote (während des Lockdowns) sind jedoch in den Bereichen Selbsthilfe, Prävention, Suchtberatung im Betrieb und in der JVA, niedrigschwellige Hilfen sowie bei den Beschäftigungsprojekten zu verzeichnen.

    Mehrbelastung des Personals

    90 Prozent der Einrichtungen/Organisationen bestätigen eine Mehrbelastung des Personals durch die Corona-Pandemie, deren Ursache im Mehraufwand durch Schutzmaßnahmen, in veränderten Kommunikationsmodi/Kontaktaufnahmen und in der eigenen psychischen Belastung sowie der der Klientel (z. B. durch Isolation) liegt.

    Auslastung

    Die Angaben zur Auslastung der einzelnen Angebote/Einrichtungen aufgrund der Corona-Pandemie sind sehr unterschiedlich und vermutlich regional begründet. Dennoch verzeichnen 43 Prozent der Angebote/Einrichtungen einen signifikanten Rückgang der Auslastung, insbesondere im stationären Reha-Bereich, der Eingliederungshilfe, den Arbeits- und Beschäftigungsmaßnahmen, der Selbsthilfe und der Prävention. Zusätzlich kam es zu Schließungen im Bereich der Kontakt- und Begegnungsstätten. Auch auf die Gruppenangebote der Ambulanten Reha Sucht (ARS), der Nachsorge und der Suchtberatung hatten insbesondere die umzusetzenden Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen tiefgreifende Auswirkungen. So mussten Gruppengrößen reduziert bzw. entsprechend größere Räumlichkeiten organisiert und angemietet, auf digitale Formate ausgewichen oder vermehrt Einzelberatung durchgeführt werden, was wiederum erhebliche Mehrkosten (Personal, Ausstattung etc.) nach sich zog/zieht.

    Liquidität

    70 Prozent der Einrichtungen/Organisationen geben an, dass sich ihre Liquidität perspektivisch verringern wird, ursächlich aufgrund der Gefährdung der Umsetzung der Angebote (z. B. aufgrund von Kontaktbeschränkungen), bedeutender Umsatzeinbußen (über zehn Prozent) sowie notwendiger Mehr-Investitionen (bauliche Maßnahmen, zusätzliche Räumlichkeiten, (technische) Ausstattung, Schutzausrüstung, Personal).

    Maßnahmen während der Corona-Pandemie

    Die Organisationen und Einrichtungen haben während der Corona-Pandemie differenzierte Maßnahmen ergriffen, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, die Zielgruppe (situativ) auch weiterhin zu erreichen und die Hygienevorschriften einzuhalten. Die Kosten für den deutlichen Mehraufwand wurden dabei jedoch nicht refinanziert.

    Inanspruchnahme finanzieller Unterstützung

    Insofern die Voraussetzungen gegeben waren, haben die Einrichtungen/Organisationen zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und/oder als Ausgleich der Defizite finanzielle Unterstützung (vorrangig SodEG und Kurzarbeitergeld) in Anspruch genommen. Knapp 40 Prozent haben diese beantragt, bei 15 Prozent wurden bereits Mittel bewilligt, bei sieben Prozent wurden diese abgelehnt, acht Prozent planen eine Beantragung und knapp 30 Prozent nehmen keine Unterstützungsleistungen in Anspruch. Dabei gibt die deutliche Mehrheit der Einrichtungen/Organisationen an, dass entstandene finanzielle Defizite durch die Schutzpakete des Bundes und der Länder nicht kompensiert werden und bereits jetzt oder perspektivisch nicht kompensierte Einnahmenausfälle zu verzeichnen sind. Die Lücken der Schutzpakete werden insbesondere in der Refinanzierung der Schutzkleidung und ‑ausstattung und sonstiger Sachmittel (inkl. technischer Ausstattung), der Kompensation der Minderbelegung sowie der Bewältigung des Bürokratieaufwands gesehen. Insbesondere die ARS und die stationären Reha-Maßnahmen in kleineren Einrichtungen bleiben bei den Voraussetzungen zur Inanspruchnahme von finanzieller Unterstützung bislang unberücksichtigt.

    Bedeutung digitaler Angebote

    Digitalen Angeboten wird bei der Bewältigung der Corona-Pandemie eine besonders hohe Bedeutung beigemessen. Diese können persönliche Kontakte im kommunikations- und beziehungsintensiven Arbeitsfeld der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe ergänzen, jedoch nicht ersetzen.

    Unterstützungsbedarf

    Die Mehrheit der Einrichtungen/Organisationen sieht in der unzureichenden Finanzierungsbasis, den fehlenden digitalen Kompetenzen der Mitarbeitenden und der Klientel, der technischen Kompatibilität mit Kooperationspartner*innen und den juristischen Fragestellungen Hürden für den Einsatz von Technik und Digitalisierung. Deshalb sehen die Einrichtungen/Organisationen vorrangig in der Finanzierung der technischen Ausstattung und in der Beratung zu digitalen Anwendungen weiteren Unterstützungsbedarf, aber auch in der Liquiditätssicherung, Fachkräftegewinnung, Fördermittelberatung und der Beschaffung von Schutzausrüstung/-mitteln.

    Perspektive

    Ein Großteil der Einrichtungen/Organisationen rechnet mit einer gesteigerten Nachfrage der Angebote im Bereich Suchthilfe und Suchtselbsthilfe. Begründet wird dies mit der Mehrbelastung (psychischen Belastung) der Menschen durch Isolation, Kurzarbeit/Arbeitsplatzverlust, häusliche Konflikte und das dadurch steigende Risiko eines erhöhten Suchtmittelkonsums/einer Rückfälligkeit. Im Bereich Suchtprävention wird demgegenüber von einer (kurzfristig) sinkenden Nachfrage ausgegangen, da Schulen, Betriebe und Freizeiteinrichtungen (Clubs/Festivals) voraussichtlich zunächst vorrangigere/organisatorische Schwierigkeiten bewältigen müssen.

    Forderungen des fdr+

    Zur Bewältigung der Corona-Krise und ihrer sozialen, gesellschaftlichen und finanziellen Folgen werden die Angebote und Leistungen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe nicht nur dringend gebraucht, sie sind unerlässlich und systemrelevant. Denn gerade in unsicheren Zeiten müssen die Menschen sich auf diese sozialraumorientierten, auch institutionellen Unterstützungsangebote (mit verstärkten Schutzmaßnahmen) verlassen können, die konstitutiv für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sorgen, zum Gesundheitsschutz und zur Stabilität der sozialen Gemeinschaft beitragen. Deshalb fordert der fdr+:

    1. eine nahtlose Weiterfinanzierung/Förderung aller Angebote der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe
    2. ausreichend Schutzmaterial und ‑kleidung für die Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen der Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe und einen vereinfachten Zugang zur Coronatestung (auch präventiv) inkl. sichergestellter Kostenübernahme
    3. die garantierte Aufrechterhaltung von Präventionsangeboten unter Ausschluss von Kürzungen
    4. die ambulante Suchthilfe als Pflichtleistung gesetzlich in der kommunalen Daseinsvor- und fürsorge zu verankern und folgerichtig verlässlich und leistungsgerecht zu finanzieren sowie die Sicherstellung der Finanzierung, auch wenn die Einrichtung vorübergehend geschlossen werden muss
    5. die Ausweitung des Schutzschirmes nach § 111d SGB V auf die Ambulante Reha Sucht (ARS) sowie die Erfassung von Mehraufwendungen und Erlösausfällen im SodEG. Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung muss die Kompensation der Leistungsausfälle (Regelungen zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz) in Analogie zu bisherigen Unterstützungsleistungen ambulanter Leistungserbringer Berücksichtigung finden.
    6. gemeinsame verlässliche Lösungswege zwischen den Kostenträgern und den Leistungserbringern zur Kostenabsicherung in der stationären Suchthilfe sowie die Erstattung des hohen finanziellen Mehraufwandes bspw. durch einen Pandemie-Zuschlag
    7. flexible aktuelle Unterstützungsmöglichkeiten für die Aufrechterhaltung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in der Suchthilfe
    8. die Verstetigung der für die Substitution während der Corona-Pandemie getroffenen Regelungen
    9. die Möglichkeit für Suchtselbsthilfe-Gruppen, ihre regelmäßigen Treffen unter Einhaltung der jeweils notwendigen Sicherheits- und Hygienemaßnahmen weiter durchzuführen
    10. die Finanzierung der technischen Ausstattung und der Beratung zur Anwendung beim Ausbau und der Implementierung digitaler Prozesse und Angebote. Gemeinnützige Organisationen müssen in entsprechende staatliche Förderprogramme aufgenommen werden.
    11. eine angemessene Bezahlung der Gesundheitsfachberufe und aller Berufsfelder der „Sozialen Arbeit“ sowie Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität dieser Berufsfelder

    Quelle: Neue Impulse jetzt nutzen! – Welche notwendigen Konsequenzen wir aus den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie für eine wirkungsvolle Suchtprävention, Suchthilfe und Suchtselbsthilfe ziehen müssen, Positionspapier des fdr+ vom 17. Juli 2020.

  • Online-Befragung zum Konsum psychoaktiver Substanzen seit Beginn der Corona-Krise

    Das IFT Institut für Therapieforschung München führt momentan im Rahmen des vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekts „Phar-Mon plus“ eine Umfrage zum Konsum psychoaktiver Substanzen sowie zur medizinischen und psychosozialen Versorgungslage seit Beginn der Corona-Krise durch. Ziel des Projektes „Phar-Mon plus“ ist es, die durch die COVID-19-Infektionslage entstandenen Einschränkungen und Chancen zu erfassen, um Empfehlungen für die Drogen- und Suchthilfepolitik auszusprechen.

    Ein Teil der Datenerhebung besteht darin, Konsumierende deutschlandweit per Online-Fragebogen zu befragen. Dieser beinhaltet neben der Erfassung des Konsumverhaltens auch Fragen zu Veränderungen und Erfahrungen im Zusammenhang mit der medizinischen und psychosozialen Versorgungslage seit Beginn der Corona-Krise. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf der Befragung von Substitutionspatient/innen liegen, die zusätzlich spezifische Fragen zu den Auswirkungen der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung auf die Substitutionstherapie erhalten.

    Die Befragung richtet sich grundsätzlich an alle Personen, die innerhalb der letzten zwölf Monate eine psychoaktive Substanz konsumiert haben und mindestens 16 Jahre alt sind.

    Zur Teilnahme an der Befragung geht er hier:
    https://s2survey.net/pharmon_plus_corona001440/?q=PharMon_plus_Corona

    Weitere Informationen:
    Download Flyer für Teilnehmer/innen
    Download Kurzinformation zum Projekt

    IFT Institut für Therapieforschung, 13.07.2020

  • Verbotene Kräuter?

    Jacobus Tabernaemontanus: „Neuw vollkommentlich Kreuterbuch“, Erstausgabe 1588. Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek der Universität Tübingen.

    Soll Cannabis zu medizinischen Zwecken legalisiert werden oder bleibt es eine illegale Droge? Dies wird seit Jahren in vielen Ländern diskutiert ‒ und ist doch schon wesentlich länger Streitpunkt als gedacht: Bereits im Mexiko des 18. Jahrhunderts warb der Priester und Wissenschaftler José Antonio Alzate y Ramírez für die heilende Wirkung der umstrittenen Pflanze – und legte sich dabei mit der spanischen Kolonialmacht und der Inquisition an. Die Historikerin Dr. Laura Dierksmeier vom Sonderforschungsbereich RessourcenKulturen an der Universität Tübingen untersucht die damalige öffentliche Auseinandersetzung in Mexiko. Ihre Studie „Forbidden herbs: Alzate’s defense of ‚pipiltzintzintlis‘“ wurde am 07. Juli im „Journal Colonial Latin American Review“ veröffentlicht.

    In einem Zeitungsartikel von 1772 verteidigte Alzate Cannabis, das er unter dem Namen „Pipiltzintzintlis“ aus eigenen Anbau kannte: Er schrieb ihm einen wertvollen medizinischen Nutzen für die Behandlung von Husten, Gelbsucht, Tinnitus, Tumoren, Depressionen und vielem mehr zu. Zudem hielt er die Hanfpflanze für einen hervorragenden Rohstoff zur Herstellung von Seilen für Segelschiffe. Die Spanische Inquisition betrachtete das Halluzinogen hingegen als ein Mittel, um mit dem Teufel in Verbindung zu treten und hatte es daher verboten ‒ genauso wie viele andere psychoaktive Pflanzen oder Verhaltensweisen, die christlichen Grundsätzen angeblich widersprachen.

    José Antonio Alzate y Ramírez (1737–1799) hatte eine Mission: er wollte der mexikanischen Öffentlichkeit wissenschaftliche und vor allem naturkundliche Erkenntnisse näher bringen. Im Laufe seines Lebens war er Herausgeber vier verschiedener Zeitungen, Mitglied des königlichen botanischen Gartens in Madrid und korrespondierendes Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften.

    Alzates Belege zum Nutzen von medizinischem Cannabiskonsum reichen von eigenen Erfahrungen über Berichte von Ureinwohnern und Matrosen bis hin zu medizinischen Enzyklopädien. „Das Spannende ist dabei vor allem die Bandbreite der Quellen des 18. Jahrhunderts, die den medizinischen Marihuanakonsum unterstützten“, sagt Laura Dierksmeier. Alzate nenne hier bekannte Wissenschaftler der damaligen Zeit wie den Naturforscher Jacques-Christophe Valmont de Bomare, den Mediziner Michael Etmüller, den Arzt und Mitbegründer der Wissenschaftsakademie „Royal Society of London“ Thomas Willis sowie die Ärzte Guy-Crescent Fagon und Engelbert Kämpfer.

    Die Historikerin untersuchte außerdem weitere Quellen aus dieser Zeit, die von dem mexikanischen Forscher nicht zitiert wurden, weil er keinen Zugang dazu hatte oder die Sprache nicht beherrschte. So zum Beispiel den Mediziner und Botaniker Jacobus Tabernaemontanus, der in seinem „Neuw Kreuterbuch“ von 1588 Frauen zur Benutzung von Cannabis rät, um Unterleibsschmerzen zu lindern. Oder auch den ersten bekannten englischsprachigen Fürsprecher Richard Hooke.

    „Alzates öffentliche Verteidigung des verbotenen Krauts zeigt allgemeine Streitfragen der mexikanischen Gesellschaft“, bewertet Laura Dierksmeier die Rolle des unbequemen Geistlichen. „Er war ein unermüdlicher Vermittler zwischen kirchlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft, zwischen der spanischen Inquisition und seinen eigenen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit sowie zwischen indigenem und europäischem Wissen. Alzates Methoden waren europäisch und typisch für die Aufklärung, seine Mission und sein Fokus aber waren spezifisch lateinamerikanisch: Er war stolz auf die natürliche Umgebung Mexikos und förderte die Verwendung einheimischer Kräuter, auch wenn dies bedeutete, sie vor dem Verbot der Kirche zu verteidigen.“

    Das historische Beispiel zeige, dass die Legalisierung von Marihuana schon sehr lange ein kontroverses Thema sei, wie die Wissenschaftlerin erklärt. Allerdings drohte Kritikern des Verbotes damals die Verbannung oder Todesstrafe. Forscher der Frühen Neuzeit nahmen ein großes Risiko auf sich, um Informationen zu veröffentlichen, die ihrer Meinung nach der Allgemeinheit dienten. Alzate selbst musste seine Veröffentlichungen nicht mit dem Leben bezahlen. Jedoch wurden drei seiner Zeitungen zensiert und am Ende eingestellt, um ihn in der Öffentlichkeit mundtot zu machen.

    „Die Erkenntnisse der Studie können helfen, die gegenwärtige Legalisierungsdebatte zu bereichern oder zumindest die verhärteten Fronten aufzubrechen“, sagt Dierksmeier. „Denn laut Alzate und den von ihm zitierten Wissenschaftlern überwiegt der Nutzen der Hanfpflanze als Baustoff oder Medizinpflanze die möglichen Nebenwirkungen. Oder wie José Antonio Alzate y Ramírez selbst sagte: ‚Ich glaube, ich habe die Vorteile der Nutzung von Pipiltzintzintlis demonstriert, und wie wir in der Sprache der Theologen sagen: Es ist schlecht, weil es verboten ist, nicht verboten, weil es schlecht ist.‘“

    Originalpublikation:
    Laura Dierksmeier, „Forbidden herbs: Alzate’s defense of pipiltzintzintlis .Colonial Latin American Review, 07. Juli 2020, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10609164.2020.1755941

    Pressestelle der Eberhard Karls Universität Tübingen, 07.07.2020