Kategorie: Schwerpunktthema 1/2017 Der neue KDS 3.0

  • Der Kerndatensatz 3.0

    Der Kerndatensatz 3.0

    Dr. Raphael Gaßmann

    Seit dem 1. Januar 2017 gilt bundesweit der komplett überarbeitete „Deutsche Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe (KDS)“. Der Kerndatensatz ist das Instrument zur einheitlichen Datenerhebung in Einrichtungen der ambulanten und stationären Suchthilfe. Nach zehnjähriger Laufzeit seines Vorgängers hat der DHS-Vorstand nunmehr diesen neuen Erhebungsstandard veröffentlicht. Da ihm auch die Bundesländer zustimmten, ist er nunmehr ‚amtlich‘.

    Während der vergangenen drei Jahre wurde der bisherige Kerndatensatz von Vertreter/innen aus Verbänden, Praxis und Wissenschaft in jedem Detail überprüft. Zu diesem Prozess haben auch viele Nutzer/innen durch eine große Zahl von Hinweisen beigetragen. Rund drei Jahre lang diskutierten die Mitglieder des Fachausschusses Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) zusammen mit externen Expert/innen weit mehr als 100 Anregungen und Überarbeitungshinweise. Das Ziel war ein neuer Kerndatensatz, der die Erfahrungen und Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre berücksichtigt und dennoch so knapp wie möglich bleibt. Dabei wurde Wert auf eine praxisgerechte Handhabung und die möglichst hohe Aussagekraft der erhaltenen Auskünfte gelegt.

    Historie

    Die erste Version des KDS entstand 1998/99 mit der Absicht, die Arbeit in Einrichtungen der Suchthilfe nach einem festgeschriebenen Kriterienkatalog zu erfassen. Auf diese Weise sollte einerseits die aktuelle Situation der Beratung, Betreuung und Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen einheitlich dargestellt werden. Andererseits sollten die erhobenen Daten eine Einschätzung des Bedarfs an Therapieangeboten und -kapazitäten ermöglichen. Und schließlich sollten Behandlungserfolge zuverlässig erfasst werden, um daraus Rückschlüsse auf Therapieziele und -möglichkeiten zu ziehen.

    Im Jahr 2006 erschien der überarbeitete, 2. Deutsche Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe mit den Modulen Klient, Einrichtung und Katamnese. Er stellte eine umfassende Aktualisierung und Präzisierung des Deutschen Kerndatensatzes von 1998 dar und galt, wie bei seiner Einführung angekündigt, für die Dauer von zehn Jahren.

    Für die neueste Version „KDS 3.0“ wurden nun sämtliche Abfragen überprüft und aktualisiert, so dass eine zeitgemäße Beschreibung des Leistungsspektrums der Suchthilfepraxis für Menschen mit Abhängigkeitsstörungen möglich ist: etwa auf Einrichtungs-, Verbands-, Länder- oder Bundesebene. Und auch die neue Version des KDS soll für zehn Jahre gelten. In diesem Jahrzehnt können zwar – wie schon bislang – Aktualisierungen der Erläuterungen im Manual erfolgen, die Item-Liste aber bleibt unverändert. Überarbeitungen des Manuals sind künftig durch die Versionsnummer noch deutlicher kenntlich: von 3.1 bis 3.x.

    Nutzen der erhobenen Daten

    Eine wichtige Aufgabe des KDS besteht auch künftig in den einrichtungs- und verbandsbezogenen Auswertungen. Auf diese Weise können die beteiligten Institutionen der Suchthilfe die Ausrichtung und Effekte ihrer therapeutischen Arbeit besser beurteilen und damit auch steuern. Zudem erhalten sie höchst relevante Daten etwa für Verhandlungen mit Kostenträgern.

    Der neue KDS 3.0 sorgt außerdem für eine bessere Vergleichbarkeit von Konsummustern, Behandlungsmöglichkeiten und -erfordernissen auf europäischer Ebene. Dazu wurden seine Abfragen mit dem europäischen Kerndatensatz abgeglichen. Die erhobenen Daten werden jährlich an die Europäische Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon gesandt und dort auch für internationale Studien genutzt.

    Auf nationaler Ebene fließen die Ergebnisse der Erhebungen in die Deutsche Suchthilfestatistik ein, deren jährlicher Bericht seit 2007 soziodemografische Daten zu Klienten, Diagnosen, Daten zu Behandlungsbeginn, -verlauf und -ende sowie Veränderungen in diesen Bereichen aufzeigt. Die Deutsche Suchthilfestatistik ist im bundesweiten wie auch im internationalen Vergleich eine der umfangreichsten und differenziertesten Statistiken im Gesundheits- und Sozialwesen.

    Der KDS 3.0 steht sämtlichen Anbietern entsprechender Dokumentationssoftware zur Verfügung. Und beinah alle haben ihn bereits in ihre Software integriert. Die DHS wünscht allen Anwender/innen einen angenehmen Umgang mit dem KDS 3.0 und aussagekräftige Erkenntnisse.

    Kontakt:

    Dr. Raphael Gaßmann
    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V.
    Westenwall 4
    02381/90 15 15
    59065 Hamm
    gassmann@dhs.de
    www.dhs.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Raphael Gaßmann ist Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) in Hamm.

  • Dokumentationsstandard für eine vernetzte Versorgungslandschaft

    Dokumentationsstandard für eine vernetzte Versorgungslandschaft

    Karl Lesehr
    Dr. Barbara Braun

    Mitarbeiter/innen der Suchthilfe kennen den Kerndatensatz (KDS) als Standard für ihre eigene einrichtungsbezogene Dokumentation, die sie oft schon seit vielen Jahren nutzen – lange vor jeder EDV. Insofern war es nicht erstaunlich, dass in vielen Vorschlägen an die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zur Aktualisierung des KDS noch differenziertere Erfassungsmöglichkeiten für die jeweils spezifischen Zielgruppen der eigenen Einrichtung gefordert wurden.

    Tatsächlich will der Kerndatensatz schon immer die Basis für die Dokumentation in den verschiedensten Einrichtungen zur Versorgung suchtkranker Menschen sein: Wesentliche Daten und Aussagen sollen damit unabhängig von Arbeits- und Interventionsschwerpunkten einzelner Einrichtungen verglichen werden können. Bei der Aktualisierung des KDS 3.0 haben sich der Fachausschuss Statistik der DHS und die externen Expert/innen darum bemüht, die Erfassungsmöglichkeiten so weiterzuentwickeln, dass sie den Veränderungen in der Versorgungslandschaft Rechnung tragen. Insbesondere die stärkere Differenzierung und Vernetzung von Behandlungs- und Betreuungsangeboten und eine stärkere Orientierung aller Versorgungsleistungen auf eine umfassende Verbesserung der gesundheitlichen Situation sowie der sozialen und beruflichen Teilhabe der betreuten/behandelten Menschen sollen auch in der Dokumentation abgebildet werden können.

    Der KDS 3.0 soll nicht nur Charakteristika von und Maßnahmen für Hilfe suchende Menschen erfassen, sondern als einheitlicher Dokumentationsstandard auch die Analyse realer Versorgungsverläufe ermöglichen. Bei einer solchen auf die Abfolge eigenständiger Maßnahmen orientierten Dokumentation wird eine eindeutige Abgrenzung der für die einzelnen Maßnahmen erfassten Daten umso notwendiger. So ist es (bei konsequenter Umsetzung der Manualregelungen) künftig möglich, beispielsweise Maßnahmen der ambulanten Suchtrehabilitation oder der Reha-Nachsorge eigenständig auszuwerten, auch wenn solche Leistungen von einer ambulanten Suchtberatungsstelle erbracht werden, die diese Leistungen nicht unter einem eigenen Einrichtungstyp dokumentiert hat.

    Komplexe Maßnahmenmatrix

    Um Versorgungsverläufe möglichst konsistent abbilden zu können, wurde die bislang stark aufgefächerte Erfassung von 16 Einrichtungstypen durch eine ‚gröbere‘ Einordnung des Einrichtungstyps ersetzt, gleichzeitig wurden die einzelnen Angebote/Maßnahmen deutlich ausdifferenziert. Diese systematische ‚Leistungsmatrix‘ wird nun an mehreren Stellen im KDS 3.0 genutzt: 1. im KDS-E (Einrichtung) bei „Art der Dienste/Angebote“ (1.7.), vereinfacht bei „Kooperation und Vernetzung mit anderen Einrichtungen/Angeboten“ (1.10) und 2. im KDS-F (der frühere KDS Klienten wurde umbenannt in KDS Fall) bei „Vorbetreuungen/-behandlungen“ (2.2.3), „Art der Betreuung/Behandlung in der eigenen Einrichtung“ (2.5.1) sowie „Weitervermittlung“ (2.6.6). Die Komplexität dieser Matrix mag manchen Nutzer zunächst erschrecken; sie ist aber notwendige Voraussetzung, um künftig individualisierte Behandlungswege und Betreuungsformen umfassend darstellen und in der Folge auch steuern zu können. Insbesondere die regional teilweise doch recht unterschiedlichen Formen der Suchtrehabilitation können jetzt differenziert (unter Substitution, als Kombibehandlung) dokumentiert werden.

    Vereinfachung des KDS-E

    Eine Neuregelung im KDS-E soll künftig auch ein realistisches Bild der immer komplexeren Versorgungslandschaft ermöglichen: Dienste und Angebote einer Einrichtung können für ein Bezugsjahr nur noch dann dokumentiert werden, wenn in den mit diesem Einrichtungsdatensatz verbundenen Falldatensätzen die entsprechende Maßnahme mindestens einmal dokumentiert wurde. Die KDS-E-Auswertung ermöglicht so erstmals einen aktuellen Überblick über das real genutzte Leistungsspektrum der dokumentierenden Suchthilfeeinrichtungen. Gleichzeitig wurde der KDS-E aber auch deutlich vereinfacht: Es wurden Abfragen herausgenommen, bei denen nach der Erfahrung der letzten Jahre und auch aus strukturellen Gründen keine wirklich aussagekräftige Datenauswertung möglich war. Analysen beispielsweise der oft mehr als problematischen Finanzierungsstruktur ambulanter Suchtberatungsstellen brauchen andere eigenständige und der Komplexität der Thematik angemessene Erfassungsverfahren.

    Wichtige Anpassungen bestehender Items im KDS-F

    Im KDS-F wurde die bisherige Kategorie „Angehörige“ erweitert auf „Personen aus dem sozialen Umfeld“, und es ist nun auch eine differenziertere Erfassung der Probleme aus der Sicht dieser Personen möglich.

    Weiterhin fand eine Anpassung der Erhebung soziodemografischer Daten im KDS-F statt: Familienstand/Partnerbeziehung wurden ersetzt durch das Item „Lebenssituation“ (2.3.1); auf das bisherige Item zum Lebensunterhalt wurde verzichtet aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen mit dem Item „Erwerbssituation“ (2.3.7). Der insbesondere aus sozialpolitischer Sicht relevanten Risikosituation von Kindern wurde durch eine erweiterte Dokumentation Rechnung getragen, ebenso wurde die Dokumentation des Migrationsstatus neu geordnet.

    Die Erfassung des Kostenträgers wurde spezifiziert. Sie bezieht sich jeweils auf die aktuell dokumentierte Betreuung/Behandlung: Bei einem Wechsel des Kosten-/Leistungsträgers ist nach den Manualregeln ein neuer Falldatensatz zu öffnen (also z. B. beim Wechsel aus einer institutionell geförderten Betreuung in eine leistungsfinanzierte Maßnahme ambulanter Suchtrehabilitation).

    Die gesundheitspolitisch bedeutsame Dokumentation des HIV- bzw. Hepatitis-Status wurde auch aufgrund der bislang eher unzureichenden Dokumentationspraxis zweigeteilt: Zum einen werden Informationen zum Teststatus, zum anderen zum Infektionsstatus erfragt. Somit können die berechtigten Schutzinteressen des einzelnen Menschen berücksichtigt werden, gleichzeitig ist aber auch eine bessere Validität der erhobenen Daten möglich.

    Wesentliche konzeptionelle Neuerungen im KDS-F

    Neben der oben beschriebenen differenzierten Erfassungssystematik von Maßnahmen (und damit auch von Vorbehandlungen und Weitervermittlungen) bestehen die wesentlichen Neuerungen im aktualisierten KDS-F 3.0 in der differenzierten Erfassung psychosozialer Problembereiche, in der neuen Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik, in den (erweiterten) Dokumentationsmöglichkeiten für pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung und schließlich in der Dokumentation von Selbsthilfeanbindung.

    Psychosoziale Problembereiche

    Bislang ging der KDS implizit davon aus, dass Betreuungen in den Einrichtungen der Suchthilfe grundsätzlich durch eine Suchtproblematik ausgelöst sein und deshalb auch vorrangig eine Verbesserung/Behandlung dieser Suchtproblematik zum Ziel haben müssten. Während dies in Institutionen der medizinischen Behandlung unstrittig ist, stellen sich die Arbeitssituation der ambulanten Suchtberatungsstellen, aber auch die Angebote der Eingliederungshilfe vielschichtiger dar. Schon bei der letzten KDS-Überarbeitung war deshalb das Fehlen einer Einschätzung der psychosozialen Belastung kritisiert worden. Mit den Items 2.1.5 bzw. 2.6.7 zu Beginn und am Ende einer Falldokumentation bietet sich jetzt die Möglichkeit, aus Sicht der betreuenden Fachkraft die Probleme zu dokumentieren, die zur Kontaktaufnahme geführt haben bzw. die für eine angestrebte Veränderung zu berücksichtigen sind. Gleichzeitig wird über diese Item auch die Möglichkeit geschaffen, Entwicklungen im Lebensalltag der betreuten Menschen und damit potentielle Wirkungen von Betreuungsleistungen sichtbar zu machen. Zudem bieten diese Items die Option, vertiefte Wahrnehmungen einer komplexen Gesamtproblematik der betroffenen Menschen während der gesamten Betreuungszeit abschließend zu dokumentieren und damit auch für weitere Betreuungen aufgreifen zu können. Zusätzlich werden diese Items im Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) abgefragt, so dass dann grundsätzlich eine Drei-Punkt-Messung – wenn auch aus unterschiedlichen Quellen – möglich ist.

    Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik

    Bislang war der suchtbezogene Problembereich auf medizinische Diagnosen nach der IDC-10 und insbesondere auf eine Hauptdiagnose bezogen. Diese medizinische Diagnosesystematik ist im Bereich von Suchtbehandlungen weiter bedeutsam und unstrittig. Gleichzeitig sind aber in den vernetzten Versorgungsstrukturen auch die strukturellen Grenzen dieses Diagnosesystems deutlich geworden. So führt das Zeitkriterium von einem Jahr (die Diagnose substanzbezogener Störungen bezieht sich auf einen Ein-Jahres-Zeitraum) häufig dazu, dass gar keine aktuelle Diagnose vergeben werden kann. Auch sind relevante Konsummengenveränderungen im Diagnosesystem nicht oder nur unzureichend abbildbar. Mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten (z. B. 2.4.1 ff.) und Diagnosen (2.4.5) sind jetzt sehr viel differenziertere und damit auch wirklichkeitsnähere Dokumentationen möglich.

    Gleichzeitig wurde die Liste der dokumentierbaren Substanzgruppen deutlich erweitert und so gestaltet, dass bei Bedarf während der Gültigkeit des KDS 3.0 auch Ergänzungen möglich sind. Dokumentiert werden können für (maximal 15) Substanzen die Lebenszeitprävalenz und die aktuelle Bedeutung dieser Substanz (gemessen in Konsumtagen). Erhoben wird auch, ob bestimmte Substanzen nur und vollumfänglich aufgrund ärztlicher Verordnung konsumiert wurden – eine Möglichkeit, der angesichts der Grauzone des Medikamentenmissbrauchs erhebliche Bedeutung zukommt. Mithilfe der dokumentierten Konsumdaten kann künftig eine Konsummengenreduzierung festgestellt werden, sowohl als unmittelbare Auswirkung einer entsprechenden Behandlungsmaßnahme als auch als Teileffekt einer eigentlich abstinenzorientierten Behandlung. Und schließlich lassen sich über eine differenzierte Konsumdokumentation auch teilhaberelevante Risiken leichter identifizieren (z. B. täglicher Alkoholkonsum bei Substituierten).

    Dokumentation von pathologischem Glücksspielen und exzessiver Mediennutzung

    Der neue KDS 3.0 bietet in weitgehender Analogie zu den substanzbezogenen Störungen auch für die Störungsformen pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung erweiterte bzw. neue Dokumentationsmöglichkeiten (2.4.8 bis 2.4.13). In Bezug auf Glücksspiele wurde die Liste an Spielformen (getrennt nach terrestrisch/stationär und online) erweitert.

    Selbsthilfeanbindung

    Und schließlich wurden in Zusammenarbeit mit den Verbänden der Sucht-Selbsthilfe zwei neue Items 2.6.3 und 2.6.4 in den KDS 3.0 eingebunden, die wirklichkeitsgerecht die Vernetzung mit den Aktivitäten der Sucht-Selbsthilfe abbilden können.

    Kontakt:

    Dr. Barbara Braun
    IFT Institut für Therapieforschung
    Parzivalstraße 25
    80804 München
    Tel. 089/36 08 04 34
    braunbarbara@ift.de
    www.ift.de

    Karl Lesehr, M.A.
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Barbara Braun, Dipl.-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin (VT), leitet am IFT Institut für Therapieforschung in München den Bereich Therapie- und Versorgungsforschung sowie den Bereich Forschung Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern.
    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Differenzierte Ergebnismessung zu Konsumverhalten und Teilhabe

    Differenzierte Ergebnismessung zu Konsumverhalten und Teilhabe

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Dr. Hans Wolfgang Linster

    Der Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) stellt eine Ergänzung zum „Deutschen Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe (KDS)“ dar. Er ist zwar als separates Modul entwickelt worden, die Ausarbeitung erfolgte jedoch mit Bezug auf die Systematik und Zielsetzung, die bereits für die Entwicklung des KDS-E (Einrichtung) und KDS-F (Fall) maßgeblich waren. Der KDS-Kat entstand im Rahmen eines Konsensprozesses zwischen den beteiligten Institutionen und den Mitgliedern des Fachausschusses Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Der Fachausschuss setzte sich dabei das Ziel, Minimalstandards für die Durchführung von Katamnesen zu erarbeiten und im vorliegenden Katamnesemodul zur Verfügung zu stellen. Die vorgesehene Katamneseerhebung verfolgt zwei Hauptziele:

    a) Sie erfasst zum einen die Ausprägung relevanter Merkmale der Klient/innen und Patient/innen im Zeitfenster der Katamnese wie z. B. die Lebens- und Wohnsituation, den Konsum von Substanzen oder auch die Inanspruchnahme einschlägiger Hilfe und ist insofern Statusdiagnostik.

    b) Sie erfasst zum anderen im Sinne einer Verlaufsdiagnostik auch Veränderungen, die im Verlauf des Zeitfensters in relevanten Lebens- und Problembereichen aufgetreten sind.

    Vorher-Nachher-Vergleiche mit dem KDS-F und dem KDS-Kat

    Bei der Auswahl der Items für den Katamnesefragebogen wurde insbesondere darauf geachtet, die Strukturen und Items aufzunehmen, die im KDS-F enthalten sind (Lebenssituation, Wohnverhältnis, Erwerbssituation, erhaltene Hilfen, Veränderungen). Damit stehen die Angaben potentiell als Daten zur Verfügung, mit deren Hilfe Vorher-Nachher-Vergleiche vorgenommen werden können, um Veränderungen und insbesondere Behandlungserfolge zu erfassen.

    Die ausgewählten Fragen haben sich in Routine- und/oder Forschungskatamnesen bewährt. Alle Formulierungen der Items wurden im Konsens mit den Experten des Fachausschusses Statistik der DHS festgelegt. Die ausgewählten Items gelten als ‚Minimalstandard’, sie sollen in jedem Fall in der vorliegenden Form in die Katamnesefragebögen der Verbände, Träger und Einrichtungen aufgenommen werden. Es steht jedem Verband, Träger oder jeder Einrichtung jedoch frei, die vorliegenden Items um weitere Items zu ergänzen, damit spezifische, den Verband, Träger oder die Einrichtung interessierende Fragestellungen untersucht werden können.

    Um bei den Befragten eine möglichst hohe Akzeptanz für eine Beantwortung zu erhalten, wurde der Fragebogen so kurz und übersichtlich wie möglich gehalten. Allerdings lässt sich die komplexe Struktur der Abstinenzanalyse nur bedingt vereinfachen. Grundlegend für die Abfrage ist die Unterscheidung von durchgehender Abstinenz, Abstinenz nach Rückfall (also in den letzten 30 Tagen wieder abstinent) und durchgehender Rückfälligkeit, die sich aus den Standards für die Berechnung von katamnestischen Erfolgsquoten ergibt. Zunächst wird die durchgehende Abstinenz erfragt, anschließend die mögliche Abstinenz nach Rückfall. Erfasst werden außerdem Abstinenzphasen, die ‚vorwärts’ ausgehend vom Behandlungsende und ‚rückwärts’ ausgehend vom Katamnesezeitpunkt abgefragt werden. Falls keine durchgehende Abstinenz vorliegt, wird erfragt, welche Substanz konsumiert wurde, allerdings mit einer gegenüber dem KDS-Fall etwas vereinfachten Substanzliste. Erfragt wird auch der Substanzkonsum in den letzten 30 Tagen vor dem Katamnesezeitpunkt bzw. die Häufigkeit des Konsums in Tagen.

    Konsumveränderung und Verbesserung wesentlicher Teilhabeaspekte

    Neu im KDS 3.0 ist die Abfrage der Konsumveränderung, die in den KDS-Fall bei Behandlungsende und in den KDS-Kat in gleicher Form integriert wurde. Es wird ganz bewusst nach einer subjektiven Einschätzung zur Veränderung gegenüber der Zeit vor der Behandlung gefragt. Bewertet wird mit einer symmetrischen 5er-Abstufung (deutlich verringert – leicht verringert – gleich geblieben – leicht gesteigert – deutlich gesteigert). Mit dieser Ergänzung eröffnen sich bei der Bewertung von Behandlungserfolgen zwei zusätzliche Optionen:

    a) In der ambulanten Suchtberatung werden viele Angebote für Betroffene gemacht, die nicht nur die Abstinenz zum Ziel haben und deren Erfolg im Hinblick auf den Substanzkonsum (neben der Verbesserung anderer wesentlicher Teilhabeaspekte) somit differenzierter erfasst werden kann.

    b) Auch in der abstinenzorientierten Behandlung kann es von Interesse sein, das Ergebnis nicht nur im Hinblick auf die ‚klassischen‘ katamnestischen Erfolgsquoten, sondern auch im Hinblick auf die Veränderung des Substanzkonsums (falls keine Abstinenz erreicht werden konnte) zu erfassen. Damit können ggf. auch Vergleiche mit Behandlungsangeboten erfolgen, die nicht auf vollständige Abstinenz abzielen.

    Berücksichtigung nicht-substanzbezogener Suchtformen

    Eine weitere Neuerung im KDS 3.0 ist die deutlich umfassendere Erhebung von Daten und Informationen zu nicht-substanzbezogenen Suchtformen. Im KDS-Kat sind daher als Standard die Items für Glücksspiel und exzessive Mediennutzung vorgesehen. Analog zum KDS-F werden bei diesen Items die Begriffe „Spiel“ und „Nutzung“ in Abgrenzung zu den Begriffen „Konsum“ und „Substanz“ verwendet, um die Fragen für die Betroffenen verständlicher zu machen. Der KDS-Kat bietet allerdings eine vereinfachte Auswahl der Spiel- bzw. Nutzungsformen an.

    Grundsätzlich sollen bei allen Behandelten in der Katamnese alle Konsumformen abgefragt werden, unabhängig von der Hauptindikation der Behandlung. Hintergrund ist der erhebliche komorbide Zusammenhang bspw. zwischen Glücksspiel und Alkoholabhängigkeit oder zwischen Drogenabhängigkeit und Mediennutzung. Dadurch wird die Abstinenzabfrage zwar aufwändiger und umfangreicher, der Fachausschuss Statistik der DHS hält diese Sichtweise auf komplexe Suchtphänomene aber für relevant und zukunftsweisend.

    Durch die genannten Differenzierungen wirkt die Item-Liste des KDS-Kat auf den ersten Blick sehr kompliziert und ggf. für Betroffene schwer verständlich. Daher wird im Manual des KDS auch ein Vorschlag zur Darstellung der Items in einem Fragebogen gemacht. Es bleibt aber festzuhalten, dass sich das Spannungsfeld zwischen korrekter Erfassung komplexer Suchtphänomene und möglichst einfacher bzw. verständlicher Abfrage bei den Betroffenen (auch mit Blick auf die dadurch beeinflussten Rückläuferquoten) nicht vollständig auflösen lässt. Der Fachausschuss Statistik empfiehlt daher, schon während der Behandlung auf die Bedeutung der Katamnese hinzuweisen und das Vorgehen bzw. die Befragung im Rahmen einer ‚Katamneseschulung’ oder Informationsveranstaltung zu erklären und zu vermitteln.

    Kontakt:

    Dr. Hans Wolfgang Linster
    Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
    Institut für Psychologie
    Engelbergerstr. 41
    79106 Freiburg im Breisgau
    hans.linster@psychologie.uni-freiburg.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Hans Wolfgang Linster war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Jetzt ist er im Ruhestand und dort weiterhin als Lehrbeauftragter tätig.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Die Bedeutung des neuen KDS für die Handlungsfelder der Suchthilfe

    Die Bedeutung des neuen KDS für die Handlungsfelder der Suchthilfe

    Ambulante Suchthilfe

    Erica Metzner, Dipl.-Sozialpädagogin (FH), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (KJP), Leiterin des Suchthilfezentrums der Stadtmission Nürnberg e. V., Nürnberg

    Seit März 2014 vertrete ich den Gesamtverband für Suchthilfe e. V. der Diakonie Deutschland (GVS) im Fachbereich Statistik der DHS. Als Suchtberaterin ist es mir ein wichtiges Anliegen, die Perspektive und die Bedürfnisse der Praxis zu vertreten. Ich finde, es ist uns gut gelungen, die Fragestellungen, die für die praktische Arbeit vor Ort wichtig sind, mitabzubilden. So erfragen wir zukünftig genauer die allgemeinen Problemlagen unserer Klientinnen und Klienten, auch die Situation von Kindern wird differenzierter erfasst. Es hat mir sehr viel Freude gemacht, an dem aus meiner Sicht sehr modernen und praxisnahen KDS 3.0 mitwirken zu können. Wir haben zusammen ein zukunftsfähiges Erhebungsinstrumentarium entwickelt. Ich finde, es ist uns gut gelungen, Praxis und Forschung miteinander zu verbinden.

    Sozialpsychiatrischer Dienst

    Jens Köhler, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes/Suchtberatung, Kreis Gütersloh, Abteilung Gesundheit, Gütersloh

    Ich bin seit kurzem bei der Entwicklergruppe und freue mich über das neue differenzierte Instrument. Besonders die klare Hierarchisierung der Möglichkeiten, Netzwerkpartner einzutragen, trägt zur besseren Verständlichkeit bei. „Teilstationäre sozialtherapeutische Einrichtung“ kam bei uns im Sozialpsychiatrischen Dienst wirklich sehr selten vor, „Stationäre psychiatrische Akutbehandlung“ hingegen oft.
    Das Gesundheitsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen will den Kreisen und kreisfreien Städten regelmäßig eine Auswertung auf Grundlage des KDS zur Verfügung stellen. In vielen Sozialpsychiatrischen Diensten wird der KDS jedoch nicht erhoben. Hierdurch wird es weiter Verzerrungen geben. Ich möchte mich bei der Entwicklung der nächsten Version daher gern für eine Verschlankung des Instruments einsetzen, um dem Ziel einer Vollerhebung näherzukommen.

    Suchtpsychiatrie

    Dr. Heribert Fleischmann, Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), von 1998 bis Dezember 2016 Ärztlicher Direktor des Bezirksklinikums Wöllershof, Störnstein

    Die überarbeitete Auflage des deutschen KDS der Suchthilfe ist ein starkes und aussagekräftiges Instrument zur Erhebung relevanter, sektorenübergreifender Versorgungsdaten unter public health-Gesichtspunkten. Solche Daten wären die beste Grundlage für den europäischen Datenaustausch und Vergleich sowie für nationale gesundheitspolitische Entscheidungen zur Verbesserung der Qualität der Suchthilfe – wenn – ja wenn denn alle relevanten Versorger bei der Erhebung mitwirken würden.
    Die bisherige Praxis zeigte, dass einer der am häufigsten in Anspruch genommene Leistungserbringer, nämlich die Suchtpsychiatrie, sich weder mit ambulanten noch stationären Daten im ausreichendem Maße beteiligt. „Woran liegt das?“, fragt man sich. Nun, Daten werden in den psychiatrischen Einrichtungen in Fülle erhoben – beschränkt auf abrechnungstechnische Belange. Es herrscht eine geradezu überbordende Dokumentationspflicht, allein mit dem Ziel, die nötigen Betriebsmittel von den Kostenträgern zu erhalten. Versorgungsrelevante Daten ‚nebenbei‘ noch zu erheben, gibt das System nicht (mehr) her. Solche Daten könnten bestenfalls als ‚Nebenprodukt‘ aus den 301er Daten, die das InEK erhält, herausdestilliert werden. Es wäre wünschenswert, wenn wenigstens Teile des Datenpools der Suchtpsychiatrie mit dem KDS verknüpft werden könnten, daran ist zu arbeiten.

    Suchtrehabilitation

    Peter Missel, Psychologischer Psychotherapeut, Leitender Psychologe, AHG Kliniken Daun – Am Rosenberg, Daun

    Aus Sicht der Suchtrehabilitation bietet der neue KDS 3.0 einige wichtige Verbesserungen, mit denen sich die stetige Veränderung der klinischen Praxis besser abbilden lässt. Dazu gehört beispielsweise die Erfassung des inzwischen sehr breiten Spektrums der flexibel kombinierbaren Behandlungsmodule sowie der unterschiedlichen Spiel- und Nutzungsformen im Bereich der Verhaltenssüchte. Außerdem lässt die Erhebung der subjektiven Einschätzung der Patienten zur Veränderung des Konsums am Behandlungsende und zum Katamnesezeitpunkt weitere Erkenntnisse über den Erfolg der Suchtreha erwarten.

    Eingliederungshilfe

    Martina Tranel, Dipl.-Sozialarbeiterin/-pädagogin, Leiterin der Einrichtung Theresienhaus Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

    Foto©Tranel

    Es gibt gute Gründe für die Eingliederungshilfe und deren Verbände, jetzt in die Datenerhebung einzusteigen bzw. dazu aufzufordern. Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz bietet der KDS 3.0 Optionen zum Wirksamkeitsnachweis bzw. zum Nachweis der gefühlten Wirklichkeit: Die Eingliederungshilfe Sucht leistet einen unterschätzten Beitrag zur Verbesserung der sozialen und beruflichen Teilhabe. Und der KDS birgt weitere wertvolle Informationen: Wie wirken sich Maßnahmen der Eingliederungshilfe auf die Wiedererlangung von Rehafähigkeit aus? Werden behinderte Suchtkranke (wieder) in die Lage versetzt, die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker erfolgreich zu absolvieren? Spannende Fragen, die sich allerdings nur aufgrund der Fleißarbeit unserer Mitarbeitenden beantworten lassen. Wünschenswert ist, dass viele Einrichtungen den Nutzen der Datenerhebung erkennen und den KDS auch anwenden, bevor die Leistungsträger uns dazu auffordern und eigene Vorgaben dazu entwickeln. Die Daten, die wir jetzt sammeln können, sollten wir zügig für eigene Auswertungen – z. B. auf verbandlicher Ebene – nutzen.

    Suchthilfeverbund

    Richard Sickinger, Referent bei Jugendberatung und Jugendhilfe e. V., Frankfurt a. M.

    Die im Kerndatensatz Einrichtung erfolgte umfassende Aufnahme der verschiedenen Leistungsangebote der Einrichtung ermöglicht eine adäquate Abbildung der Betreuungs-, Beratungs- und Behandlungsangebote des Suchthilfeverbundes in Städten und Landkreisen. Zudem eröffnet die genauere Erfassung der Maßnahmen und Interventionen im Kerndatensatz Fall nun erstmals eine differenzierte Beschreibung der Klientel in den spezifischen Angeboten der Suchthilfe, z. B. in der Substitution, in der ambulanten Rehabilitation, in niedrigschwelligen Hilfen oder im Betreuten Wohnen. Die neue Erfassung der Veränderungen des Substanzkonsums und der psychosozialen Lebenssituation am Betreuungs-/Behandlungsende erlaubt erste Rückschlüsse auf die Wirkung von Interventionen über den Substanzgebrauch hinaus.

    Sucht-Selbsthilfe

    Heinz-Josef Janßen, Bundesgeschäftsführer des Kreuzbund e. V., Bundesgeschäftsstelle Hamm

    Die Sucht-Selbsthilfe stellt ein langjährig erprobtes effektives Unterstützungs-, Ergänzungs- und Hilfesystem nicht nur für Suchtkranke, sondern auch für Angehörige dar. Die Erfolgsquoten sind beachtlich: Etwa 70 bis 80 Prozent der abhängigkeitskranken Gruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer erreichen durch regelmäßigen Gruppenbesuch eine dauerhafte stabile Abstinenz. Diese Leistungen der Sucht-Selbsthilfe werden dann optimal, wenn die Zusammenarbeit zwischen den Diensten und Einrichtungen der beruflichen Suchthilfe (ambulant und stationär) und der Selbsthilfe gut funktioniert. Daher ist es aus Sicht der Selbsthilfe ein absolut positives Signal, dass diese Zusammenarbeit im neuen KDS 3.0 sowohl im KDS-E als auch im KDS-F an vielen Stellen ‚abgefragt‘ und damit ‚verbindlich‘ wird.

    Deutsche Rentenversicherung

    Dr. Joachim Köhler, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Deutsche Rentenversicherung Bund, Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation, Berlin

    Die Deutsche Rentenversicherung Bund begrüßt die bundesweite und einheitliche Nutzung des Kerndatensatzes in allen Bereichen der Suchtkrankenhilfe und -versorgung. Die aktualisierte Version im Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) trägt aktuellen Forschungsbemühungen zur Verbesserung der Rücklaufquoten bei der Katamnesebefragung Rechnung. Daneben sind mit dem neuen KDS-Kat die Grundlagen dafür gelegt, den nachhaltigen Erfolg der Suchtbehandlung im Sinne der Ergebnisqualität noch besser zu dokumentieren. Es ist zu hoffen, dass die Vorgehensweise des Suchtversorgungssystems im Bereich der Katamnesen auch auf andere Indikationsgebiete der Rehabilitation übertragen werden kann.

    Länderebene

    Dietrich Hellge-Antoni, Leitung des Referates „Strategische Ausrichtung der Suchthilfe und Suchtprävention“, Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, Fachabteilung Drogen und Sucht, Hamburg

    Ein wichtiger Schritt ist getan. Mit dem überarbeiteten Kerndatensatz steht ein Instrument zur Erfassung der Inanspruchnahme der Suchthilfe zur Verfügung, das als beispielhaft gelten muss. Die Möglichkeit, den Datensatz um länderspezifische Fragestellungen zu ergänzen, wird durch einige Länder praktiziert. Die nächste Herausforderung besteht darin, diese Daten – mehr als bisher – nutzbar zu machen. Jede einzelne Einrichtung kann mit den Daten aus dem Kerndatensatz belegen, welchen Beitrag sie im Hilfesystem leistet. Wichtig ist nun, diese Daten mit Referenzdaten abzugleichen. Einrichtungen, Länder und Kommunen sind damit in der Lage, bewerten zu können, ob vorher formulierte Ziele erreicht wurden. Werden die Informationen so genutzt, bieten sie einen Fundus an Bewertungsmöglichkeiten und bilden ein wichtiges Instrument zur Weiterentwicklung der Suchtkrankenhilfe.

    Bundesebene

    Gaby Kirschbaum, Leiterin des Referates Sucht und Drogen, Bundesministerium für Gesundheit,  Berlin

    Mit dem Kerndatensatz steht ein flexibles System zur Verfügung, das den unterschiedlichsten Akteuren Informationen für ein steuerndes Eingreifen liefern kann. Der Kerndatensatz 3.0 wird in Zukunft noch differenziertere Erkenntnisse über das deutsche Suchthilfesystem liefern.
    Das Bundesministerium für Gesundheit fördert die Deutsche Suchthilfestatistik seit langem, vor allem, um die Berichtspflichten auf europäischer Ebene zu erfüllen. In den letzten Jahren haben wir gemeinsam mit dem IFT (Institut für Therapieforschung München) für eine bessere Zugänglichkeit der Daten und Berichte auf der Webseite gesorgt. Aber immer noch gilt leider: Der ‚Schatz‘ wird noch viel zu wenig genutzt! Schauen Sie deshalb regelmäßig nach unter www.suchthilfestatistik.de und nutzen Sie die Möglichkeiten des neuen Kerndatensatzes für Ihr Arbeitsfeld.

    Softwareanbieter

    Michael Strobl, Geschäftsführer der GSDA GmbH, München

    Nun ist er endlich da, und die Freude ist groß, zumindest die nächsten paar Jahre nicht mehr so oft sagen zu müssen: „Tut uns leid, wird erst mit dem neuen KDS in xx Jahren möglich sein“. Als Alternative gab es ja zuletzt immer nur den Vorschlag: „Sie können sich das aber auch gerne sofort als individuelle Ergänzung (auf Deutsch: gegen Aufpreis) programmieren lassen“. Jetzt, da die Software fertig ist, mag man sich gar nicht mehr an die vor und in der Entwicklungsphase herrschenden Sorgen erinnern, wie es denn – um nur ein Beispiel zu nennen – bloß gehen soll, auf einer Bildschirmmaske 50 verschiedene Suchthilfemaßnahmen mit Bezeichnung und Eingabefeld unterzubringen. (Merke: Es gibt noch genug Kunden, deren Monitore schon seit weit mehr als fünf Jahren auf dem Schreibtisch stehen.) Kaum ist das verdaut, wird verkündet: Da kommen jetzt noch weitere neun Fragen dazu, in Abhängigkeit von bestimmten Maßnahmen und sichtbar mit diesen in Verbindung stehend. Entspanntes Programmieren sieht anders aus. Doch nun ist es geschafft, und sicher wird die unumstritten erreichte fachliche Verbesserung in dem einen oder anderen Büro noch für einen neuen Flatscreen sorgen – kein zu verachtender Nebeneffekt.

    Forschung

    Dr. Jens Kalke, Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (ISD), Hamburg

    Der KDS bietet auf der Auswertungsebene die Chance, soziodemografische Daten in einen Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Hilfen zu stellen. Hieraus können wichtige empirische Hinweise für ein bedarfsgerechtes Versorgungssystem gewonnen werden. Am KDS 3.0 gefällt mir besonders die Erweiterung um psychosoziale Problembereiche, mit denen zukünftig die Situation der Klient/innen am Beginn und am Ende der Betreuung differenzierter abgebildet werden kann.

  • Den Datenschatz kompetent befragen

    Den Datenschatz kompetent befragen

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Karl Lesehr

    Wohl in keinem anderen Bereich psychosozialer oder medizinischer Hilfen – sowohl in Deutschland wie auch im internationalen Vergleich – werden routinemäßig derart viele Versorgungsdaten erfasst wie in der Deutschen Suchthilfestatistik. Viele dieser Daten bilden die Grundlage für die europäische Drogenberichterstattung, stellen wichtige Bezugswerte für Forschungsarbeiten dar oder sind Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Therapiekonzepten und Versorgungsstrukturen.

    Dennoch stellt sich nach der intensiven Überarbeitung des KDS die Frage, ob und inwieweit die damit dokumentierenden Einrichtungen diese differenzierte Fülle ihrer Daten nun auch besser für die eigenen fachlichen und versorgungspolitischen Interessen werden nutzen können. Die bekannten riesigen Tabellen der bisherigen Standardauswertungen haben mit ihrer Datenfülle vermutlich mit dazu beigetragen, dass viele Tätigkeitsberichte vor allem von ambulanten Einrichtungen sich seit Jahren unverändert auf nur wenige Daten zur Gesamtklientel und auf einzelne, meist behandlungsorientierte Maßnahmendaten beschränkten. Dabei ist sicher jedem Praktiker bewusst, wie wenig aussagekräftig solche Gesamtdaten in aller Regel für eine Einrichtung sind: Je offener der Zugang zur Einrichtung ist, je vielfältiger die Problemlagen und aktuellen Bedürfnisse der Hilfe suchenden Menschen sind und je differenzierter dann auch das Leistungsangebot der Einrichtung ist, desto inhaltsleerer sind zwangsläufig statistische Aussagen zur Gesamtklientel und zur Gesamtheit der Maßnahmen.

    Interne Qualitätsentwicklung und fachlich sinnvolles Controlling

    Mit der Aktualisierung zum KDS 3.0 wurde nun die bisherige Datenfülle ganz gezielt auf mehreren Ebenen noch ausdifferenziert und erweitert. Damit sollen den Einrichtungen bessere und auch neue Möglichkeit an die Hand gegeben werden, ihre dokumentierten Daten für Prozesse der internen Qualitätsentwicklung, aber auch für ein fachlich sinnvolles Controlling und für nutzerorientierte (politische) Steuerungen einzusetzen. Solche Dokumentationsdaten sind ja als Merkmalskombinationen ‚Indikatoren‘ für Versorgungswirklichkeiten und damit Bezugspunkte für notwendige fachliche und versorgungsorientierte Diskurse.

    Ein wesentliches Element dieser Differenzierung ist die Trennung von Einrichtungstyp und Leistungsangebot im KDS-E, die an verschiedenen Stellen im KDS-E und im KDS-F aufgegriffen wird. Damit soll der zunehmenden Komplexität des Suchthilfesystems Rechnung getragen werden: Es werden immer mehr und immer neue Hilfeangebote und Leistungsmodule entwickelt, die zu möglichst sinnvollen und individuellen ‚Behandlungsketten’ zusammengefügt werden müssen. Diese Komplexität noch zu beherrschen, ist zu einer zentralen Herausforderung für die Leistungsanbieter in der Suchthilfe geworden. In den kommenden Jahren werden die auf der Basis des KDS erfassten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik eine sehr viel differenziertere Analyse der Entwicklungen im Hilfesystem ermöglichen.

    Lebenslagen, Teilhabe und Konsumveränderung

    Die Items zu psychosozialen Problemlagen bieten insbesondere den nicht ausschließlich mit Suchtbehandlung befassten Einrichtungen die Möglichkeit, Lebenslagen und aktuelle Hilfebedarfe ihrer Klienten differenziert abzubilden. Damit können in Relation zu Dauer und Intensität eigener Maßnahmen auch mögliche Wirkungen auf die Gesundheit und die Verbesserung sozialer oder beruflicher Teilhabe dieser Klienten in den Blick genommen werden – und zwar auch unabhängig von Änderungen in der Suchtdiagnostik.

    Gleichzeitig wurde mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten und Suchtdiagnosen die Möglichkeit geschaffen, graduelle Verbesserungen im Konsumverhalten genauso zu erfassen wie Entwicklungen hin zu riskanten oder schädigenden Konsummustern. Diese Option ist keineswegs nur für die ambulante Suchthilfe mit ihren Angeboten zur Konsumreduzierung oder der Substitutionsbehandlung von Bedeutung, sondern eröffnet auch für die katamnestische Auswertung von Behandlungsleistungen eine differenziertere und alltagsrelevante Sicht.

    Die mit der Aktualisierung des KDS entwickelte systematische Abbildung der Versorgungslandschaft im Vorfeld, während und im Anschluss an die aktuelle Betreuung schafft schließlich die Möglichkeit, über den eigenen Einrichtungshorizont hinaus das Ausmaß von Vernetzungen in der Versorgungslandschaft differenziert zu betrachten und – auch unabhängig von definierten Behandlungspfaden – die Notwendigkeit und Funktionalität dieser Vernetzung zu thematisieren: Wenn die öffentliche Hand an der besseren Wirksamkeit von Sozialleistungen und anderen gesellschaftlichen Maßnahmen sowie an der Verbesserung der beruflichen Teilhabe suchtkranker Menschen interessiert ist, dann muss über das Behandlungssystem hinaus auch die Leistungsfähigkeit des gesamten Netzwerks psychosozialer Hilfen und Institutionen in den Blick genommen werden.

    Relation von Aufwand und Wirkung

    In den letzten Jahren hat es zahlreiche Ansätze zur politischen Steuerung der ambulanten Suchthilfe gegeben, die zwar in ihrer fachlichen Qualität höchst unterschiedlich waren, die aber letztlich alle aufgrund der bisherigen Datenbasis auf eine Steuerung nach „Leistungsmengen“ und damit Fallkosten hinausliefen. Mit den genannten Erweiterungen des KDS 3.0 gibt es nun in der Deutschen Suchthilfestatistik erste Ansätze auch zu fundierten Aussagen über die Relation von Aufwand und Wirkung für einzelne Klientengruppen oder einzelne Maßnahmen. Eine solche Entwicklung zu „wirkungsorientierten Steuerungskonzepten“ ist für die ambulante Suchthilfe als Leistung der Daseinsvorsorge sicher nicht unproblematisch. Umso wichtiger wird sein, dass die Fachkräfte dieser Einrichtungen eine möglichst hohe Kompetenz darin entwickeln, an die Fülle ihrer eigenen Daten fachlich sinnvolle und politisch relevante (wirkungsorientierte) Fragen zu stellen, ohne dabei die individuellen Interessen der Hilfe suchenden Menschen und die Abhängigkeit der einzelnen Einrichtung von Vernetzungsstrukturen aus dem Blick zu verlieren. Nach der erfolgreich beendeten Aktualisierung des KDS 3.0 müsste es deshalb im Interesse der Suchthilfeverbände liegen, ihre Mitglieder bei einem solchen Kompetenzerwerb bestmöglich zu unterstützen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zu den Autoren:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.