Die Entwicklung der „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ ist durch zwei wesentliche Ausgangspunkte geprägt: Zum einen hat die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eine lange Tradition. Schon in den Trinkerheilstätten des 19. Jahrhunderts spielten Arbeit und Beschäftigung eine zentrale Rolle in der Therapie und Tagesstrukturierung. Dieser Schwerpunkt ist in vielen Konzepten in der modernen Suchtrehabilitation bis heute erhalten, er wurde im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt und den aktuellen Anforderungen angepasst. Im Jahr 2000 veranstaltete der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe ein Projektforum mit dem Titel „Therapie und Arbeit“, bei dem es vor allem um die Weiterentwicklung der arbeitstherapeutischen Angebote ging. Die Ergebnisse sind in dem entsprechenden Tagungsband veröffentlicht (Heidegger et al. 2002). 2010 wurden im Rahmen des Fachtages der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen „Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation“ der aktuelle Stand und die Entwicklungsperspektiven in diesem Bereich diskutiert (DHS 2010). Und schließlich veröffentlichte der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe im Jahr 2011 unter dem Titel „Arbeitsmarktintegration – Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!“ Vorschläge für die Strukturierung der Zielgruppen und der entsprechenden Maßnahmen im Hinblick auf das vorhandene Integrationspotential (Heinsohn et al. 2011).
Zum anderen hat die Deutsche Rentenversicherung nach umfangreichen Vorarbeiten 2012 das MBOR-Konzept (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) veröffentlicht, um in den somatischen und psychosomatischen Indikationsbereichen die Fokussierung auf die Aspekte Arbeit und Beruf zu stärken, insbesondere, wenn bei den Rehabilitanden besondere berufliche Problemlagen (BBPL) vorliegen. Aufgrund des traditionell hohen fachlichen und zeitlichen Stellenwertes arbeitsbezogener Maßnahmen im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen wurde dieser Indikationsbereich von der Umsetzung des MBOR-Konzeptes ausgenommen. Zudem sind besondere erwerbsbezogene Problemlagen bei Suchtkranken eher die Regel als die Ausnahme, und es existieren bereits besondere Leistungsformen in der Suchtrehabilitation zur gezielten Förderung der beruflichen Integration (Adaption als letzte Phase der medizinischen Reha).
Gemeinsame Arbeitsgruppe BORA
Vor diesem Hintergrund wurde die gemeinsame Arbeitsgruppe BORA (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) aus Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtfachverbände eingesetzt, die Empfehlungen zur Arbeits- und Berufsorientierung ausschließlich für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickeln sollte. Der Arbeitsprozess erstreckte sich über insgesamt sechs Sitzungen und war von einem außerordentlich hohen fachlichen Niveau sowie einer zielorientierten und konstruktiven Gesprächsatmosphäre geprägt. Damit konnte auch gezeigt werden, dass wichtige konzeptionelle Weiterentwicklungen für den Indikationsbereich Sucht mit hoher Qualität und Effizienz in einer paritätisch besetzen Expertengruppe (Leistungsträger und Leistungserbringer) erarbeitet werden können und durch ein gutes Projektmanagement sowie eine transparente Vorgehensweise auch die Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit verbessert werden kann.
Die gemeinsam erarbeiteten „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ sind auf der Internetseite der Deutschen Rentenversicherung zu finden. Auf der letzten Seite sind die Koordinatoren und Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA aufgeführt. Die BORA-Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe am 15. April 2015 in einer gemeinsamen Informationsveranstaltung bei der DRV Bund in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung wurden verschiedene Aspekte der Empfehlungen und ihre Auswirkungen auf die Praxis mit Vertreterinnen und Vertretern von Suchtreha-Einrichtungen diskutiert.
Bei den BORA-Empfehlungen handelt es sich ausdrücklich um Empfehlungen zur Weiterentwicklung der bestehenden Therapiekonzepte und nicht um zwingend umzusetzende konzeptionelle Vorgaben (wie beispielsweise beim MBOR-Konzept). Sie enthalten zahlreiche Hinweise und Anregungen für die Weiterentwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen im Hinblick auf die Förderung der beruflichen Integration. Die Empfehlungen beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen von Rehabilitanden, für die jeweils sehr unterschiedliche Maßnahmen erforderlich sein können. Dabei sind die beschriebenen Zielgruppen weniger als Fallgruppen zu verstehen, denen die Rehabilitanden im Rahmen der Eingangsdiagnostik als Grundlage für die weitere Therapieplanung und Therapiesteuerung zugeordnet werden sollen. Mit der Unterscheidung der Zielgruppen sollen vielmehr die möglichen therapeutischen Leistungen während der Entwöhnungsmaßnahme strukturiert und übersichtlich dargestellt werden. Die individuelle Indikationsstellung und die Identifikation des spezifischen Unterstützungsbedarfs der einzelnen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sind weiterhin maßgeblich für den Verlauf der Reha.
Aktuelle Titelbeiträge auf KONTUREN online
In dem Beitrag von Jörg Heinsohn innerhalb dieses Titelthemas von KONTUREN online werden in Ergänzung zu den BORA-Empfehlungen und mit Bezug zu den fünf Zielgruppen weiterführende Maßnahmen nach der medizinischen Rehabilitation vorgestellt. Gerade in diesem Bereich treten häufig ‚Schnittstellenprobleme‘ mit anderen Sozialleistungsbereichen auf, daher enthalten die BORA-Empfehlungen auch einige Hinweise zur Gestaltung von Kooperationen und Netzwerken.
Für den Bereich der Drogenrehabilitation stellt sich die Frage, ob die fünf beschriebenen Zielgruppen die Rehabilitandenstruktur angemessen abbilden und die bisherigen Empfehlungen für die Gestaltung der therapeutischen Angebote passend und ausreichend sind. Andreas Reimer stellt in seinem Titelbeitrag einige Überlegungen dazu an und geht näher auf die Zielgruppe der Rehabilitanden mit Abhängigkeit von illegalen Drogen ein, die häufig jünger und ohne wesentliche Arbeits- und Berufserfahrungen sind.
Für die spezifische Gestaltung des Reha-Verlaufs ist eine sorgfältige und aussagefähige Eingangsdiagnostik erforderlich. In den BORA-Empfehlungen werden einige Instrumente für Screening und Assessment vorgestellt und deren Nutzen erläutert. Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung, eines der genannten Instrumente einzusetzen, auch andere oder in den Einrichtungen selbst entwickelte Verfahren können zum Einsatz kommen. Allerdings muss jede Einrichtung für diesen Bereich der Diagnostik über ein strukturiertes und dokumentiertes Vorgehen verfügen. Diesen Aspekt greift auch der Fachausschuss Arbeit und Rehabilitation des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e.V. (DVE) in seiner Stellungnahme im Titelthema auf.
Alle weiteren wesentlichen Aspekte aus den BORA-Empfehlungen wie Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung werden im Titelbeitrag von Dr. Andreas Koch und Denis Schinner zusammengefasst. Als Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA waren die beiden Autoren an dem Entwicklungsprozess beteiligt.
Klinikinterne Dienstleistungen
Eine hilfreiche Klarstellung ist in den BORA-Empfehlungen zu den so genannten klinikinternen Dienstleistungen zu finden. In den vergangenen Jahren wurde von einzelnen Leistungsträgern gefordert, die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden nicht mehr innerhalb der Einrichtung in den entsprechenden Arbeitsbereichen (beispielsweise Küche, Hauswirtschaft, Garten) einzusetzen, da befürchtet wurde, dass hier der Arbeitsbedarf der Einrichtung und nicht die individuelle Indikationsstellung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im Vordergrund steht. Das hat dazu geführt, dass Beobachtungs- und Erprobungsfelder für einfache Tätigkeiten und Trainingsfelder für die bei vielen Suchtkranken vernachlässigte Selbstversorgung in vielen Einrichtungen weggefallen sind. Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden, wenn eine entsprechende individuelle Indikationsstellung und Zielsetzung vorliegt und eine professionelle therapeutische Begleitung erfolgt.
Erforderliche Rahmenbedingungen
Die BORA-Empfehlungen sollen vor allem Anregungen für die konzeptionelle Weiterentwicklung der Einrichtungen geben, beispielsweise wären die eingesetzten diagnostischen Instrumente oder das therapeutische Leistungsspektrum im Hinblick auf den vorhandenen Zielgruppenmix zu überprüfen. Bei diesen Überlegungen sollte jede Einrichtung den federführenden Leistungsträger aktiv mit einbeziehen. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich zu unterstützen und den möglichen Mehraufwand in den Vergütungssätzen abzubilden. Für die Umsetzung von BORA in der Praxis müssen durch die Leistungsträger und Leistungserbringer gemeinsam die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Literatur:
Heidegger et al. (2002): Therapie und Arbeit. Suchtspezifische Ansätze, buss-Diskussionsforum Band 1, Gesthacht 2001
DHS (2010): Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation – Stand und Entwicklungsperspektiven, Dokumentation DHS Fachtag, Hamm/Westfalen 2010
Heinsohn et al. (2011): Arbeitsmarktintegration. Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!, in: KONTUREN. Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen, 5-2011, Jg. 32
In diesem Beitrag werden alle wesentlichen Aspekte der BORA-Empfehlungen zusammengefasst. Dazu gehören Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung. Die Autoren Dr. Andreas Koch und Denis Schinner waren selbst Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA und haben die Empfehlungen mitentwickelt.
Zielgruppen
Um die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der Suchtrehabilitation“ praxisnah strukturieren zu können, wurde eine Unterscheidung von Zielgruppen vorgenommen, an der sich die weiteren Ausführungen zur Diagnostik und insbesondere zur Therapie orientieren. Grundsätzlich werden dabei Rehabilitanden mit Arbeit von arbeitslosen Rehabilitanden unterschieden. Bei den Erstgenannten geht es im Rahmen der Behandlung um den Erhalt des Arbeitsplatzes und die konkrete berufliche Wiedereingliederung. Bei der zweitgenannten Gruppe stehen eher die Entwicklung einer allgemeinen erwerbsbezogenen Perspektive sowie das Training der entsprechenden Kompetenzen im Vordergrund. Ein weiteres Kriterium zu Differenzierung der Zielgruppen ist das Vorhandensein von besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen, die durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren gekennzeichnet sind:
lange oder häufige Fehlzeiten
eine negative subjektive Prognose hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft
drohender Arbeitsplatzverlust
Arbeitslosigkeit
eine sozialmedizinische Notwendigkeit für berufliche Veränderungen
Auf dieser Grundlage wurden fünf Zielgruppen definiert:
BORA-Zielgruppe 1 = Rehabilitanden mit Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
BORA-Zielgruppe 2 = Rehabilitanden mit Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
BORA-Zielgruppe 3 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III (ALG I). Dieser Zielgruppe werden auch Erwerbstätige zugeordnet, die während einer Krankschreibung arbeitslos geworden sind, und Erwerbstätige, die langzeitarbeitsunfähig sind und nach 18 Monaten von der Krankenkasse ausgesteuert werden (Arbeitsplatz noch vorhanden, Bezug von ALG I oder II).
BORA-Zielgruppe 4 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II (ALG II)
BORA-Zielgruppe 5 = Nicht-Erwerbstätige
Diagnostik
Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges. Die BORA-Empfehlungen bieten den Praktikern in den Rehabilitationseinrichtungen einen umfangreichen Baukasten für Screening-, Diagnostik- und Assessmentverfahren sowie die Therapie- und Teilhabeplanung bezogen auf die oben genannten BORA-Zielgruppen.
Vorliegende oder neu erhobene Erkenntnisse können und müssen mittels einer ergänzenden Diagnostik untermauert werden. Der diagnostische Fokus richtet sich u. a. auf die Aspekte Gedächtnisleistung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planungs- und Problemlösefunktionen, Impulskontrolle, Persönlichkeitsfaktoren sowie komorbide Störungen.
In den Empfehlungen wird angeregt, dass das zu Beginn der Rehabilitation erfolgende Screening und die daraus resultierende Zuordnung zu den BORA-Zielgruppen durch die Leistungserbringer erfolgen. Dies soll einer einseitigen Zuweisungspraxis durch die Leistungsträger entgegenwirken. Dabei steht außer Frage, dass es bereits heute Einrichtungen mit einer vorherrschenden Gruppe von Rehabilitanden (spezifischer Zielgruppenmix) und damit einhergehenden besonderen Anforderungen und Leistungsangeboten gibt.
Werden durch das Screening Risiken hinsichtlich der Entwicklung von arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen entdeckt, sollen diese durch eine anschließende ausführlichere Diagnostik spezifiziert werden. Ausführliche Informationen zu den meisten Diagnostikinstrumenten sind auf der Internetseite www.medizinisch-berufliche-orientierung.de zu finden. An Screening-Instrumenten können die folgenden zum Einsatz kommen: Das Würzburger Screening ist ein Fragebogen für den Einsatz in Rehabilitationseinrichtungen mit neun Fragen zu den Themenbereichen „Subjektive Erwerbsprognose“, „Berufliche Belastung“ und „Interesse an berufsbezogenen Therapieangeboten“. SIBAR (Screening-Instrument für Beruf und Arbeit) ist ein kurzer Fragebogen mit elf Items. SIMBO-C (Screening-Instrument zur Erkennung des Bedarfs an Medizinisch-beruflich orientierter Rehabilitation) berücksichtigt sieben Indikatoren beeinträchtigter beruflicher Teilhabe
Es können weitere Instrumente und Verfahren zur Analyse der Ausgangsbedingungen in Frage kommen und genutzt werden. Hierzu gehören Assessmentverfahren wie die FCE-Systeme (functional capacity evaluation). Diese messen die individuelle Fähigkeit (capacity) eines Rehabilitanden, Anforderungen einer bestimmten Arbeitstätigkeit zu erfüllen, und beinhalten standardisierte körperlich orientierte Testaufgaben. Zu den FCE-Systemen gehört z. B. EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit). WorkPark-Therapiegeräte können ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden.
Weiterführend können neben MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) auch IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und/oder Ida (Instrumentarium zur Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten) zum Einsatz kommen.
Nicht alle diese Verfahren sollen in allen Rehabilitationseinrichtungen eingesetzt werden, es können auch andere Instrumente genutzt werden. Bei konzeptionellen Veränderungen sollen sich die Einrichtungen jedoch der in den BORA-Empfehlungen vorgestellten Instrumente bedienen.
Therapieplanung
Wenn die Ergebnisse der Analyse der beruflichen Ausgangsbedingungen und der Eingangsdiagnostik vorliegen, erfolgt die an dem individuellen Integrationspotential und Rehabilitationsbedarf ausgerichtete Entwicklung von Therapiezielen (unter Berücksichtigung der ICF). Die Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Rehabilitanden und interdisziplinär in Abstimmung mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im therapeutischen Team festgelegt werden. Bei Bedarf werden sie im Laufe der Behandlung angepasst. Primäres Ziel einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Ergänzt wird dies um die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Seiten der Rehabilitandin/des Rehabilitanden.
In der klinikinternen Prozesssteuerung der beruflichen Orientierung sind alle therapeutischen Leistungen als Rehabilitationsmodule untereinander zu vernetzen. So ist bei der Psychotherapie die berufliche Teilhabeplanung stets als fester Bestandteil zu integrieren. Zudem werden in diesem Kontext entsprechende Erfahrungen aus anderen Therapiebereichen (z. B. Arbeits-, Ergo- und Sporttherapie) reflektiert und gegebenenfalls vertieft. Alle im Rahmen der Rehabilitation angebotenen Therapiebausteine müssen einen Beitrag zur Teilhabe und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leisten. Weiterführend ist die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker nicht mehr nur Psychotherapeut/-in, sondern auch Koordinator/-in der Gesamtrehabilitation und der beruflichen Teilhabeplanung.
Mit der Arbeits- und Ergotherapie, der klinischen Sozialarbeit und weiteren Interventionen zur beruflichen Wiedereingliederung besteht in den Einrichtungen ein oft seit Jahrzehnten etabliertes Therapieangebot, das eine Verknüpfung zum Arbeitsleben herstellt. In den Einrichtungen werden medizinisch-arbeitsorientierte Leistungen unter Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Einschränkungen gezielt eingesetzt. Hierbei kann es auch um das Training von Grundarbeitsfähigkeiten in individuell bestimmten teilhabebezogenen Handlungsfeldern gehen. Die teilhabeorientierten Handlungsfelder werden in drei Bereiche unterteilt:
Grundarbeitsfähigkeiten: Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Flexibilität, Arbeitstempo, Konzentration und Merkfähigkeit
soziale Fähigkeiten: Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit, Umgang mit Autoritäten, Umgang in der Gruppe
Selbstbild: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Selbsteinschätzung, Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit
Grundsätzlich dürfen die erwerbsbezogenen Behandlungsanteile in allen Phasen der medizinischen Rehabilitation nicht mehr nachrangig sein, sondern sind – wie die medizinische und psychotherapeutische Behandlung – von zentraler Bedeutung. Die Teilnahme an entsprechenden Angeboten muss verbindlichen Charakter haben. Die Inhalte, Auffälligkeiten, Schwierigkeiten und Ergebnisse dieses Bereichs müssen in die Gesamtrehabilitation einfließen und vom gesamten therapeutischen Team professionsübergreifend berücksichtigt werden.
Therapieleistungen
Folgende Therapieleistungen, ausgehend von der KTL 2015, sind grundsätzlich sinnvoll und sollten in den Einrichtungen angeboten werden: Problembewältigung am Arbeitsplatz, Motivierung zur Wiederaufnahme einer Arbeit, Umgang mit Ängsten, Gespräche mit Vertretern des Arbeitgebers sowie dem Reha-Fachberater, interne und externe Belastungserprobung (auch am bisherigen Arbeitsplatz), PC-Schulungskurse, Bewerbungstraining und Sozialberatung. Weiterhin gehören die Arbeitstherapie, die Ergotherapie und die Einleitung weiterführender Maßnahmen zu den im Einrichtungskonzept zu beschreibenden relevanten therapeutischen Leistungen. Die BORA-Empfehlungen enthalten außerdem eine ausführliche Darstellung, welche therapeutischen Leistungen für welche Zielgruppen besonders sinnvoll sein können.
Bei jungen Rehabilitanden erschwert häufig ein fehlender Schulabschluss die weitere berufliche Integration. Parallel zur Rehabilitation durchgeführte Beschulungsprojekte oder Maßnahmen mit dem Ziel, einen schulischen Abschluss zu erlangen, ob integriert oder in Kooperation, sind grundsätzlich sinnvoll.
Bezüglich der so genannten klinikinternen Dienstleistungen konnte mit BORA Klarheit geschaffen werden: Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden. Zu beachten ist dabei aber stets, dass dieser Einsatz sich am primären Ziel der medizinischen Rehabilitation orientieren muss. Dazu bedarf es einer gezielten Indikation, einer therapeutischen Zielsetzung und Begleitung. Zudem ist eine zeitliche Begrenzung zu beachten.
Bei der personellen und räumlich-apparativen Ausstattung der medizinischen Rehabilitationseinrichtungen gelten die Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung. Darin sind Zielgrößen für einzelne Berufsgruppen beziehungsweise Funktionsgruppen beschrieben, die konzeptionell begründet auch nach oben und unten abweichen können. Sie stellen somit kein Dogma dar, sondern lassen Raum für regionale Besonderheiten und konzeptionelle Einrichtungsschwerpunkte. In konzeptionelle Weiterentwicklungen durch die Einrichtungen und Einrichtungsträger sollen die Leistungsträger aktiv einbezogen werden. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich und auch durch Abbildung in den Pflegesätzen zu unterstützen.
Spezielle Leistungsformen
BORA muss in allen Leistungsformen Anwendung finden, nicht nur in der stationären Entwöhnung. Für die ambulante Rehabilitation gilt dies genauso wie für die adaptive Behandlung oder die Nachsorge.
Bereits das gemeinsame Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 3. Dezember 2008 bezeichnet die ambulante Rehabilitation als ein Instrument zum Erhalt bzw. zur Erreichung der Eingliederung in Arbeit und Beruf. Für die Zielgruppen BORA 1 bis 4 kommt ein unterschiedlich umfangreiches Leistungsspektrum in Betracht. Die Leistungen umfassen beispielsweise sozialrechtliche Beratung, Berufsklärung unter Einbeziehung geeigneter Screening-Instrumente, soziale Gruppenarbeit (insbesondere Umgang mit beruflichen Themen), Training sozialer Kompetenzen und Belastungserprobung.
Eine Adaptionsbehandlung als Spezifikum in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten kann die letzte Phase der stationären Rehabilitation bilden. In den Adaptionseinrichtungen wird seit jeher der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und einem zu erreichenden Erwerbsbezug eine besondere Bedeutung beigemessen. Viele Leistungen und Erfahrungen aus den adaptiven Behandlungen finden heute Einzug in die Konzepte der Entwöhnungen. Man kann also vereinfacht formulieren: Adaption ist BORA. Adaptionsbehandlungen werden v. a. von Rehabilitanden der BORA-Zielgruppe 4 (vereinzelt auch 2, 3 und 5) in Anspruch genommen. Die Leistungen umfassen u. a. die Fortsetzung der medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung, die externe Arbeits- und Belastungserprobung, die Festigung der Abstinenz sowie die persönliche Stabilisierung bei auftretenden Krisen im privaten und beruflichen Alltag. All diese Leistungen zielen insgesamt auf die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration ab. Die Adaptionseinrichtungen erbringen den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Praxis und berücksichtigen den Lebensalltag der Rehabilitanden.
Auch in den Nachsorgeangeboten müssen und werden im Zuge der Implementierung der BORA-Empfehlungen die erwerbsbezogenen Interventionen einen wachsenden Anteil an den Beratungs- und Unterstützungsprozessen ausmachen. Auch bei geringer Kontaktfrequenz zu den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden muss der (Re-)Integration in das Erwerbsleben bzw. dem Erhalt erwerbsbezogener Strukturen eine größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Kooperationen
Eine frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der medizinischen Reha ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitanden, die arbeitsbezogenen Ressourcen, die individuellen Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten. Im Verlauf der Rehabilitation können diese Kontakte dafür genutzt werden, dass die Rehabilitanden praktische Erprobungen oder berufliche Orientierungsmaßnahmen absolvieren. Möglichst frühzeitig sollte ein zeitnaher Übergang zu weiteren Leistungen sichergestellt werden – z. B. in eine Adaption, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, in eine berufliche Wiedereingliederung – oder zumindest die erforderlichen Vermittlungsbemühungen. Abhängig vom Einzelfall kommen u. a. folgende Kooperationspartner in Betracht:
Arbeitgeber, Werks- und Betriebsärzte, betriebliche Sozial- und Mitarbeiterberatung
Konkrete Kooperationsvereinbarungen sollen neben einer Zielformulierung möglichst auch feste Ansprechpartner enthalten. Rahmenbedingungen der Kooperation sollen so konkret wie möglich benannt werden, z. B. wie der Austausch zwischen den Partnern erfolgt und ob es Evaluations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt. Nur wenn Kooperationen gepflegt werden, können sie erfolgreich sein.
Zukünftig werden Steuerungsmodelle im Sinne eines Case Management gefragt sein, die Leistungen aus unterschiedlichen Segmenten koordinieren. Erste Pilotprojekte gibt es dazu. Ziel muss sein, dass alle Bemühungen – von der Erstberatung über die Vermittlung in ambulante und stationäre Hilfen und nachsorgende Angebote – vernetzt und zielführend gestaltet werden. Eine Anamnese muss nicht viermal erhoben werden, aber berufliche Erprobungen können mehrfach durchgeführt werden und so die Rehabilitanden in ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen stärken.
Dokumentation und Qualitätssicherung
Daten zum Bereich Arbeit, Beruf und Erwerbstätigkeit werden in verschiedenen Systemen dokumentiert:
In der Basisdokumentation werden zu Beginn der Behandlung verschiedene Informationen erfasst und am Ende der Behandlung erste Ergebnisindikatoren festgehalten.
Die dokumentierten Ergebnisse der Eingangs- und Abschlussdiagnostik stellen eine Grundlage für die Therapieplanung und die Veränderungsmessung dar.
In der Patientenakte werden alle wesentlichen Informationen zum Behandlungsverlauf dokumentiert.
Die einrichtungsinterne Leistungserfassung erfolgt mit der KTL, deren neue Version 2015 durchaus verbesserte Möglichkeiten zur Dokumentation der arbeits- und berufsbezogenen therapeutischen Leistungen bietet.
Im Reha-Entlassungsbericht (neuer Leitfaden der DRV vom September 2014) werden alle wesentlichen Informationen zum Verlauf und zum Ergebnis der Reha zusammengefasst. Von zentraler Bedeutung ist hier die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, die im freien Text (Blatt 2) möglichst gut begründet werden soll.
Die in der medizinischen Rehabilitation etablierten Systeme für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beinhalten verschiedene Vorgaben für die Leistungsgestaltung und die Struktur von Ergebnisindikatoren. Die externe Qualitätssicherung erfolgt im Rahmen des Reha QS-Programms der Deutschen Rentenversicherung und umfasst folgende Instrumente:
Rehabilitandenbefragung mit einzelnen Fragen zur Arbeits- und Berufsorientierung (insbesondere zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit)
Peer Review-Verfahren (Checkliste und Manual in neuer Version vom Dezember 2014) zur Überprüfung der inhaltlichen Qualität der Reha-Entlassungsberichte mit dem Fokus Reha-Prozess und Reha-Ergebnis
Therapeutische Versorgung (KTL) mit Kennzahlen zu Häufigkeit, Dauer und Differenziertheit der dokumentierten Leistungsdaten (Leistungsverteilung, Leistungsmenge, Leistungsdauer) und einer gesonderte Auswertung der therapeutischen Leistungen im Bereich Arbeits- und Berufsorientierung
Reha-Therapiestandards (RTS) mit Anforderungen in einzelnen ETMs (Evidenzbasierte Therapiemodule) mit speziellen therapeutischen Anforderungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit
Visitationen nach einer einheitlichen Checkliste, die auch die Aspekte „arbeitsbezogene Leistungen“, „Sozialmedizin“ und „Sozialdienst“ umfasst
Rehabilitandenstruktur mit soziodemografischen (z. B. Alter, Bildungsniveau, Erwerbsstatus) und krankheitsbezogenen Merkmalen (z. B. Diagnosen, Leistungsfähigkeit)
Sozialmedizinischer Verlauf zum Verbleib der Rehabilitanden im Erwerbsleben mit Bezug zur Beitragszahlung an die gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur aus Erwerbstätigkeit resultieren kann (Ab 2011 haben sich die gesetzlichen Grundlagen für Hartz-IV-Empfänger geändert, d. h., es werden für diese Personengruppe keine RV-Beiträge mehr gezahlt, was aufgrund der hohen Langzeitarbeitslosigkeit im Indikationsbereich Sucht zu einer deutlichen Verschlechterung dieser Kennzahlen führen kann.)
Zu den genannten Instrumenten und Indikatoren werden regelmäßig einrichtungsspezifische QS-Berichte erstellt, die Grundlage für einen Qualitätsvergleich der Einrichtungen und deren Qualitätsentwicklung sein sollen.
Im Bereich der internen Qualitätssicherung werden von den Reha-Einrichtungen verschiedene Instrumente zur Analyse von Indikatoren und Kennzahlen im Zeitverlauf und zum Einrichtungsvergleich eingesetzt. Dazu zählen insbesondere:
Patientenbefragungen zur Erhebung der Zufriedenheit am Behandlungsende oder am Stichtag, u. a. mit Fragen zu den Leistungen im Bereich Arbeits- und Ergotherapie
Basisdokumentation mit Erhebung des Erwerbsstatus vor und nach der Rehabilitation. Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen und in der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS).
Katamnesen nach dem Standard des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) nach einem Jahr zum Behandlungserfolg (insbesondere Abstinenz, Erwerbstätigkeit und Kontextfaktoren). Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen.
Zum internen Qualitätsmanagement besteht für alle stationären Reha-Einrichtungen eine Zertifizierungspflicht nach § 20 Abs. 2a SGB IX (BAR-Vereinbarung von 2009). Der entsprechende Anforderungskatalog umfasst auch Qualitätskriterien, die die Struktur- und Prozessqualität im Bereich arbeits- und berufsbezogene Leistungen betreffen. Für die relevanten Kernprozesse ist ein Prozessmanagement zu etablieren, die Teilnahme an einem Verfahren der externen QS ist vorgeschrieben, und es müssen Verfahren für die interne Messung und Analyse von Ergebnissen eingesetzt werden.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den bestehenden QM- und QS-Systemen bislang nur wenige oder eher globale Indikatoren zur Analyse der Arbeits- und Berufsorientierung enthalten sind. Verschiedene Weiterentwicklungen im QS-Programm der DRV wären denkbar: Im Rahmen der Rehabilitandenbefragung könnten die Leistungen in der Einrichtung, die sich auf Beruf und Arbeit beziehen, differenzierter abgefragt werden. Bei der Analyse der Rehabilitandenstruktur könnten die BORA-Zielgruppen explizit dargestellt werden. Und bei der im Jahr 2015 laufenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards könnten die ETMs, die die Arbeits- und Berufsorientierung betreffen, zusammengefasst und stärker an den BORA-Empfehlungen ausgerichtet werden.
Aktuell wird auch die Erhebung einer ‚Integrationsquote‘ diskutiert, die den Anteil der konkret in Erwerbstätigkeit gebrachten Rehabilitanden (für jede Reha-Einrichtung) messen soll. Auch wenn das auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, ist Vorsicht geboten, denn der Auftrag der Reha-Einrichtungen bezieht sich primär auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Bei der Integration in eine Erwerbstätigkeit spielen viele Einflussfaktoren und Leistungen außerhalb bzw. vor und nach der medizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Zudem kann eine einzelne Einrichtung weder für ihr regionales Umfeld und die entsprechende Arbeitsmarktsituation verantwortlich gemacht werden noch alle Schwierigkeiten ausgleichen, die aufgrund der konzeptionell bedingten Rehabilitandenstruktur (Zielgruppenmix) bestehen.
Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Denis Schinner ist Verwaltungsleiter der Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption, Ascheberg-Herbern.
Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.
Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen
In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden
sind im Durchschnitt deutlich jünger,
sind häufiger arbeitslos,
sind häufiger Schulabbrecher,
haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.
Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.
In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.
Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.
Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern
Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.
In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.
Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.
Die BORA-Empfehlungen
Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.
Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.
Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil
In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur Zielerreichung können sein:
interne und externe Arbeitserprobung (Training),
Festlegung eines Trainingsbereiches,
Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
PC-Schulung,
Bewerbungstraining,
Sozialberatung,
Vorstellung im Berufsförderungswerk.
Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.
In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.
Interne Trainingsfelder
Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.
Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).
Anpassung der Personalausstattung
Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.
Die fünf in den BORA-Empfehlungen beschriebenen Zielgruppen bieten nicht nur eine Orientierung für die Planung und Durchführung berufsbezogener Maßnahmen während der Therapie, sondern auch für die Zeit danach. Den einzelnen Zielgruppen lassen sich unterschiedliche weiterführende Maßnahmen zuordnen, die aus der Reha heraus angeregt werden können. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Maßnahmen je nach Zielgruppe in Frage kommen.
BORA-Zielgruppe 1: Rehabilitanden in Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
Sozialmedizinisch ist davon auszugehen, dass eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit besteht. Es gibt somit keine wesentlichen Einschränkungen für die letzte Tätigkeit, und Maßnahmen sind nur beschränkt oder gar nicht erforderlich. Trotzdem ist es sinnvoll, die betriebliche Wiedereingliederung im Rehaprozess vorzubereiten und einzuleiten.
Formale Möglichkeiten bestehen im Rahmen des betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements nach § 80 SGB IX und mit der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX. Inhaltlich finden Betriebsgespräche, Kontakte zu betrieblichen Sozialdiensten, Betriebsärzten, freiwilligen Suchtkrankenhelfern oder anderen relevanten Personen im betrieblichen Zusammenhang statt.
BORA-Zielgruppe 2: Rehabilitanden in Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
In dieser Gruppe bestehen erwerbsbezogene Probleme bezüglich der Wiedereingliederung am Arbeitsplatz. Lange Arbeitsunfähigkeitszeiten (AU-Zeiten), Konflikte am Arbeitsplatz oder medizinische Gründe können die Ursache sein. Ist die sozialmedizinische Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit eingeschränkt, greifen als formale Möglichkeiten der beruflichen Wiedereingliederung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (LTA) nach §§ 33-38 SGB IX. Die Leistungen können bezogen auf den Rehabilitanden selbst oder an den Arbeitgeber geleistet werden.
Weiterhin werden in dieser Zielgruppe das Wiedereingliederungsmanagement nach § 80 SGB IX und die stufenweise Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX Anwendung finden. Liegt eine Schwerbehinderung vor, ist das Integrationsamt nach § 101 f. SGB IX oder der Integrationsfachdienst nach § 109 f. SGB IX potentiell zu beteiligen.
BORA-Zielgruppe 3: Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III
Rehabilitanden dieser Gruppe weisen in der Regel eine Bezugstätigkeit von mehr als sechs Monaten innerhalb der letzten fünf Jahre auf. Die erste Frage ist, in welchem Umfang für diese Tätigkeit Leistungsfähigkeit besteht. Ist diese mit sechs Stunden oder mehr gegeben, kommen Fördermöglichkeiten nach dem SGB III in der Verantwortlichkeit der Agentur für Arbeit in Betracht: Beratung § 29 f., Vermittlung § 35 f., Maßnahmen zur beruflichen Aktivierung und Eingliederung § 45 f., berufliche Weiterbildung § 81 f. SGB III.
Liegt die Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit unter drei Stunden, sind nach §§ 33-38 SGB IX Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (LTA) möglich. Diese können inhaltlich z. B. als Integrations-, Qualifizierungs- oder Umschulungsmaßnahmen gestaltet werden. Auch in diesem Fall sind LTA arbeitgeberbezogen möglich.
Bei Vorliegen einer Schwerbehinderung ist der Integrationsfachdienst nach § 109 f. SGB IX potentiell zu beteiligen. Bei vorliegender Behinderung sind u. U. Maßnahmen im Rahmen von LTA im Eingangs-, Bildungs- oder Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zu erwägen, § 39 f. SGB IX.
BORA-Zielgruppe 4: Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II
In dieser Gruppe ist zunächst wiederum zu prüfen, ob eine Bezugstätigkeit von mehr als sechs Monaten innerhalb der letzten fünf Jahre vorliegt. Ist dies gegeben, können LTA nach §§ 33-38 SGB IX in Frage kommen, vorausgesetzt, es besteht eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit für diese zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Grundsätzlich sei erwähnt, dass LTA nach dem SGB IX auch zum Tragen kommen können, wenn nach der Rehabilitation eine dauerhafte Gefährdung der Integration in den 1. Arbeitsmarkt angenommen werden muss. Diese Auslegungsvariante wird aber nur sehr bedingt von den Leistungsträgern angewandt.
Wenn keine Bezugstätigkeit vorliegt und eine sozialmedizinische Einschränkung besteht, was bei dieser Gruppe oft der Fall sein wird, dann kommen Maßnahmen nach dem SGB II durch die Jobcenter zum Zug: Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach § 14 f. SGB II und Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach § 28 f. SGB II.
Bei vorliegender Behinderung kann der Integrationsfachdienst nach SGB IX beauftragt und Maßnahmen im Eingangs- und Bildungsbereich einer WfbM durchgeführt werden.
BORA-Zielgruppe 5: Nicht-Erwerbstätige
In dieser Gruppe bestehen unterschiedliche Förderungsmöglichkeiten. Persönliche und sachliche Voraussetzungen und daraus resultierende Zuständigkeiten müssen geprüft werden und sind ausschlaggebend. Denkbar sind Förderungen nach dem SGB IX (LTA), SGB II, SGB III und SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG).
In dieser Gruppe können grundsätzlich alle oben beschriebenen Maßnahmen zum Tragen kommen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Zum Teil sind spezifische Fördermöglichkeiten gegeben, wie z. B. die Förderung von Jugendlichen nach dem SGB III oder des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen ebenfalls nach dem SGB III.
Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation: Frank Zamath, Werner Höhl, Azize Kasberg, Detlef Mallach, Petra Köser, Nicolas Poss (v.l.n.r.)
Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation ist ein ehrenamtliches Expertengremium des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e. V. (DVE). In Zusammenarbeit mit dem DVE-Vorstand ist es seine Aufgabe, die Ergotherapie fachlich-methodisch und wissenschaftlich weiterzuentwickeln und die Qualitätssicherung im arbeitstherapeutischen und arbeitsrehabilitativen Fachbereich zu unterstützen.
MBOR und BORA
Dazu gehört u. a. auch die Beratung von Mitgliedern. In den vergangenen zwei Jahren erreichten den Verband viele Anfragen zur Umsetzung der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR), was zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auch im Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation führte. Da die Arbeitstherapie mit dem Ziel der beruflichen (Wieder-)Eingliederung im Bereich der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter eine lange Geschichte hat, ist es zu begrüßen, dass hier durch die Deutsche Rentenversicherung ein Sonderweg beschritten wurde. Die bestehenden MBOR-Angebote wurden für die Suchtreha-Kliniken nicht einfach übernommen und ‚übergestülpt‘, sondern nach genauer Analyse des Integrationspotentials in die BORA-Empfehlungen eingearbeitet. Die in BORA formulierten Grundlagen und Zielsetzungen bieten eine sehr gute Grundlage für die Ausformulierung und Begründung der arbeitsbezogenen Konzepte und Angebote der Suchthilfe.
Moderne Ergotherapie
Die Arbeitstherapie in Suchtkliniken gehört nach unserem Verständnis zum klassischen Aufgabengebiet von ErgotherapeutInnen. Die qualitative Umsetzung der Arbeitstherapie nach der BORA-Empfehlung gelingt am ehesten in der interdisziplinären Zusammenarbeit z. B. mit Fachleuten aus handwerklichen Berufen mit Zusatzqualifikation. Eine Trennung der Begrifflichkeiten in Ergo- und Arbeitstherapie, geschweige denn die Verwendung des Begriffes Beschäftigungstherapie, entspricht nicht mehr dem aktuellen Verständnis und Wissensstand unseres mittlerweile auch akademischen Berufsbildes. Diese Kritik am Sprachgebrauch von BORA muss an dieser Stelle sein. Der Einbezug des modernen wissenschaftlichen ergotherapeutischen Wissens in die Konzepte der bestehenden arbeitstherapeutischen Strukturen kann in Zukunft viel zur qualitativen Entwicklung innerhalb der Einrichtungen wie auch zur Weiterentwicklung von Therapiestandards und Empfehlungen wie BORA beitragen.
Instrumente und Assessments
Der in BORA geforderte Einsatz von Instrumenten und Assessments bietet viel Raum, Know-how einzubringen. Die beschriebene Erhebung einer Berufs- und Bildungsanamnese und deren Inhalte entsprechen der aktuellen professionellen ergotherapeutischen Vorgehensweise. Die geforderte physiologische Befunderhebung im Rahmen der FCE-Systeme (functional capacity evaluation) lässt sich gut gemeinsam mit z. B. den PhysiotherapeutInnen umsetzen. Die bedeutsamen motorischen Funktionsstörungen sollen und müssen bei der relevanten Klientengruppe erfasst und ggf. auch therapiert werden. Ihren Stellenwert im Rahmen der arbeitsbezogenen Suchtrehabilitation schätzen wir jedoch als nicht so bedeutsam ein, wie er aktuell an mancher Stelle diskutiert wird. Im Vordergrund stehen sicherlich eher mentale Funktionen (ICF) bzw. die instrumentellen wie sozioemotionalen Arbeitsfähigkeiten (Köser 2013). Wir sehen die bewährten arbeitsdiagnostischen Instrumente wie die Dokumentationssysteme MELBA, MELBA+Mai und IMBA als relevant bei der Erhebung von Arbeitsfähigkeiten und des Jobmatchings an. AVEM und DIAMO können zu Beginn eines arbeitstherapeutischen Prozesses wertvolle Hinweise für eine klientenzentrierte Interventionsplanung liefern. Wünschenswert wäre, dass in Zukunft weitere evidenzbasierte (arbeitstherapeutische) Assessments Einzug in die Arbeitstherapie der Suchtkliniken halten, auch, um auf Dauer die dringend erforderlichen Wirksamkeitsnachweise erbringen zu können (Höhl, Köser, Dochat 2015).
Die bisher in vielen Kliniken schon gelebten partizipativen Zielerreichungsprozesse wurden nun in den BORA-Empfehlungen als feste Meilensteine festgeschrieben, um die Planung und die arbeitsbezogenen Maßnahmen den Bedürfnissen der KlientInnen anpassen zu können. Die ganzheitliche, teilhabeorientierte Ausrichtung von BORA und im Speziellen die Therapie- und Teilhabeplanung anhand der Komponenten der ICF ist nach heutigem Verständnis unabdingbar. Diese ressourcenorientierte, ganzheitliche Sicht der Lebenssituation von KlientInnen ist der Ergotherapie sehr vertraut.
Schnittstellenmanagement und die Zeit nach der Reha
Zu begrüßen ist ebenso die Betonung des Schnittstellenmanagements, der Verzahnung mit anderen beteiligten Institutionen, mit weiterbegleitenden und nachsorgenden Diensten. Hier wurde aus unserer Sicht eine gelungene Grundlage geschaffen, den Rehabilitanden eine möglichst große Chance zur Teilhabe zu ermöglichen. Die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation ermöglicht aufgrund ihrer Dauer – im Gegensatz zu vielen anderen arbeitstherapeutischen Angeboten – derzeit noch ein kompetenzbezogenes Training. Aber besonders die KlientInnen, die den Bezug zur Teilhabe am Arbeitsleben aufgrund von Erkrankung und Langzeitarbeitslosigkeit verloren haben, benötigen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation eine gründliche Arbeitsdiagnostik mit einem sich anschließenden längerfristigen Interventionsplan, der auch nach der Entlassung aus dem klinischen Umfeld nahtlos weitergeführt werden kann.
Realitätsnähe durch klinikinterne Aufgabenbereiche
BORA betont die Notwendigkeit von handlungsbezogenen arbeitstherapeutischen Angeboten. Die geforderte Einschätzung und Selbstwahrnehmung von Arbeitsfähigkeiten in einem Kontext, der Arbeitshandeln einzeln und in Gruppen ermöglicht und beobachtbar macht, unterstützt realistische prognostische Aussagen. Zu dem notwendigen (geschützten) Übungsrahmen zählen auch die klinikinternen Aufgabenbereiche, die eine realitätsnahe Ressource an Arbeitsmöglichkeiten darstellen, wenn sie, wie in BORA vorgesehen, zielgerichtet und begründet genutzt werden.
Alles in allem ist BORA sehr kompatibel mit modernen arbeitsbezogenen ergotherapeutischen Ansätzen. Die konzeptionelle Umsetzung im Zusammenhang mit der Neufassung der Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) und der zu erwartenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit stellt eine Herausforderung dar, die nur in einem engagierten multiprofessionellen Team gelöst werden kann.
Köser, P. (2013). Hilfen zur Befunderhebung/Arbeitsdiagnostik. 3. Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner
Höhl W., Köser P., Dochat A. (2015). Produktivität und Teilhabe am Arbeitsleben. Arbeitstherapie, Arbeitsrehabilitation, Gesundheitsförderung. Idstein: Schulz-Kirchner