Kategorie: Schwerpunktthema 2/2016 Suchtrehabilitation

  • Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Ausgangssituation

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Kooperation, Kommunikation und Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen bilden im Prozess der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ganz wesentliche Grundlagen der Leistungserbringung und sind ein Garant für die Qualität der Behandlungsangebote für abhängigkeitskranke Menschen. Kein Indikationsbereich in der medizinischen Rehabilitation weist so viele unterschiedliche Behandlungsformen auf wie die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Das bietet die Möglichkeit, für die Klient/innen möglichst bedarfsgerechte und passgenaue Behandlungsangebote vorzuhalten. Die damit verbundene Differenzierung und Komplexität in den Behandlungsangeboten und -modulen bedarf jedoch der intensiven und aufwändigen Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen. Da nach dem personenzentrierten Ansatz prinzipiell die Rehabilitand/innen im Mittelpunkt zu sehen sind, beinhaltet die Optimierung von Kooperations- und Kommunikationsprozessen immer auch die Frage, wann und in welcher Form die Rehabilitand/innen in die Abstimmungsgespräche (besser) einzubeziehen sind.

    Die Palette an ambulanten, ganztägig ambulanten, stationären und kombinierten Leistungsformen ist in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der ambulanten Weiterbehandlung ausgebaut worden. Mit der Differenzierung im Behandlungsangebot der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind zwangsläufig auch die Anforderungen an Kooperationsleistungen und Absprachen gestiegen. Einen Meilenstein stellte die Einführung der Kombinationsbehandlung dar. Durch die damit verbundene Netzwerkorientierung wurden Aktivitäten an den Schnittstellen und damit auch der Kommunikationsprozess zwischen ambulanter und stationärer Suchthilfe befördert.

    In ihrer „Arbeitshilfe für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen“ geht die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) grundsätzlich auf die Gestaltung der Schnittstellen und Übergänge zwischen den einzelnen Behandlungsangeboten in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ein. Dabei weist sie auf die erforderlichen flexiblen Übergänge zwischen den Leistungen hin und hebt die Bedeutung eines Fallmanagements hervor, das die möglichst nahtlosen Übergänge begleitet (BAR 2006, S. 51 ff.). Längst ist es zu einem Standard im Qualitätsmanagement geworden, dass die Suchthilfeeinrichtungen die Beziehungen zu Rehabilitand/innen, Angehörigen und Bezugspersonen, zu Behandler/innen, Leistungsträgern und der Suchtselbsthilfe im Rahmen des Rehabilitationsprozesses durch Informationsvermittlung, Abstimmungen und Schnittstellenmanagement bewusst gestalten (vgl. hierzu BAR 2009, S. 14). Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies in ausreichendem Maße geschieht bzw. wie verbindlich die Zusammenarbeit in der Praxis tatsächlich gehandhabt wird.

    Die intensive und verbindlich organisierte Kooperation und damit auch die Kommunikation und das Schnittstellenmanagement zwischen der ambulanten Suchthilfe (Beratungsstelle) und der stationären Suchthilfe (Fachklinik) sind heute aus mehreren Gründen so bedeutsam:

    • Die praktische Umsetzung kombinierter Behandlungsformen wie auch der neuen ambulanten Weiterbehandlungsformen und der BORA-Empfehlungen (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) in der Behandlung Abhängigkeitskranker kann nur auf der Basis einer intensiven Kooperation der Beteiligten erfolgreich gelingen. Die Vielschichtigkeit des gesamten Behandlungsangebots wie auch die Komplexität der genannten neuen Leistungsformen selbst zwingen alle Beteiligten zu mehr Transparenz und Verbindlichkeit in der gegenseitigen Information und Kommunikation.
    • Um den Zugang in die medizinische Rehabilitation nahtloser und ggf. auch frühzeitiger zu gestalten, ist eine gute Kooperation entscheidend. Sie kann auch dazu beitragen, die Nichtantrittsquote zu senken und die Qualität der Vermittlung zu verbessern, z. B. durch Erreichen einer stärkeren Compliance und Behandlungsmotivation. Darüber hinaus nutzen den Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsangebote nur dann bzw. kann das Ziel einer optimierten Versorgung nur dann erreicht werden, wenn die Leistungsformen sinnvoll kombiniert und auch individuell eingesetzt werden. Auch dies setzt eine gute Kommunikation und eine gelebte Kooperation zwischen den Beteiligten voraus.
    • Nicht zuletzt sind eine gute Kooperation, eine intensive Kommunikation und ein gelingendes Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auch eine Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe. Die Anträge für Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sind seit einigen Jahren rückläufig. Sicherlich geht diese Entwicklung auf unterschiedliche Ursachen zurück. Belastbare Begründungen liegen derzeit nur bedingt vor. Fakt ist aber, dass die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trotz ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit und auch entgegen der prognostizierten demografischen Entwicklung rückläufig ist. Fakt ist auch, dass es für suchtkranke Menschen durchaus Alternativen zur (scheinbar hochschwelligen) Reha-Behandlung gibt, wie medikamenten- und substitutionsgestützte Behandlungsformen, Behandlungsangebote im Bereich der Sozialpsychiatrie, Betreuungsangebote in der Eingliederungshilfe und auch Therapieangebote über niedergelassene Therapeut/innen. Möglich sind auch Spontanremissionen. Eine standardisierte und verbindliche Kooperation sowie eine transparente Kommunikation zwischen den an einer Rehabilitationsmaßnahme beteiligten Einrichtungen wirken vertrauensbildend auf die Klient/innen und auf externe Kooperationspartner. Das kann die Bereitschaft der betroffenen Abhängigkeitskranken erhöhen, eine Therapiemaßnahme zu beantragen und sie auch tatsächlich anzutreten.

    Neue Behandlungsformen und BORA

    2015 wurden für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker die so genannten neuen Behandlungsformen „Wechsel in eine ambulante Rehabilitationsform“ (ohne Verkürzung der stationären Phase) und „Wechsel in die ambulante Entlassform“ (Verkürzung der stationären Phase) von den Leistungsträgern verabschiedet. Diese können seither als neue Leistungsformen beantragt werden. Ebenfalls 2015 ist das von der DRV und GKV verabschiedete Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung in Kraft getreten, das nach einer stationären oder ganztägig ambulanten Behandlung die Fortsetzung der Behandlung im ambulanten Setting vorsieht. 2014 wurden die BORA-Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker von einer gemeinsamen Expertengruppe aus Vertreter/innen der Leistungsträger und der Verbände entwickelt.

    Neu an den ambulanten Weiterbehandlungsformen ist insbesondere, dass sie aus dem stationären Setting, also aus der bereits laufenden Rehabilitationsmaßnahme heraus beantragt werden müssen. Speziell sind auch die formalen Rahmenbedingungen und Indikationskriterien, die bei der Beantragung berücksichtigt werden müssen. Vereinfacht ausgedrückt gleichen sie einem Produkt‚ ‚das noch beim Kunden reifen muss‘. Damit ist gemeint, dass das Verständnis dieser neuen Leistungsformen und Instrumente wie auch das ihrer Stellung innerhalb der gesamten Angebotslandschaft auf der Ebene der Leistungserbringer wachsen und entwickelt werden muss. Damit verbunden ist auch die passende Beratung und Vermittlung unserer Klientel im Sinne einer Kundenorientierung und als Serviceleistung.

    Das wird auch in der Zielsetzung deutlich, die die DRV mit der Weiterentwicklung der Leistungsformen verbindet: Durch die Erweiterung der Angebotslandschaft soll die Behandlung flexibler und individueller sowie bedarfsgerechter ausgestattet sein. Die Differenzierung in den Behandlungsformen soll zur weiteren Abgrenzung und Profilierung der einzelnen Angebote beitragen. Letztlich strebt die DRV damit auch ein einheitliches Vorgehen aller Rentenversicherungsträger in ihren Behandlungsangeboten an, um die Übersichtlichkeit im Leistungsangebot für die Betroffenen zu gewährleisten.

    Für die Anwendung in der Praxis sind die neuen Behandlungsformen und BORA jedoch keine Selbstläufer. Um sie erfolgreich umzusetzen – d. h., um die Instrumente für die Klienten/innen bedarfsorientiert anzuwenden, die Wiedereingliederung in Arbeit zu verbessern und von den Vorteilen für ambulante und stationäre Einrichtungen zu profitieren –, braucht es eine Verbesserung der Kooperation zwischen den beteiligten ambulanten und stationären Einrichtungen. Dabei wird es weniger wichtig sein, neue Formen zu erfinden, als bewährte Formen der Kooperation zu modifizieren und verbindlich zu gestalten.

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Was bedeutet nun ‚gute‘ Kooperation und Kommunikation oder funktionierendes Schnittstellenmanagement im Gesamtrehabilitationsprozess? Um sich dem anzunähern, soll kurz skizziert werden, was mit Schnittstelle bzw. Schnittstellenmanagement gemeint ist (wobei hier immer auch das Entlassmanagement mitzudenken ist als eine spezielle Form des Schnittstellenmanagements).

    Der Begriff „Schnittstelle“ oder „Interface“ entstammt ursprünglich der Naturwissenschaft und bezeichnet vereinfacht einen „Berührungspunkt zwischen zwei verschiedenen Sachverhalten oder Objekten“ (Gabler Wirtschaftslexikon online). Für unsere Zusammenhänge treffender ist eine Definition aus dem Bereich des Gesundheitswesens, speziell der Integrierten Versorgung. Nach Greiling und Dudek (2009, S. 68) meint eine Schnittstelle „eine Übergangs- bzw. Verbindungsstelle zwischen im Prozess verbundenen organisatorischen Einheiten, Abteilungen bzw. Mitarbeitern, die unterschiedlichen Aufgaben-, Kompetenz- oder Verantwortungsbereichen unterliegen und durch die Wertschöpfungskette verbunden sind. Die Schnittstelle überträgt Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen.“ Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang der Begriff der Wertschöpfungskette, der deutlich macht, dass ‚das Ganze‘ über die Teilleistung einzelner Bereiche hinausgeht und erst durch das sinnvolle Zusammenwirken der Beteiligten entsteht. Im Gesamtrehabilitationsprozess besteht die Wertschöpfungskette daraus, die erforderlichen Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und zu teilen, damit für die Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsformen möglich und die angestrebten Behandlungsziele, bis hin zur Förderung der Integration in Arbeit, erreicht werden.

    Als wesentliche Grundlage einer gelungenen Kooperation und Kommunikation, im Sinne der eben beschriebenen Wertschöpfungskette, nannte Dr. Elke Sylvester, medizinische Leiterin der Fachklinik Nettetal, bei einer Veranstaltung der Caritas Suchthilfe (CaSu) zum Thema „Neue Behandlungsformen“ im April 2016 die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“. Dazu gehört, dass sich die Mitarbeiter/innen der Fachklinik und der Beratungsstelle gegenseitig als fachlich kompetent wahrnehmen und akzeptieren. Dies setzt voraus, dass man sich persönlich kennt und über die spezifische Arbeitssituation des anderen Bescheid weiß. Häufige und wiederkehrende Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Fachkliniken und Beratungsstellen tauchen nach Dr. Sylvester dann auf, „wenn sich die beteiligten Institutionen nicht gut genug kennen und somit keine Idee von der jeweils anderen Arbeitsweise haben“. Vielleicht scheint es vermessen anzunehmen, man könne mit allen Kooperationspartnern eine derart personalisierte Beziehung pflegen. Dennoch stellt dies für eine regelmäßige und dauerhafte Zusammenarbeit eine Grundvoraussetzung dar. Sehr hilfreich im Bereich regelmäßiger Kooperationen wie auch im Rahmen von Verbünden ist es z. B., gegenseitig Hospitationen durchzuführen. Dies erweitert den Blickwinkel auf die Arbeitsweise der beteiligten Partner und hilft, Vorurteile und Barrieren abzubauen.

    In der Anwendung der neuen Leistungsformen bedeutet „Wissen“ aber nicht nur Kenntnisse der beteiligten Partner übereinander, sondern insbesondere auch Wissen darüber, dass es diese neuen Instrumente gibt und wie sie angewendet werden können. Eine Übersicht haben die Suchtverbände zusammengestellt.

    Vorschläge aus der Praxis für eine bessere Zusammenarbeit

    Gerade die Fachkliniken werden in der Umsetzung der ambulanten Weiterbehandlungsformen vor neue Herausforderungen gestellt, da die Fortsetzung der  ambulanten Behandlung aus dem stationären Setting heraus beantragt werden muss und sich die Frage stellt, warum die Behandlung nicht im stationären Setting verbleiben kann. Insofern kann der Schritt, eine ambulante Weiterbehandlung zu beantragen, von Mitarbeiter/innen stationärer Einrichtungen auch als eine Verletzung des fachlichen Selbstverständnisses empfunden werden. Es können auch Befürchtungen bestehen, dass ein Antrag auf ambulante Weiterbehandlung als Eingeständnis der Begrenzung eigener therapeutischer Möglichkeiten verstanden wird oder gar zu einer schlechteren Position der Klinik im Ranking der Häuser führen kann. Abhilfe schaffen hier wieder eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung und das Wissen darum, dass die kooperierende Einrichtung über die passende fachliche Kompetenz verfügt, um die Behandlung zum Wohle der betroffenen Klientin bzw. des betroffenen Klienten weiterzuführen.

    Zusammenfassend aus unterschiedlichen Fachveranstaltungen der Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), u. a. dem oben erwähnten Fachtag zum Thema „Neue Behandlungsformen“, können einige ergänzende Vorschläge zur Verbesserung und Intensivierung der Kooperation benannt werden.

    • Die gegenseitige Informationsvermittlung steht an erster Stelle. Diese beginnt bei einem aussagekräftigen Internetauftritt der stationären Einrichtung, der unterschiedliche Informationen für die Klientel, Angehörige wie auch Berater/innen, möglichst klar strukturiert, bereithält. Hierbei können auch Chat-Foren für Interessierte sehr hilfreich sein. Ergänzend zu den bereits genannten gegenseitigen Hospitationen zum Kennenlernen der jeweils anderen Aufgabengebiete können auch regelmäßige Informationsgruppen bis hin zu gemeinsamen regionalen Fachtagen sinnvoll sein. Solche Treffen ermöglichen es, Praxiserfahrungen auszutauschen, sie unterstützen den gemeinsamen Wissenstransfer und können dazu genutzt werden, auf Neuerungen im Behandlungsangebot einer Einrichtung hinzuweisen. Gemeinsame Teamsitzungen der beteiligten Mitarbeiter/innen in einem Behandlungsverbund ergänzen bzw. vertiefen den Austausch und gegenseitigen Wissensstand.
    • Darüber hinaus bieten manche stationäre Einrichtungen regelmäßig offene Informationsveranstaltungen oder Fachtagungen an. Dabei können sich Betroffene, Interessierte und Angehörige über die therapeutischen Leistungen und ihre Voraussetzungen informieren. Wichtig ist, dass diese Termine auch unter den ambulanten Kooperationspartnern bekannt sind und sie ihrerseits hierauf verweisen können.
    • Gerade im Bereich der kombinierten Behandlungsformen empfiehlt sich die Optimierung der Abläufe im Rehabilitationsprozess. Neben den im Rahmenkonzept Kombinationsbehandlung benannten Kooperations- und Koordinationsformen, wie z. B. Übergabekonferenzen, Berichterstattung, Fallbesprechungen, Qualitätszirkel etc., bieten sich weitergehende Maßnahmen wie der Einsatz eines Fallmanagers bzw. Therapielotsen oder der Einsatz von Checklisten zum Ablaufcontrolling an. Letztere sollten von den ambulanten und stationären Kooperationspartnern gemeinsam entwickelt und abgestimmt werden. Aus ihnen sollte ersichtlich werden, an welchen Schnittpunkten welche Informationen von wem an wen erforderlich werden.
    • Im Rehabilitationsprozess werden regelmäßige Abstimmungsgespräche zwischen den Rehabilitand/innen und den Bezugstherapeut/innen ambulant und stationär erforderlich. Erfahrungen aus der Praxis machen zusätzlich deutlich, dass die Übergangsgespräche im Kontext ambulant und stationär mit klaren Aufträgen und Maßnahmen versehen sein müssen.

    Kombinierte Behandlungsformen und ambulante Weiterbehandlungsformen machen deutlich, dass die Belebung der Schnittstellen zwischen den stationären und ambulanten Akteuren im Gesamtrehabilitationsprozess weit über die Optimierung von Terminen und Abläufen hinausgeht. Es werden inhaltlich-therapeutische Abstimmungen erforderlich, die das bereits erwähnte gegenseitige fachliche Vertrauen voraussetzen und den Charakter von fachlichen Konsultationen haben.

    Kooperationen für die Umsetzung von BORA

    Die erwerbsbezogene Orientierung ist im Rahmen der stationären Behandlung bereits länger bekannt und therapeutischer Alltag. Die Umsetzung von BORA stellt für ambulante Einrichtungen deshalb die größere Herausforderung dar. Erst wenige Beratungsstellen haben ein anerkanntes Konzept für arbeitsbezogene Interventionen in der ambulanten Rehabilitation und Nachsorge.

    Für die erfolgreiche Umsetzung von BORA hat die Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen eine hohe Relevanz. Der Kooperation und Vernetzung ist im BORA-Konzept ein eigenes Kapitel gewidmet. Neben Kooperationen mit einer Vielzahl von externen Akteuren, auf die im Bemühen um die berufliche (Re-)Integration abhängigkeitskranker Menschen eingegangen wird, wird dort auch auf die möglichst frühzeitige Kooperation zwischen Fachkliniken und Suchtberatungsstellen sowie zwischen Kliniken und der Suchtselbsthilfe hingewiesen (BORA 2014, S. 22 ff.).

    Im Kontext von BORA können sich unterschiedliche erwerbsbezogene Bereiche für die Kooperation ambulanter und stationärer Einrichtungen anbieten wie z. B. die berufsbezogene Diagnostik, die Berufs- und Sozialberatung oder das Arbeitsplatztraining. Für ambulante Einrichtungen stellt sich in der Umsetzung von BORA ohnehin die Frage, welche erwerbsbezogenen Instrumente und Angebote sie selbst vorhalten können und müssen und an welcher Stelle sie mit wem zusammenarbeiten könnten bzw. sollten. Für den Einsatz erwerbsbezogener Instrumente bietet es sich an, mit entsprechenden Akteuren im beruflichen Feld vor Ort zu kooperieren, z. B. Jobcenter, Arbeitgeber, Reha-Fachberater etc. Es empfiehlt sich aber auch, zu überprüfen, inwieweit die ambulanten Einrichtungen hierbei mit den Suchtfachkliniken in ihrer Region, ihres Verbundsystems oder mit kooperierenden Fachkliniken zusammenarbeiten könnten.

    Die Umsetzung von BORA im Rahmen kombinierter Behandlungsangebote und die damit verbundene Therapieplanung und Therapiesteuerung stellen besondere Anforderungen an die Qualität der Kooperation zwischen den beteiligten Einrichtungen. Um die unterschiedlichen therapeutischen und erwerbsbezogenen Leistungen der Kooperationspartner im Rahmen des Rehabilitationsprozesses sinnvoll miteinander zu verzahnen, empfiehlt sich der Einsatz der bereits erwähnten Checklisten zur Ablauforganisation.

    Zusammenfassung und Fazit

    Im Therapieprozess gilt kooperatives und vernetztes Arbeiten zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen grundsätzlich als Standard. Durch die zunehmende Komplexität im Behandlungsangebot und das damit verbundene Ziel einer optimierten Versorgung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist es erforderlich, die Kooperation verbindlicher, die Kommunikation regelmäßiger und transparenter und das Schnittstellenmanagement effektiver zu gestalten. Um die Begegnungen und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter/innen in den ambulanten und stationären Einrichtungen auf Augenhöhe und somit zielführend zu gestalten, spielt eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung eine wichtige Rolle. Die nicht immer einfachen Prozesse der Kooperation und Kommunikation bedürfen der regelmäßigen Pflege und müssen von den Beteiligten mit Leben gefüllt werden. Dies lohnt sich: im Sinne der effektiven Weiterentwicklung des Behandlungsangebots, als grundsätzliche Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe, für die Mitarbeiter/innen selbst im Hinblick auf Arbeitsklima und Arbeitszufriedenheit und ganz besonders im Sinne einer bedarfsorientierten und passgenauen Versorgung unserer Klient/innen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.

  • Aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Mit dem vorliegenden Beitrag werden die aktuellen Entwicklungen der Anträge und Bewilligungen sowie die Änderungen in der Statistik im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung dargestellt. Zunächst wird der Verlauf der Antrags- und Bewilligungszahlen für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker in den letzten zehn Jahren betrachtet. Diese Daten für den Bereich der gesamten Rentenversicherung stammen aus der Antrags- und Erledigungsstatistik gemäß § 3 RSVwV (Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Statistik in der Rentenversicherung).

    Entwicklungen von 2005 bis 2014

    Die Statistik zeigt, dass die Antragszahlen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker für den Bereich der gesamten Rentenversicherung bis zum Jahr 2007 gestiegen sind und seitdem kontinuierlich zurückgehen. Ausgenommen hiervon ist das Jahr 2009 (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Diese Situation spiegelt sich vergleichbar bei den Bewilligungen wider. Hier ist eine Steigerung der Bewilligungen bis zum Jahr 2009 zu sehen und seitdem ein kontinuierlicher Rückgang bis zum Jahr 2013 zu verzeichnen. Im Jahr 2014 steigen die Bewilligungen wieder leicht an (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2
    Abbildung 2

    Die möglichen Gründe für den seit Jahren zu verzeichnenden Antragsrückgang sind ausführlich in Gesprächen zwischen der Rentenversicherung und den Suchtfachverbänden sowie in der aus Suchtfachverbänden und Vertretern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Deutschen Rentenversicherung (DRV) gebildeten gemeinsamen Unterarbeitsgruppe „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“ erörtert worden. Im Ergebnis wird angenommen, dass nicht ein Grund allein, sondern eine Reihe von Gründen zusammen den Rückgang der Antragszahlen bewirkt. Einen Grund für den Rückgang der Antragszahlen im Bereich der Rentenversicherung stellt beispielsweise die zum 1. Januar 2011 erfolgte Aufhebung der Versicherungspflicht für Arbeitslosengeld-II-Bezieher in der Rentenversicherung dar.

    Wie sehen die aktuellen Zahlen aus?

    Gehen die Anträge seit 2014 weiter zurück? Die Beantwortung dieser Fragen ist durch statistische Änderungen erschwert. Zum 1. Januar 2015 ist die Statistik von Rehabilitationsanträgen dahingehend geändert worden, dass nur noch Hauptleistungen dargestellt werden. Nachsorgeleistungen und Adaptionen werden nur nachrichtlich ausgewiesen. Das bedeutet, dass die Darstellung in separaten Tabellen erfolgt, da es sich bei Adaptionen und Nachsorgeleistungen um Folgeleistungen zu einer Hauptleistung handelt. Ebenso sind Kombinationsbehandlungen und andere Mischfälle (ambulante Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen Phase oder ganztägig ambulante Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit Verkürzung der vorherigen stationären Phase) betroffen. Für die Antragsstatistik zählt damit künftig nur noch der Antrag für die erste Phase der Kombinationsbehandlung bzw. des Mischfalles.

    Die Vorteile der statistischen Änderungen sind u. a., dass konsequent zwischen Haupt- und Folgeleistungen unterschieden wird und die statistische Behandlung aller Folgeleistungen einheitlich erfolgt.

    Gleichwohl ergibt sich ein Bruch in der Zeitreihenkontinuität der Auswertungsergebnisse der Reha-Antragsstatistik der DRV. Die Mengengerüste der Hauptleistungen der Entwöhnungsbehandlungen vor und nach der Umstellung sind systematisch deshalb nicht vergleichbar. Dies soll zunächst anhand der Daten zu den Bewilligungen für die Jahre 2014 und 2015 verdeutlicht werden.

    Im Jahr 2014 wurden unter Berücksichtigung von Suchtnachsorgeleistungen und Adaptionen in der gesamten Rentenversicherung 81.710 Anträge in der Indikation der Abhängigkeitserkrankungen bewilligt. Für das Jahr 2015 werden ohne die Berücksichtigung von Folge- bzw. Teilleistungen 59.057 bewilligte Anträge ausgewiesen. Adaptionsleistungen wurden im Jahr 2015 im Umfang von 4.917 Leistungen bewilligt, Suchtnachsorgeleistungen im Umfang von 15.816. Unter Berücksichtigung von Suchtnachsorgeleistungen und Adaptionen würde sich somit eine Gesamtanzahl von Bewilligungen in Höhe von 79.790 ergeben. Hieraus berechnet sich ein Rückgang bei den Bewilligungen von rund einem Prozent. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass nunmehr die einzelnen Phasen von Kombinationsleistungen nicht mehr statistisch zählen. Das bedeutet, dass sich der Rückgang der Bewilligungen weiter abschwächen würde. Da die Anzahl aller Kombinationsphasen, die bisher mehrfach gezählt wurden, nicht erfasst werden kann, lässt sich eine genauere Aussage zum Rückgang der Bewilligungen in 2015 leider nicht treffen.

    Letztlich führen die statistischen Änderungen zu einer besseren Vergleichbarkeit und Transparenz der Daten in der Rentenversicherung. Gleichwohl muss in Kauf genommen werden, dass ein Vergleich der Daten aus 2014 (vor der Änderung) mit Daten aus 2015 (nach der Änderung) nicht, beziehungsweise nur eingeschränkt möglich ist.

    Vergleichbar miteinander sind jedoch wieder die Jahre 2015 und 2016. In Tabelle 1 wird jeweils das erste Halbjahr dargestellt.

    Tabelle 1
    Tabelle 1

    Die Daten zeigen, dass sich der Antragsrückgang leider weiter fortsetzt. Dagegen ist bei den Bewilligungszahlen der Rückgang geringer ausgeprägt. Es bleibt uns allen zu wünschen, dass die Ergebnisse der gemeinsamen Unterarbeitsgruppe in den nächsten Jahren Wirkung zeigen und auch dazu führen werden, den Abwärtstrend bei den Anträgen zu stoppen.

    Abschließend der Hinweis, dass für Daten aus der Rentenversicherung ein neues Portal eingerichtet wurde. Jeder kann Zahlen unter https://statistik-rente.de erhalten. Für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind Daten zu den abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen seit 2010 enthalten. Schauen Sie doch mal rein!

    Hinweis zur Bedienung des Statistikportals:

    https://statistik-rente.de > Rehabilitation > Medizinische Rehabilitation > Entwöhnungsbehandlungen für Erwachsene > Link zum interaktiven Bericht. Klicken Sie im interaktiven Bericht mit der rechten Maustaste auf den Datenbereich der Tabelle. Im DropDown-Menü können Sie dann eine Aktion auswählen (z. B. Filtern nach Berichtsjahr).

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Barbara Müller-Simon
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Rehabilitationsrecht (0450)
    im Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Ruhrstraße 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-39362
    barbara.mueller-simon@drv-bund.de

    Thomas Bütefisch
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    GB 0700 – Finanzen und Statistik
    Bereich 0760 – Statistische Analysen
    Ruhrstraße 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-89555
    thomas.buetefisch@drv-bund.de
    http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de

  • Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Dr. Joachim Köhler
    Dr. Joachim Köhler

    Problematischer Suchtmittelkonsum (riskanter Konsum, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit) macht vor somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen nicht Halt. Er fällt dort aber eher selten auf, und es bestehen Unsicherheiten, wie damit umgegangen werden soll. Dabei bietet die Rehabilitation gute Voraussetzungen für die Diagnostik möglicher Suchtprobleme sowie für Beratung und ggf. Vorbereitung einer weiterführenden Behandlung. Konkrete Empfehlungen für das Vorgehen in der Praxis liegen nun in Form der Broschüre „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ vor. Sie beschreiben einen mehrstufigen Prozess für Screening und Diagnostik, der gut in die Klinikabläufe integriert werden kann, und zielen auch auf die Sensibilisierung der Mitarbeiter/innen ab.

    Entstehung der Praxisempfehlungen

    Die Praxisempfehlungen für komorbide Suchtprobleme sind als Folgeprojekt nach ersten Praxisempfehlungen für psychologische Interventionen in der Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen und koronarer Herzerkrankung entstanden. Die DRV Bund verbindet mit der Förderung dieses Projekts den Wunsch, die im Zusammenhang mit Suchterkrankungen in somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen bestehenden Unsicherheiten und Schwierigkeiten zu thematisieren. Es werden einfache Maßnahmen aufgezeigt, die den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen als evidenzbasierte Entscheidungshilfe bei Screening, Diagnostik, Intervention und Dokumentation dienen. Sie sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine hohe Zufriedenheit bei Patient/innen und Mitarbeiter/innen zu erreichen.

    Entwickelt wurden die Empfehlungen von einer multiprofessionellen Expertengruppe im Rahmen des Projektes „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ am Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS) des Universitätsklinikums Freiburg. Das Projekt wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund von 2014 bis 2016 gefördert und ist nun mit der Vorlage der Ergebnisse abgeschlossen. Die Praxisempfehlungen liegen als Kurz- und Langfassung vor und werden durch einen Materialband ergänzt. Alle Dokumente stehen als PDF-Dateien auf der Homepage des AQMS www.severa-fr.de > Praxisempfehlungen zum Download zur Verfügung.

    Inhalt und Aufbau

    Die Praxisempfehlungen richten sich an alle Mitarbeiter/innen in somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen für Erwachsene, die nicht auf Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert sind, und sollen dazu beitragen, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Dies steht auch im Einklang mit der aktuellen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, die eine systematische Erhöhung des Problembewusstseins in allen Versorgungsbereichen, den Ausbau von Konsil- und Liaisondiensten sowie die Intensivierung von Maßnahmen zur Früherkennung fordert.

    Die Praxisempfehlungen beziehen sich auf alle stoffgebundenen Suchtprobleme (Alkohol, Medikamente und illegale Drogen) mit Ausnahme von Tabak. Sie wurden in mehreren Schritten entwickelt. Neben einer umfassenden, systematischen Recherche nach relevanten Übersichtsarbeiten und Leitlinien wurden bundesweit stationäre Reha-Einrichtungen aller Indikationsbereiche (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen) zur gegenwärtigen Praxis ihres Umgangs mit dem Thema befragt. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde im Rahmen eines Expertenworkshops eine Konsultationsfassung der Praxisempfehlungen formuliert, die schließlich mit der Bitte um Kommentierung an die ärztlichen Leitungen von stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen und reinen Kinder- und Jugendlichen-Einrichtungen) verschickt wurde. Außerdem wurde im Rahmen von Fokusgruppen mit Rehabilitand/innen über zentrale Aspekte der Praxisempfehlungen diskutiert. Die Anmerkungen und Kommentare wurden ausgewertet und bei der abschließenden Konsentierung der Praxisempfehlungen durch die Experten berücksichtigt.

    Die Praxisempfehlungen gliedern sich in drei Teile A, B und C:

    • Teil A umfasst allgemeine Vorbemerkungen.
    • Teil B enthält allgemeine Informationen zu diagnostischen Kriterien, Definitionen zu risikoarmem und riskantem Konsum, Informationen zu den verschiedenen Suchtstoffen und dem Suchthilfesystem.
    • Teil C ist der eigentliche Empfehlungsteil. Er enthält Empfehlungen zu Einrichtungsstandards, zu Screening und Diagnostik, möglichen Interventionen und zur Dokumentation sowie Empfehlungen zu Sondersituationen. Grundtenor der Empfehlungen zu möglichen Interventionen ist, dass hier realistische Ziele gesetzt werden sollten. Ziel ist nicht die eigenständige Behandlung der Suchtproblematik in nicht-spezialisierten Einrichtungen. Im Rahmen der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation geht es vielmehr um die Bewusstmachung der Problematik bei den betroffenen Rehabilitand/innen, die Vermittlung von Informationen über Risiken und die Motivierung für weiterführende Maßnahmen. In Einrichtungen der psychosomatischen Rehabilitation kann bei entsprechender personeller Ausstattung auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik erfolgen. Dabei ist eine Fortführung der psychosomatischen Rehabilitation bei gesicherter Diagnose einer substanzbezogenen Störung denkbar. Wenn Rehabilitationsfähigkeit besteht und die Rehabilitationsziele zumindest teilweise erreichbar sind, kann die Rehabilitationsmaßnahme – ggf. unter Auflagen – fortgeführt und die Zeit für eine weitere Motivierung der Rehabilitand/innen, ihre Suchtproblematik behandeln zu lassen, genutzt werden.

    Ausblick

    cover_r-broschuere-komorbide-suchtproblemeEs ist zu hoffen, dass somatische und psychosomatische Rehabilitand/innen mit komorbiden Suchtproblemen zukünftig eher auf ihre Suchtproblematik angesprochen werden und weitere diagnostische und therapeutische Schritte eingeleitet werden können. Dies kann auch die konkrete Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstellen und ambulanten und stationären Entwöhnungseinrichtungen verbessern und den Zugang in die Suchtrehabilitation erleichtern. Entwöhnungseinrichtungen können die Broschüre aktiv nutzen, um die Kooperation mit somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen zu verbessern.

    Am 26.09.2016 fand eine Einführungsveranstaltung für somatische und psychosomatische Kliniken in Berlin statt. Mehr Informationen hierzu unter: www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozialmedizin_forschung/01_sozialmedizin/06_publikationen_veranstaltungen/2016_09_26_praxisempfehlungen.html

    Die Langfassung der Praxisempfehlungen steht auch als Broschüre der DRV Bund zur Verfügung und kann bei Bedarf zugeschickt werden bzw. unter dem oben angegebenen Link heruntergeladen werden.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. med. Joachim Köhler
    Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
    Sozialmedizin, Magister Public Health
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Referat 0441 Grundsatzaufgaben der Sozialmedizin
    R 6207
    Ruhrstr. 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-35751
    drmed.joachim.koehler@drv-bund.de

  • Qualifizierter Entzug – und was dann?

    Qualifizierter Entzug – und was dann?

    Klaus Gerkens
    Klaus Gerkens

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik (Jahresbericht 2014) werden nur 19,5 Prozent der Alkoholabhängigen, die eine stationäre Behandlung in Anspruch nehmen, und nur 8,6 Prozent der stationär behandelten Opiatabhängigen durch eine Krankenhausabteilung in die Suchtrehabilitation vermittelt. Grund genug für die Suchtfachverbände, die Deutsche Rentenversicherung (DRV) und die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), gemeinsam über die Verbesserung des Zugangs in die Suchtrehabilitation aus dem Qualifizierten Entzug zu beraten.

    Als Ergebnis wurden gemeinsame Handlungsempfehlungen für ein Direktverlegungs- bzw. „Nahtlosverfahren“ abgestimmt, um zukünftig Drehtüreffekte möglichst zu vermeiden und die Nichtantrittsquote zu reduzieren. Bei diesem Verfahren spielen insbesondere die Krankenhäuser eine wichtige Rolle. Nur bei rechtzeitiger Einleitung durch die Ärzte und den Sozialdienst des Krankenhauses einschließlich der Organisation der nahtlosen Weiterbehandlung in Kooperation mit der voraussichtlich aufnehmenden Entwöhnungseinrichtung und den Rehabilitationsträgern kann das Nahtlosverfahren in der Praxis funktionieren.

    Deshalb haben DRV und GKV in einem weiteren Schritt Rahmenempfehlungen für die Verbesserung des Zugangs nach Qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker („Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug/Suchtrehabilitation“) erarbeitet, die derzeit im Entwurf vorliegen.

    Im Fokus der Rahmenempfehlungen steht die Umsetzung eines Nahtlosverfahrens auf regionaler Ebene. Hierfür werden grundsätzliche Aussagen und Definitionen festgelegt:

    • Geltungsbereich
    • Definition Qualifizierter Entzug einschließlich Aussagen zur Verweildauer im Krankenhaus
    • Voraussetzungen für teilnehmende Krankenhäuser
    • Einleitung und Beantragung der Suchtrehabilitation (Entwöhnungsbehandlung)
    • Leistungszuständigkeit
    • kurzfristige Bearbeitung des Antrags durch die Rehabilitationsträger
    • Verlegung in die Rehabilitationseinrichtung durch begleitete Anreise

    ‚Herzstück‘ der Rahmenempfehlungen bildet die begleitete Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung, d. h., die Patientin/der Patient wird von einer Mitarbeiterin/einem Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung oder einer Suchtberatungsstelle bei der Anreise begleitet.

    DRV und GKV haben mit den Suchtfachverbänden in einer gemeinsamen Erörterung am 07.09.2016 den vorliegenden Entwurf der Rahmenempfehlungen beraten. Die Verbände unterstützen das geplante Nahtlosverfahren. Ihre Anregungen und Kritikpunkte wurden weitestgehend in die Rahmenempfehlungen aufgenommen. Die Beteiligung weiterer Organisationen wie Fachgesellschaften, Krankenhausärzte, Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und Aktion Psychisch Kranke ist auf der Grundlage der aktualisierten Entwurfsfassung kurzfristig vorgesehen.

    Nach Verabschiedung der Rahmenempfehlungen, voraussichtlich Anfang 2017, beginnt erst die eigentliche Arbeit: Auf Landesebene muss zwischen den unterschiedlichen Vertragspartnern das Nahtlosverfahren umgesetzt werden, ggf. müssen Detailregelungen erprobt werden. Einig sind sich die Beteiligten aber schon heute: Mit diesem Nahtlosverfahren wird die Versorgung Abhängigkeitskranker in Deutschland bundesweit optimiert.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Klaus Gerkens
    Verband der Ersatzkassen (vdek) e. V.
    Abteilung Gesundheit
    Askanischer Platz 1
    10963 Berlin
    Tel. 030/26 931–19 12
    klaus.gerkens@vdek.com

  • Einführung ins Titelthema

    Einführung ins Titelthema

    Seit einigen Jahren sind deutliche Veränderungen für die Arbeit in der Suchtrehabilitation zu beobachten: Neue Konsumgewohnheiten der Klientel machen die Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten erforderlich. Die Antragszahlen gehen – mit deutlichen regionalen Unterschieden – zurück und führen zu gemeinsamen Überlegungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern, wie der Zugang in die Reha erleichtert werden kann oder neue Zugangswege erschlossen werden können. Zusätzlich wird die Finanzierungssituation der Einrichtungen immer schwieriger. Die Notwendigkeit, Kooperationen zu schließen – insbesondere mit der ambulanten Suchthilfe –, nimmt zu, denn die Betreuungs- und Behandlungsverläufe werden komplexer und die Segmentierung der unterschiedlichen sozialrechtlichen Leistungsbereiche in der Suchthilfe bleibt weiterhin bestehen. Diese Faktoren haben erhebliche Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Reha-Einrichtungen. Mit dem aktuellen Titelthema wollen wir einige dieser Entwicklungen näher beleuchten. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Aspekte erscheint das Titelthema in drei Teilen.

    Der erste Teil befasst sich mit den konzeptionellen Herausforderungen, die durch die veränderten Konsumgewohnheiten von Suchtkranken (zunehmender Mischkonsum), die Verschiebung bei den zuständigen Leistungsträgern (steigender GKV-Anteil) und auch durch die verstärkte berufliche Orientierung in der Suchttherapie (Umsetzung der BORA-Empfehlungen) entstanden sind. Zwei neu eröffnete Fachkliniken aus Norddeutschland haben darauf mit innovativen Konzepten reagiert. In zwei Artikeln schildern sie ihre ersten praktischen Erfahrungen mit stoffübergreifenden Bedarfsgruppen.

    Im zweiten Teil des Titelthemas geht es um veränderte Rahmenbedingungen der Suchtrehabilitation aus Sicht der Leistungsträger. Barbara Müller-Simon und Thomas Bütefisch erläutern die neue statistische Darstellung der Maßnahmen in der Suchtrehabiliation und den Rückgang der Anträge. Dr. Joachim Köhler berichtet über die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu komorbiden Suchterkrankungen in der somatischen und psychosomatischen Reha. Klaus Gerkens stellt die Überlegungen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zur bundesweiten Etablierung eines ‚Nahtlosverfahrens’ für den Übergang aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnung dar.

    Der dritte und letzte Teil des Titelthemas greift zwei wichtige Entwicklungen aus der Perspektive der Einrichtungen auf. Stefan Bürkle setzt sich mit der Kooperation zwischen  ambulanter und stationärer Suchthilfe auseinander. Dr. Theo Wessel und Prof. Andreas Koch erläutern anhand von aktuellen Zahlen und konkreten Beispielen die teilweise dramatische Finanzierungssituation für viele Einrichtungen.

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems