Schlagwort: Akutbehandlung

  • Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai

    Nur 16 Prozent der Menschen mit einem riskanten oder abhängigen Konsum von Alkohol holen sich Hilfe im Versorgungssystem. Dabei gehen fast alle von ihnen mindestens einmal im Jahr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wie können diese Menschen erreicht werden, damit sie besser von Hilfeangeboten für die Suchtproblematik profitieren können? An der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg wurde untersucht, welche Auswirkungen die Einführung eines Suchtkonsils zeigt. Bei einem Suchtkonsil handelt es sich um eine spezifische Suchtberatung durch einen erfahrenen Suchttherapeuten, die von der Krankenhausstation (Ärzte, Pflegepersonal) gezielt angefordert wird. Nach zweieinhalb Jahren wurden die Ergebnisse dieser Beratung (z. B. Vermittlung in die Entzugsbehandlung) ausgewertet.

    Handlungsbedarf bei Früherkennung und Frühintervention

    Im Jahr 2015 formulierte die Bundesrepublik Deutschland „Alkoholkonsum reduzieren“ als Nationales Gesundheitsziel (http://gesundheitsziele.de/). Darin wird die Bedeutung von Früherkennung und Frühintervention betont:

    „Trotz hoher gesellschaftlicher Folgekosten des problematischen Alkoholkonsums und alkoholbezogener Erkrankungen ist in Deutschland eine Unterversorgung insbesondere in den Bereichen der Früherkennung und Frühintervention bekannt und belegt. Andererseits wurde in Studien die Wirksamkeit von Frühinterventionen insbesondere in Hausarztpraxen (Kaner et al., 2007) und unter bestimmten Voraussetzungen auch im Allgemeinkrankenhaus nachgewiesen (McQueen, Howe, Allan, Mains, & Hardy, 2011). Durch Frühinterventionen beispielweise über die ärztliche Praxis oder im Krankenhaus kann eine breite Gruppe von Personen mit problematischem Alkoholkonsum erreicht werden. So weisen 80 Prozent der Alkoholabhängigen jährlich mindestens einen Kontakt zur hausärztlichen oder einer vergleichbaren Praxis auf; 24,5 Prozent mindestens einen Krankenhausaufenthalt und insgesamt 92,7 Prozent irgendeinen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin oder Krankenhaus (Rumpf, Hapke, Bischof, & John, 2000). Von riskant Alkohol Konsumierenden finden sich 75 Prozent beim Hausarzt/Hausärztin ein, 70 Prozent hatten beim Zahnarzt/Zahnärztin, 58 Prozent beim Facharzt/Fachärztin und 15 Prozent im Krankenhaus Berührungspunkte zum Gesundheitswesen; lediglich sieben Prozent der Alkohol-Risikokonsumenten nimmt in zwölf Monaten keinerlei medizinische Angebote in Anspruch (Bischof, John, Meyer, Hapke, & Rumpf, 2003). Dies unterstreicht die Bedeutung der primärärztlichen Versorgung im Bereich der Früherkennung und Frühintervention. Zudem sollte die Qualifikation und Kompetenz bezüglich der Früherkennung auch durch die verschiedenen Berufsgruppen im Sozial- und Bildungswesen gewährleistet sein.“ (Nationales Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“, 2015, S. 11, http://gesundheitsziele.de/)

    Auch in der gültigen S3-Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung“ finden sich entsprechende Empfehlungen: „Generell ist Screening auf riskanten Alkoholkonsum oder schädlichen Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit in Settings sinnvoll, in denen proaktiv auf Patienten zugegangen wird. Das betrifft häufig Frühinterventionsmaßnahmen in Settings der medizinischen Grundversorgung.“ (Langfassung vom 28.02.2016, S. 15)

    Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) geht in „Psyche im Fokus“ (1/2016, S. 2–3) ebenfalls auf die Früherkennung und Frühintervention bei Suchterkrankungen ein und gibt ein richtungsweisendes Statement ab: „Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplan vorgesehen.“

    Pilotprojekt: Einführung eines Suchtkonsils

    Im deutschen Krankenhausalltag findet ein systematisches Alkohol-Screening auf somatischen Stationen in vielen Fällen nicht statt. Der psychiatrische Konsiliardienst (Begleitdiagnostik durch einen angeforderten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) kann aufgrund der begrenzten Ressourcen nur einen geringen Teil der zu erwartenden Fälle erfassen. Wie viele Patienten durch die Einrichtung eines zusätzlichen Suchtkonsils erreicht werden können, wurde an zwei Standorten der Vivantes-Kliniken in Berlin Tempelhof-Schöneberg im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.

    Im Bezirk leben etwa 330.000 Menschen, die Prävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 7.840 und für den schädlichen Konsum von Alkohol bei rund 12.420. Nach der Studie von Rumpf, Hapke, Bischof & John (2000) sind bis zu 5.000 Fälle an Folgeerkrankungen von Alkoholkonsum pro Jahr an den beiden Vivantes-Standorten auf den verschiedenen Stationen zu erwarten. Dabei handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, da die Zahlen eines dritten Krankenhauses im Bezirk von einem anderen Träger nicht berücksichtigt werden konnten.

    Zusätzlich zum psychiatrischen Konsiliardienst der Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie in den beiden Krankenhäusern wurde von 11/2013 an ein Suchtkonsil der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit angeboten, das entweder vom Oberarzt der Klinik oder einem approbierten Diplom-Psychologen durchgeführt wurde. Das Suchtkonsil wurde in der Klinikkonferenz beschlossen und auf den somatischen Stationen im Rahmen von Besprechungen oder Abteilungsfortbildungen bekannt gemacht. Die Reaktionen auf den Dienst waren in dieser Phase sehr vielfältig. Sie reichten von Zustimmung („höchste Zeit bei den vielen Fällen, die wir sehen“) bis hin zu Ablehnung („spielt bei uns keine Rolle“). Das Konsil musste von den Stationen standardisiert über die elektronische Patientendokumentation ausgelöst werden wie jede andere fachärztliche Untersuchung auch. Die durchgeführten Gespräche waren sehr differenziert. Es gab erste Informationsgespräche, bei denen das Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick zum Einsatz gebracht wurde, und es gab Gespräche zur gezielten Vorbereitung weiterführender suchtmedizinischer Maßnahmen (Kontakt zur Beratungsstelle, Verlegung zur Entzugsbehandlung und Antragstellung für eine Entwöhnungstherapie).

    Von 11/2013 bis 5/2016 wurden insgesamt 185 Konsile angefordert. Von diesen 185 Fällen erschienen in der Folge 24 Fälle (13 Prozent) zu einem Vorgespräch in der Entwöhnungsklinik, in den meisten Fällen nach einer vorangegangenen Entzugsbehandlung in der psychiatrischen Nachbarabteilung. In insgesamt 17 Fällen (neun Prozent) konnte die Aufnahme zur Entwöhnungsbehandlung realisiert werden. Nicht systematisch erfasst wurde die Akzeptanz für die Gespräche, gerade auch bei den angesprochenen Patienten, die zunächst keine Hilfe annahmen. Ein Interview mit den durchführenden Ärzten und Psychologen erbrachte die Einschätzung einer recht hohen Akzeptanz für die Gespräche. Dies würde die Ergebnisse der Studie von Freyer et al. (2006) in Greifswald bestätigen. Dort reagierten rund 66 Prozent der angesprochenen Patienten mit einer Alkoholproblematik auf somatischen Stationen positiv auf die Intervention mit Beratung.

    Das Stigma der Sucht

    Neben der Ausstattung und den Ressourcen der Klinik ist auch das Phänomen „Stigma der Sucht“ zum großen Teil dafür verantwortlich, dass so wenig Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in den somatischen Abteilungen eines Krankenhauses erreicht werden. Studien wie die von Schomerus, Matschinger & Angermeyer (2006 und 2013 ) belegen eine Ablehnung von Abhängigkeitserkrankungen in unserer Gesellschaft und eine nach wie vor vorhandene Einschätzung, dass Sucht selbst verschuldet ist (siehe Abbildungen 1 und 2).

    Abb. 1: Anhand von Fallbeispielen, ohne Kenntnis der Diagnose, beurteilten Studienteilnehmer, ob die jeweiligen Betroffenen an einer psychischen Krankheit im medizinischen Sinne leiden. Das Krankheitsbild Alkoholismus wurde deutlich seltener als Krankheit angesehen als z. B. Depression oder Schizophrenie. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2013. Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Res 209, 665-669.
    Abb. 2: Per Telefoninterview wurde gefragt, bei welchen Krankheiten bei der Versorgung von Patienten am ehesten Geld eingespart werden könnte. Zur Auswahl gestellt wurden neun Krankheiten, drei Antworten waren möglich. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2006. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 41, 369-377.

    Dies führt dazu, dass Betroffene lange Zeit versuchen, die Erkrankung zu verbergen aus Furcht vor der negativen Bewertung des Umfeldes. Wird eine Suchterkrankung bekannt, fühlt sich aber auch häufig das Umfeld unwohl und schaut reflexhaft, mit einer Art von falschem Taktgefühl, weg. Auch auf somatischen Stationen oder auf Rettungsstellen ist dieses Phänomen zu beobachten: Ein Patient wird mit einer akuten Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) in das Krankenhaus gebracht. Recht rasch wird anhand des klinischen Befundes und der Laborkonstellation deutlich, dass die Krankheit durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstanden ist (alkoholtoxische Genese). Bei Konfrontation mit den Befunden reagiert der Patient bagatellisierend und beschämt, lehnt auch per Mimik und Gestik Gespräche darüber ab. An dieser Stelle wirken Zeitnot und das (falsche) Taktgefühl des Arztes unheilvoll zusammen. Der Arzt spürt die Not seines Patienten und den Wunsch, nicht weiter beschämt oder auch ‚belästigt‘ zu werden, und respektiert ihn. Selbst wenn ihm bewusst wird, dass dieser Zustand überwunden werden sollte, spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dem Arzt ist klar, dass ein Gespräch über den Alkoholkonsum nicht ‚zwischen Tür und Angel‘ geführt werden sollte, also zeitlichen und empathischen Aufwand bedeutet. Häufig sind die personellen Ressourcen so knapp, dass diese Gespräche dann gar nicht stattfinden. Die Hoffnung des Patienten, dass der Konsum „noch nicht so schlimm ist“, wird damit indirekt bestätigt.

    Das Stigma der Sucht wirkt aber auch auf eine andere Weise. Die Extremformen des Konsums von Substanzen, die Abhängigkeit erzeugen, werden gesellschaftlich recht breit abgelehnt. Konsum, der ohne die extremen Anzeichen von Missbrauch und Abhängigkeit auftritt, wird dagegen sehr lange toleriert, obwohl er bereits mit Schäden behaftet sein kann. Es ist eine heikle Frage, ab wann und wie Betroffene auf ihren Konsum angesprochen werden sollten.

    Für das medizinische Personal kann der risikoreiche Alkoholkonsum eines Patienten auch noch ein ganz anderes Problem aufwerfen, nämlich die Frage nach dem eigenen Konsum. Dieser wird möglicherweise konflikthaft erlebt und wirft Unsicherheiten auf. Diese Gefühlslage kann sich mit der Situation des Patienten zu einer unausgesprochenen Übereinkunft darüber vermengen, nicht über das Thema zu sprechen. Entsprechende Zusammenhänge thematisiert die Psychotherapeutin Agnes Ebi in ihrem Buch „Der ungeliebte Suchtpatient“ (1998). Neben vielen anderen Aspekten der Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten beschreibt sie dabei auch die unbewusste Furcht vor der Nähe zum Süchtigen.

    Sucht als Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung verankern

    Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem ableiten? Ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stigmatisierung der Sucht wird einen langen Zeitraum erfordern. Erwähnt sei an dieser Stelle der bekannte historische Umstand, dass die Definition der Alkoholabhängigkeit durch die WHO von 1952 in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später, 1968, zu einer sozialrechtlichen Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit führte. Vor 1945 wurde ein Teil der Alkoholabhängigen umgebracht oder der Zwangssterilisierung zugeführt. Dies scheint im transgenerativen Prozess noch nicht vollständig verarbeitet zu sein, und ein Teil der Menschen sieht eine Abhängigkeitserkrankung immer noch als einen selbstverschuldeten Zustand an.

    Die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff in den öffentlichen Räumen unserer Gesellschaft wird notwendig sein, um die Akzeptanz für die Erkrankung auf einen Stand zu bringen, der z. B. mit dem beim Diabetes mellitus vergleichbar ist. Schulen, Betriebe, Vereine, Institutionen, aber auch die Medien, sind Kommunikationsorte, an denen entsprechende Prozesse in Gang gebracht werden müssen. Anfangen können diese Prozesse jedoch im Krankenhaus, das mit gutem Beispiel vorangeht und systematisch daran arbeitet, den Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen ‚salonfähig‘ zu machen. Ein routineartig durchgeführtes Suchtkonsil stellt das wichtigste Signal in diesem Zusammenhang dar. Die Widerstände gegen die Einführung dieses Konsils sind zunächst groß, weil ein direkter betriebswirtschaftlicher Nutzen für das Krankenhaus zunächst nicht berechnet werden kann. Das DRG-System liefert je nach Lesart (Controlling-Haltung) Anreize, einen Abhängigkeitserkrankten mit mehreren Folgeerkrankungen als eine Art ‚Cash-Cow‘ zu betrachten, die erlösorientiert ausgeschlachtet wird. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen und eine Motivierung zur Entzugsbehandlung stellen möglicherweise ein unternehmerisches Risiko dar. Die Endrechnung wird der Gesellschaft an anderer Stelle präsentiert und belastet Kommunen und Rentenversicherungen.

    Beim Deutschen Suchtkongress im September 2016 in Berlin referierte PD Dr. Georg Schomerus über das Stigma der Sucht und gab einen Überblick über den Forschungsstand. Dabei scheute er nicht die Frage, ob ein Stigma positive Folgen habe, zum Beispiel durch eine Form der Abschreckung. Die Ergebnisse sind bislang eindeutig: Das Stigma führt vielmehr zu einer Aufrechterhaltung von Heimlichkeit und Wegschauen. Im September 2016 fand eine Klausurtagung mit verschiedenen Experten in Greifswald statt, die sich mit dem Thema „Stigma der Sucht“ beschäftigten. Auftraggeber war das Bundesministerium für Gesundheit. Als Ergebnis dieses Expertentreffens liegt nun das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ vor, das den Versuch unternimmt, das Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Suchtkrankheiten zu erklären und Wege für einen stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten aufzuzeigen. Für den klinischen Bereich ist zu hoffen, dass das Suchtkonsil zum Standard in deutschen Krankenhäusern wird.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai
    Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
    Rubensstraße 125
    12157 Berlin
    Tel. 030/13 020-86 00
    Darius.ChahmoradiTabatabai@vivantes.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg.

  • Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.

    Dr. Volker Weissinger

    1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland

    Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.

    2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen

    Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.

    Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.

    Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“

    Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“

    Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).

    Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).

    Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.

    Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)

    Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.

    Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.

    3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs

    Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:

    • Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
    • Qualifizierter Entzug
    • Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
    • Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
    • Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Betrieblicher Bereich
    • Routinedaten der Leistungsträger
    • Jobcenter/Agenturen für Arbeit
    • Fallmanagement und Fallbegleitung
    • Nutzung moderner Informationstechnologien

    Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.

    Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

    Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:

    Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.

    „Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)

    Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).

    Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.

    Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.

    Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.

    Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).

    Qualifizierter Entzug

    Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.

    In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:

    • Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
    • Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
    • Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
    • Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
    • Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX

    Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.

    Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung

    Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.

    Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.

    Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.

    Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).

    Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.

    Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung

    Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.

    Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):

    • Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
    • Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
    • Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
    • Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
    • Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.

    Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.

    Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.

    Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.

    Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt

    Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.

    Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).

    Betrieblicher Bereich

    In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.

    Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.

    Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.

    Routinedaten der Leistungsträger

    Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.

    Routinedaten der Krankenversicherung
    Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:

    • „Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
    • Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“

    Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.

    Routinedaten der Rentenversicherung
    Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).

    Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.

    Jobcenter/Agenturen für Arbeit

    Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).

    Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.

    Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.

    Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).

    Fallmanagement und Fallbegleitung

    In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).

    Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.

    Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.

    Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.

    Nutzung moderner Informationstechnologien

    Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.

    Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).

    Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.

    Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.

    4. Schlussbemerkungen und Ausblick

    Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.

    Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).

    Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:

    • niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
    • zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
    • Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.

    Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.

    Kontakt:

    Dr. Volker Weissinger
    Geschäftsführer
    Fachverband Sucht e.V.
    Walramstraße 3
    53175 Bonn
    Tel. 02 28/26 15 55
    sucht@sucht.de

     

     

    Angaben zum Autor:

    Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.

    Literatur:

    • Bachmeier, R. et al. (2015): Basisdokumentation 2014 – Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, in: Fachverband Sucht e.V. (Hg.): Basisdokumentation 2014 – Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e.V., 6-30
    • Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
    • Effertz, T. (2015): Die volkswirtschaftlichen Kosten gefährlichen Konsums – eine theoretische und empirische Analyse für Deutschland am Beispiel Alkohol, Tabak und Adipositas, Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaft, Frankfurt a.M.
    • Fachverband Sucht e.V. (2012): Leitbild und Positionen zur Suchtkrankenhilfe und -behandlung, SuchtAktuell 02.12
    • Gesundheitsziele.de (2015): Alkoholkonsum reduzieren, Bundesanzeiger 19.05.2015, 15-20
    • Görgen, W., Hartmann, R. (2002): Neue Wege in der Behandlung Suchtkranker in der frühen Sekundärprävention, Geesthacht
    • Gross, B. (2016): „Sucht bewegt, Zugangswege erweitern“ aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung Bund, SuchtAktuell 02.16, 14-17
    • Günthner, A., Weissinger, V. et al. (2016): Versorgungsorganisation, in: Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg, 191-210
    • Kainz, B., Schröder, A., Glattacker, M., Wenzel, D., Hoffmann, S., Kulick, B., Jäckel, W. H. (2011): Inanspruchnahme und Akzeptanz des Modells „Reha-Fallbegleitung bei Alkohol-, Medikamenten und Drogenabhängigen mit erwerbsbezogenen Problemen“, SuchtAktuell 02.11, 40-46.
    • Kirchner, P. (2016): „Nahtloser Zugang zu Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung am Beispiel von ISBA“ – Vortrag anlässlich des 29. Heidelberger Kongress des FVS, 15.06.2016
    • Liegmann, K. (2015): Risiko Alkohol? Früherkennung und Intervention in der Hausarztpraxis, Bremen
    • Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg
    • Martin, H. (2016): Neue Zugangswege – eine Herausforderung auch für Kostenträger?, SuchtAktuell 02.16, 18-20
    • Mikoteit, T. (2016): Spezielle Angebote für (Sucht)kranke im Jobcenter Essen, SuchtAktuell 02.16, 24-29
    • Missel, P. (2016): Zugangswege erweitern! … aus Sicht der Suchtbehandler, SuchtAktuell 02.16, 36-38
    • Rall, P. (2012): Liaisondienst Rems-Murr Klinik Schorndorf – ein Modell der Frühintervention im Allgemeinkrankenhaus, SuchtAktuell 01.12, 54-59
    • Schneider, B., Götz, H., Groos, J. (2005): Kooperation und Vernetzung von Akutbehandlung und Rehabilitation: Auf dem Weg zur Integrierten Versorgung, SuchtAktuell 02.05, 28-31
    • Schubert, M., Partier, K., Kupka, P., Krüger, U., Holke, J., Fuchs, Ph. (2013): Menschen mit psychischen Störungen im SGB II, IAB-Forschungsbericht 12/2013 (Aktualisierte Fassung vom 04.11.2013), Nürnberg
    • Trautmann, S., Pieper, L., Kuitunen-Paul, S., Manthey, J., Wittchen, H.-U., Bühringer, G., Rehm, J. (2016): Prävalenz und Behandlungsraten von Störungen durch Alkoholkonsum in der primärärztlichen Versorgung in Deutschland, Sucht (2016), 62 (4), 233-243
    • Trautmann, S., Wittchen., H.-U. (2016): Häufigkeit und Versorgungssituation von Suchterkrankungen in Deutschland, SuchtAktuell 02.16, 11-13
    • Ueberschär, I., Kampschick, U., Schmidtke, B., Retzlaff, R. (2017): Die Notwendigkeit eines einfachen Zugangs in die Rehabilitation Suchtkranker, SuchtAktuell 01.17, 11-14
    • Wienberg, G. (1992): Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen, Bonn
  • Qualifizierter Entzug – und was dann?

    Qualifizierter Entzug – und was dann?

    Klaus Gerkens
    Klaus Gerkens

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik (Jahresbericht 2014) werden nur 19,5 Prozent der Alkoholabhängigen, die eine stationäre Behandlung in Anspruch nehmen, und nur 8,6 Prozent der stationär behandelten Opiatabhängigen durch eine Krankenhausabteilung in die Suchtrehabilitation vermittelt. Grund genug für die Suchtfachverbände, die Deutsche Rentenversicherung (DRV) und die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), gemeinsam über die Verbesserung des Zugangs in die Suchtrehabilitation aus dem Qualifizierten Entzug zu beraten.

    Als Ergebnis wurden gemeinsame Handlungsempfehlungen für ein Direktverlegungs- bzw. „Nahtlosverfahren“ abgestimmt, um zukünftig Drehtüreffekte möglichst zu vermeiden und die Nichtantrittsquote zu reduzieren. Bei diesem Verfahren spielen insbesondere die Krankenhäuser eine wichtige Rolle. Nur bei rechtzeitiger Einleitung durch die Ärzte und den Sozialdienst des Krankenhauses einschließlich der Organisation der nahtlosen Weiterbehandlung in Kooperation mit der voraussichtlich aufnehmenden Entwöhnungseinrichtung und den Rehabilitationsträgern kann das Nahtlosverfahren in der Praxis funktionieren.

    Deshalb haben DRV und GKV in einem weiteren Schritt Rahmenempfehlungen für die Verbesserung des Zugangs nach Qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker („Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug/Suchtrehabilitation“) erarbeitet, die derzeit im Entwurf vorliegen.

    Im Fokus der Rahmenempfehlungen steht die Umsetzung eines Nahtlosverfahrens auf regionaler Ebene. Hierfür werden grundsätzliche Aussagen und Definitionen festgelegt:

    • Geltungsbereich
    • Definition Qualifizierter Entzug einschließlich Aussagen zur Verweildauer im Krankenhaus
    • Voraussetzungen für teilnehmende Krankenhäuser
    • Einleitung und Beantragung der Suchtrehabilitation (Entwöhnungsbehandlung)
    • Leistungszuständigkeit
    • kurzfristige Bearbeitung des Antrags durch die Rehabilitationsträger
    • Verlegung in die Rehabilitationseinrichtung durch begleitete Anreise

    ‚Herzstück‘ der Rahmenempfehlungen bildet die begleitete Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung, d. h., die Patientin/der Patient wird von einer Mitarbeiterin/einem Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung oder einer Suchtberatungsstelle bei der Anreise begleitet.

    DRV und GKV haben mit den Suchtfachverbänden in einer gemeinsamen Erörterung am 07.09.2016 den vorliegenden Entwurf der Rahmenempfehlungen beraten. Die Verbände unterstützen das geplante Nahtlosverfahren. Ihre Anregungen und Kritikpunkte wurden weitestgehend in die Rahmenempfehlungen aufgenommen. Die Beteiligung weiterer Organisationen wie Fachgesellschaften, Krankenhausärzte, Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und Aktion Psychisch Kranke ist auf der Grundlage der aktualisierten Entwurfsfassung kurzfristig vorgesehen.

    Nach Verabschiedung der Rahmenempfehlungen, voraussichtlich Anfang 2017, beginnt erst die eigentliche Arbeit: Auf Landesebene muss zwischen den unterschiedlichen Vertragspartnern das Nahtlosverfahren umgesetzt werden, ggf. müssen Detailregelungen erprobt werden. Einig sind sich die Beteiligten aber schon heute: Mit diesem Nahtlosverfahren wird die Versorgung Abhängigkeitskranker in Deutschland bundesweit optimiert.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Klaus Gerkens
    Verband der Ersatzkassen (vdek) e. V.
    Abteilung Gesundheit
    Askanischer Platz 1
    10963 Berlin
    Tel. 030/26 931–19 12
    klaus.gerkens@vdek.com