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  • Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prof. Dr. Knut Tielking
    Julia Klinkhamer

    Einleitung

    Während Suchtprävention als Gesundheitsthema in der Gesellschaft bereits etabliert ist, steht sie bezogen auf Menschen mit geistiger Beeinträchtigung noch vor besonderen Herausforderungen. Die zunehmende Verselbstständigung führt dazu, dass Menschen mit geistiger Beeinträchtigung vermehrt Suchtmittel wie Alkohol und Tabak konsumieren (Jung/Nachtigal 2018). Sie benötigen spezielle Präventionsangebote, da herkömmliche Programme oft nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingehen (Tielking/Rabes 2022). Aufgrund ihrer Beeinträchtigung weisen sie ein erhöhtes Risiko für einen problematischen Konsum auf. Es besteht daher die Notwendigkeit, ein neues Bewusstsein für den Konsum zu schaffen und dieser Zielgruppe die erforderlichen Werkzeuge und Strategien zur Verfügung zu stellen, um eine gesunde und bewusste Entscheidungsfindung zu unterstützen.

    Der Caritasverband für den Landkreis Emsland hat es in Angriff genommen, diese entscheidende Versorgungslücke mit dem Selbstkontrolltraining „Suchtprävention inklusiv (SUPi)“ zu schließen. SUPi geht neue Wege im Hinblick auf Inklusion und Partizipation und ermöglicht den Menschen den Zugang zur Suchtprävention in Form eines bundesweit einmaligen Gruppenangebotes. Eine innovative, zielgruppenadäquate Wirkungsevaluation durch die Hochschule Emden/Leer begleitet die Teilnehmenden und Trainer:innen im Trainingsprozess.

    Problemhintergrund

    Anforderungen aus Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention

    Die Anerkennung und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sowie die damit einhergehende Inklusion stärkten die Position von Menschen mit Beeinträchtigung. Die Kernpunkte Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Teilhabe sollen umgesetzt werden (BMAS 2011). Erklärtes Ziel dieser Konvention ist die „gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben“ (ebd. S. 10). Im März 2009 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Infolgedessen ist sie verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen Zugang zu Gesundheitsdiensten und gesundheitlicher Rehabilitation erhalten (BMAS 2011).
    Auch das im Jahr 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) verfolgt das Ziel, die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft [für Menschen mit Beeinträchtigungen] zu fördern“ (§ 1 SGB IX) und Benachteiligungen für diesen Personenkreis zu vermeiden. Gemäß § 118 SGB IX des BTHG sollen sich die Instrumente zur Bedarfsermittlung an der ICF orientieren. Dies legt bundesweit die Grundlage für das bio-psycho-soziale Modell sowie für ethische Leitlinien im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen fest (BMAS 2023).

    Anforderungen aus Sicht des Präventionsgesetzes

    Am 18. Juni 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz, PrävG). Ziel dieses Gesetzes ist es, der Prävention in unserer Gesellschaft einen angemessenen Stellenwert zuzuweisen. Der Gesetzesansatz beinhaltet die Unterstützung aller Menschen, gesundheitsförderliche Lebensweisen in ihren individuellen Lebensumgebungen zu entwickeln und im täglichen Leben umzusetzen (BMG 2023). Insbesondere in der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zeigt sich, dass diese Forderung bisher schwierig umzusetzen ist. Zielgruppenadäquate Angebote in Form eines Gruppentrainings zur Suchtprävention gibt es derzeit nicht (Feldmann 2020).

    Anforderungen aus Sicht der Gesundheitspolitik

    Die zunehmende Verselbstständigung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führt neben individuellen Herausforderungen zu veränderten, ambulanten Wohnformen in der Behindertenhilfe. Aufgrund der Intelligenzminderung kann dies zu Problemen im Konsumverhalten führen, da der Konsum nicht realistisch eingeschätzt werden kann und die Selbstreflexion nur eingeschränkt möglich ist (Feldmann 2020; Sandfort 2022). Insbesondere im Bereich der Prävention müssen Instrumente entwickelt und angewendet werden, um diese spezielle Zielgruppe, ebenso wie alle anderen Bürger:innen, zu befähigen, ihren Konsum frühzeitig zu überprüfen. Es herrscht ein akuter Mangel an entsprechenden Angeboten, der – sofern er nicht behoben wird – zu einem Anstieg der Zahl suchtmittelabhängiger Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führen könnte (Jung/Nachtigal 2018).

    Studienlage

    Laut dem Bundesministerium für Gesundheit existieren auf Bundesebene keine Studien zu den Prävalenzen des Suchtmittelkonsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Verfügbare Informationen basieren auf regionalen Untersuchungen, die nahelegen, dass der missbräuchliche oder problematische Suchtmittelkonsum in dieser Zielgruppe ähnlich ausgeprägt ist wie in der restlichen Gesellschaft (BMG 2017).

    Im Rahmen des Modellprojektes „Vollerhebung Sucht und geistige Behinderung in NRW“ wurde im Jahr 2011 eine Umfrage unter Mitarbeiter:innen in Einrichtungen für Behinderten- und Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Ziel war es, valide Aussagen über den Suchtmittelkonsum bei erwachsenen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu erhalten. Zwei Drittel der Befragten (66,7 %; N=780) gaben an, dass aufgrund von riskantem oder abhängigem Substanzkonsum Probleme in der jeweiligen Einrichtung aufgetreten seien. Die Häufigkeit des problematischen Substanzkonsums bei den Betreuten wurde wie folgt eingeschätzt (Kretschmann-Weelink 2013):

    1. Nikotinkonsum: 32,5 %,
    2. Alkoholkonsum: 15,7 %,
    3. verhaltensbezogene Störungen (insbesondere Computerspiele): 14,2 %

    Im Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurde 2019 eine regionale Bedarfsanalyse im nördlichen Emsland durchgeführt. Mitarbeiter:innen einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen (St. Lukas Papenburg) wurden zur Substanznutzung der Betreuten befragt (N=506). Drei Viertel (76 %) betrachteten es als wichtig, sich mit dem Thema des problematischen Konsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu befassen. Bei 21,8 % der Betreuten wird der Konsum von Suchtmitteln als problematisch eingestuft. Es ergab sich folgendes Ranking der von den Betreuten konsumierten Suchtmittel (Feldmann et al. 2020):

    1. Nikotin (53,3 %)
    2. Alkohol (27,3 %)
    3. Computer-/Handynutzung (20,9 %)
    4. Cannabis (5,9 %)
    5. Glücksspiel (3,7 %)
    6. Sonstige Drogen (7,0 %)

    Das Trainingsprogramm SUPi

    Die Zielgruppe: Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Zielgruppe des SUPi-Angebotes sind Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Erwachsenenalter, die durch Angebote der kooperierenden Einrichtungen unterstützt werden. Über diese Einrichtungen erfolgt zugleich der Zugang zur Zielgruppe. Ein wichtiges Kriterium ist eine mögliche Auffälligkeit im Konsumverhalten (Feldmann 2020).

    Unter „geistiger Beeinträchtigung“ ist ein andauernder Zustand zu verstehen, der durch deutlich unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten und die damit verbundenen Einschränkungen des affektiven Verhaltens gekennzeichnet ist (Theunissen 2011). Diese Beeinträchtigung kann sich auf die intellektuelle Entwicklung, die Lernfähigkeit und die allgemeine Lebensführung auswirken. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben unterschiedliche Grade von Einschränkungen in der kognitiven Funktionalität. Ihre Fähigkeit, Informationen zu verstehen, zu verarbeiten und zu kommunizieren, wird dadurch unterschiedlich stark beeinflusst. In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird diese Erkrankung als „Intelligenzminderung“ (F70-79) klassifiziert.

    Vorerfahrung des Caritasverbandes für den Landkreis Emsland

     Im Rahmen des Projektes „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurden in Kooperation mit St. Lukas Papenburg Maßnahmen entwickelt, die als Grundlage zur Förderung der Gesundheit der benannten Zielgruppe dienen können sollten. Ein Baustein war das Selbstkontrolltraining „SKOLL“, welches nach § 20 SGB V als Leistung der Primären Prävention und Gesundheitsförderung anerkannt ist. In der Umsetzung stellte sich heraus, dass das bestehende Trainingsmanual aufgrund der Beeinträchtigungen der Zielgruppe nicht zum Einsatz kommen kann (Feldmann 2020).

    Besondere Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Das SUPi-Training wurde entwickelt, um den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gerecht zu werden. Dabei wurde besonders darauf geachtet, die Inhalte an die individuellen Erfahrungen und die Lebenswelt der Teilnehmenden anzupassen (Moisl 2017). Die eingesetzten Materialien sind in Leichter Sprache verfasst und auf die kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmenden abgestimmt. Die Leichte Sprache ist eine spezielle Form der sprachlichen Darstellung, um Informationen barrierefrei verständlich und zugänglich zu machen. Komplizierte Grammatikstrukturen werden reduziert und einfache Wörter anstelle von Fachbegriffen verwendet. Zudem werden unterstützende visuelle Elemente wie Symbole und Zeichnungen auf Arbeitsblättern eingesetzt, um die relevanten Inhalte zu vermitteln (Ahlers et al. 2023).

    Um bestmöglich auf die Zielgruppe einzugehen, wird das Training von Tandems ausgebildeter Fachkräfte aus der Sucht- und Behindertenhilfe durchgeführt. Beide Bereiche bringen spezifisches Fachwissen mit: Die Suchthilfe bietet Kenntnisse über Suchtprävention und Suchtbehandlung, während die Behindertenhilfe sich auf die Bedürfnisse und Unterstützung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung spezialisiert hat. Die Kombination dieser Hilfesysteme stellt sicher, dass die Zielgruppe bei ihrer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung im Hinblick auf einen gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtmitteln optimal begleitet und unterstützt wird (Feldmann 2020).

    Der SUPi-Aufbau

    Das SUPi-Training zielt darauf ab, zu einem gesundheitsbewussten Umgang mit den von den Teilnehmenden genannten Suchtmitteln zu motivieren. Es besteht aus zwölf wöchentlichen Sitzungen. In den 90-minütigen Kurseinheiten werden verschiedene didaktische Methoden und Materialien eingesetzt, um wiederholt über die Auswirkungen des Konsums zu informieren und das Wissen darüber zu vertiefen. Durch dieses Vorgehen sollen sich die Teilnehmenden Informationen besser aneignen können (Sandfort 2022) und ein tieferes Verständnis für den eigenen Konsum, insbesondere von Alkohol und Tabak, erlangen. Die Teilnehmenden erhalten während des Trainings Hilfestellung für die Entwicklung individueller Strategien, mit denen sie ihren Konsum reduzieren und ihre Impulskontrolle verbessern können (Feldmann 2020; Ahlers et al. 2023).

    Es wird ein individueller Plan erstellt, in dem jedes Gruppenmitglied sein persönliches Ziel festlegt. Dieser Plan erfasst den aktuellen Status, den die Teilnehmenden verändern möchten, und formuliert einen angestrebten Zielzustand. Um diese Ziele zu erreichen, werden Strategien zur Umsetzung mit den durchführenden Fachkräften besprochen (Ahlers et al. 2023). Die Trainer:innen stehen den Gruppenmitgliedern während des Umsetzungsprozesses ihrer Ziele kontinuierlich unterstützend zur Seite (Feldmann 2020). Folgende Übersicht zeigt die inhaltlich aufeinander aufbauenden Kurseinheiten (Abb. 1).

    Abb. 1: SUPi-Kurseinheiten. Eigene Darstellung.

    Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung

    Es wird eine Zertifizierung des SUPi-Trainings als qualitativ hochwertige Präventionsmaßnahme durch die Zentrale Prüfstelle Prävention sowie die Aufnahme in die Grüne Liste Prävention angestrebt. Dies dient dem übergeordneten Interesse, dass Krankenkassen das Training gemäß § 20 SGB V in ihr Leistungsangebot aufnehmen und damit die Implementierung in weiteren Einrichtungen erleichtern. Voraussetzung für die Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung ist der wissenschaftliche Wirkungsnachweis (Feldmann 2020).

    Wirkungsevaluation

    Die wissenschaftliche Wirkungsevaluation erfolgt durch das Team der Hochschule Emden/Leer unter der Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking und wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Ziel ist es festzustellen, ob das SUPi-Training den Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht wird, zu einer positiven Veränderung im Konsumverhalten der Teilnehmenden führt und damit einen nachweislichen Beitrag zur Suchtprävention bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leisten kann. Insbesondere Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen werden durch Vorher-Nachher-Messungen (Döring/Bortz 2016) überprüft. Die quantitative Befragung der Studieneilnehmenden erfolgt zu drei Messzeitpunkten mit identischen Fragen, um Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Zeitverlauf herstellen zu können: Mithilfe eines standardisierten Fragebogens in Leichter Sprache wird der Zustand der Trainingseilnehmenden (Interventionsgruppe) vor Beginn des Trainings (T1) erfasst. Die Ausgangssituation beleuchtet das Wissen und die Einstellung in Bezug auf den Suchtmittelkonsum sowie das Konsumverhalten der Zielgruppe vor der Intervention. Es schließen sich zwei weitere Befragungen, unmittelbar nach Trainingsabschluss (T2) und drei Monate nach Trainingsabschluss (T3), an. Durch diese strukturierten Messungen werden Langzeiteffekte des SUPi-Trainings dargestellt. Den Ergebnissen der Interventionsgruppe werden Ergebnisse einer Kontrollgruppe gegenübergestellt, die ebenfalls zu drei Messzeitpunkten mit einem zeitlichen Abstand von drei Monaten den identischen Fragebogen beantwortet.

    Herausforderung

    Unter Berücksichtigung der Möglichkeiten und Einschränkungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mussten die wissenschaftlichen Anforderungen spezifiziert werden – sowohl methodisch als auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung. Die Evaluation stellt sich damit der Herausforderung eines simplifizierenden Verfahrens mit dem gleichzeitigen Ziel, valide Daten zu generieren, die den Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention (GKV Spitzenverband 2022) und der Grünen Liste Prävention (Groeger-Roth/Hasenpusch 2011) entsprechen. Vor diesem Hintergrund wurden die Erhebungsinstrumente partizipativ, unter Einbezug der Zielgruppe, entwickelt.

    Methode: Partizipative Evaluation

    Die partizipative Evaluation zeichnet sich durch die aktive Einbindung aller am Projekt beteiligten Personen von Anfang bis Ende des Evaluationsprozesses aus (Hartung et al. 2020). Dieses Vorgehen erfordert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen, den Fachkräften und den Projektverantwortlichen. In den einzelnen Kurseinheiten wurden in enger Abstimmung von Wissenschaft und Praxis kompetenzorientierte Ziele gesetzt.

    Fragebogenentwicklung

    Die Fragen wurden in Anlehnung an standardisierte Formulierungen aus Studien aus der Sucht- und Präventionsforschung ausgestaltet. Inhalte aus validierten Studien wurden mit den kompetenzorientierten Zielen der SUPi-Kurseinheiten abgeglichen. Um ein zielgruppenadäquates Messinstrument zu entwickeln, wurde der Fragenpool reduziert. Durch dieses Vorgehen sollte die Beantwortung für die Zielgruppe erleichtert sowie Demotivierung und Überforderung vermieden werden.

    Der Fragebogen wurde in Leichte Sprache transferiert, ohne von der inhaltlichen Bedeutung abzuweichen. Anstelle von fachspezifischen Begriffen fanden einfache Wörter Anwendung. Lange Sätze wurden in verständliche Abschnitte unterteilt. Der Fragebogen wurde durch das Büro für Leichte Sprache (Andreaswerk Vechta) zertifiziert. Zusätzlich wurde die Formatierung des Fragebogens durch klare, sich wiederholende Strukturen und eine große, deutliche Schrift vereinfacht. Farbliche Hervorhebungen von Rot bis Grün und visuelle Elemente verdeutlichen den Inhalt der Fragen und Antworten und erleichtern die Orientierung bei der Beantwortung. Die Praxistauglichkeit des Fragebogens wurde in einem Pretest mit neun Personen aus der Zielgruppe auf Verständlichkeit, Akzeptanz und Durchführbarkeit überprüft. Der Pretest bestätigte die Angemessenheit des Fragebogens für die Zielgruppe.

    Durchführung der Befragung

    Aufgrund der kognitiven Einschränkung der Zielgruppe liegt eine weitere Herausforderung in der Evaluationsdurchführung. Es bedarf einer besonderen Beziehungsgestaltung, um bestehende Ängste hinsichtlich einer schriftlichen Befragung abzubauen. Über diesen Zugangsweg gelingt es, die Bereitschaft der Betroffenen zur Mitarbeit zu fördern.

    Die Teilnahme an der Evaluation erfolgt auf freiwilliger Basis. Um eine freiwillige Entscheidung zu gewährleisten, ist die hinreichende barrierefreie Aufklärung der Studienteilnehmenden über die Evaluationsziele, die Freiwilligkeit an der Teilnahme und die Sicherstellung der Anonymität entscheidend. Potenzielle Studienteilnehmende werden dazu befähigt, sich anhand der dargestellten Informationen autonom und selbstbestimmt für bzw. gegen eine Teilnahme zu entscheiden.

    Aussagemöglichkeiten

    Für die Wirkungsevaluation sollen unter Berücksichtigung der Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention sowie der Grünen Liste insgesamt 50 Personen für die freiwillige Teilnahme an dem SUPi-Training gewonnen werden. Bis April 2024 wurden 44 Personen mit geistiger Beeinträchtigung in das SUPi-Training involviert. Weitere 40 Personen bilden die Kontrollgruppe.

    Durch fortlaufende Akquisetätigkeiten der kooperierenden Einrichtungen, darunter St. Lukas in Papenburg, das Christophorus-Werk in Lingen und das St. Vitus-Werk in Meppen, wird erwartet, dass im zweiten Quartal 2024 die angestrebte Stichprobengröße von je 50 Teilnehmenden in der Interventions- und Kontrollgruppe erreicht werden kann. Die darauffolgende Analyse lenkt den Fokus, neben der Überprüfung der persönlichen Zielerreichung, auf folgende Rubriken (Abb. 2):

    Abb. 2: Bestandteile der Wirkungsanalyse. Eigene Darstellung.

    Die Wirkungsevaluation involviert zudem die SUPi-Trainer:innen, die mithilfe kursbegleitender Fragebögen dokumentieren, welche Gruppeninhalte erarbeitet und welche kompetenzorientierten Ziele erreicht wurden. Zudem bewerten sie die eingesetzten Materialien und Hilfsmittel sowie die Motivation und Gruppendynamik pro Kurseinheit. Es ist zu erwarten, dass diese umfassenden Bewertungen der einzelnen Kurseinheiten dazu beitragen, erfolgreiche Einheiten, effektive Kursmaterialien und bedarfsgerechte pädagogische Methoden für die Zielgruppe zu identifizieren. So lassen sich jene Faktoren erkennen, die besonders förderlich für das Training sind. Gleichzeitig werden Einblicke in Bereiche ermöglicht, in denen das SUPi-Training Verbesserungspotenzial aufweist. So dient diese Analyse dazu, sowohl Stärken als auch Schwächen des Trainings zu erkennen und dieses gezielt weiterzuentwickeln.

    Diskussion und Ausblick

    Im vierten Quartal 2024 sollen repräsentative Aussagen über die Wirksamkeit des SUPi-Trainings bezüglich des Wissens, der Einstellung und des Verhaltens der Teilnehmenden in Bezug auf den Konsum von Suchtmitteln sowie über die Kursdynamik und das verwendete Trainingsmaterial vorliegen.

    Das SUPi-Training trägt das Potenzial, eine bedeutende Versorgungslücke in der Suchtprävention zu schließen. Durch seine Implementierung soll eine maßgeschneiderte Intervention für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bereitgestellt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten dieser Personengruppe berücksichtigt. Dies gilt es, durch die Wirkungsanalysen zum SUPi-Training nachzuweisen. Gelingt dies, soll die Anerkennung des Trainings seitens der Krankenkassen und die Aufnahme in die Grüne Liste zu einer bundesweiten Verbreitung und damit zur besseren Versorgung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung beitragen.

    Kontakt:

    Julia Klinkhamer (M.A.)
    Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
    Hochschule Emden/Leer
    Constantiaplatz 4
    26723 Emden
    julia.klinkhamer(at)hs-emden-leer.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Wirkungsevaluation des Selbstkontrolltrainings SUPi – Suchtprävention – inklusiv für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung“ (2022-2024).
    Julia Klinkhamer (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer und Geschäftsführerin der Firma PRINOR Statistik.

    Literatur
    • Ahlers, L./Clavée, M./Hopster, T. (2023): Konzept SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2011): Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2023): Bundesteilhabegesetz (BTHG). Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2017): Richtlinie zur Förderung von Forschung auf dem Gebiet „Geistige Behinderung und problematischer Substanzkonsum“. Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2023): Präventionsgesetz (PrävG). Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/praevg.html (06.12.2023).
    • Döring, N./Bortz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. 5. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer Verlag.
    • Feldmann, M. (2020): Konzept zur Entwicklung eines Gruppentrainings zum gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtstoffen/ Reduzierung des Alkoholkonsums für erwachsene Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Feldmann, M./Veld, M./Schomaker, K./Speller, B. (2020): Abschlussbericht zum Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Papenburg.
    • GKV Spitzenverband (2022): Kriterien zur Zertifizierung von Kursangeboten in der individuellen verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Abs. 4 Nr. 1 SGB V, Stand 22.11.2023. Online verfügbar unter: https://www.zentrale-pruefstelle-praevention.de/wp-content/uploads/2023/11/20231122_Leitfaden_Praev_Kap_5_Kritierien_zur_Zertifizierung.pdf   (17.04.2024)
    • Groeger-Roth, F./Hasenpusch, B. (2011): Grüne Liste Prävention. Auswahl und Bewertungskriterien für die CTC Programm-Datenbank. Landespräventionsrat Niedersachsen. Fassung v. 01.11.2011. Online verfügbar unter: https://www.gruene-liste-praevention.de/communities-that-care/Media/_Grne_Liste_Kriterien.pdf (17.04.2024)
    • Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (2020): Partizipative Forschung – ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. In: Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (Hrsg.): Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.
    • Jung, F./Nachtigal, P. (2018): Suchtselbsthilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Praxisbericht. Bremen.
    • Kretschmann-Weelink, M. (2013): Prävalenz von Suchtmittelkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen. Gevelsberg.
    • Moisl, D. (2017): Methoden zur Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung. Public Health Forum, 25(4), 312-323. https://doi.org/10.1515/pubhef-2017-0051
    • Sandfort, G. (2022): SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für die Diözese Osnabrück. Osnabrück.
    • Theunissen, G. (2011): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Lehrbuch für die Schule, Heilpädagogik und außerschulische Behindertenhilfe. 4. Auflage, Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB.
    • Tielking, K./Rabes, M. (2022): Niedersächsisches Suchtpräventionskonzept. Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Hannover.
  • Sucht und Sexualität

    Sucht und Sexualität

    Joachim J. Jösch

    Sexualität ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen. Sie ist für jeden mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden. Sie ist geprägt von Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft und dem Lebensumfeld, in dem jemand aufwächst und lebt. Vater und Mutter sind die frühesten und wichtigsten Bindungspersonen eines Kindes. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind legt die Grundlagen für die Bindungsfähigkeit und beeinflusst das spätere (Beziehungs-)Leben. Kinder brauchen gute Vorbilder, um später selbst erfolgreich Bindungen eingehen zu können.

    Im Fachkrankenhaus Vielbach, einer Rehaklinik zur Behandlung alkohol- und medikamentenabhängiger Männer, wurde im Rahmen einer Klausur zur Weiterentwicklung der Behandlungskonzeption deutlich, dass dem wichtigen Lebensbereich der Sexualität bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es wurde beschlossen, die Rehabilitanden zu dem Thema zu befragen und die Behandlungsangebote entsprechend der Ergebnisse zu verändern. In diesem Artikel soll beschrieben werden, wie das Thema Liebe und Sexualität im Fachkrankenhaus Vielbach Einzug gehalten hat und welche Aktivitäten sich daraus entwickelt haben – ein Praxis- und Erfahrungsbericht, der eine neue Perspektive in der Behandlung von Suchtkranken aufzeigen möchte.

    Mehr als jeder zweite der Vielbacher Rehabilitanden ist nicht durchgehend mit seinen leiblichen Eltern aufgewachsen. Bald jeder zweite, der mit seinem Vater (zumindest zeitweise) aufgewachsen ist, glaubt nicht, dass er von ihm geachtet und geliebt wird oder wurde. Die durchgängige und zeitweilige Entbehrung des Vaters und das damit einhergehende Fehlen des männlichen Vorbildes haben im Hinblick auf Beziehungsfähigkeit bei vielen Patienten problematische männliche Rollenbilder entstehen lassen. Dies stellt eine Herausforderung für eine Rehabilitationsbehandlung dar, die Grundlagen für ein gelingendes Leben mit Liebe, Freundschaft und Emotionalität schaffen will.

    Gut 80 Prozent der Vielbacher Rehabilitanden erwartet beim Verlassen der Klinik zunächst ein Leben ohne Partnerin/Partner. Viele Patienten wünschen sich jedoch eine Partnerschaft. Dabei ist abzusehen, dass viele dieser Patienten erhebliche Probleme bei der Realisierung ihres Wunsches haben werden. (Das ist durch die Auswertung der regulären Behandlungsstatistik bekannt.) Dennoch wurde das Thema nur in wenigen Fällen therapeutisch bearbeitet.

    Für eine nachhaltige Stabilisierung der Abstinenz der Patienten spielen Liebe, Sexualität und Partnerschaft eine wichtige Rolle. Die gewünschte Partnerschaft, der Umstand, zu lieben und geliebt zu werden, sowie eine befriedigende Sexualität sind Quellen von Glück und Wohlbefinden, Anerkennung und Selbstwerterleben. Trotzdem waren diese elementaren zwischenmenschlichen Empfindungen und Interaktionen weder als Erfahrung noch als Zukunftskonzept der Rehabilitanden in dieser expliziten Form regelhaft Themen der Suchtbehandlung in Vielbach.

    Ergänzend zu den im Rahmen der Konzept-Klausur erarbeiteten Diskussionsergebnissen und Ideen beschäftigten sich Klinikleitung und therapeutisches Team mit zahlreichen Statements, die Patienten schon 1988 (!) zum Schwerpunktthema „Sexualität in der Suchttherapie“ in der Vielbacher Patientenzeitschrift SuchtGlocke geäußert hatten. Vielfältige Erfahrungen, Sorgen und Wünsche waren dort abgedruckt. Als Basis für konzeptionelle Neuerungen und die Einführung neuer Behandlungselemente waren sie jedoch nicht ausreichend, u. a. weil ihnen die Aktualität fehlte. Die Sichtung der Fachliteratur brachte Leitung und Team auch nicht weiter, da sich 90 Prozent der identifizierten Publikationen auf sexuelle Störungen und deren körperliche und psychische Ursachen beschränkten.

    Was wir unsere Patienten schon immer mal fragen wollten – Die Befragungswelle 2015

    2014 fassten Klinikleitung und therapeutisches Team den Entschluss, die Patienten zum Themenkomplex „Partnerschaft und Sexualität“ zu befragen. Zur Vorbereitung wurden alle Rehabilitanden zu einem Vortrag eingeladen, in dem der Ärztliche Leiter über die Relevanz dieser menschlichen Bedürfnisse für ein zufriedenes Leben informierte. Im zweiten Teil der Veranstaltung warb er bei den Zuhörern dafür, an einer nachfolgenden Befragung zum Thema teilzunehmen. Ziel der Befragung sei es, sowohl die somatische als auch die psychotherapeutische Behandlung stärker an den Bedürfnissen der Patienten im Bereich Liebe und Sexualität auszurichten. Anschließend diskutierten die Patienten ausgiebig über die angebotenen Informationen. Deutlich wurde hier eine große Zustimmung zu der Klinikinitiative, das Thema Sexualität angemessen in das ‚offizielle‘ Therapiegeschehen zu integrieren. Ein Patient formulierte treffend: „Wir haben das immer im Kopf, reden auch untereinander drüber – aber eher nicht mit den Therapeuten.“

    Dass die Patienten großes Interesse an der angekündigten Therapie-Innovation hatten, zeigte sich bei der Befragung. Nur wenige Patienten beteiligten sich nicht. Auf Anonymität, freiwillige Teilnahme und Durchführung außerhalb der Therapiezeiten wurde dabei strikt geachtet.

    Patienten berichten in der SuchtGlocke

    Noch bevor die Auswertung abgeschlossen war, startete die ausschließlich aus Patienten bestehende Redaktion der Klinikzeitung SuchtGlocke (SG) eine eigene Umfrage zu dem Schwerpunktthema „Sucht & Sexualität“. 84 sehr persönliche Beiträge wurden in der SG-Ausgabe Nr. 55 abgedruckt. Die Redaktion entschied sich, den Themenbereich zu vertieften. „Liebe und Geborgenheit“ war das Schwerpunktthema in der nachfolgenden SG-Ausgabe Nr. 56. Hier wurden 51 Beiträge von Mitpatienten und Ehemaligen, die auf die abgedruckten „Sucht & Sexualität“-Beiträge reagiert hatten, zusammengetragen. Folgende Aspekte spielen in den abgedruckten Beiträgen eine wichtige Rolle:

    Sexuelle Störungen

    In ihren Beiträgen zum Thema Sexualität in der SuchtGlocke thematisieren Patienten immer wieder sexuelle Störungen, die sie mit ihrem permanenten Konsum von Alkohol in Verbindung bringen. Einige sprechen sexuelle Versagensängste, Schüchternheit und Unerfahrenheit an. Andere sprechen von Stressreaktionen auf sexuelle Wünsche der Partnerin, die sie überfordern.

    Immer wieder berichten Patienten von exzessivem Alkoholkonsum als Reaktion auf scheinbar nicht lösbare Konflikte in der Partnerschaft. Und davon, wie in der Folge die „gegenseitige Liebe und Wertschätzung gestorben“ seien. Am Ende sei man „mit der Flasche verheiratet“ gewesen. Der tiefe „Wunsch nach Liebe“ sei „ertränkt“ worden. Gegen das Alleinsein nach gescheiterter Beziehung und die damit verbundenen schmerzhaften und deprimierenden Gefühle habe „nur der Konsum von Alkohol und Drogen geholfen“ oder zumindest für Schmerzlinderung gesorgt.

    Triebabfuhr und Gewalt

    Wenn auch die Partnerin abhängigkeitskrank war, habe es kein Korrektiv mehr zum materiellen und gesundheitlichen Scheitern gegeben. Das Leben im Rausch sei zur alltäglichen Normalität geworden. Sexualität habe, wenn überhaupt, auch nur noch im Rausch stattgefunden. Meist eher mechanisch, als sexuelle Triebabfuhr, die aber nicht die gewünschte Befriedigung verschafft habe.

    Meist verbunden mit intensiven Schuld- und Schamgefühlen, bekennen nicht wenige der Schreiber, unter starkem Alkoholeinfluss auch gewalttätig gegenüber ihrer – inzwischen meist ehemaligen – Partnerin geworden zu sein. In einigen Fällen sei aber auch die ebenfalls Suchtmittel konsumierende Partnerin ihnen gegenüber gewalttätig geworden. Keiner der Patienten schreibt davon, dies in der derzeitigen Therapie thematisiert zu haben.

    Gefühle

    In den Patientenbeiträgen wird deutlich, wie schwer es vielen fällt, über ihre Gefühle zu schreiben. Verschiedenste Erfahrungen mit Sexualität werden – zum Teil ausführlich – geschildert. ‚Liebe‘ taucht meist nur als Sehnsucht auf.

    Einige Patienten bedauern das Fehlen von Mitpatientinnen in der Therapie. Vorteile einer Therapie in einer Männerklinik werden jedoch häufiger benannt. „Von Frauen unbeobachtet“, könne man sich unter Männern „echter“ und „authentischer“ verhalten. Dann ginge es auch „ehrlicher“ zu – nicht nur bei den patienteninternen Schilderungen von sexuellen Erfahrungen.

    Pornographie

    Viele Patienten schauen sich während der Zeit ihres Klinikaufenthaltes Pornographie an. Die häufige Erwähnung des Themas lässt auf einen recht hohen Stellenwert schließen. Doch für die meisten ist es offenbar nur eine Notlösung, die bloße Triebabfuhr ohne wirkliche Befriedigung ermöglicht. Durchgängig deutlich wird der dahinter liegende Partnerschaftswunsch vieler Patienten. Ähnlich verhält es sich wohl auch mit wiederholt geschilderten Bordellbesuchen während des Therapieaufenthaltes.

    Masturbation

    Der Konsum von Pornos dient den Patienten meist als sexuell stimulierende Vorlage zur geschlechtlichen Selbstbefriedigung. Das Thema Masturbation taucht in einer Vielzahl von Beiträgen auf. „Tut gut“, „erleichtert“, „Notbehelf“, „besser als nix“, „schales Gefühl danach“, „wie ein kurzer Sonnenschein, der kurz durch dunkle Wolken dringt“ und „ich schäme mich“ sind angeführte Bewertungen.

    Sexuelle Orientierung

    Mehrfach wird angesprochen, wie in der Vielbacher Männerklinik mit nicht-heterosexueller Orientierung umgegangen wird. Aus den Berichten homosexueller Patienten lässt sich schließen, dass diese hinsichtlich der Toleranz, die ihnen ihre heterosexuell orientierten Mitpatienten entgegenbringen, unsicher sind. Wiederholt werden Hemmungen angesprochen, sich während der Therapie zur eigenen Homosexualität zu bekennen. Die Angst davor, nach dem ‚Outen‘ von der eigenen Bezugsgruppe ausgegrenzt zu werden, scheint groß zu sein.

    Für Suchtkranke ist es besonders wichtig, selbstbewusst zu ihrer Sexualität wie auch zu ihrer sexuellen Orientierung stehen zu können. Ein selbstbestimmtes Leben mit sozialer Teilhabe, frei von Sucht, ist nicht vereinbar mit permanenter sexueller Selbstverleugnung. Ein wichtiges Thema für entsprechende neu zu konzipierende Schulungs- und Therapieangebote.

    Die beschriebenen Patientenaussagen machten dem Klinikteam – ergänzend zu den zuvor schon gewonnenen Erkenntnissen – deutlich, wie wichtig eine Einbeziehung der Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft in den Therapieprozess für eine gelingende und nachhaltige Rehabilitation der Patienten ist.

    ‚Normale‘ Wünsche, ‚unnormale‘ Verwirklichungschancen – Die Befragungswelle 2016

    Im Frühjahr 2016 startete die Klinik eine neue Befragungsrunde. An dieser zweiten Befragung nahmen 69 Patienten teil. Zusammen mit den 63 Teilnehmern der ersten Befragung wurde so eine Gesamtteilnehmerzahl von 132 erreicht.

    Der Fragebogen umfasste 64 Fragen. Zwei Psychologie-Studentinnen nahmen anschließend die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials vor. Die Ergebnisse beeindrucken in ihrer Deutlichkeit, auch hinsichtlich der Patientenwünsche und -ängste für die Zeit während und nach der Rehabilitation. Partnerschaft und Sexualität sind für viele Patienten ähnlich wichtig wie Abstinenz. Patienten wollen ‚Teilhabe‘ – auch in sozialen Beziehungen und in Bezug auf Sexualität.

    Hervorzuheben ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit:

    • 80 % der Patienten leben nicht in einer Partnerschaft!
    • 82 % der Partnerlosen wünschen sich eine
    • 85 % der Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein Leben ohne Suchtmittel.
    • 92 % der Patienten ist Sexualität wichtig bis sehr wichtig.

    Weitere aus Kliniksicht interessanteste Ergebnisse sind:

    Sexualleben

    • 72 % der Patienten sind mit ihrem Sexualleben derzeit unzufrieden. 4,4 % sind manchmal zufrieden.
    • 75,8 % der Patienten masturbieren mehrmals in der Woche, 34,8 % täglich.
    • 51,5 % der Patienten haben schon einmal eine Prostituierte aufgesucht.
    • 47,1 % der Patienten haben während der Therapie schon einmal eine Prostituierte aufgesucht oder beabsichtigen dies.
    • 31,8 % der Patienten nutzen häufig bis immer erotische oder pornographische Produkte (Bilder, Filme). 40,9 % geben an, diese manchmal zu nutzen.
    • 25,5 % der Patienten geben an, eine „sexuelle Störung“ zu haben.
    • 62,1 % der Patienten möchten über gesundheitliche Störungen, die negative Auswirkungen auf die männliche Sexualität haben, und deren Behandlung informiert werden.

     Einsatz von Suchtmitteln

    • 47,7 % der Patienten fällt es schwer, ohne vorherigen Konsum von Suchtmitteln eine Frau bzw. einen Mann anzusprechen.
    • 59,6 % der Patienten haben Sex in den letzten Jahren meistens unter dem Einfluss von Suchtmitteln erlebt.
    • 54,8 % der Patienten haben schon einmal Drogen oder ähnliche psychoaktive Substanzen eingesetzt, um ihr erotisches Erleben anzuregen.

    Partnersuche im Internet

    • 53 % der Patienten haben schon einmal überlegt, im Internet auf Partnersuche zu gehen.
    • 36,8 % der Patienten haben mit Partnersuche im Internet schon Erfahrungen gemacht.
    • 65,2 % der Patienten möchten in der Therapie über Partnersuche im Internet (Verfahren, Kosten und Risiken) informiert werden.

    Beziehung zu Klinikmitarbeiter/innen

    • 78 % der Patienten haben schon einmal Gefühle von Verliebtheit in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Keiner von ihnen hat das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.
    • 40,7 % der Patienten haben schon einmal sexuelle Phantasien in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Lediglich 1,5 % von ihnen haben das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.

    Gewalterfahrungen und familiärer Hintergrund

    • 51,6 % der Patienten sind bis zum 18. Lebensjahr nicht durchgehend mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen.
    • 57,4 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene körperliche Gewalt angetan.
    • 28 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene sexuelle Gewalt angetan.

    Feed back

    • 86,4 % der Patienten bewerteten die Befragung als gute Idee.
    • 90 % der Patienten begrüßten es, nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen in Bezug auf Liebe und Sexualität gefragt zu werden. 

    Aus der Befragung geht hervor, dass sich die Patienten bei den Themen sexuelle Gesundheit, Partnersuche und Beziehungsanbahnung Beratung und Hilfe von Seiten der Klinik wünschen. Dem anonym geäußerten übergroßen Wunsch nach Partnerschaft und Sexualität scheint eine große Hilflosigkeit der Patienten hinsichtlich der Realisierung entgegenzustehen. Nicht nur in den therapiefreien Zeiten sind immer wieder Sprüche wie „Wahre Liebe gibt’s nur unter Männern“ und Frauen abwertende Äußerungen zu hören. Dem Umstand, dass ersehntes sexuelles und Liebesglück nicht oder nur schwer erreichbar scheinen, versuchen viele Patienten mittels Rationalisierung und Kompensation zu begegnen.

    Beeindruckend war, wie viele Patienten sich während und nach der Befragung für die Klinikinitiative bedankten. Deutlich wurde, dass die Patienten sich und ihre Interessen wahr- und ernstgenommen fühlen.

    Fachtagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“

    Um die Fachöffentlichkeit für Liebe und Sexualität als Thema in der Suchtbehandlung zu sensibilisieren und die eigenen Aktivitäten vorzustellen, veranstaltete das Fachkrankenhaus Vielbach im September 2016 die Tagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“. Fast 200 Fachkräfte der Suchthilfe aus ganz Deutschland, der Schweiz und Luxemburg diskutierten zusammen mit Experten darüber, wie wichtig gelingende Partnerschaft und erfüllende Sexualität für ein Leben frei von Sucht sind. Es ging u. a. um die Fragen: Wie wirkt es sich auf die Abstinenz aus, wenn sich keine Partnerin/kein Partner findet? Können in einer Suchtrehabilitation die Chancen auf Verwirklichung des Wunsches nach einer Partnerin/einem Partner und entsprechende Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, und wenn ja, wie?

    Die Fachtagung stieß auf sehr großes Interesse. Aus den Diskussionen im Plenum und den Arbeitsgruppen gingen viele Impulse für die therapeutische Praxis hervor.

    „Nicht ohne uns über uns“ – Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung

    In Vielbach diskutieren Klinikleitung und therapeutisches Team über Ergänzungen des Behandlungskonzeptes, die einen sehr privaten Lebensbereich ihrer Rehabilitanden betreffen. Mit der umfangreichen Befragung der Betroffenen entspricht die Klinik dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nicht ohne uns über uns“. Gleichberechtigte soziale Teilhabe von sozial benachteiligten Abhängigkeitskranken setzt Partizipation und konsequente Personenzentrierung auch in der Rehabilitation voraus. Das fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ganz aktuell von den Reha-Trägern. In die Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung, die den Bereich Liebe, Sexualität und Partnerschaft betreffen, werden die Patienten regelmäßig einbezogen.

    Entsprechende neue therapeutische Interventionen werden sukzessive vereinbart und in Therapieplanung und -struktur eingepasst. Die konkrete Umsetzung wird durch Mitarbeitende des therapeutischen Teams vorgenommen. Hier gilt es zu beachten, dass diese Mitarbeitenden eine von ganz persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen geprägte Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität haben. Deshalb sollten für diese Aufgaben besonders geeignete Mitarbeitende ausgewählt werden. Themenspezifische Fort- und Weiterbildungen sind hilfreich. Insbesondere in der Anfangszeit dieser neuen Angebote sollten die Mitarbeitenden bei der Reflexion und Verbesserung ihres therapeutischen Handelns durch Supervision unterstützt werden.

    Angebote der Klinik

    Neue Angebote finden nun im Rahmen von Beratungen, medizinischen Untersuchungen und Behandlungen sowie Schulungen statt. Mit und ohne therapeutische Anleitung tauschen sich Patienten darüber aus, wie sie Liebe, Lust und Leidenschaft in ihrer ‚nassen‘ Zeit erlebt haben. Und sie reden über Freude, Neugier, Unsicherheit und Angst, die sie bei dem Gedanken empfinden, diese intensiven sexuellen Gefühle zukünftig mit klarem Kopf erleben zu wollen.

    Das MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“

    Alle Patienten nehmen jetzt während ihres Reha-Aufenthaltes an dem dreitägigen MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“ teil. An diesen fest im Therapieplan verankerten Tagen werden in verschiedenen Modulen ganz konkrete Themen zum Bereich „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“ bearbeitet, z. B. „Die Sache mit der Liebe“, „Frauen verstehen lernen“, „Was Frauen erwarten“, „Wie präsentiere ich mich?“, „Der erste Kontakt“, „Vorsicht beim Dating“, „Sex und Leistungsdruck“, „Pornos“, „ Fremdgehen“, „Was es für eine dauerhaft gelingende Partnerschaft braucht“ und „Was tun, wenn keine Partnerschaft zustande kommt?“.

    Bevor die Klinik das Angebot „Fit fürs L(i)eben“ einführte, wurden die Inhalte vom therapeutischen Team geclustert. An diesem Prozess waren auch die Patienten beteiligt. Themenauswahl und Schwerpunktsetzung wurden nach der vorgesehenen Evaluierung im Hinblick auf Wirksamkeit und Teilnehmerakzeptanz optimiert. Zentrales Ziel, das die die Klinik mit dem MännerCamp anstrebt, ist die Erweiterung von Handlungsbefähigung und damit die Verbesserung von Verwirklichungschancen hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität für die Rehabilitanden.

    Rolle der Mitarbeiter/innen

    Eine große Zahl an Patienten gibt in der Befragung Gefühle von Liebe und sexuellem Begehren gegenüber Klinikmitarbeiter/innen an. In einer gemischtgeschlechtlichen Klinik wäre diese Zahl vermutlich deutlich geringer. Hier muss die therapeutische Leitung sehr aufmerksam – auch mit supervisorischer Unterstützung – dafür Sorge tragen, dass insbesondere die Bezugstherapeuten professionell mit dieser Thematik umgehen.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von männlichen Therapeuten gilt es, zwischen einem konstruktiven Arbeitsbündnis und unangemessener Solidarität zu differenzieren. Vater-Sohn-Übertragungen, Vermischungen mit eigenen schmerzhaften Erfahrungen mit Frauen sowie eventuell die eigene belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität u. ä. müssen beachtet werden.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von Therapeutinnen gilt es, darauf zu achten, nicht in mögliche Fallen zu geraten wie: die Mutter-Rolle zu übernehmen, Ersatz-Partnerin zu sein, in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten, Beziehungsmuster des Klienten zu Frauen unhinterfragt zu wiederholen oder durch die eigene eventuell belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität beeinflusst zu werden.

    Ärztliche Untersuchung

    Bei der ärztlichen Untersuchung der Patienten wird in Vielbach jetzt darauf geachtet, Fragen nach sexuellen Störungen regelhaft durch einen Arzt, nicht eine Ärztin, zu stellen. Hier gilt es, sich früh zu entscheiden, für welche der festgestellten Störungen welche Therapie (somatisch oder/und psychotherapeutisch) angezeigt ist und welche Störungen während der stationären Rehabilitation oder vielleicht anschließend behandelt werden sollten. Entscheidend sind die Wünsche des von den Klinikmitarbeiter/innen – eventuell auch von Konsiliarärzten – fachlich gut beratenen Patienten.

    Liegt eine entsprechende medizinische Indikation (erektile Dysfunktion) vor, kann Patienten „Viagra“, „Cialis“ o. Ä. verordnet werden. Der Verordnung wird ein Beratungsgespräch zwischen Patient und Bezugstherapeut/in regelhaft vorgeschaltet.

    Psychotherapie

    Traumatisierende Ereignisse, die negativen Einfluss auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit eines Patienten genommen haben, sollen regelhaft im Rahmen der psychotherapeutischen Befunderhebung festgestellt und behandelt werden.

    Neun von zehn Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein suchtmittelfreies Leben. Nicht wenige Patienten machen die/den potenziellen Partner/in quasi für ihr Wohlergehen und damit ihre Abstinenz verantwortlich. Eine solche Einstellung in Gruppen- und Einzeltherapiegesprächen therapeutisch zu bearbeiten, ist lohnenswert. Dieser Prozess unterstützt die Patienten auf ihrem Weg in die Eigenverantwortlichkeit und stärkt ihre Abstinenzfähigkeit.

    Tiergestützter Behandlungsansatz

    Erfahrungen, die in Vielbach im Rahmen des tiergestützten Behandlungsansatzes gesammelt wurden, helfen ebenfalls bei der Umsetzung von therapeutischen Interventionen in diesem Themenbereich. Die Referentin Sonja Darius traf bei der Fachtagung Sucht & Sexualität zur Rolle von Tieren bei der Heilung von Bindungs- und Beziehungsstörungen die Feststellung: „Ohne das Knüpfen neuer, gelingender Beziehungen wird den meist alleinstehenden Patienten nach der Therapie ein Neustart in ein gutes, suchtfreies Leben nur schwer gelingen. Tiergestützte therapeutische Angebote wie im Fachkrankenhaus Vielbach können gute Voraussetzungen für neue, gelingende Beziehungsaufnahmen schaffen und stellen damit einen wertvollen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Suchtrehabilitation dar.“

    Auch die Erfahrungen externer Kolleginnen und Kollegen fließen in die Weiterentwicklung des Vielbacher Konzeptes ein. Im Rahmen verschiedener Suchtkongresse stellt die Klinik ihr Sucht & Sexualität-Projekt vor und diskutiert es mit den Teilnehmenden.

    (Zwischen-)Resümee

    Mit der offenen Thematisierung des privaten Lebensbereiches „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“, der auch in der Therapie angemessen Platz finden soll, hat das Fachkrankenhaus Vielbach unbeabsichtigt ‚Zauberlehrling‘ gespielt. Die Mitarbeiter/innen waren erst erschrocken, dann erstaunt über die vielfältigen klinikinternen wie externen Reaktionen.

    Die Patienten haben der Klinik mit ihren Beiträgen in der SuchtGlocke und ihren Antworten im Rahmen der Befragung einen ‚Schatz’ anvertraut. Sie haben den Mitarbeiter/innen mitgeteilt, was sie in einem sehr intimen Bereich ihres Lebens bewegt. Ihre Erfahrungen und Fragen, ihre Probleme und Ängste, ihre Wünsche und Träume. Leitung und Team der Klinik wollen auf möglichst viele Fragen Antworten geben, Ängste nehmen, Hoffnung stiften und zusammen mit ihnen realistische Zugänge zu gelingender Partnerschaft und Sexualität schaffen.

    Wie weit gehend? Das werden sie zusammen ausprobieren.

    Kontakt:

    Joachim J. Jösch
    Fachkrankenhaus Vielbach
    Nordhofener Str. 1
    56244 Vielbach
    Tel. 02626/9783-25
    joachim.joesch@fachkrankenhaus-vielbach.de

    Angaben zum Autor:

    Joachim J. Jösch leitet das Fachkrankenhaus Vielbach seit 2006. Zusammen mit der stationären Vorsorge „Neue Wege“ und der „Nachsorge Ambulante Integrationshilfe“ bildet das Fachkrankenhaus das Sucht-Hilfe-Zentrum Vielbach.

    Weiterführende Literatur:
    • Fachklinik Bad Tönisstein (Hrsg.) (1993): Bad Tönissteiner Blätter. Beiträge zur Suchtforschung und ‑therapie. Bd. 5, H. 2. Bad Tönisstein
    • Patienten des Fachkrankenhaus Vielbach (2017): Wann ist Mann eine Mann? In: Patientenzeitschrift SuchtGlocke, Jg. 32, H. 57, S. 14-23
    • Robert Koch Institut (Hrsg.) (2014): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Berlin
    • Stiftung Männergesundheit (Hrsg.) (2017): Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht. Gießen

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Kulturdrogen – Drogenkultur

    Kulturdrogen – Drogenkultur

    Jost Leune

    Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.

    Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende

    Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).

    Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).

    Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).

    Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)

    Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:

    22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
    23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
    24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)

    Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.

    Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).

    Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)

    500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten

    Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982). 

    1618–1648
    30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.

    1677
    Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.

    1771
    Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).

    1773
    Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.

    1780
    Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.

    1804
    Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.

    19. Jahrhundert
    Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.

    1850
    Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.

    1859/60
    Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.

    1845
    Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.

    1862
    Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.

    1875
    Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges.
    „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)

    1878
    20.000.000 Opiumabhängige in China

    1893
    Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.

    1896
    Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.

    1912
    MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.

    1920er Jahre
    Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.

    1920er Jahre
    In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).

    1926
    Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.

    1926
    Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.

    Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig.
    „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)

    1937
    Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
    Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).

    1938
    Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.

    1940
    Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
    Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.

    1945
    Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

    1949
    Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.

    1953
    Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.

    1954
    In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.

    1954
    Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

    1967
    Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

    1968
    Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.

    Drogen und ihre Kultur

    Alkoholkonsum

    Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1). 

    Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)

    Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).

    Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:

    • 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
    • Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
    • 2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
    • 2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.

    Konsum illegaler Drogen

    An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:

    Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016

    Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich

    Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.

    Alkohol
    Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet. 

    Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017). 

    Amphetamin
    Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed). 

    Barbiturate
    Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol. 

    Cannabis
    Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.

    Kokain
    Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.

    Ketamin
    Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.

    LSD
    LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.

    MDMA
    MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.

    Opiate
    Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend. 

    Psilocybin
    Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.

    Schlussbemerkung

    Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert. 

    „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.

    Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.

    Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)

    Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.

    Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)

    Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.

    Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat.
    Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer 

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

     Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

     Literatur:
    • Amendt, G. (2014), Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Herausgegeben von Andreas Loebell, Rotpunktverlag
    • Amendt, G. (1984), SUCHT – PROFIT – SUCHT, Zweitausendeins Verlag Frankfurt
    • Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (Hg.) (2016), Bericht 2016 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2015/2016), Workbook 3 Drogen. Internet: http://www.dbdd.de/fileadmin/user_upload_dbdd/01_dbdd/PDFs/wb_03_drogen_2016_germany_de_2016.pdf (Zugriff am 23.11.2016)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hg.) (2017), Jahrbuch Sucht 2017, Papst-Verlag Lengerich
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Daten und Fakten. Internet: http://www.dhs.de/datenfakten.html (Zugriff am 11.10.2017)
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hg.) (2017), Alkoholatlas Deutschland 2017. Internet: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf (Zugriff am 19.10.2017)
    • Freistaat Thüringen, Haushaltsplan 2017. Internet: https://www.thueringen.de/th5/tfm/haushalt/aktuell/index.aspx (Zugriff am 16.10.2017)
    • Hecht, M. (2013), Die Stadt, das Bier und der Hass. Der Zusammenhang von Politik und Alkohol in der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus. Vortrag gehalten vor dem 36. fdr-Kongress am 7. Mai 2013 in München. Internet: https://fdr-online.info/wp-content/uploads/file-manager/redakteur/downloads/veranstaltungen/36_fdrkongress/S29-3_Hecht.pdf (Zugriff am 10.09.2017)
    • Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
    • Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
    • Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
    • Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
    • Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Suchtgefährdete alte Menschen

    Erica Metzner, Leiterin des Suchthilfezentrums (l.), und Beate Schwarz, Projektleiterin „Sucht im Alter“. Foto: Stadtmission Nürnberg

    Unter dem Titel „Gesundheit für Ältere gestalten – Lebensqualität fördern“ hatte der Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) zur Bewerbung um den vdek-Zukunftspreis 2017 aufgerufen. Das Projekt SAM (Suchtgefährdete Alte Menschen) der Stadtmission Nürnberg wurde mit dem zweiten Platz und einem Preisgeld von 3.500 Euro ausgezeichnet.

    Das Projekt SAM (Suchtgefährdete Alte Menschen) der Stadtmission Nürnberg unterstützt Pflegekräfte und
    Pflegeeinrichtungen dabei, Betreute mit problematischem Alkohol- oder Medikamentenkonsum besser zu versorgen. Dabei sollen gemeinsam mit den Betroffenen Wege des Umgangs mit der Suchterkrankung gefunden werden. Auch Angehörige erhalten bei SAM Beratung und Unterstützung.

    Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bei älteren Menschen ist ein Massenphänomen. Nach offiziellen Statistiken sind etwa 400.000 der über 60-Jährigen in Deutschland alkoholabhängig, und etwa zehn Prozent der Bewohner in Alten- und Pflegeheimen haben einen problematischen Alkoholkonsum. Eine Medikamentenabhängigkeit, insbesondere von Schlaf- und Schmerzmitteln, besteht nach Schätzungen gar bei 25 Prozent aller über 70-Jährigen. Eine große Herausforderung für die Einrichtungen – und ein Feld mit dringendem Handlungsbedarf. „Das sind jedoch absolute Tabuthemen“, sagt Sozialpädagogin Erica Metzner, Leiterin des Suchthilfezentrums der Stadtmission Nürnberg. „Zum einen herrscht eine gewisse Handlungsangst bei den Pflegekräften. Schließlich sollen die Persönlichkeitsrechte der Bewohner respektiert werden. Zum anderen sehen auch Angehörige bei auffälligem Verhalten oft weg und sagen sich, der Betroffene ist halt so, weil er alt ist.“

    Am Suchthilfezentrum stiegen die Anfragen von ambulanten und stationären Einrichtungen zum Umgang mit Suchterkrankten in den letzten Jahren immer weiter an. Das nahm Metzner zum Anlass, das Projekt SAM ins Leben zu rufen. SAM ist Ende 2016 mit einer Laufzeit von drei Jahren gestartet. Die Einrichtungen erhalten von der Stadtmission Coachings, um eine Leitlinie für ihr Haus zu entwickeln: Wie steht die Einrichtung als Ganzes zur Suchtproblematik? Wie können Risiken und Risikofälle wahrgenommen und dokumentiert werden? „Es geht um die Prozessgestaltung“, sagt Projektleiterin Beate Schwarz, ebenfalls ausgebildete Sozialpädagogin. „Die Einrichtung definiert für sich: So geht unser Dienst mit Suchtfällen um.“ Pflegekräfte werden im Anschluss an die Leitlinienarbeit zum konkreten Umgang mit den betreuten alten Menschen geschult: Wie verhalte ich mich? Wie kann ich den Konsum oder die Risiken ansprechen?

    Auch eine Angehörigengruppe wurde ins Leben gerufen. Die Teilnehmenden erhalten Entlastung und Unterstützung in ihrer schwierigen Rolle als engste Bezugspersonen – und oftmals einzige Sozialkontakte der Betroffenen. Ihnen wird auch vermittelt, wie sie Verhaltensweisen umsetzen können, die sie selbst stärken. Eine ehrenamtliche Helferin, die früher selbst suchtkrank war, bringt zudem ihre Erfahrungen in die Gruppe ein.

    Nicht über, sondern mit den Betroffenen zu entscheiden, müsse das Ziel sein, sagt Metzner. Sie sieht es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an, Sucht als Krankheit, als eine psychische Erkrankung zu sehen und davon wegzukommen, Betroffene mit Schuldzuschreibungen und Abwertung zu versehen. Denn mit einer Krankheit kann man umgehen, und sie ist behandelbar. „Es gibt allerdings keinen Umgang mit Sucht, ohne das Kind beim Namen zu nennen“, ergänzt Schwarz.
    Kontakt: beate.schwarz@stadtmission-nuernberg.de

    Text: Raffaele Nostitz
    Quelle: „ersatzkasse magazin. spezial“, Oktober 2017, hrsg. v. vdek

  • Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai

    Nur 16 Prozent der Menschen mit einem riskanten oder abhängigen Konsum von Alkohol holen sich Hilfe im Versorgungssystem. Dabei gehen fast alle von ihnen mindestens einmal im Jahr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wie können diese Menschen erreicht werden, damit sie besser von Hilfeangeboten für die Suchtproblematik profitieren können? An der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg wurde untersucht, welche Auswirkungen die Einführung eines Suchtkonsils zeigt. Bei einem Suchtkonsil handelt es sich um eine spezifische Suchtberatung durch einen erfahrenen Suchttherapeuten, die von der Krankenhausstation (Ärzte, Pflegepersonal) gezielt angefordert wird. Nach zweieinhalb Jahren wurden die Ergebnisse dieser Beratung (z. B. Vermittlung in die Entzugsbehandlung) ausgewertet.

    Handlungsbedarf bei Früherkennung und Frühintervention

    Im Jahr 2015 formulierte die Bundesrepublik Deutschland „Alkoholkonsum reduzieren“ als Nationales Gesundheitsziel (http://gesundheitsziele.de/). Darin wird die Bedeutung von Früherkennung und Frühintervention betont:

    „Trotz hoher gesellschaftlicher Folgekosten des problematischen Alkoholkonsums und alkoholbezogener Erkrankungen ist in Deutschland eine Unterversorgung insbesondere in den Bereichen der Früherkennung und Frühintervention bekannt und belegt. Andererseits wurde in Studien die Wirksamkeit von Frühinterventionen insbesondere in Hausarztpraxen (Kaner et al., 2007) und unter bestimmten Voraussetzungen auch im Allgemeinkrankenhaus nachgewiesen (McQueen, Howe, Allan, Mains, & Hardy, 2011). Durch Frühinterventionen beispielweise über die ärztliche Praxis oder im Krankenhaus kann eine breite Gruppe von Personen mit problematischem Alkoholkonsum erreicht werden. So weisen 80 Prozent der Alkoholabhängigen jährlich mindestens einen Kontakt zur hausärztlichen oder einer vergleichbaren Praxis auf; 24,5 Prozent mindestens einen Krankenhausaufenthalt und insgesamt 92,7 Prozent irgendeinen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin oder Krankenhaus (Rumpf, Hapke, Bischof, & John, 2000). Von riskant Alkohol Konsumierenden finden sich 75 Prozent beim Hausarzt/Hausärztin ein, 70 Prozent hatten beim Zahnarzt/Zahnärztin, 58 Prozent beim Facharzt/Fachärztin und 15 Prozent im Krankenhaus Berührungspunkte zum Gesundheitswesen; lediglich sieben Prozent der Alkohol-Risikokonsumenten nimmt in zwölf Monaten keinerlei medizinische Angebote in Anspruch (Bischof, John, Meyer, Hapke, & Rumpf, 2003). Dies unterstreicht die Bedeutung der primärärztlichen Versorgung im Bereich der Früherkennung und Frühintervention. Zudem sollte die Qualifikation und Kompetenz bezüglich der Früherkennung auch durch die verschiedenen Berufsgruppen im Sozial- und Bildungswesen gewährleistet sein.“ (Nationales Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“, 2015, S. 11, http://gesundheitsziele.de/)

    Auch in der gültigen S3-Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung“ finden sich entsprechende Empfehlungen: „Generell ist Screening auf riskanten Alkoholkonsum oder schädlichen Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit in Settings sinnvoll, in denen proaktiv auf Patienten zugegangen wird. Das betrifft häufig Frühinterventionsmaßnahmen in Settings der medizinischen Grundversorgung.“ (Langfassung vom 28.02.2016, S. 15)

    Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) geht in „Psyche im Fokus“ (1/2016, S. 2–3) ebenfalls auf die Früherkennung und Frühintervention bei Suchterkrankungen ein und gibt ein richtungsweisendes Statement ab: „Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplan vorgesehen.“

    Pilotprojekt: Einführung eines Suchtkonsils

    Im deutschen Krankenhausalltag findet ein systematisches Alkohol-Screening auf somatischen Stationen in vielen Fällen nicht statt. Der psychiatrische Konsiliardienst (Begleitdiagnostik durch einen angeforderten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) kann aufgrund der begrenzten Ressourcen nur einen geringen Teil der zu erwartenden Fälle erfassen. Wie viele Patienten durch die Einrichtung eines zusätzlichen Suchtkonsils erreicht werden können, wurde an zwei Standorten der Vivantes-Kliniken in Berlin Tempelhof-Schöneberg im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.

    Im Bezirk leben etwa 330.000 Menschen, die Prävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 7.840 und für den schädlichen Konsum von Alkohol bei rund 12.420. Nach der Studie von Rumpf, Hapke, Bischof & John (2000) sind bis zu 5.000 Fälle an Folgeerkrankungen von Alkoholkonsum pro Jahr an den beiden Vivantes-Standorten auf den verschiedenen Stationen zu erwarten. Dabei handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, da die Zahlen eines dritten Krankenhauses im Bezirk von einem anderen Träger nicht berücksichtigt werden konnten.

    Zusätzlich zum psychiatrischen Konsiliardienst der Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie in den beiden Krankenhäusern wurde von 11/2013 an ein Suchtkonsil der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit angeboten, das entweder vom Oberarzt der Klinik oder einem approbierten Diplom-Psychologen durchgeführt wurde. Das Suchtkonsil wurde in der Klinikkonferenz beschlossen und auf den somatischen Stationen im Rahmen von Besprechungen oder Abteilungsfortbildungen bekannt gemacht. Die Reaktionen auf den Dienst waren in dieser Phase sehr vielfältig. Sie reichten von Zustimmung („höchste Zeit bei den vielen Fällen, die wir sehen“) bis hin zu Ablehnung („spielt bei uns keine Rolle“). Das Konsil musste von den Stationen standardisiert über die elektronische Patientendokumentation ausgelöst werden wie jede andere fachärztliche Untersuchung auch. Die durchgeführten Gespräche waren sehr differenziert. Es gab erste Informationsgespräche, bei denen das Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick zum Einsatz gebracht wurde, und es gab Gespräche zur gezielten Vorbereitung weiterführender suchtmedizinischer Maßnahmen (Kontakt zur Beratungsstelle, Verlegung zur Entzugsbehandlung und Antragstellung für eine Entwöhnungstherapie).

    Von 11/2013 bis 5/2016 wurden insgesamt 185 Konsile angefordert. Von diesen 185 Fällen erschienen in der Folge 24 Fälle (13 Prozent) zu einem Vorgespräch in der Entwöhnungsklinik, in den meisten Fällen nach einer vorangegangenen Entzugsbehandlung in der psychiatrischen Nachbarabteilung. In insgesamt 17 Fällen (neun Prozent) konnte die Aufnahme zur Entwöhnungsbehandlung realisiert werden. Nicht systematisch erfasst wurde die Akzeptanz für die Gespräche, gerade auch bei den angesprochenen Patienten, die zunächst keine Hilfe annahmen. Ein Interview mit den durchführenden Ärzten und Psychologen erbrachte die Einschätzung einer recht hohen Akzeptanz für die Gespräche. Dies würde die Ergebnisse der Studie von Freyer et al. (2006) in Greifswald bestätigen. Dort reagierten rund 66 Prozent der angesprochenen Patienten mit einer Alkoholproblematik auf somatischen Stationen positiv auf die Intervention mit Beratung.

    Das Stigma der Sucht

    Neben der Ausstattung und den Ressourcen der Klinik ist auch das Phänomen „Stigma der Sucht“ zum großen Teil dafür verantwortlich, dass so wenig Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in den somatischen Abteilungen eines Krankenhauses erreicht werden. Studien wie die von Schomerus, Matschinger & Angermeyer (2006 und 2013 ) belegen eine Ablehnung von Abhängigkeitserkrankungen in unserer Gesellschaft und eine nach wie vor vorhandene Einschätzung, dass Sucht selbst verschuldet ist (siehe Abbildungen 1 und 2).

    Abb. 1: Anhand von Fallbeispielen, ohne Kenntnis der Diagnose, beurteilten Studienteilnehmer, ob die jeweiligen Betroffenen an einer psychischen Krankheit im medizinischen Sinne leiden. Das Krankheitsbild Alkoholismus wurde deutlich seltener als Krankheit angesehen als z. B. Depression oder Schizophrenie. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2013. Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Res 209, 665-669.
    Abb. 2: Per Telefoninterview wurde gefragt, bei welchen Krankheiten bei der Versorgung von Patienten am ehesten Geld eingespart werden könnte. Zur Auswahl gestellt wurden neun Krankheiten, drei Antworten waren möglich. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2006. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 41, 369-377.

    Dies führt dazu, dass Betroffene lange Zeit versuchen, die Erkrankung zu verbergen aus Furcht vor der negativen Bewertung des Umfeldes. Wird eine Suchterkrankung bekannt, fühlt sich aber auch häufig das Umfeld unwohl und schaut reflexhaft, mit einer Art von falschem Taktgefühl, weg. Auch auf somatischen Stationen oder auf Rettungsstellen ist dieses Phänomen zu beobachten: Ein Patient wird mit einer akuten Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) in das Krankenhaus gebracht. Recht rasch wird anhand des klinischen Befundes und der Laborkonstellation deutlich, dass die Krankheit durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstanden ist (alkoholtoxische Genese). Bei Konfrontation mit den Befunden reagiert der Patient bagatellisierend und beschämt, lehnt auch per Mimik und Gestik Gespräche darüber ab. An dieser Stelle wirken Zeitnot und das (falsche) Taktgefühl des Arztes unheilvoll zusammen. Der Arzt spürt die Not seines Patienten und den Wunsch, nicht weiter beschämt oder auch ‚belästigt‘ zu werden, und respektiert ihn. Selbst wenn ihm bewusst wird, dass dieser Zustand überwunden werden sollte, spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dem Arzt ist klar, dass ein Gespräch über den Alkoholkonsum nicht ‚zwischen Tür und Angel‘ geführt werden sollte, also zeitlichen und empathischen Aufwand bedeutet. Häufig sind die personellen Ressourcen so knapp, dass diese Gespräche dann gar nicht stattfinden. Die Hoffnung des Patienten, dass der Konsum „noch nicht so schlimm ist“, wird damit indirekt bestätigt.

    Das Stigma der Sucht wirkt aber auch auf eine andere Weise. Die Extremformen des Konsums von Substanzen, die Abhängigkeit erzeugen, werden gesellschaftlich recht breit abgelehnt. Konsum, der ohne die extremen Anzeichen von Missbrauch und Abhängigkeit auftritt, wird dagegen sehr lange toleriert, obwohl er bereits mit Schäden behaftet sein kann. Es ist eine heikle Frage, ab wann und wie Betroffene auf ihren Konsum angesprochen werden sollten.

    Für das medizinische Personal kann der risikoreiche Alkoholkonsum eines Patienten auch noch ein ganz anderes Problem aufwerfen, nämlich die Frage nach dem eigenen Konsum. Dieser wird möglicherweise konflikthaft erlebt und wirft Unsicherheiten auf. Diese Gefühlslage kann sich mit der Situation des Patienten zu einer unausgesprochenen Übereinkunft darüber vermengen, nicht über das Thema zu sprechen. Entsprechende Zusammenhänge thematisiert die Psychotherapeutin Agnes Ebi in ihrem Buch „Der ungeliebte Suchtpatient“ (1998). Neben vielen anderen Aspekten der Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten beschreibt sie dabei auch die unbewusste Furcht vor der Nähe zum Süchtigen.

    Sucht als Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung verankern

    Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem ableiten? Ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stigmatisierung der Sucht wird einen langen Zeitraum erfordern. Erwähnt sei an dieser Stelle der bekannte historische Umstand, dass die Definition der Alkoholabhängigkeit durch die WHO von 1952 in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später, 1968, zu einer sozialrechtlichen Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit führte. Vor 1945 wurde ein Teil der Alkoholabhängigen umgebracht oder der Zwangssterilisierung zugeführt. Dies scheint im transgenerativen Prozess noch nicht vollständig verarbeitet zu sein, und ein Teil der Menschen sieht eine Abhängigkeitserkrankung immer noch als einen selbstverschuldeten Zustand an.

    Die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff in den öffentlichen Räumen unserer Gesellschaft wird notwendig sein, um die Akzeptanz für die Erkrankung auf einen Stand zu bringen, der z. B. mit dem beim Diabetes mellitus vergleichbar ist. Schulen, Betriebe, Vereine, Institutionen, aber auch die Medien, sind Kommunikationsorte, an denen entsprechende Prozesse in Gang gebracht werden müssen. Anfangen können diese Prozesse jedoch im Krankenhaus, das mit gutem Beispiel vorangeht und systematisch daran arbeitet, den Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen ‚salonfähig‘ zu machen. Ein routineartig durchgeführtes Suchtkonsil stellt das wichtigste Signal in diesem Zusammenhang dar. Die Widerstände gegen die Einführung dieses Konsils sind zunächst groß, weil ein direkter betriebswirtschaftlicher Nutzen für das Krankenhaus zunächst nicht berechnet werden kann. Das DRG-System liefert je nach Lesart (Controlling-Haltung) Anreize, einen Abhängigkeitserkrankten mit mehreren Folgeerkrankungen als eine Art ‚Cash-Cow‘ zu betrachten, die erlösorientiert ausgeschlachtet wird. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen und eine Motivierung zur Entzugsbehandlung stellen möglicherweise ein unternehmerisches Risiko dar. Die Endrechnung wird der Gesellschaft an anderer Stelle präsentiert und belastet Kommunen und Rentenversicherungen.

    Beim Deutschen Suchtkongress im September 2016 in Berlin referierte PD Dr. Georg Schomerus über das Stigma der Sucht und gab einen Überblick über den Forschungsstand. Dabei scheute er nicht die Frage, ob ein Stigma positive Folgen habe, zum Beispiel durch eine Form der Abschreckung. Die Ergebnisse sind bislang eindeutig: Das Stigma führt vielmehr zu einer Aufrechterhaltung von Heimlichkeit und Wegschauen. Im September 2016 fand eine Klausurtagung mit verschiedenen Experten in Greifswald statt, die sich mit dem Thema „Stigma der Sucht“ beschäftigten. Auftraggeber war das Bundesministerium für Gesundheit. Als Ergebnis dieses Expertentreffens liegt nun das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ vor, das den Versuch unternimmt, das Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Suchtkrankheiten zu erklären und Wege für einen stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten aufzuzeigen. Für den klinischen Bereich ist zu hoffen, dass das Suchtkonsil zum Standard in deutschen Krankenhäusern wird.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai
    Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
    Rubensstraße 125
    12157 Berlin
    Tel. 030/13 020-86 00
    Darius.ChahmoradiTabatabai@vivantes.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg.

  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Dr. Peter Degkwitz

    In diesem Artikel werden ausgewählte Ergebnisse einer Evaluation der Eingliederungshilfe Sucht in Hamburg vorgestellt. Die Studie wurde von der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) in Hamburg in Auftrag gegeben und vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) realisiert. Der entsprechende Studienbericht liegt seit April 2016 vor (Degkwitz et al. 2016).

    Eingliederungshilfe als Versorgungsbereich bei Abhängigkeitserkrankungen

    Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) für Menschen mit Suchterkrankungen erhalten Personen, „die durch eine Behinderung (…) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (SGB XII, §53). Diese Leistungen werden nach § 54, SGB XII, nachrangig zu Rehabilitationsmaßnahmen der Kranken-, Renten- und Unfall­versicherung (als den vorrangig verpflichteten Kostenträgern) gewährt. Die EGH Sucht hat sich ab Mitte der 1970er Jahre als spezialisierter Leistungsbereich für Abhängigkeitserkrankte mit kooperierenden Einrichtungen in Hamburg und Umgebung als eine wichtige Säule der Hamburger Sozial- und Gesundheitspolitik etabliert. Die Angebote der EGH Sucht dienen als Vorbereitungsmaßnahmen zur medizinischen Rehabilitation (Vorsorge) sowie als sich anschließende Übergangsmaßnahmen nach einer Rehabilitation bzw. Adaption (Nachsorge). Unter die EGH fallen auch langfristige stationäre, teilstationäre und ambulante Maßnahmen für chronisch be­einträchtigte Abhängigkeitserkrankte, sofern der Anspruch auf medizinische Rehabilitation nicht oder nicht mehr besteht (BGV 2014).

    Fragestellung und Design

    Die Zunahme an Personen pro Jahr, die Neu- bzw. Weiterbewilligungen erhalten, der Anstieg der Gesamtdauer bewilligter Maßnahmen sowie die generelle Kostensteigerung der EGH für Suchtkranke sind der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Die Studie sollte Hintergründe der genannten Entwicklungen klären sowie die Zielerreichung der Maßnahmen der Eingliederungshilfe Sucht untersuchen.

    Die besondere Aufgabe oder Zielsetzung der Eingliederungshilfe besteht darin, „den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen“ (SGB XII, §53) und dabei „möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände“ zu lassen und Selbstbestimmung zu fördern (SGB IX, §9, Abs. 3). Das zeigt sich an Kriterien wie finanzieller Unabhängigkeit, eigenem Wohnraum, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und dem Nachgehen einer Beschäftigung. Bei Klientinnen und Klienten mit multiplen und chro­nischen Problemlagen, die sich häufig in Maßnahmen der Eingliederungshilfe befinden, nachdem vorrangige Kostenträger ausgeschieden sind, ist die Erreichung dieser Ziele allerdings nicht in einem Schritt, sondern nur koordiniert in der Versorgungskette möglich. Bei der Evaluation der Maßnahmen der EGH gelten daher die folgenden Verläufe am Ende einer Maßnahme als wichtige Indikatoren von Zielerreichung: der dauerhafte Maßnahmeabschluss (ohne Wiedereintritt), die Vermittlung in Maßnahmen vorrangiger Träger sowie die Vermittlung in Maßnahmen, die den Übergang in eine selbstbestimmte Lebensführung unterstützen.

    Die Fragestellungen zur Zielerreichung in der EGH sowie zu maßnahme- und personenbezogenen Faktoren der Zielerreichung wurden insbesondere durch den Vergleich von Gruppen mit unterschiedlich intensiver Inanspruchnahme (gemessen in Tagen der Nutzung von EGH-Maßnahmen über fünf Jahre) retrospektiv un­tersucht.

    In einer zusätzlichen prospektiven Untersuchung von Klientinnen und Klienten, die neu in Maßnahmen der EGH eingetreten sind, geht es vorrangig um die Wirksamkeit bezogen auf vereinbarte Ziele der Maßnahmen innerhalb eines 6-Monats-Zeitraums.

    Die Evaluation der Eingliederungshilfe erfolgt anhand dreier Untersuchungsmodule: retrospektiv auf Grundlage der Dokumentation aller Maßnahmen der Eingliederungshilfe der letzten fünf Jahre (A), vertiefend aufgrund einer Aktenanalyse intensiverer Nutzer (B) sowie prospektiv für Neuaufnahmen in Maßnahmen der EGH (C).

    A) Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe Sucht über fünf Jahre (Gesamtübersicht)

    Die Untersuchung des Versorgungsgeschehens erfolgte retrospektiv über einen 5-Jahres Zeit­raum (2010 bis 2014). In dieser Zeit wurden in Hamburg fast 10.000 Maßnahmen der Eingliederungshilfe von etwa 3.000 unterschiedlichen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung in Anspruch ge­nommen. Dabei wurden pro Jahr knapp 2.000 Maßnahmen der EGH von 1.100 bis 1.200 verschiedenen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung genutzt (Abbildung 1). Die Anzahl der Personen erhöht sich, aber noch stärker steigt die Anzahl an Tagen, die pro Per­son pro Jahr insgesamt in EGH-Maßnahmen verbracht wurden. Die durchschnittliche Maßnahmedauer pro Person steigt im 5-Jahresverlauf von 148 auf 181 Tage an.

    Abbildung 1: Entwicklung der Maßnahmedauer in Tagen (MW) pro bewilligter Maßnahme und pro Person sowie Entwicklung der Anzahl von Maßnahmen und Personen über die Jahre 2010 bis 2014

    Hinsichtlich der Art der Beendigungen von Maßnahmen wird insgesamt, bezogen auf den 5-Jahres-Zeitraum, ein Drittel der Maßnahmen regulär beendet, und bei einem weiteren Drittel folgen fortgesetzte Maßnahmen in der Eingliederungshilfe. Das übrige Drittel der EGH-Maßnah­men wird abgebrochen (durch den Klienten oder durch die Einrichtung). Im Verlauf der fünf Jahre geht der Anteil regulärer Beendigungen zurück, und es steigt der Anteil an Maßnahmen, die in der EGH fortgesetzt bzw. verlängert werden.

    Die Fortsetzung von Maßnahmen konzentriert sich auf be­stimmte Maßnahmetypen. Die Typen von Maßnahmen werden in der Eingliederungshilfe Sucht traditionell unterteilt nach dem Inhalt, und zwar nach Vorsorge, Nachsorge, Übergang sowie nach der Art der Erbringung: stationär, teilstationär oder ambulant. Bei den fortgesetzten Maßnahmen handelt es sich eher um Maßnahmen am Ende der Versorgungskette der Ein­gliederungshilfe, bei denen, wenn der Übergang in eine selbstbe­stimmte Lebensführung oder die Vermittlung an vorrangige Kostenträger noch nicht gelingt, weitere Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgen, die längerfristig angelegt sind. Ein fortlaufender, dauernder Verbleib in Maßnahmen der Eingliederungshilfe betrifft etwa ein Zehntel des Personenkreises mit Abhängigkeitsstörungen in der EGH.

    B) Merkmale intensiver Nutzer der Eingliederungshilfe

    Die Frage nach personenbezogenen Merkmalen von Menschen, die EGH intensiver in Anspruch nehmen, sollte durch eine Analyse von Personenakten untersucht werden. Die vorliegenden Akten wurden konsekutiv nach folgenden Kriterien einem Screening unterzogen: innerhalb der letzten fünf Jahre mindestens zwei Jahre ununterbrochen in Maßnahmen oder im selben Zeitraum mehr als dreimalige Inanspruchnahme von Maßnahmen in Einrichtungen der EGH.

    Es wurden 302 Akten nach den genannten Kriterien zufällig ausgewählt. Die betroffenen Personen waren im Durchschnitt in den letzten fünf Jahren 902 (±538) Tage in EGH-Maßnahmen. Bei den Personen, deren Akten nicht in die Analyse einbezogen wurden, waren es 221 (±294) Tage, woraus erkennbar wird, dass sich die hier untersuchten intensiven Nutzerinnen und Nutzer im Ver­gleich zu der übrigen Klientel seit 2010 viermal länger in EGH-Maßnahmen befanden.

    Die intensiven Nutzer wurden nochmal anhand des Kriteriums über/unter 730 Tage (also zwei Jahre) Inanspruchnahme im Verlauf von fünf Jahren in zwei Gruppen „intensive“ und „sehr intensive Nutzer“ unterteilt. Damit sollten personen- und maßnahmebezogene Aspekte identifiziert werden, die mit einer besonders intensiven Inanspruchnahme assoziiert sind.

    Die „sehr intensiven Nutzer“ waren bei einer Gesamtzahl von 1.312 Auf­enthaltstagen seit 2010 (das sind mehr als drei von fünf Jahren) gegenüber den „intensiven Nutzern“ mit durchschnittlich 404 Tagen (etwas über einem Jahr) erheblich länger in EGH-Maßnahmen (Tabelle 1). Sie sind im Durchschnitt fast fünf Jahre älter. Andere personenbezogene Faktoren, darunter Primärdroge, Störungsbeginn und ‑dauer, Komorbiditäten (psychiatrisch, körperlich), Kinder sowie Partnerbeziehung, differenzieren nicht zwischen den Gruppen, d. h., bezogen auf diese Aspekte haben beide Gruppen gleich problematische Ausgangsbedingungen. Nur in gesetzlicher Betreuung sind die „sehr intensiven Nutzer“ signifikant häufiger.

    Die letzte Maßnahme in der Eingliederungshilfe dauerte bei der Klientel, die sich durch eine „sehr intensive“ Inanspruchnahme auszeichnet, mit durchschnittlich 29 Monaten (also 2,5 Jahren) deutlich länger als in der Vergleichsgruppe (ein halbes Jahr). Während „intensive“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger zuletzt Maßnahmen der stationären Vorsorge und Nachsorge wahrgenom­men haben, befinden sich die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger in teilstationären Übergangsein­richtungen und ambulanten Maßnahmen, in denen vermehrt die längerfristig angelegten Betreuungen erfolgen.

    Unter den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern beträgt der Anteil derer, die die Maßnahme dauerhaft beenden („Beendigung der Maßnahme“) 30 Prozent und ist damit geringer als bei den „intensiven“ Nutzern (70 Prozent). Das heißt, die Maßnahme wird mehrheitlich über den letzten Bewilligungszeitraum hinaus verlängert. Bei diesem Verbleib der „sehr intensiven“ Nutzer in Maßnahmen handelt es sich, wie oben angedeutet, häufig um Aufenthalte in längerfristig angelegten teilstationären und ambulanten Maßnah­men wie z. B. die Betreuung im eigenen Wohnraum.

    Hinsichtlich der zu erreichenden Zielsetzungen zeigen sich in den wiederholten längerfristigen Maßnahmen positive Effekte. Das gilt z. B. für funktionale Beeinträchtigungen nach ICF, die zu Beginn und am Ende von Maßnahmen dokumentiert werden. Das Ausmaß an „funktionalen Beeinträchtigungen insgesamt“ bezogen auf die letzte Maßnahme nimmt im Verlauf in bei­den Gruppen signifikant ab. Dabei verbessern sich die „sehr intensiven Nutzer“ etwas weniger (Tabelle 1).

    Die vereinbarten Zielsetzungen der beiden Gruppen unterscheiden sich kaum. Am häu­figsten werden in beiden Gruppen suchtmittelbezogene Ziele zur Einleitung bzw. Sicherung der Abstinenz vereinbart. Inhaltlich geht es für die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger um gesundheitsbezogene Ziele und um Ziele im Hinblick auf die grundlegende Bewältigung von Alltag und Haushalt. Bei den „intensiven Nutzern“ geht es häufiger um Ziele, die sich auf das eigenständige Wohnen beziehen. Eine Verbesserung in den Zielbereichen Sucht und Alltagsbewältigung ist im Rahmen des letzten Bewilligungszeitraums insgesamt häufiger bei den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern zu beobachten. Bei „intensiven Nutzern“ finden sich zu einem geringeren Anteil Verbesserungen (und damit häufiger Verschlechterungen) in den Zielbereichen persönliches Ziel, Alltagsbewältigung, Wohnen und Sucht (Tabelle 1).

    C) Prospektive Untersuchung der Wirksamkeit

    Mit der prospektiven Untersuchung wurde für neu in die Eingliederungshilfe eintretende Kli­entinnen und Klienten die Wirk­samkeit einzelner Maßnahmen hinsichtlich der vereinbarten suchtbezo­genen und teilhabebezogenen Zielsetzungen untersucht. Für die Erhebung konnten über einen Zeitraum von zwölf Monaten 255 Klientinnen und Klienten erreicht werden, von de­nen in der Nach- bzw. Abschlusserhebung 247 Klienten durch die Fachkräfte wieder erreicht wurden, wobei nur von einem Teil (N=136) auch der selbst ausgefüllte Klientenfragebogen vorlag.

    Die Mehrheit der Unter­suchungsteilnehmer befand sich in einem stationären Setting, nur ein Zehntel war in einer teil­stationären Maßnahme. Bei über der Hälfte der Maßnahmen handelt es sich um Vorsorge, womit dieser Maßnahmetyp in der prospektiven Untersuchung aufgrund des Einschlusskriteriums des Neueintritts überrepräsentiert ist. Zu Maßnahmebeginn waren die Klienten im Durchschnitt gut 40 Jahre alt und liegen damit nur leicht unter dem Durchschnittsalter der Klienten der Eingliederungshilfe in Hamburg insgesamt (41,7 Jahre). Mehr als vier Fünftel sind Männer. Bei zwei Dritteln geht es vorrangig um Alkoholprobleme, etwa ein Fünftel gab ‚harte‘ illegale Drogen wie Heroin oder Kokain als Hauptproblemsubstanz an.

    Die Evaluation zeigt, dass die Zielsetzungen mehrheitlich erreicht werden. So haben aus Sicht der Fachkräfte mehr als zwei Drittel der Untersuchungsteilnehmer ihre suchtbezo­gene Zielsetzung überwiegend oder sogar vollständig erreicht (Abbildung 2, linke Seite). Bei mehr als zwei Dritteln hat sich der Umgang mit Suchtmitteln verbessert (Abbildung 2, rechte Seite).

    Abbildung 2: Erreichung suchtbezogener Zielsetzung (links) und Umgang mit Suchtmitteln (rechts) wäh¬rend der Maßnahme aus Sicht der Betreuer (N=246)

    In zentralen Lebensbe­reichen wie z. B. Gesundheit, Freizeitaktivitäten oder sozialen Beziehungen kam es während der Maßnahme aus Sicht der Klientinnen und Klienten sowie der Fachkräfte zu deutlichen Verbesserun­gen.

    Gefragt nach dem Grad der Zielerreichung bei den von den Klientinnen und Klienten persönlich formulierten „zwei wichtigsten“ Zielset­zungen, gab die Mehrheit für beide Ziele an, dass eine Erreichung „eher“ oder sogar „völlig“ zutreffe. Insbesondere das erstgenannte Ziel, das sich vorrangig auf die Bewältigung ihrer Suchtproblematik bezieht, wurde von fast zwei Dritteln vollständig erreicht (Abbildung 3, linke Seite). Nur knapp sechs Prozent teilten mit, dass dies nicht zutrifft. Bezogen auf das zweite persönliche Ziel ist es ein Zehntel, das angab, dieses nicht erreicht zu haben (Abbildung 3, rechte Seite). Schaut man auf die Ziele, die nicht erreicht wurden, so sind es unter den wichtigsten hauptsächlich wohnungsbezogene Zielsetzungen (zu 40,0 Prozent) und unter den zweitwichtigsten ebenfalls wohn- (zu 46,7 Prozent) und arbeitsbezogene Ziele (zu 37,5 Prozent).

    Abbildung 3: Erreichung der zwei wichtigsten persönlichen Zielsetzungen während der Maßnahme aus Sicht der Klienten

    In fast allen standardisiert erhobenen Untersuchungsbereichen sind statistisch signifi­kante positive Veränderungen während der Eingliederungshilfemaßnahme eingetreten. Die Leistungsbeeinträchtigungen nach ICF sind zurückgegangen, und die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich im kör­perlichen und psychischen Bereich während der Maßnahme signifikant verbessert. Auch die psychische Symptombelastung hat sich insgesamt verringert. In der prospektiven Untersuchung zeigt sich eine hohe Zufriedenheit bei den Teilnehmern mit den Bereichen Ausstattung und Atmosphäre, Betreuung, Behandlungsverlauf sowie Vorbereitung auf die Zeit nach der Betreuung.

    Ferner erhöhte sich die Selbstwirk­samkeitserwartung unter der Betreuung deutlich, was für eine Stabilisierung der eingetretenen Veränderungen von Bedeutung sein dürfte. Bezogen auf die Ziele der Eingliederungshilfe erweisen sich die hier untersuchten Maßnahmen überwiegend als erfolgreich.

    Mit der prospektiven Untersuchung konnte im Rahmen einer externen Evaluation für die Eingliederungshilfe gezeigt werden, dass die definierten Ziele zu einem großen Anteil vollständig erreicht werden. Das bekräftigt die Stellung der Eingliederungshilfe als ein Versorgungssegment für Menschen mit Ab­hängigkeitsproblemen, die im Rahmen der regulären Gesundheitsversorgung sowie des Rehabilitationswesens nicht erreicht werden bzw. denen die (vorwiegend stationären) Behand­lungsmaßnahmen der Regelversorgung nicht zugänglich sind.

    Kontakt:

    Dr. Peter Degkwitz
    Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS)
    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
    Martinistraße 52
    20246 Hamburg
    Tel. 040/74 10 57 904
    p.degkwitz@uke.de
    www.zis-hamburg.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Peter Degkwitz, Sozialwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg. Er arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre in epidemiologischen Projekten sowie zur Evaluation von harm reduction-Maßnahmen und Substitutionsbehandlung. Sein besonderes Interesse gilt interdisziplinaren Suchtmodellen.

    Literatur:
  • Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Dr. Joachim Köhler
    Dr. Joachim Köhler

    Problematischer Suchtmittelkonsum (riskanter Konsum, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit) macht vor somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen nicht Halt. Er fällt dort aber eher selten auf, und es bestehen Unsicherheiten, wie damit umgegangen werden soll. Dabei bietet die Rehabilitation gute Voraussetzungen für die Diagnostik möglicher Suchtprobleme sowie für Beratung und ggf. Vorbereitung einer weiterführenden Behandlung. Konkrete Empfehlungen für das Vorgehen in der Praxis liegen nun in Form der Broschüre „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ vor. Sie beschreiben einen mehrstufigen Prozess für Screening und Diagnostik, der gut in die Klinikabläufe integriert werden kann, und zielen auch auf die Sensibilisierung der Mitarbeiter/innen ab.

    Entstehung der Praxisempfehlungen

    Die Praxisempfehlungen für komorbide Suchtprobleme sind als Folgeprojekt nach ersten Praxisempfehlungen für psychologische Interventionen in der Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen und koronarer Herzerkrankung entstanden. Die DRV Bund verbindet mit der Förderung dieses Projekts den Wunsch, die im Zusammenhang mit Suchterkrankungen in somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen bestehenden Unsicherheiten und Schwierigkeiten zu thematisieren. Es werden einfache Maßnahmen aufgezeigt, die den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen als evidenzbasierte Entscheidungshilfe bei Screening, Diagnostik, Intervention und Dokumentation dienen. Sie sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine hohe Zufriedenheit bei Patient/innen und Mitarbeiter/innen zu erreichen.

    Entwickelt wurden die Empfehlungen von einer multiprofessionellen Expertengruppe im Rahmen des Projektes „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ am Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS) des Universitätsklinikums Freiburg. Das Projekt wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund von 2014 bis 2016 gefördert und ist nun mit der Vorlage der Ergebnisse abgeschlossen. Die Praxisempfehlungen liegen als Kurz- und Langfassung vor und werden durch einen Materialband ergänzt. Alle Dokumente stehen als PDF-Dateien auf der Homepage des AQMS www.severa-fr.de > Praxisempfehlungen zum Download zur Verfügung.

    Inhalt und Aufbau

    Die Praxisempfehlungen richten sich an alle Mitarbeiter/innen in somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen für Erwachsene, die nicht auf Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert sind, und sollen dazu beitragen, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Dies steht auch im Einklang mit der aktuellen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, die eine systematische Erhöhung des Problembewusstseins in allen Versorgungsbereichen, den Ausbau von Konsil- und Liaisondiensten sowie die Intensivierung von Maßnahmen zur Früherkennung fordert.

    Die Praxisempfehlungen beziehen sich auf alle stoffgebundenen Suchtprobleme (Alkohol, Medikamente und illegale Drogen) mit Ausnahme von Tabak. Sie wurden in mehreren Schritten entwickelt. Neben einer umfassenden, systematischen Recherche nach relevanten Übersichtsarbeiten und Leitlinien wurden bundesweit stationäre Reha-Einrichtungen aller Indikationsbereiche (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen) zur gegenwärtigen Praxis ihres Umgangs mit dem Thema befragt. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde im Rahmen eines Expertenworkshops eine Konsultationsfassung der Praxisempfehlungen formuliert, die schließlich mit der Bitte um Kommentierung an die ärztlichen Leitungen von stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen und reinen Kinder- und Jugendlichen-Einrichtungen) verschickt wurde. Außerdem wurde im Rahmen von Fokusgruppen mit Rehabilitand/innen über zentrale Aspekte der Praxisempfehlungen diskutiert. Die Anmerkungen und Kommentare wurden ausgewertet und bei der abschließenden Konsentierung der Praxisempfehlungen durch die Experten berücksichtigt.

    Die Praxisempfehlungen gliedern sich in drei Teile A, B und C:

    • Teil A umfasst allgemeine Vorbemerkungen.
    • Teil B enthält allgemeine Informationen zu diagnostischen Kriterien, Definitionen zu risikoarmem und riskantem Konsum, Informationen zu den verschiedenen Suchtstoffen und dem Suchthilfesystem.
    • Teil C ist der eigentliche Empfehlungsteil. Er enthält Empfehlungen zu Einrichtungsstandards, zu Screening und Diagnostik, möglichen Interventionen und zur Dokumentation sowie Empfehlungen zu Sondersituationen. Grundtenor der Empfehlungen zu möglichen Interventionen ist, dass hier realistische Ziele gesetzt werden sollten. Ziel ist nicht die eigenständige Behandlung der Suchtproblematik in nicht-spezialisierten Einrichtungen. Im Rahmen der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation geht es vielmehr um die Bewusstmachung der Problematik bei den betroffenen Rehabilitand/innen, die Vermittlung von Informationen über Risiken und die Motivierung für weiterführende Maßnahmen. In Einrichtungen der psychosomatischen Rehabilitation kann bei entsprechender personeller Ausstattung auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik erfolgen. Dabei ist eine Fortführung der psychosomatischen Rehabilitation bei gesicherter Diagnose einer substanzbezogenen Störung denkbar. Wenn Rehabilitationsfähigkeit besteht und die Rehabilitationsziele zumindest teilweise erreichbar sind, kann die Rehabilitationsmaßnahme – ggf. unter Auflagen – fortgeführt und die Zeit für eine weitere Motivierung der Rehabilitand/innen, ihre Suchtproblematik behandeln zu lassen, genutzt werden.

    Ausblick

    cover_r-broschuere-komorbide-suchtproblemeEs ist zu hoffen, dass somatische und psychosomatische Rehabilitand/innen mit komorbiden Suchtproblemen zukünftig eher auf ihre Suchtproblematik angesprochen werden und weitere diagnostische und therapeutische Schritte eingeleitet werden können. Dies kann auch die konkrete Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstellen und ambulanten und stationären Entwöhnungseinrichtungen verbessern und den Zugang in die Suchtrehabilitation erleichtern. Entwöhnungseinrichtungen können die Broschüre aktiv nutzen, um die Kooperation mit somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen zu verbessern.

    Am 26.09.2016 fand eine Einführungsveranstaltung für somatische und psychosomatische Kliniken in Berlin statt. Mehr Informationen hierzu unter: www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozialmedizin_forschung/01_sozialmedizin/06_publikationen_veranstaltungen/2016_09_26_praxisempfehlungen.html

    Die Langfassung der Praxisempfehlungen steht auch als Broschüre der DRV Bund zur Verfügung und kann bei Bedarf zugeschickt werden bzw. unter dem oben angegebenen Link heruntergeladen werden.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. med. Joachim Köhler
    Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
    Sozialmedizin, Magister Public Health
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Referat 0441 Grundsatzaufgaben der Sozialmedizin
    R 6207
    Ruhrstr. 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-35751
    drmed.joachim.koehler@drv-bund.de

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems