Schlagwort: Ambulant betreutes Wohnen

  • Pflegebedürftigkeit bei Menschen mit Suchterfahrung

    Pflegebedürftigkeit bei Menschen mit Suchterfahrung

    Vorbemerkung Entstigmatisierende Sprache
    Warum ist Sprache wichtig? Sprache prägt die Art und Weise, wie wir über Menschen denken und sprechen und wie diese sich selbst sehen. Vor allem im Kontext von Sucht kann Sprache ausgrenzen, verletzen oder entlasten. Eine entstigmatisierende Sprache trägt dazu bei, das Leben von Menschen mit Suchterfahrung positiv zu verändern und den Umgang miteinander zu verbessern. Die zentralen Werte von Condrobs e.V. – Vielfalt, Offenheit und Akzeptanz – spiegeln sich in einer bewussten, entstigmatisierenden Sprache wider, einer Sprache, die klar, respektvoll und barrierearm ist – sowohl für Fachpersonen als auch für Betroffene.

    Dieser Beitrag orientiert sich an den Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS, 2023) sowie dem Leitfaden zu entstigmatisierender Sprache der Deutschen Aidshilfe (DAH, 2023). Die Begriffe „Sucht“, „Abhängigkeit“ und „Störung“ sind medizinisch-psychiatrische Diagnosen, bei welchen den Betroffenen oft die Fähigkeit zur eigenen Krankheitsbeurteilung abgesprochen wird. Im vorliegenden Text werden wertfreie Beschreibungen bevorzugt, z. B.: Person(en) mit Suchterfahrung, hat Suchterfahrung, ist suchterfahren. Zur besseren Lesbarkeit werden auch Begriffe wie „Suchterkrankung“, „Abhängigkeitserkrankung“ oder „Substanzkonsumstörung“ verwendet, stets ohne wertenden oder diskriminierenden Hintergrund.


    1. Einleitung

    Sarah Theres Schütze
    Christiane Hunstein

    Der Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft nimmt beständig zu. Aufgrund stetiger Verbesserungen der sozialmedizinischen Versorgungslage erreichen immer mehr Menschen aus gesundheitlichen Risikogruppen ein hohes Alter – so auch diejenigen mit einer langjährigen Suchterkrankung.

    1.1 Anzahl der Betroffenen

    Die Zunahme älterer Menschen mit Abhängigkeitserkrankung zeigt sich im Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) deutlich: Allein im Bereich der Opiatabhängigkeit verdoppelte sich der Anteil von Menschen über 50 in den vergangenen Jahren von zehn auf 20 Prozent (siehe zum Vergleich die Jahre 2015/Abb. 1 und 2023/Abb. 2). Laut DSHS liegt das Durchschnittsalter opiatabhängiger Menschen nicht mehr (wie noch 2015) bei Mitte 30, sondern zwischen 40 und 50 Jahren.

    Abb. 1: Altersstruktur nach Hauptdiagnosen, ambulant, 2015 (DSHS 2015, S. 14)
    Abb. 2: Altersstruktur nach Hauptdiagnosen, ambulant, 2023 (DSHS 2023, S. 20)

    Ein gut ausgebautes psychosoziales und medizinisches Netzwerk sorgt demnach dafür, dass Menschen mit Substanzgebrauchsstörung immer älter werden. Eine erfreuliche Entwicklung, welche gleichzeitig jedoch mit einer Reihe von Herausforderungen einhergeht – sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Suchthilfeeinrichtungen, an die sie angebunden sind.

    1.2 Charakteristika der Zielgruppe

    Ältere Menschen mit Suchterkrankungen sind in vielerlei Hinsicht besonders: Ihr Suchtverhalten hat sich über Jahrzehnte entwickelt, und der langjährige Substanzgebrauch führt zu frühzeitig einsetzenden kognitiven, psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen. Insbesondere Letztere haben zur Folge, dass Menschen mit Suchterfahrung häufig schon im mittleren Lebensalter von zunehmender Pflegebedürftigkeit betroffen sind.

    Der vermehrte Pflegebedarf spiegelt sich auch in den wachsenden Anforderungen an Suchthilfeeinrichtungen, die diese Menschen betreuen. Im „DHS Jahrbuch Sucht 2025“ heißt es:

    Mit zunehmendem Alter stellen sich vermehrt alterstypische gesundheitliche und psychosoziale Probleme ein, die nicht selten mit Mobilitätseinbußen verbunden sind […] Dadurch verschieben sich sowohl die Themen, die für die Beratung und Betreuung […] relevant sind, als auch die Kooperationspartner, die zur Bewältigung dieser Probleme erforderlich sind. Zunehmend werden ambulante und stationäre Pflege- und Altenhilfeeinrichtungen relevant […] (DHS 2025, S. 31–44)

    Der Umgang mit altersbedingten Krankheitsbildern wie Bluthochdruck, Diabetes und Demenz gehört längst zum Arbeitsalltag vieler Sozialpädagog:innen in der Suchthilfe. Neben suchtspezifischem Fachwissen werden immer häufiger Kenntnisse zu kognitiven und somatischen Erkrankungen des Alters benötigt. Insbesondere im Kontext des ambulant betreuten Wohnens ergeben sich zusätzliche Herausforderungen durch die teils stark eingeschränkte Mobilität der Klient:innen, da ein barrierefreies Wohnen nur in wenigen Einrichtungen vollständig gewährleistet werden kann.

    Hinzu kommt, dass Menschen mit Suchterfahrung immer wieder Diskriminierung, Vorurteile und Stigmatisierung erleben, auch in den psychosozialen und medizinischen Hilfesystemen. Interaktionen mit und Behandlungen von Klient:innen werden dadurch zusätzlich erschwert. Die sich daraus ergebende schwierige Versorgungslage älterer Suchterkrankter wurde bereits 1995 von Gaby Gehl treffend zusammengefasst:

    Ältere suchtkranke Menschen werden von vielen Institutionen, die in der Suchttherapie tätig sind, eher abgelehnt bzw. die Betroffenen fühlen sich ausgegrenzt. Hilflosigkeit und Resignation führen dazu, dass Behandlungsansätze für ältere Suchtkranke fehlen. (Gehl 1995, S. 60)

    1.3 Entwicklung der Versorgungsstrukturen

    Zwar hat sich die medizinische, soziotherapeutische und pflegerische Versorgung von älteren Menschen mit Suchterkrankungen in den letzten Jahren weiterentwickelt, vergleicht man jedoch Gehls Aussagen mit den aktuellen Leitlinien der Suchtpolitik der Landeshauptstadt München, zeigt sich, dass die Versorgung immer noch in vielen Bereichen unzureichend bleibt. In den Leitlinien aus dem Jahr 2010 heißt es:

    Suchtkranke ältere Menschen finden immer noch zu wenig Beachtung – sowohl in der Suchthilfe als auch in Suchtforschung und -politik. Deutlich wird dies an den fehlenden Erkenntnissen über diese Gruppe sowie an einem Mangel an spezifischen Hilfsangeboten. Handlungsbedarf besteht insbesondere angesichts der demographischen Entwicklung, in deren Verlauf die Zahl älterer Menschen mit Suchterkrankung steigen wird. (Gorgas et al. 2010, S. 26)

    Diese Leitlinien blieben – wie auch die Versorgungsangebote für ältere Menschen mit Suchterkrankungen – in den vergangenen 15 Jahren weitestgehend unverändert. Laut einer Ankündigung des Münchner Gesundheitsreferats soll eine aktualisierte Gesundheitsstrategie der Stadt München zum Jahresende 2025 beschlossen werden, welche unter anderem Aspekte der Suchtprävention und Suchthilfe umfasst (leitlinie-gesundheit – Landeshauptstadt München, Zugriff am 15.04.25). Es bleibt zu hoffen, dass die geplanten Aktualisierungen bald ihren Weg in den praktischen Alltag sowie in die sozialpädagogische Arbeit finden, denn die Versorgungslücke ist zum derzeitigen Stand nach wie vor spürbar.

    1.4 Versorgungslücken und Handlungsbedarf

    Es besteht ein erhöhter Bedarf an soziotherapeutischer Beratung und Betreuung für ältere Menschen mit Suchterkrankungen, der durch das aktuelle Angebot nur unzureichend gedeckt werden kann. Ebenso ist die Integration von Akteur:innen der Suchthilfe in die Pflege von zentraler Bedeutung, um Wissen auszutauschen und Synergien zu bilden. Viele ambulante Pflegedienste und stationäre Pflegeeinrichtungen sind nicht ausreichend auf diese besondere Zielgruppe vorbereitet. Es fehlt an ausgebildeten Fachkräften, die in der Lage sind, neben den pflegerischen auch suchtspezifische Anforderungen zu berücksichtigen. Um die Lücke zu schließen, ist die Entwicklung innovativer Konzepte erforderlich, die den besonderen Bedürfnissen älterer Menschen mit Suchterkrankungen gerecht werden. Ein Beispiel für ein solches Versorgungskonzept ist das Betreute Wohnen 40+ des Vereins Condrobs e.V.

    Im Folgenden wird das Spannungsfeld zwischen Pflegebedürftigkeit und Suchthilfearbeit konkretisiert sowie als mögliche Lösung ein Pilotprojekt von Condrobs e.V. dargestellt. Dazu gehören auch ein Fallbeispiel und ein Interview mit einer Mitarbeiterin. Diese Beiträge vermitteln praktische Einblicke in den Alltag des ambulant betreuten Wohnens für ältere Menschen mit Suchterfahrung.

    2 Pflegebedürftigkeit und Sucht

    Wie eingangs beschrieben hat die Verbesserung des psychosozialen und medizinischen Netzwerks zur Folge, dass es immer mehr ältere Menschen mit Konsumerfahrung gibt, die pflegebedürftig werden. Ältere Menschen stehen in der Suchthilfe jedoch bislang ebenso wenig im Fokus wie eine suchtbezogene Perspektive in der Altenhilfe. Dies führt dazu, dass riskanter oder abhängiger Substanzkonsum im Alter häufig unerkannt bleibt oder fälschlich als altersbedingt interpretiert wird. In der Folge werden suchtkranke ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen oft nicht bedarfsgerecht und suchtspezifisch betreut. Zur Situation in der Suchthilfe schreibt die DHS in ihrer Versorgungsanalyse:

    In der Suchthilfe zeigt sich die Problematik des erhöhten Pflegebedarfs vor allem in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, in denen Menschen mit einer Suchtproblematik betreut werden, die häufig zusätzlich erhebliche körperliche und psychische Einschränkungen haben bzw. durch einen langen Substanzkonsum „vorzeitig gealtert“ sind. (DHS 2019)

    2.1 Voralterung und häufige Krankheitsbilder

    Insbesondere in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zeigt sich, dass viele Klient:innen aufgrund des langjährigen Konsums bereits vorzeitig gealtert sind und einen deutlich erhöhten Pflegebedarf aufweisen – häufig verbunden mit körperlichen Einschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen oder psychischen Störungen (DHS 2019). Die Krankheitsbilder sind vielfältig und reichen von Gliederamputationen, Lungenerkrankungen, Leberzirrhosen, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und Krebs über Zuckerkrankheit mit schlecht heilenden Wunden bis zu allgemein schlechtem körperlichen Zustand nach Schlaganfall. Jeder dritte Patient mit einer Substanzkonsumstörung ist außerdem von mindestens einer weiteren psychischen Störung betroffen (z. B. depressive Störungen, Angststörungen, PTBS, Persönlichkeitsstörungen und ADHS).

    2.2 Pflegebedarf und Versorgungssituation

    Dieser daraus resultierende spezielle Bedarf an persönlicher Unterstützung übersteigt vielerorts die vorhandenen personellen und konzeptionellen Ressourcen. Obwohl zunehmend Pflegegrade festgestellt werden und somit zumindest ein geringer finanzieller Ausgleich über die Pflegekassen erfolgt, bleibt die tatsächliche Umsetzung zusätzlicher Pflegeleistungen stark eingeschränkt – nicht zuletzt durch regionale Unterschiede, begrenzte Ressourcen und fehlende Konzepte.

    Im Hinblick auf stationäre Pflege älterer Menschen mit Substanzkonsum lässt sich berichten, dass eine Aufnahme in der Regel nicht erfolgt, u. a. liegt das biologische Alter hier meist unter der Altersgrenze für die Aufnahme. Die Vernetzung von Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit Pflegeheimen gestaltet sich also schwierig: Die Vermittlung läuft häufig ins Leere. Klient:innen mit Bedarf an Kurzzeit- oder Langzeitpflege werden in den meisten Fällen abgelehnt.

    Eine alternative Möglichkeit, den physischen Einschränkungen und frühzeitigen Alterserscheinungen der Klientel in der Eingliederungshilfe zu begegnen, ist eine Kooperation mit ambulanten Pflegediensten. Hierzu meint die Leiterin eines ambulanten Pflegedienstes in München: „Wenn sie da mal drin sind, unterscheiden sich ältere Süchtige eigentlich gar nicht von meinen sonstigen Pflegefällen. Sie sind eher dankbarer für die Unterstützung.“

    2.3 Lösungsansätze

    Projekte einzelner Träger wie z. B. „Betreutes Wohnen 40+“ von Condrobs e.V. zeigen, dass eine zielgruppenorientierte Versorgung grundsätzlich möglich ist, allerdings nur unter bestimmten strukturellen Voraussetzungen wie etwa einem höheren Personalschlüssel, barrierefreien Umgebungen und niedrigschwelligen Betreuungsangeboten. Auf struktureller Ebene eröffnet die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) neue Chancen zur Verzahnung von Altenhilfe und Eingliederungshilfe. Allerdings bleibt die pflegerische Versorgung älterer suchterfahrener Menschen ein komplexes Handlungsfeld, das gezielte konzeptionelle und politische Weiterentwicklungen erfordert. Aufgrund fehlender öffentlicher Gelder sowie des Fachkräftemangels sind oben genannte strukturelle Voraussetzungen schwer zu erreichen.

    3 Betreutes Wohnen für ältere Menschen mit Suchterfahrung bei Condrobs e.V.

    Ältere Menschen mit Suchterfahrung benötigen eine Wohnform, die neben Sicherheit und Unterstützung im Alltag gleichzeitig einen sensiblen Umgang mit ihrer Erkrankung bietet. Das Angebot „Betreutes Wohnen 40+“ (BW40+) von Condrobs e.V. kann hier eine wichtige Brücke schlagen.


    Über Condrobs e.V.
    Condrobs ist ein überkonfessioneller Träger mit vielfältigen sozialen Hilfsangeboten in ganz Bayern, der benachteiligten Menschen und ihren Angehörigen hilft. Aus einer Selbsthilfeinitiative entstanden, arbeiten heute rund 1000 Mitarbeiter:innen in ca. 70 Einrichtungen. Das breit gefächerte Angebot umfasst innovative Projekte und Einrichtungen der Prävention, Sucht- und Wohnungslosenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe sowie Migrationsarbeit. Condrobs ist Ausbilder und bietet betreute Beschäftigungsplätze für Frauen* und Männer*, die nach einer schwierigen Lebensphase wieder ins Arbeitsleben zurückkehren wollen. Die Condrobs-Akademie hält Fortbildungen zu aktuellen Themen für die soziale Arbeit bereit.
    Weitere Informationen unter www.condrobs.de


    Der auf ältere Menschen mit Konsumhintergrund spezialisierte Zweig des Trägers zielt darauf ab, die Klientel bei der Alltagsbewältigung und der Entwicklung neuer Perspektiven zu unterstützen. Dies geschieht entweder aus dem vertrauten Umfeld heraus – der eigenen Wohnung – oder in Therapeutischen Wohngemeinschaften (TWGs). Die Mitarbeiter:innen von BW40+ begleiten und unterstützen ihre Klient:innen bei der Stabilisierung ihrer Gesundheit und ihrer Lebens- und Konsumsituation, sie reflektieren gemeinsam mit ihnen die Auswirkungen der Erkrankung, sind Ansprechpartner:innen in einsamen Zeiten, entwickeln gemeinsam Ideen für die Zukunft und bieten ggfs. einen langfristigen Wohnplatz bis zur letzten Lebensphase.

    3.1 Pilotprojekt: „Intensiv Betreutes Wohnen“ in einer therapeutischen Wohngruppe

    Bereits seit 2007 bietet Condrobs speziell Hilfen für ältere Substanzkonsumierende an – insbesondere in der Form des betreuten Wohnens. Das Angebot „Betreutes Wohnen 40+“ bietet derzeit insgesamt 63 Plätze an. Davon fallen 24 Plätze auf Betreutes Einzelwohnen (BEW), bei dem Menschen in Einzelwohnungen Unterstützung erhalten. Zusätzlich stehen 39 Plätze in verschiedenen Therapeutischen Wohngemeinschaften (TWG) zur Verfügung. Neun dieser Plätze befinden sich in der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“, einer barrierefreien Wohnung, in welcher speziell körperlich stärker beeinträchtigte Personen ein Zuhause finden können. Die barrierefreie TWG wurde im Mai 2021 eröffnet. Der Schwerpunkt liegt auf der Versorgung von Menschen mit Polytoxikomanie, Doppeldiagnosen und Polymorbidität. So können Menschen aufgefangen werden, die aufgrund komplexer Problemstellungen sonst häufig durch das soziotherapeutische Versorgungsnetz fallen.

    Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung bis Pflegegrad 2 können in der intensiv betreuten Wohngruppe aufgenommen werden. Insbesondere richtet sich das Angebot an ältere drogenabhängige Menschen mit einer meist über zehn- bis 40-jährigen Substanzkonsumstörung. Die Bewohner:innen sind entweder ehemals konsumierend oder in einer medizinischen Substitutionsbehandlung. Eine Übersicht der relevanten Charakteristika der Bewohner:innen findet sich in Abbildung 3.

    Abb. 3: Charakteristika der Bewohner:innen der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“

    Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss eines Wohngebäudes und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Die Infrastruktur des Quartiers bietet vielfältige Möglichkeiten, den täglichen Bedarf zu decken, welche die Klient:innen nutzen können. Einkaufsmöglichkeiten, Arztpraxen, ambulante Pflege und Nachbarschaftsangebote sind vorhanden.

    Das Team unterstützt die Bewohner:innen bei Bedarf bei der Suche und Inanspruchnahme von geeigneten ambulanten Pflegediensten. Es fördert die Kooperation, auch durch gemeinsame Fallgespräche. Bewohner:innen der TWG haben ihrerseits die Verpflichtung, diesen und anderen externen Angeboten gegenüber aufgeschlossen zu sein.

    Mit diesem Angebot wird eine Lücke im Hilfesystem für ältere suchtkranke Menschen in München geschlossen, eine Lücke, die durch den erschwerten Zugang zu herkömmlichen Angeboten der Altenhilfe und Pflege besteht. Die TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ wird als Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen, fügt sich ein und wirkt mit, sodass Integration praktisch gelebt wird.

    3.3 Bisherige Erfolge des Pilotprojekts

    Seit der Eröffnung der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ im Jahr 2021 sind die Plätze fast durchgehend belegt, was den Bedarf widerspiegelt. Viele der Bewohner:innen zeigen eine gute Compliance, die sich positiv auf den Verlauf ihres Aufenthalts auswirkt. Bei etwa 70 Prozent der Bewohner:innen kann eine stabile Entwicklung beobachtet werden, die auf die Unterstützung und die Angebote in der Einrichtung zurückzuführen ist.

    Besonders erfreulich sind die gelungenen Freizeitveranstaltungen, die mittlerweile auch von den Bewohner:innen selbst organisiert werden. Dies fördert nicht nur den Gemeinschaftssinn, sondern auch die Verantwortungsübernahme für die Mitbewohner:innen. Ein weiteres Merkmal ist das weitestgehend harmonische Zusammenleben von abstinenzorientierten und substituierten Personen, was zu einem respektvollen und unterstützenden Umfeld beiträgt.

    4 Stimmen der Beteiligten

    In den folgenden Punkten vermitteln ein Fallbeispiel und ein Interview mit einer Mitarbeiterin Eindrücke und Erfahrungen aus der Praxis.

    4.1 Klienten-Beispiel aus der Praxis des Betreuten Wohnens

    Herr M. lebt seit 18 Monaten in der barrierefreien, intensivbetreuten therapeutischen Wohngruppe von Condrobs e.V. Herr M. ist 56 Jahre alt. Über viele Jahre konsumierte er regelmäßig Heroin und Alkohol in großer Menge. Er ist seit drei Jahren stabil substituiert und abstinent von Alkohol. Zudem leidet Herr M. an einer diagnostizierten Depression sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) infolge früherer Gewalterfahrungen.

    Aufgrund des langjährigen Heroin- und Alkoholkonsum entwickelte Herr M. eine Leberzirrhose sowie eine Polyneuropathie, die mit starken Schmerzen in den Beinen und Gefühlsstörungen einhergeht. Zusätzlich leidet er unter chronischem Bluthochdruck und hat ein metabolisches Syndrom entwickelt. Seine Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, häufig benötigt er zur Fortbewegung einen Rollator. Aufgrund der Polyneuropathie hat er mehrfach offene Wunden an den Füßen, die nur schlecht heilen und ihn regelmäßig zu Krankenhausaufenthalten zwingen.

    Durch seine Mobilitätseinschränkungen fällt es Herrn M. zunehmend schwer, alltägliche Aufgaben wie Zimmerreinigung oder Einkäufe eigenständig zu erledigen. Er benutzt auch für kurze Strecken den Aufzug, da er Treppen nur unter großer Anstrengung und mit Begleitung bewältigen kann. Herr M. leidet unter wiederkehrenden Erschöpfungszuständen, was ihn zusätzlich in seiner Selbstständigkeit einschränkt. Aufgrund seiner Einschränkungen muss Herr M. für alle Tätigkeiten längere Zeiten einplanen, und er hat das Gefühl, „die Tage würden verschwinden“.

    Die therapeutische Einrichtung von Condrobs e.V. bietet Herrn M. eine barrierearme Umgebung sowie Unterstützung im Alltag durch Betreuer:innen und ambulante Pflegekräfte. Therapeutische Angebote wie Ergotherapie, psychotherapeutische Einzelgespräche und Bewegungsangebote helfen ihm, seine Selbstständigkeit schrittweise zu stabilisieren und seine Lebensqualität zu verbessern. Als besonders wertvoll empfindet Herr M. die Möglichkeit, kurzfristig Unterstützung durch Fachpersonal zu erhalten, und den Kontakt zu seinen Mitbewohner:innen. Die regelmäßigen Kontakte helfen ihm nach eigenen Angaben, „Grübelspiralen“ zu durchbrechen und sich weniger einsam zu fühlen.

    In Bezug auf Kontakt mit medizinischem Personal und Pflegekräften berichtet Herr M. von viel Ablehnung und Stigmatisierung: „Solange die nicht wissen, dass du mit illegalen Drogen zu tun hattest, passt alles. Ansonsten wird man gemieden.“

    4.2 Interview mit einer Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen

    Eine Mitarbeiterin aus der ambulanten Suchthilfe mit Schwerpunkt auf älteren suchtbelasteten Menschen gibt im Gespräch Einblicke in die besonderen Herausforderungen, die sich an der Schnittstelle zwischen Pflege und Suchthilfe ergeben:

    Welche gesundheitlichen Herausforderungen beobachten Sie bei Ihren Klient:innen?
    Bei älteren Menschen mit langjährigem Substanzkonsum treten häufig komplexe gesundheitliche und pflegerische Bedarfe auf. Zu den häufigsten Herausforderungen zählt die Versorgung offener Wunden. Auch die regelmäßige und richtige Einnahme von Medikamenten ist von besonderer Bedeutung – nicht zuletzt aufgrund verminderter Behandlungsmotivation und mangelnder Krankheitseinsicht, zwei Punkte, welche regelmäßig in den Einzelgesprächen thematisiert werden. Besonders bei Menschen mit Pflegegrad 2 wird auch die Körperpflege zur täglichen Hürde. Hinzu kommen ernährungsbezogene Herausforderungen, etwa bei Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes Typ II, deren Management durch instabile Lebensverhältnisse und mangelndes Gesundheitsbewusstsein zusätzlich erschwert wird.

    Typische Krankheitsbilder bei dieser Zielgruppe sind nicht nur durch Alterungsprozesse, sondern maßgeblich durch den langjährigen Konsum legaler wie illegaler Substanzen bedingt. In manchen Fällen kommt es zu einer Suchtverlagerung – etwa von Alkohol hin zu exzessivem Essen –, was neue gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann. Der Substanzkonsum kann außerdem die Wahrnehmung des eigenen gesundheitlichen Zustands beeinflussen, sodass Symptome zu spät oder Krankheitsverläufe nicht erkannt werden.

    Wie nehmen Sie die Versorgung der Zielgruppe im Hinblick auf die ambulante Pflege wahr?
    Obwohl Kooperationen mit geriatrischen Abteilungen und ambulanten Pflegediensten teilweise möglich sind, sind diese in der Praxis nicht immer einfach umzusetzen. Viele Pflegedienste und ihre Mitarbeiter:innen sind noch unerfahren im Umgang mit Menschen mit Suchterfahrung und Substitutionsmedikamenten, was zu Berührungsängsten führt.

    Die ambulante Pflege stellt eine wichtige Versorgungsstütze dar – vorausgesetzt, es liegt eine ärztliche Verordnung vor. Besonders relevant sind Leistungen wie die Medikamentengabe, die jedoch in der Praxis mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet ist. Die Einnahme lebenswichtiger Medikamente muss laut Vorschrift unter Aufsicht der Pflegekräfte erfolgen, doch Zeitmangel aufseiten der Pflegedienste und geringe Kooperationsbereitschaft bei den Klient:innen machen dies oft unmöglich. Problematisch ist auch die Vergabe von Substitutionsmitteln, die viele ambulante Pflegedienste kategorisch ablehnen. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen eines Pflegesystems, das für die Bedürfnisse suchtbelasteter Menschen unzureichend vorbereitet ist.

    Eine der häufigsten Herausforderungen sind die oft sehr plötzlichen gesundheitlichen Verschlechterungen, die zu einem vermehrten Wechsel zwischen Krankenhaus und Einrichtung führen. Kurzfristige und nicht abgesprochene Entlassungen aus dem Krankenhaus in die ambulante Versorgung erfolgen in einigen Fällen ohne Klärung der weiteren Pflege.

    Stationäre Pflegeangebote hingegen bleiben von dieser Zielgruppe oft ungenutzt – entweder, weil die Betroffenen frühzeitig versterben oder eine Vermittlung aufgrund komplexer Problemlagen scheitert. Bei Pflegegraden mit Anspruch auf haushaltsnahe Unterstützungsleistungen scheitert die Umsetzung zudem oft am allgemeinen Personalmangel in der Pflege.

    Welche strukturellen und inhaltlichen Verbesserungsbedarfe sehen Sie?
    Aus Sicht der ambulanten Suchthilfe bedarf es grundlegender struktureller Veränderungen, um die Versorgung älterer Menschen mit Suchterfahrung zu verbessern. Dazu gehören ein intensiverer Austausch zwischen Suchthilfe, Pflegeheimen und Hospizdiensten sowie der Aufbau verbindlicher Kooperationsstrukturen. Insbesondere die Substitutionsvergabe in stationären Einrichtungen ist bislang eine Versorgungslücke.

    Wünschenswert wäre außerdem die Sensibilisierung des Pflegepersonals für die besonderen Bedürfnisse älterer Menschen mit Suchterkrankungen. Substanzkonsum wird aufgrund mangelnder Erfahrung häufig nicht mitgedacht – sei es bei der unreflektierten Ausgabe alkoholischer Getränke in Altenheimen oder dem leichtfertigen Einsatz stark abhängig machender Medikamente wie Opioiden. Eine systematische, interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Suchterkrankungen im Alter in der geriatrischen Versorgung erscheint nötig.

    5 Fazit

    Eine zielgruppenorientierte Versorgung älterer Menschen mit Konsumerfahrung ist möglich – wenn bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllt sind. Die TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ von Condrobs e.V. zeigt, wie ein solches Versorgungsangebot aussehen kann: Die Einrichtung bietet neben einem barrierefreien Wohnraum ein umfassendes Unterstützungsangebot, das körperliche, psychologische und soziale Bedürfnisse der Klientel berücksichtigt.

    Die Erfolge des Pilotprojekts wie eine hohe Platzauslastung, eine stabile Entwicklung bei einem Großteil der Klient:innen und ein unterstützendes, respektvolles Zusammenleben abstinenzorientierter und substituierter Personen illustrieren die Möglichkeiten, die sich durch eine zielgruppenorientierte Versorgung ergeben. Gleichzeitig zeigen sich Herausforderungen: Hoher Pflegebedarf, komplexe Krankheitsbilder, Mobilitätseinschränkungen und die Notwendigkeit intensiver Begleitung bringen auch erfahrene Mitarbeitende an ihre Grenzen. Insbesondere der Umgang mit medizinischer Versorgung, Medikamentenvergabe und die Kooperation mit ambulanten Pflegediensten bleiben anspruchsvolle Aufgaben – nicht zuletzt wegen bestehender Vorurteile und struktureller Hürden im Pflegesystem.

    Gesamtgesellschaftlich wird deutlich, dass ältere Menschen mit langjährigem Substanzkonsum eine wachsende, jedoch vielfach marginalisierte Zielgruppe darstellen. Hier trifft der demografische Wandel auf ein Hilfesystem, das noch zu wenig auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe eingestellt ist. Die Versorgungsrealität ist geprägt von Pflegekräftemangel, fehlender interdisziplinärer Zusammenarbeit, starker Stigmatisierung und einem Fehlen geeigneter Konzepte. Trotz steigender Fallzahlen bleibt der Zugang zu angemessener Pflege und Betreuung vielerorts erschwert – sei es durch einen Mangel an Einrichtungen und finanziellen Mitteln oder durch Ausgrenzung innerhalb der klassischen Altenhilfestrukturen.

    Für die Zukunft braucht es einen systematischen Ausbau suchtsensibler Pflegeangebote sowie tragfähige, verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen Suchthilfe, Pflege, Medizin und Politik. Neben einer Erhöhung der personellen und finanziellen Ressourcen ist vor allem eine positive Haltung gefragt: Respekt, Offenheit und ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Teilhabe. Projekte wie das „Betreute Wohnen 40+“ können als Vorbild dienen – vorausgesetzt, sie werden nicht als Einzellösung, sondern als Teil einer übergeordneten Strategie verstanden. Damit die besonderen Bedarfe der Zielgruppe künftig systematisch erkannt und adressiert werden können, braucht es ein Umdenken im Hilfesystem – hin zu einer Suchthilfe, die das Alter mitdenkt.

    Kontakt:

    Christiane Hunstein
    Condrobs e.V., Betreutes Wohnen 40+
    Westerhamer Straße 11, 81671 München
    christiane.hunstein(at)condrobs.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Christiane Hunstein: Sozialpädagogin (Studium Soziale Arbeit B.A.), seit 2021 Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen 40+ von Condrobs e.V., Bezugsbetreuerin im Rahmen der Soziotherapie; Achtsamkeitslehrerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz);
    Sprachwissenschaftlerin (Studium der engl. Sprachwissenschaft), langjährige selbständige Arbeit als Übersetzerin, Redakteurin und Layouterin von Sachbüchern u. a. im Bereich Gesundheit

    Sarah Theres Schütze: Psychologin (M.Sc.), seit 2025 Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen 40+ von Condrobs e.V., Bezugsbetreuerin im Rahmen der Soziotherapie; mehrjährige Tätigkeit als freiberufliche Texterin

    Literatur:
    • DAH Deutsche Aidshilfe (Hg.) (2023) – Edbauer, Philine; Kratz, Dirk; Schäffer, Dirk; Schmolke, Rüdiger; Luther, Antonia; Streck, Rebekka: Drogen Sprache. Eine Einladung zum Gespräch. Online verfügbar unter https://www.aidshilfe.de/de/shop/archiv/drogen-sprache-einladung-gesprach, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (Hg.) (2019): Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland. Analyse der Hilfen und Angebote & Zukunftsperspektiven. Update 2019. Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/dhs-stellungnahmen/Die_Versorgung_Suchtkranker_in_Deutschland_Update_2019.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2023) – Bschor, Tom; Bürkle, Stefan; Janßen, Heinz-Josef; Kemper, Ulrich; Mäder-Linke, Corinna; Rumpf, Hans-Jürgen; Streck, Rebekka; Rummel, Christina: Empfehlungen für stigmafreie Bezeichnungen im Bereich substanzbezogener und nicht-substanzbezogener Störungen. Positionspapier der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/2023-09-26-Positionspapier_stigmafreie_Begriffe.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2025): DHS Jahrbuch Sucht 2025. Lengerich: Pabst Science Publishers.
    • Gehl, Gaby (1995): Alter und Sucht. Ein aktueller Überblick zu Ursachen, Formen, Erklärungsansätzen und Prävention. 1. Aufl. Freiburg: Sozial-Verlag (Selbständig Altern).
    • Gorgas, Birgit; Gallas, Josef; Steinack, Vreni (2010): Leitlinien der Suchtpolitik der Landeshauptstadt München. Stand November 2010. München: Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt.
    • Krebs, Marcel; Mäder, Roger; Mezzera, Tanya (2021): Soziale Arbeit und Sucht. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
    • Schmid, Martin; Vogt, Irmgard; Arendt, Ines; Follmann-Muth, Klaudia (2024): Case Management mit älteren Opioidabhängigen. In: SUCHT 70 (1), S. 31–44. DOI: 10.1024/0939-5911/a000845.
    • Vogt, Irmgard; Schmid, Martin (2020): Sucht im Alter. In: Geriatrie up2date 2 (04), S. 323–336. DOI: 10.1055/a-1230-5811.
  • BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    Stefan Bürkle

    Seit der Verkündung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 29.12.2016 tritt stufenweise bis 2023 ein neues Reha- und Teilhaberecht in Kraft. Die Umsetzung der jeweils in Kraft getretenen Teilbereiche des BTHG ist sehr komplex und mit vielen Veränderungen verbunden.

    Die Komplexität des Vorhabens entspringt u. a. der Idee des radikal geänderten Hilfeansatzes, der die Partizipation Betroffener und die personenzentrierte und individualisierte Leistungserbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe in den Mittelpunkt stellt. Damit verbunden sind eine grundlegende Veränderung der Haltung in der Leistungserbringung sowie weitreichende gesetzliche Neuregelungen, die sich deutlich auf das Leben der Hilfebedürftigen und die Praxis der Leistungserbringung auswirken.

    Die Besonderheit des Bundesteilhabegesetzes ist auch in seiner Anlage begründet: Es ist ein Artikelgesetz bzw. Gesetzgebungsverfahren, durch das Regelungen in verschiedenen bestehenden Sozialgesetzbüchern und weiteren Gesetzen verändert werden. Zudem tritt das Bundesteilhabegesetz zeitversetzt in Teilen in Kraft, so dass die Umsetzung einen prozesshaften Charakter erhält und die Ergebnisse im Vorfeld nicht endgültig bestimmbar sind. Das zeigt sich beispielsweise in der Neugestaltung des Zugangs zur Eingliederungshilfe und der damit verbundenen Frage nach dem leistungsberechtigten Personenkreis, dessen Neubestimmung erst zum 01.01.2023 in Kraft tritt.

    Der prozesshafte Charakter zeigt sich in den derzeit noch nicht vollständig absehbaren Auswirkungen für Betroffene und Leistungserbringer durch die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen, die zum 01.01.2020 in Kraft treten soll. Deutlich wird er auch bei der Umsetzung eines trägerübergreifenden Teilhabeplans zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft, wenn verschiedene Leistungsgruppen oder mehrere Rehabilitationsträger an der Hilfeleistung beteiligt sind, und bei der Einführung eines Gesamtplanverfahrens in der Eingliederungshilfe. Beide Regelungen sind bereits seit dem 01.01.2018 in Kraft. Damit sind einige Bereiche benannt, in denen das BTHG Auswirkungen insbesondere für suchtkranke Menschen und Einrichtungen der Suchthilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe hat.

    Ziel dieses Artikels ist eine Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz der sukzessiven Umsetzung des BTHG im Bereich der Suchthilfe. Hierzu haben wir bundesweit Praktiker*innen mit demselben Fragenkatalog nach ihrer Einschätzung gefragt. Die Fragen lauteten:

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?
    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?

    Auch ein Vertreter eines Leistungsträgers hat aus seiner Sicht eine Zwischenbilanz gezogen. Sein Statement findet sich am Ende des Artikels.

    Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf www.partnerschaftlich.org. Dort sind unter dem Titel „Das Bundesteilhabegesetz im Blick: Partizipation abhängigkeitskranker Menschen per Gesetz?!“ die Beiträge des gleichnamigen Fachtags aus dem Oktober 2019 und weitere Fachartikel erschienen.

    Stefan Bürkle, Geschäftsführer Caritas Suchthilfe (CaSu), Mitglied im Fachbeirat KONTUREN online

    Antworten der Expert*innen zum Fragenkatalog

    Janina Tessloff

    Janina Tessloff

    Geschäftsführung Therapiehilfe Bremen gGmbH, Bremen

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?.
    Das BTHG hat zum Ziel, Menschen mit Beeinträchtigungen so weit als möglich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen und sie zu befähigen, mit dem richtigen Maß an Unterstützung für die eigenen Belange selbst eintreten zu können. Suchthilfe hat sich von jeher mit den Themen Autonomie und Abhängigkeit auseinanderzusetzen. Daher ergeben sich für die inhaltliche Arbeit zunächst einmal wenige Veränderungen.
    Der Assistenzbegriff wird den Betreuungsbegriff ablösen. Damit müssen sich die Fachkräfte auseinandersetzen und ihre Haltungen hinterfragen. Im Bereich Verwaltung ergibt sich zukünftig weitgehend Mehrarbeit, siehe Pkt.3. Die Vorbereitung auf die Umstellung im Jahr 2020 bindet im Vorfeld sehr viel Energie und Arbeitszeit.

    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Das Zugrundelegen der ICF-Kriterien und ‑Kodierungen bietet eine hervorragende Grundlage für Diagnostik sowie Ziel- und Maßnahmeplanung. In der vorgeschalteten Teilhabeplanung kommen die unterschiedlichen Akteur*innen der Hilfeplanung an einen Tisch (EGH, Reha, Berufsförderung etc.). Damit ist ein passgenaueres Angebot möglich.
    Die Themen „Verantwortung“, „mündige*r Bürger*in“ etc. bekommen ein größeres Gewicht, was im Assistenzprozess von Nutzen sein kann.

    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Insbesondere die vormals stationären Einrichtungen werden ab 2020 ein weitaus größeres Risiko in der Gegenfinanzierung haben als noch heute: Die bisher im Kostensatz eingepreisten (und für die Klienten bis dato selbstverständliche) Leistungen sind nun direkt von den Klient*innen zu zahlen, was zu Verwerfungen im Alltag führen kann. Dies führt in der Verwaltung zu einem höheren Aufwand in Buchhaltung und Mahnwesen, in der Einrichtung direkt zu einem höheren Kontrollaufwand. Betreuer*innen bekommen dadurch eine erweiterte Rolle, indem sie kontrollieren müssen, ob der/die Klient*in auch bezahlt hat, was er/sie bekommt. Dieser neue Kontrollbedarf könnte sich negativ auf den Aufbau einer betreuerischen und bindenden Beziehung auswirken. Klient*innen bekommen durch ihr Mietverhältnis eine andere Rolle als Mieter*in, was u. U. zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen kann.

    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    Die Verwaltung hat einen erheblich höheren Aufwand (siehe Pkt.3). Mitarbeitende erfahren eine Veränderung in ihrer Rolle und müssen sich mit Anforderungen der Assistenz und den veränderten Bedingungen in der Gesamt- und Teilhabeplanung auseinandersetzen und neu finden.

    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?
    Natürlich werden die Verwaltungsprozesse entsprechend aufgestellt, die Verträge entsprechend der Vorgaben neu gefasst. In Bezug auf die Mitarbeitenden laufen schon seit längerem Schulungen und Informationsveranstaltungen zu den Themen ICF und BTHG. Bewohner*innen werden informiert und auf die sie betreffenden Veränderungen vorbereitet.

    Rodger Mahnke

    Rodger Mahnke

    Einrichtungsleitung Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Facheinrichtung für Suchterkrankungen, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg

    1. Zunächst ist das ganze Vorhaben ja noch Theorie. Aktuell sind Leistungserbringer und Leistungsträger mit der Erarbeitung der Handlungsstrukturen beschäftigt – in sehr unterschiedlicher Qualität und mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Auswirkungen aktuell sind eher Verunsicherung und Sorge um die Erträge und Arbeitsabläufe.

    2. Den Nutzen haben wir noch nicht erkannt.

    3. Die bisherige Finanzierung über einen Pflegesatz wird im Bereich der Eingliederungshilfe auf drei Kostenpositionen aufgeteilt, die von jeweils unterschiedlichen Leistungsträgern bedient werden. Das führt zu einem erheblichen Mehraufwand in der Verwaltung in den Einrichtungen, der sich dadurch noch steigert, dass die Betreuungszeiten mit ca. drei Monaten sehr kurz sind. Darüber hinaus wird die Realisation der Einnahmen für Lebensunterhaltsleistungen und Wohnen auf die Leistungserbringer übertragen – mit allen Risiken im Verhältnis zu den betreuten Klient*innen.

    4. Es ist ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand mit der entsprechenden Personalressource umzusetzen bei nur geringer Bereitschaft zu einer Gegenfinanzierung durch den Leistungsträger. Dadurch müssen in den Einrichtungen Personalressourcen von der sozialtherapeutischen Betreuung in den Verwaltungsbereich verlagert werden. Das hat Auswirkungen auf die Betreuungsqualität.

    5. Wir erarbeiten neue Prozesse für die Abwicklung der Leistungserbringung und des Vertragswesens mit den Klient*innen. Wir schulen das Personal für diese neuen Prozesse. Wir erproben die neuen Prozesse mit Leistungsträgern und Klient*innen.

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Fachabteilungsleitung stationäre und ambulante Eingliederungshilfe, STEP gGmbH, Hannover

    1. Erste Auswirkungen sind spürbar. Es gibt inzwischen in Niedersachsen eine geregelte und fundierte Bedarfsfeststellung für Leistungsnehmer*innen. Die Anwendung der Bedarfsermittlung Niedersachen (B.E.Ni) ist regional unterschiedlich. In Hannover und der Region ist sie eingeführter Standard. Bei den örtlichen Sozialhilfeträgern anderer Landkreise und Kommunen hat sich das Instrument noch nicht umfänglich durchgesetzt.
    Aufgrund der Veränderungen im Beantragungsprozess zeigt sich unsere Klientel – nach unseren Beobachtungen – vielfach verunsichert. Im Vorfeld der Bedarfsermittlungsgespräche ist es daher sinnvoll, die Leistungsnehmer*innen auf das neue Verfahren gut vorzubereiten. Bei der ambulanten Eingliederungshilfe und den Einrichtungen für besondere Wohnformen sind derzeit überall dort, wo B.E.Ni angewendet wird, die Bearbeitungszeiträume ab Beantragung einer Leistung deutlich länger. Dieses gilt für alle Einrichtungstypen. Dauerte es früher vier bis sechs Wochen, bis Leistungsnehmende ihren „Bescheid“ bekamen, liegen die Fristen derzeit bei drei bis sechs Monaten. Dies ist auf die umfassende Befragung und Prüfung zurückzuführen.

    2. Vorweg und deutlich formuliert: Das BTHG bringt Vorteile für betroffene Menschen – um ein Anrecht auf Eingliederungshilfe zu bekommen, müssen suchtkranke Menschen mit Behinderungen künftig nicht mehr mittellos sein, da die Einkommens- und Vermögensfreibeträge sowie der Schonbetrag für Barvermögen für Bezieher von SGB XII-Leistungen deutlich angehoben wurden.
    Die Selbstbestimmungsfreiräume für Leistungsnehmende werden deutlich gestärkt. Ihre persönlichen Ziele finden umfassende Beachtung. Individuelle Unterstützungs- und Hilfsangebote, die auf die jeweilige Situation der von Sucht betroffenen Menschen passen, rücken deutlicher in den Vordergrund. Gut ist auch, dass ein neuer und moderner Beeinträchtigungsbegriff eingeführt wurde, der sich am biopsychosozialen Modell des ICF orientiert. Funktionale Beeinträchtigungen werden nicht mehr als Eigenschaft oder Defizit, sondern im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen betrachtet.
    Auch für unsere Mitarbeiter*innen eröffnet das BTHG neue Möglichkeiten. Die verschiedenen Bedürfnisse unserer Klient*innen suchen ihre Spiegelung in noch individualisierteren Einrichtungsangeboten. Das ist eine Chance für positive Veränderungen und zugleich eine konzeptionelle Herausforderung.

    3. Menschen mit einer Suchterkrankung sind häufig in ihrem Wirkungskreis massiv eingeschränkt. Ohne Unterstützung bewältigen sie das notwendige Verfahren oft nicht. Für die Umsetzung des BTHG brauchen sie eine intensive Begleitung und die entsprechende Beziehungsarbeit durch Dritte, um Leistungen des BTHG überhaupt abrufen zu können.
    Dieses Unterstützungssystem ist jedoch meistens nicht vorhanden bzw. für potentielle Leistungserbringende nicht gegenfinanziert. Leistungen, auf die grundsätzlich Anspruch bestünde, werden daher noch zu häufig nicht wahrgenommen.
    Die institutionell seit 2017 neu eingerichtete „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ wird von unseren Leistungsnehmenden nach unseren Erkenntnissen bisher kaum genutzt und ist im Umkreis der Suchthilfe nur wenig bekannt.

    4. Für die Einrichtungen der Suchthilfe stehen zukünftig die personenzentrierte Ausrichtung und die ganzheitliche Bedarfsermittlung, Planung, Steuerung, Dokumentation sowie Wirkungskontrolle im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Umsetzung des BTHG für uns als Leistungserbringer eine große Herausforderung dar. Es entsteht ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand. Dieser beinhaltet den Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge mit den Bewohner*innen und die zukünftige Erstellung von Nebenkostenabrechnungen.
    Eines ist bereits jetzt klar: Träger in der Eingliederungshilfe müssen künftig noch mehr als bisher ihr Profil als Dienstleister schärfen. Das heißt, mit einer diversifizierten Angebotsvielfalt aufwarten, so dass für Leistungsnehmende die Versprechungen des BTHG greifbar werden. Bisherige Arbeitsroutinen innerhalb unserer Einrichtungen werden momentan aufgelöst. Denn aktuell sind amtliche Zuständigkeiten und anzuwendende Verfahren oftmals intransparent. Bewährte Abläufe werden erschwert oder kommen zum Stillstand. Die Veränderungen im Antragsverfahren und bei den Leistungsnachweisen fordern von unseren Mitarbeiter*innen Verständnis und Geduld. Um die organisatorischen Herausforderungen zu bewältigen und wirtschaftliche Risiken für uns als Träger auszuschließen, ist ein enger Austausch zwischen allen Beteiligten derzeit das Wichtigste. Wir spüren deutlich das gemeinsame Ringen um konstruktive Lösungen in Umsetzungsfragen. Das gilt für Leistungserbringer und Leistungsträger gleichermaßen.

    5. In Niedersachsen konnte inzwischen eine Übergangsregelung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vereinbart werden, so dass hier für die nächsten zwei Jahre Rechtssicherheit besteht. Folgende Schritte sind momentan zu bearbeiten und zu beachten:

    1. Aufgrund der Systemumstellung (Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen) für besondere Wohnformen ist der Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz erforderlich. Hier werden die Bewohner*innen derzeit von uns umfassend über die Veränderungen informiert.
    2. Bewohner*innen bzw. deren rechtliche Betreuer*innen müssen über ein eigenes Girokonto verfügen, da die Leistungen der Grundsicherung nicht mehr direkt an die besondere Wohnform, sondern an die Bewohner*innen gezahlt werden.
    3. Die Leistungen der Grundsicherung müssen gegebenenfalls genauso wie die Eingliederungshilfeleistungen (Fachleistungen) von unseren Klient*innen für den Zeitraum ab 2020 neu beantragt werden.

    Bei diesen sehr praktischen Schritten unterstützen wir unsere Klient*innen. Trägerintern bauen wir Verwaltungsstrukturen auf, die diese Vorgänge erfassen und sicherstellen, dass alles korrekt und zeitnah umgesetzt werden kann.

    Martina Tranel

    Martina Tranel. Foto©Tranel

    Einrichtungsleitung Theresienhaus Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

    1. Unsere Erfahrungen sind vielfältig: Im Gesamtplanverfahren ist unsere Beteiligung als potentieller Anbieter und Vertrauensperson nicht vorgesehen, so dass der Assessment- und Hilfeplanprozess bei uns „von vorne“ beginnt. „Hilfen wie aus einer Hand“ stelle ich mir anders vor, unsere Vorleistungen in der Suchthilfe durch Beratung und Behandlung der Adressaten werden in diesen Fällen nicht gewürdigt. Wir haben auch bereits erlebt, dass an dieser Schnittstelle Adressaten im System „verloren“ gegangen sind. Besser läuft es dort, wo wir als Experten „rechtzeitig“ beteiligt werden, so dass eine gemeinsame Wissensbasis entsteht und ein wirksamer Leistungsprozess fortgesetzt werden kann.
    Bei der Überprüfung der personenbezogenen Wirksamkeit unserer Leistungen sind die negativen Erfahrungen im Moment noch selten. Eine neue Misstrauenskultur mit Blick auf die Zielerreichung und Wirtschaftlichkeit hat bereits zu Enttäuschung bei Leistungsberechtigten geführt – Enttäuschung dadurch, dass der individuelle, positive Befähigungsprozess nicht gewürdigt wird und die inzwischen vertraute Betreuungsperson wieder „abgezogen“ und z. B. durch einfache Assistenz ersetzt werden soll. Unsere Überzeugung ist, dass die Wirkungskontrolle im Gesamtplanverfahren gegenüber dem Leistungsträger Transparenz und Vertrauen in den Arbeitsprozess herstellen kann. So wird auch der Wert der Sozialen Arbeit besser sichtbar.

    2. Das BTHG steht für personenzentrierte, wirkungsorientierte und vielfältige Leistungen ein. Das entspricht den bereits langjährig angewandten Standards der Suchthilfe in der Prävention, Beratung, Behandlung und Betreuung. Die Beteiligung der Adressat*innen hat in der Suchthilfe eine lange Tradition, auch in der engen Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeverbänden. Die Finanzierung von Leuchtturmprojekten, die später in Regelangebote übergegangen sind, war stets mit erheblichem Einsatz von Trägermitteln verbunden. Es ist zu wünschen, dass mit der Umsetzung des BTHG die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, damit wir weiterhin den individuellen Bedarfslagen und Erwartungen unserer Adressat*innen entsprechende Leistungen anbieten können. Dem steht der haushaltspolitische Anspruch einer Begrenzung der Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe entgegen.

    3. Die ursprüngliche Formulierung des § 99 Personenkreis (so genannte „5 aus 9“-Formel) hätte viele chronisch Suchtkranke von wirksamen Betreuungsleistungen ausgeschlossen. Diese Kuh ist seit der Studie von Prof. Welti und Kollegen hoffentlich vom Eis. Irritiert bin ich über den erheblichen bürokratischen Aufwand und damit verbundene Kosten. Das betrifft sowohl die Erforschung der Wirksamkeit des Artikelgesetzes und dessen Umsetzung. An bestimmten Schnittstellen werden Doppelstrukturen aufgebaut, die eigentlich vermieden werden sollten.
    Die Trennung der Leistungen soll zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen beitragen. Ich bin allerdings skeptisch, welchen Wert das für die Adressaten hat, deren Hilfebedarf beispielsweise im Umgang mit Geld liegt. Was für einen Menschen mit einer Körperbehinderung und der Fähigkeit zum Management diverser Leistungsbestandteile sinnvoll ist, stellt für einen chronisch mehrfach beeinträchtigten Suchtkranken mit Korsakow-Syndrom eine Überforderung dar. Die Nutzer*innen unserer Angebote stellen mir zunehmend die Frage nach dem Sinn des BTHG.
    Die Suchthilfe hat schon immer Gesetzgebung aus der Praxis heraus mitgestaltet. Ich bin überzeugt, dass dieses Engagement auch weiter notwendig ist, damit die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich auch bei den Menschen mit Behinderung ankommt.

    4. Bei unserem ambulanten Betreuungsangebot ändert sich erstmal nichts, hier sind wir bereits seit 2004 „BTHG-konform“ unterwegs und bauen das Angebot weiter aus. Das Konzept der besonderen Wohnform, also das Theresienhaus als Wohnheim mit interner Tagesstruktur, verfügt bereits seit der Gründung über eine Binnendifferenzierung und ermöglicht individuelle Lösungen für individuelle Bedarfe. Statt eines zentralen Leistungsträgers haben wir zukünftig mehrere Stellen, von denen das Geld für unsere gute Arbeit kommt. Diese Umwege sind den Nutzer*innen nur schwer zu vermitteln, da reicht keine einfache Sprache. Die Adressaten haben einen Anspruch auf gesicherte Leistungen und unsere Mitarbeiter*innen auf ihr wohlverdientes Gehalt.

    5. Die Berechnungen der einzelnen Leistungskomponenten liegen vor. Die Nutzer*innen, Betreuer*innen und Heimaufsicht wurden informiert, die neuen Verträge liegen bald vor. Die Grundsicherungsanträge laufen. Das ist ein echter Kraftakt. Ansonsten arbeiten wir wie gewohnt an der Weiterentwicklung unserer Leistungen. Im Bereich Qualitätsmanagement sind wir sehr gut aufgestellt, so dass wir uns hoffentlich bald wieder auf das Kerngeschäft konzentrieren können, die Adressat*innen bei der Erreichung ihrer Ziele zu begleiten.

    Joachim Messer

    Joachim Messer

    Wolfgang-Winckler Haus, Entgiftungsstation und Übergangseinrichtung, Kelkheim-Eppenhain

    1. Das BTHG sowie das Gesetz zur Umsetzung des BTHG in Hessen haben bereits jetzt erhebliche Auswirkungen. Die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen ist für besondere Wohnformen bereits erfolgt. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage der „doppelten Miete“ in Übergangseinrichtungen. Pflegeeinrichtungen, die bisher Vergütungsvereinbarungen mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) hatten, sollen nun mit den Örtlichen Trägern der Sozialhilfe Vereinbarungen abschließen, ohne dass hierfür bei den Kommunen finanzielle Spielräume vorhanden wären.

    2. Der Nutzen liegt vor allem darin, dass eine noch stärkere Personenorientierung realisiert werden muss und damit überholte Vorstellungen hinsichtlich der Rollenzuordnung von betreuter Person und betreuender Person verändert werden müssen

    3. Die Nachteile liegen eindeutig im erhöhten Risiko für die Träger: Nutzungskosten für den Wohnraum und der Verpflegung in besonderen Wohnformen werden voraussichtlich häufiger nicht bezahlt werden. Der vom LWV Hessen anerkannte Mietausfall beträgt zwei Prozent – das ist für die Suchthilfe unrealistisch. Hinsichtlich der Fachleistung gilt das Nettoprinzip. Auch hier werden sich Mindereinnahmen ergeben, die sich de facto als Pflegesatzkürzung auswirken werden.

    4. Wie bereits beschrieben sind einige für die Einrichtungen existenzielle Fragen noch nicht geklärt. In hessischen Übergangseinrichtungen mit hoher Fluktuation wegen der kurzen Aufenthaltsdauer erzwingt das BTHG ein vollständig geändertes Aufnahmeverfahren. Der administrative Aufwand, auch für die Klientel, ist dabei erheblich geworden. Hieraus können sich im Alltag Probleme ergeben. Wir verkaufen künftig im Prinzip Hotelfunktionen und werden vermutlich damit auch anders wahrgenommen.

    5. Wir haben alle notwendigen Formulare und Verträge entwickelt und können intern die notwendigen Prozesse ab 01.01.2020 umsetzen. Es bleiben die oben erwähnten Unsicherheiten, die im Wesentlichen juristischer Natur sind, und da es juristisches Neuland ist, gilt: zwei Juristen – drei Meinungen! Es steht zu befürchten, dass wir sehr viel öfter über Geld reden müssen und sich damit der Charakter des Beziehungsangebotes ändert.

    Jürgen Häuser

    Jürgen Häuser

    Einrichtungsleitung Haus im Niederfeld und Haus Kleyerstraße, Darmstadt

    1. Für die Bewohner unserer stationären Einrichtung sind bisher kaum Auswirkungen erkennbar. Lediglich die Eröffnungen eigener Bankkonten sind erste Anzeichen der anstehenden Veränderungen. Für uns als Träger hingegen wächst die Anspannung, da wir vermehrt Anfragen von gesetzlichen Betreuern nach Mietbescheinigungen erhalten, die für die Anträge auf KdU (Kosten der Unterkunft und Heizung) beim örtlichen Sozialhilfeträger benötigt werden. Diese konnten wir jedoch bisher nicht ausstellen, da sich auf Kostenträgerseite die notwendigen Vorarbeiten zeitlich verzögert haben.

    2. Für den Bereich, für welchen ich Verantwortung trage, eine soziotherapeutische Einrichtung für chronisch mehrfach beeinträchtigte suchtkranke Frauen und Männer, fällt es mir ehrlich gesagt schwer, einen Nutzen für unsere Bewohner zu erkennen, und fürchte eine Überforderung. Ich hoffe, ich werde eines besseren belehrt und die Bewohner können von dem Mehr an Selbstbestimmung profitieren.

    3. Bewohner erhalten zukünftig ihre existenzsichernden Leistungen direkt ausbezahlt und begleichen damit die in diesem Bereich erbrachten Leistungen. Nicht jeder ist jedoch in der Lage, mit diesen finanziellen Mitteln angemessen und zweckbestimmt umzugehen. Kommt es zu Forderungsausfällen, wird dies das Verhältnis zwischen uns und dem Bewohner belasten und verändern. Ein produktiver soziotherapeutischer Prozess wäre unter diesen Vorzeichen nur erschwert möglich.
    Ich erwarte ein Zunahme von Verschuldungen der Bewohner, vermehrte Abbrüche und eine Verschiebung der Hilfen in Richtung der Wohnungslosenhilfe.

    4. Für die soziotherapeutischen Einrichtungen als Teil der Eingliederungshilfe wird sich der Verwaltungsaufwand ganz erheblich erhöhen. Es steht zu erwarten, dass es zu Ausfällen bzw. Verzögerungen bei den Kostenerstattungen kommen wird. Insbesondere zu Beginn der Umstellung kann es zu Liquiditätsengpässen kommen. Es ist nicht klar, ob wir alle Qualitäten unseres Angebotes aufrechterhalten können (z. B. unsere eigene Küche).
    Insgesamt wird unser Angebot noch einen stärkeren ambulanten Charakter erhalten. Dies ist für einige unserer Bewohner sicher von Vorteil, für die Mehrzahl jedoch nicht.

    5. Wir besuchen so viele Veranstaltungen zu diesem Thema wie möglich, um alle Informationen und Entwicklungen möglichst frühzeitig zu erhalten. Gleichzeitig haben wir die Bewohner und ihre gesetzlichen Betreuer zeitnah über die anstehenden Veränderungen informiert. Im Bereich der Verwaltung sind wir dabei, zusätzliche Ressourcen aufzubauen. Für die ersten Monate der Umstellung und die dann zu erwartenden Verzögerungen in der Rechnungsbegleichung haben wir finanzielle Rückstellungen gebildet.

    Michael Strotmann

    Michael Strotmann und Bella

    Einrichtungsleitung Soziotherapieverbund Spessart, Partenstein

    1. In meinem Tätigkeitsfeld bemerke ich bereits folgende Auswirkungen durch das BTHG:

    • viel Unsicherheit und Unklarheit bzgl. der praktischen Umsetzung
    • Skepsis bzgl. einer termingerechten Umsetzung zum 01.01.2020 (z. B. in Hessen, wo es keine bayerische Übergangsregelung gibt)
    • einen erheblichen Mehraufwand in der täglichen Arbeit bzgl. Information und Aufklärung von Bewohnern und deren Betreuern sowie Kostenträgern und Wohngeldstellen

    2. Ich sehe folgenden Nutzen des BTHG für die Suchthilfe:

    • Ermöglichung von ggf. neuen finanzierten Arbeitsformen/-bereichen (Budget für Arbeit)
    • im Idealfall Rückerlangung von mehr Selbstachtung und Würde für den Einzelnen

    3. Ich sehe folgende Nachteile des BTHG für die Suchthilfe:

    • Die Möglichkeit zur eigenen Verwaltung von recht hohen Geldsummen verstärkt die Tendenz zur Selbstüberschätzung und unrealistischer Haushaltsplanung.
    • Der Einblick in genauere Kostenstrukturen z. B. bzgl. Unterkunft und Verpflegung kann ein häufig vorhandenes unrealistisches Anspruchsdenken ungut befördern und zu vielen unfruchtbaren Diskussionen in den Einrichtungen führen.
    • Die Möglichkeit zur Auszahlung des gesamten Lebensmittelgeldes und zum möglichen Selbsteinkauf/-versorgung kann sehr negative Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten, die Hygiene und die therapeutische Gemeinschaft haben, die sich auch durch gemeinsame Mahlzeiten ausdrückt.

    4. Folgende Veränderungen ergeben sich für meine Einrichtungen durch das BTHG:

    • ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand aufgrund eines zukünftig nicht mehr alleinigen und einzigen Kostenträgers
    • die Notwendigkeit eines Mahn- und Risikomanagements zum Eingang vereinbarter Monatszahlungen
    • Wohn- und Verpflegungsangebote müssen sich zukünftig noch stärker und regelmäßiger den Wünschen der Bewohner gegenüber verändern und verbessern, da mehr Kostentransparenz und Vergleich möglich ist.

    5. So bereiten wir uns auf die Veränderungen vor:

    • Auf- und Ausbau eines guten Fehler- und Beschwerdemanagements in der Einrichtung
    • Sensibilisieren der Mitarbeiter für die vom Gesetzgeber gewollte Eigenverantwortung und Eigenständigkeit auch von Menschen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung, ohne suchtrelevante Grenzziehungen und Verhaltensspiegelungen zu unterlassen
    • Erarbeitung von neuen Wohn- und Betreuungsverträgen, die sowohl ausreichende Refinanzierung als auch notwendige Handlungsspielräume im täglichen Betreiben einer Einrichtung mit Suchtkranken ermöglichen

    Michael Thiem

    Michael Thiem

    Einrichtungsleitung Laufer Mühle, Geschäftsführung Soziale Betriebe der Laufer Mühle gGmbH, Adelsdorf

    Jede Neuerung bringt Verunsicherung mit sich. So auch im Mitarbeiterteam unserer Einrichtung, in dem wir uns seit geraumer Zeit intensiv mit den Anforderungen des BTHG – und damit auch mit dessen Chancen und Risiken – auseinandersetzen.

    Chancen und Risiken – und damit einhergehend auch Hoffnungen und Ängste – ergeben sich durch die Vorgaben des BTHG in allen therapeutischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und personellen Prozessen und Bereichen. So wird eben auch die Umsetzung weitreichende Auswirkungen und Folgen nicht nur für die Nutzer („Kunden“) haben, sondern auch für die Menschen, die die gesetzlichen Bestimmungen auszuführen haben.

    Die Umsetzung des BTHG wird, blickt man auf die Seite der Mitarbeiter in der Suchthilfe, vor allem auch beschäftigungsrelevante und arbeitskulturelle Bedeutung haben, obwohl dies nicht primäre Absicht, sondern nur die Folge des Gesetzes ist. So werden sich die zu erbringenden „Arbeitsleistungen“ und die „Arbeitsziele“ in wesentlichen Punkten im Arbeitsfeld „soziotherapeutische Suchthilfe“ verändern. Von den Beschäftigten werden dann teilweise andere Arbeitsergebnisse und ‑gewichtungen erwartet, als es bisher gefordert war. Somit bedarf auch die suchttherapeutische (Grund-)Haltung der einzelnen Mitarbeiter einer umfassenden Transformation, da der Mitarbeiter „in Zukunft etwas anderes machen soll, als das, wofür er einmal angetreten ist und wovon er überzeugt war“ (Zitat eines Mitarbeiters).

    Verständlich, dass diese neuen Anforderungen an Mitarbeiter auch Unsicherheiten in Bezug auf den Arbeitsplatzerhalt und auch auf die Bewertung der Arbeitsleistungen, die zukünftig erbracht werden müssen, erzeugen. Dies wurde und wird in der aktuellen Diskussion nicht weiter problematisiert und lässt damit die Menschen, die dieses Gesetz „alltagstauglich“ machen sollen, „außen vor“.

    Soziotherapeutische Einrichtungen der Suchthilfe betrachteten bisher den Heilungserfolg (Rehabilitation und Resozialisation = Überwindung der Krankheit und Etablierung einer Lebenswelt, die das erneute Ausbrechen der Krankheit verhindert) als das Ziel all ihrer therapeutischen/betreuerischen Maßnahmen. Der klassische Handlungsansatz ist/war die „Betreuung“. Betreuung schließt Fürsorge ebenso mit ein wie die Verantwortung für die vorgeschlagene Betreuungsmaßnahme. Der Begriff „Betreuung“ wird nun im BTHG durch „Assistenz“ ersetzt. „Assistenz“ ist die Unterstützung einer Maßnahme, die der Betroffene vorgibt und die durchaus auch einem (vom Betreuer / Angehörigen / Arzt / von der Krankenkasse / der Gesellschaft)  gewünschten Therapieerfolg zuwiderlaufen kann. Der Gesetzgeber hat damit ganz eindeutig die persönliche Wahlfreiheit über das ehemalige Gesundheitsziel gestellt.

    Bisher empfahlen die Mitarbeiter aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrungen den suchtkranken Menschen therapeutische Hilfsangebote, die diese dann in ihre verbindliche therapeutische Zielplanung mitaufnahmen und die dann gemeinsam von Betreutem und Therapeut verfolgt wurde. Diese „therapeutische Partnerschaft“ definierte u. a. die Pflichten, die der Betroffene auf sich nahm, um so die gemeinsam vereinbarten Ziele (= berufliche und soziale Integration, Suchtfreiheit) zu erreichen. Der Mitarbeiter nahm dabei nicht nur die die Rolle des Wegbegleiters, sondern auch des Trainers und eben auch des „Controllers“ ein, der auch darüber wachte, ob die gemeinsamen Vereinbarungen, die den späteren Erfolg erst ermöglichen können, auch eingehalten werden.

    Die „Mitwirkungspflicht“ bzw. „Compliance“ ist Dreh- und Angelpunkt jeder Heilbehandlung, ob somatisch oder psychosomatisch, da sie den Betroffenen aktiv mit einbindet und somit dessen Selbstheilungskräfte aktiviert und mobilisiert. Die Verantwortung für eine „Heilung“ wird dabei nicht an Ärzte, Therapeuten, Medikamente oder Methoden delegiert. Heilung ist in der Summe das Erfolgsergebnis eines verpflichtenden Zusammenspiels vieler Akteure, in dessen Mittelpunkt der Betroffene selbst steht.

    Beim BTHG (bezogen auf die Suchthilfe) steht nun also nicht mehr die Krankheit im Mittelpunkt. Es geht also nicht in erster Linie um Gesundung. Vielmehr geht es um Rechte und gesellschaftliche Gleichstellung eines Menschen, der krank ist oder eben auch Defizite hat. Weder Krankheit noch Defizite sollen den Betroffenen hindern, die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen wahrnehmen zu können. Diesem Anliegen gilt es hier auch nicht zu widersprechen. Es wird lediglich kritisiert, dass es einen (sucht-)kranken Menschen von der Pflicht zur Mitwirkung entbindet.

    Selbstverständlich ergeben sich auch neue Ansätze, Perspektiven und dementsprechend auch Hilfsangebote durch das BTHG in der Soziotherapie für Suchtkranke. Gerade im Bereich des „peer counceling“, also des Hilfsansatzes der „Beratung/ Betreuung/ Begleitung von Betroffenen für Betroffene“, werden hohe Nachfragen (= „Kundenwünsche“) entstehen.

    Die langjährigen Erfahrungen in der Behindertenarbeit, speziell Suchtkrankenbehandlung, zeigen nämlich, dass ehemals Betroffene sehr gute Ratgeber und Wegbegleiter sind, dem Betroffenen geeignete und gangbare Wege aus der Krankheit/ Behinderung aufzuzeigen. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus können sie glaubhaft vermitteln, dass Krankheit/ Behinderung überwunden bzw. mit der Krankheit selbstbestimmt gelebt werden kann. Als Stärken des „Peer Counceling“ werden gesehen:

    • Mut zur Veränderung aufzeigen
    • Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln
    • Fähigkeit aufzeigen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen
    • Vermittlung der Grundhaltung, durch eigene Kraft Lösungen, Krisen, Krankheiten, etc. überwinden zu können
    • Einfühlungsvermögen/ Empathie für die Gefühlslage des Betroffenen aufgrund der eigenen Lebensgeschichte

    Durch den Einsatz von Betroffenen wird die Gefahr der „Distanz“ zwischen professionellem Helfer und behindertem Menschen abgebaut. Die Interaktion findet auf Augenhöhe statt, was wiederum den Zugang zu Hilfsangeboten und die Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen wesentlich erleichtert.

    Gerade der Einsatz von ausgebildeten Ex-Usern (vgl. Konzept Laufer Mühle, soziotherapeutische Assistenten/IHK) in der Soziotherapie hat sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin bewährt und zu beachtlichen Rehabilitations- und Sozialisationserfolgen geführt. Allerdrings wurden diese wichtigen Lebensberater und -begleiter von den Kostenträgern bis heute nicht als professionelle Unterstützer anerkannt.

    Unter anderem hat nun die die Diskussion um das BTHG dazu geführt, „Betroffene“ (in der Suchthilfe sind es die „Ex-User“) nach einer fundierten Qualifikation als Genesungsbegleiter anzuerkennen und ihnen einen dementsprechenden Stellenwert im Heilungsprozess von kranken Menschen zuzuweisen. Die eingeleiteten Schritte sind erfolgsversprechend.

    Leah Schreiner

    Leah Schreiner

    Projektmanagement/Risikomanagement, Geschäftsbereich Sucht-/ Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Hauptgeschäftsstelle, Weyarn

    1. Ja! Zurzeit nehmen die Aufgaben, die das BTHG betreffen, mind. 50 Prozent meiner Arbeitszeit ein. Die Vorbereitungen auf die Umstellungen zum 01.01.2020 bedeuten sehr viel Fleißarbeit, sowohl für die Einrichtungen als auch für unser Team in der Hauptgeschäftsstelle (Flächenberechnungen, Kostenkalkulationen, neue Zahlungswege, neue Heimverträge etc.).

    2. Für einen Teil unserer Bewohner/innen wird die finanzielle Leistungsgewährung in Zukunft fairer abgebildet, z. B. werden einige Bewohner zukünftig einen Teil ihrer Rente erhalten und auch selbst verwalten können. Das finde ich schön, wenn man bedenkt, dass viele ihr Leben lang dafür gearbeitet haben. Es wird insgesamt deutlich, dass die seelisch behinderten Menschen in den Suchthilfe-Einrichtungen mehr Autonomie ausüben sollen/können.

    3. Da die Suchthilfe-Einrichtungen nur einen ganz kleinen Teil der gesamten Eingliederungshilfe einnehmen, können teilweise die Besonderheiten der „Suchthilfeklientel“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das zeigt sich vor allem am zukünftigen „leistungsberechtigten Personenkreis“ (Zugangsvoraussetzungen). Es könnte sein, dass dadurch einige unserer Bewohner/innen in Zukunft Schwierigkeiten haben, Eingliederungshilfeleistungen zu erhalten.

    4. Für unseren Träger wird es hauptsächlich Veränderungen in den Verwaltungsprozessen geben. Diese werden umfangreicher und komplizierter. Es wird sich möglicherweise die Atmosphäre in den Einrichtungen verändern, welche bislang stark vom Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt waren.

    5. Wir versuchen immer auf einem aktuellen Informationsstand bzgl. der jeweiligen Umsetzung auf Landesebene zu sein. Das sind bei unserem Träger fünf Bundesländer, und es gibt in jedem Bundesland verschiedene Regelungen. Bisher konnten wir gut Schritt halten und alle notwendigen Umsetzungsschritte einleiten.

    Karl-Heinz Schön

    Karl-Heinz Schön

    Leitung Fachbereich für Menschen mit seelischen Behinderungen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Darmstadt

    1. Welchen Nutzen hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Der Nutzen des BTHG geht über die Orientierung an einer Zielgruppe hinaus. Im LWV Hessen orientieren wir uns vorrangig am Willen eines behinderten Menschen und seinen Ressourcen. Mit dem Budget für Arbeit, der Ausgestaltung der künftigen Assistenzleistungen und der Beteiligung der Betroffenen an der Planung ihres Teilhabebedarfes werden dem behinderten Menschen (Sucht) Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung zur Verfügung stehen. Lohnenswerte Ziele zur Teilhabe in den Bereichen Arbeit, Wohnen, soziale Beziehungen und Freizeitgestaltung bieten Anreize, den Suchtmittelkonsum einzuschränken oder zu beenden. Die Orientierung am Sozialraum bietet die Chance, Individualisierung zu überwinden. Die Reduzierung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen erleichtert die Inanspruchnahme von Unterstützung.

    2. Welche Nachteile hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Längerfristige Nachteile des BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden, sehen wir keine. Kurzfristig kann es durch die Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen und das Nettoprinzip zu Verunsicherungen kommen. An diese Veränderungen müssen sich die behinderten Menschen, ihre gesetzlichen Betreuer, die Träger der Grundsicherung bzw. der Hilfe zum Lebensunterhalt und die Leistungserbringer in besonderen Wohnformen in den nächsten beiden Jahren anpassen. Das kann vorübergehend im Einzelfall dazu führen, dass Personen in Angebote nicht aufgenommen oder aufgrund von offenen Forderungen der Leistungserbringer entlassen werden. Auch bei der Beratung und Bedarfsermittlung gab es zu Beginn der Umstellung in Hessen Anpassungsprobleme, die wir Zug um Zug durch Praxiserfahrung verbessern. Unser Bestreben als Leistungsträger ist es, allen erforderlichen Angeboten einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen und damit ein zukunftsorientiertes Angebot für behinderte Menschen sicherzustellen.

    3. Welche wesentlichen Veränderungen durch das BTHG ergeben sich für die Suchthilfe aus Ihrer Sicht als Leistungsträger?
    Wir werden als Leistungsträger darauf drängen, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen. Im Bereich der Suchthilfe sind das z. B. die Angebote der medizinischen Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant und stationär), die Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege. Die Teilhabekonferenzen bieten dazu Möglichkeiten. Wir werden auch die nichtprofessionellen, sozialräumlichen Unterstützungsmöglichkeiten und verbindliche Kooperationen unterschiedlicher Unterstützungsangebote (be)fördern. Wir werden darauf hinarbeiten, Menschen in normalen Wohnformen und normalen Arbeitsplätzen zu unterstützen. Wir hoffen dabei auf eine partnerschaftliche Kooperation mit den Leistungserbringern in der Suchthilfe, so wie wir das in der Vergangenheit auch in vielen Fällen erlebt haben.