Schlagwort: Ambulante Behandlung

  • Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    1 Einleitung

    Menschen mit Suchterkrankungen haben im Anschluss an eine Entzugsbehandlung – bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzungen – grundsätzlich Anspruch auf eine Entwöhnungsbehandlung („Suchtrehabilitation“) als Antragsleistung, wobei sich die Maßnahme möglichst nahtlos an den qualifizierten Entzug anschließen soll. Neben einer nachhaltigen Konsummengenreduktion (i. d. R. mit dem Ziel der Abstinenz) wird bei Entwöhnungsbehandlungen großer Wert auf eine psycho-soziale Stabilisierung der Behandelten und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe gelegt (Deutsche Rentenversicherung, 2017; Verband der Ersatzkassen (vdek), 2001).

    Der gesamte Rehabilitationssektor – und damit auch die Suchtrehabilitation – ist traditionell durch stationäre Maßnahmen geprägt. Allerdings mehrten sich in den vergangenen 20 Jahren Stimmen, die eine konsequentere Umsetzung des gesundheitspolitischen Leitsatzes „ambulant vor stationär“ im Rehabilitationssektor forderten und sich für den Ausbau stationsersetzender Angebote aussprachen (Hibbeler, 2010; Kalinka, 2003; Karoff, 2003; Seitz et al., 2008). Im Zuge dieser Tendenzen wurde auch bei Abhängigkeitserkrankungen die Rolle ambulanter bzw. ganztägig ambulanter Angebote u. a. auf Grundlage gemeinsamer Rahmenvereinbarungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt (Deutsche Rentenversicherung, 2008; Deutsche Rentenversicherung, 2011).

    Zugleich wurde klargestellt, dass ambulante und stationäre Suchtrehabilitation nicht automatisch austauschbare Angebote darstellen. Vielmehr bestimmen medizinische Aspekte (Schwere der Störung, Komorbiditätsprofil), soziale Aspekte (Teilhabe, Unterstützung durch das Umfeld) und infrastrukturelle Aspekte (Erreichbarkeit), ob eine ambulante Entwöhnungsbehandlung im konkreten Einzelfall in Erwägung zu ziehen ist (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Einzelstudien bestätigen, dass ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlung tatsächlich unterschiedliche Zielgruppen erreichen (Preuss et al., 2012), eine systematische Gegenüberstellung der Klientel beider Behandlungsformen hinsichtlich soziodemographischer und behandlungsbezogener Parameter auf einer breiten Datengrundlage fehlt aber bislang.

    2 Methodik

    Dieser Artikel baut auf dem Kurzbericht 2023/I der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) auf (Künzel et al., 2023) und erweitert die dort vorgenommene beschreibende Darstellung um statistische Verfahren, die Aufschluss geben, inwieweit Unterschiede zwischen der Klientel, die eine ambulante, und der Klientel, die eine stationäre Rehabilitation erhalten hat, als „auffällig“ einzustufen sind. Maßnahmen aus dem Bereich der ganztägigen ambulanten Rehabilitation bleiben unberücksichtigt.

    2.1 Datenquelle

    Die analysierten Daten stammen aus der Routineerhebung der DSHS im Datenjahr 2021. Die DSHS basiert auf einer großzahligen Gelegenheitsstichprobe ambulanter und stationärer Suchthilfe-Einrichtungen, die ihre Arbeit entsprechend den Vorgaben des Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe (KDS; aktuelle Version KDS 3.0) (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 2022) mittels zertifizierter Softwareprogramme dokumentieren. Die Daten werden in den Einrichtungen fallbezogen erhoben, anhand bestimmter Gruppierungskriterien gebündelt und als Aggregatdaten dem IFT Institut für Therapieforschung in München zur Verfügung gestellt. Detaillierte Informationen zu den Erhebungsmechanismen und Datenflüssen wurden an anderer Stelle publiziert (Schwarzkopf et al., 2020).

    2.2 Stichprobenselektion

    Die hier präsentierten Auswertungen basieren auf der Gegenüberstellung der beiden Stichproben („Läufe“) „Fälle mit Hauptmaßnahme Stationäre Medizinische Rehabilitation“ (STR) sowie „Fälle mit Hauptmaßnahme Ambulante Medizinische Rehabilitation“ (ARS). Als Hauptmaßnahme gilt dabei diejenige Maßnahme, die die jeweilige Behandlungsepisode dominiert hat. Um bestmögliche Vergleichbarkeit der beiden Stichproben sicherzustellen, wurde jeweils die Bezugsgruppe der „Zugänge und Beender“ herangezogen. Somit gehen in die Auswertung nur Daten von Fällen ein, die im Jahr 2021 begonnen bzw. beendet wurden.

    Bei der Selektion wurde, den Standards der DSHS entsprechend, eine Missingquote von 33 % angesetzt. Demnach sind für jeden Auswertungsparameter nur Daten derjenigen Einrichtungen berücksichtigt, bei denen für den jeweiligen Parameter maximal 33 % der Angaben fehlen. Dies erhöht einerseits die Datenqualität, da Einrichtungen, die für einen entsprechenden Parameter viele Fehlwerte aufweisen, nicht in die Auswertungen eingehen, führt aber andererseits dazu, dass sich die Fallzahl von Parameter zu Parameter unterscheidet. Die Fallzahlen sowie die Anzahl der für die einzelnen Parameter datenliefernden Einrichtungen werden daher zusammen mit den Missingquoten jeweils ausgewiesen.

    2.3 Zielparameter

    Zunächst wurde die Zahl der Einrichtungen, die ARS bzw. STR als Hauptmaßnahme durchgeführt haben, sowie die Zahl der ARS- bzw. STR-Fälle deskriptiv gegenüberstellt.

    Anschließend wurde die in ARS und STR behandelte Klientel hinsichtlich soziodemographischer (Geschlechterverteilung, Altersstruktur, Elternschaft, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit), störungsbezogener (Alter bei Erstkonsum, Konsumhäufigkeit bei Maßnahmenbeginn, dokumentierte Problembereiche) und behandlungsbezogener Parameter (Haltequote, Behandlungserfolg) verglichen. Hierfür wurde für soziodemographische und störungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Zugänge“ zurückgegriffen und für behandlungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Beender“. Auch dies trägt zu unterschiedlichen Fallzahlen bei.

    Zur Berücksichtigung der Altersstruktur wurde neben dem Durchschnittsalter die Verteilung der Fälle über die Kategorien „unter 30 Jahre“, „30 bis 49 Jahre“ und „50 Jahre und älter“ abgebildet. Der binär kodierte Parameter Elternschaft erfasst, ob die Behandelten eigene minderjährige Kinder haben. Für den Parameter Schulabschluss wurden die Ausprägungen „Abitur“ und „Schulabbruch“ dichotomisiert ausgewertet. Konsumhäufigkeit adressiert die Anzahl an Konsumtagen in den 30 Tagen vor Antritt der Maßnahme und berücksichtigt neben dem Durchschnittswert auch die Verteilung der Klientel über die Kategorien „kein Konsum“, „1 bis 6 Konsumstage“, „7 bis 15 Konsumstage“, „16 bis 28 Konsumtage“ und „(fast) täglicher Konsum“. Die dokumentierten Problembereiche benennen Bereiche des täglichen Lebens, die bei Behandlungsbeginn beeinträchtigt waren. Der Parameter Haltequote adressiert den Anteil planmäßig beendeter Behandlungen, wobei die unterschiedlichen Gründe einer plan- bzw. unplanmäßigen Beendigung differenziert erfasst werden. Als Behandlungserfolg gelten in Einklang mit den Standards der DSHS Behandlungen, an deren Ende sich die Suchtproblematik im Vergleich zur Ausgangssituation verbessert hat bzw. unverändert geblieben ist.

    2.4 Auswertungen

    Die Auswertungen konzentrieren sich auf eine Gegenüberstellung von ARS- und STR-Fällen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen, wobei die Klassifikation der zu Grunde liegenden Störungen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) erfolgt (Dilling et al., 2015). Hierbei werden sowohl Fälle mit Abhängigkeitssyndrom als auch Fälle mit missbräuchlichem Konsum der jeweiligen Substanzen berücksichtigt, wobei DSHS-Auswertungen beide Ausprägungen nicht differenzieren, sondern gemeinsam berichten. Die Schwerpunktsetzung auf Alkohol- (ICD-10 F10) und Cannabinoidkonsumstörungen (ICD-10 F12) ist mit ihrer empirischen Relevanz in ARS und STR begründet.

    Aufgrund der aggregierten Daten können in der DSHS nur einfache Gruppenvergleiche vorgenommen werden. Eine modelltechnische Mitberücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren bei der Interpretation der Unterschiede ist nicht möglich. Somit wurden für kontinuierliche Daten Mittelwertsvergleiche anhand von t-Tests durchgeführt. Für Anteilswerte erfolgten Chi²-Tests. Hierbei wurden in die Grundgesamtheit auch Fälle mit der Variablenausprägung „unbekannt“ einbezogen. Aufgrund der hohen Sensitivität der beiden statistischen Tests und der großen Fallzahlen wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,01 festgelegt, um das Risiko einer Überinterpretation kleiner Ausprägungsunterschiede zu minimieren.

    Alle Auswertungen und Datenvisualisierungen wurden mit Hilfe der Statistik-Tools von Microsoft Excel vorgenommen.

    3 Ergebnisse

    3.1 Fallzusammensetzung

    328 Einrichtungen haben Falldaten zu ARS als Hauptmaßnahme und 107 Einrichtungen Falldaten zu STR als Hauptmaßnahme geliefert. ARS wurde überwiegend in ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen (n = 309 Einrichtungen) und STR nahezu ausnahmslos in stationären Suchthilfe-Einrichtungen (n = 104 Einrichtungen) erbracht. Das Fallvolumen der STR war mit 24.508 Zugängen bzw. 26.985 Beendern rund fünfmal so hoch wie das der ARS mit 4.871 Zugängen bzw. 5.469 Beendern.

    Informationen zur Hauptdiagnoseverteilung lagen für 322 Einrichtungen mit ARS-Angebot sowie für alle 107 Einrichtungen mit STR-Angebot vor, wobei in ARS häufiger keine Hauptdiagnose dokumentiert wurde (n = 293 Fälle; 6,1 %) als in STR (n = 387 Fälle; 1,6 %; p-Wert < 0,0001). Alkoholbezogene Störungen dominierten jeweils die Fälle mit Hauptdiagnose (ARS: n = 3.103 Fälle; 69,0 % | STR: n = 15.711 Fälle; 65,2 %; siehe Abbildung 1). In ARS wie auch in STR folgten an zweiter Stelle Behandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen (ARS: n = 406 Fälle; 9,0 % | STR: n = 2.342 Fälle; 9,7 %). An dritter Stelle stand in ARS das Pathologische Spielen (n = 325 Fälle; 7,2 %), das in STR den siebten Rang einnahm (n = 445 Fälle; 1,8 %). Hier bildete Multipler Substanzmissbrauch den dritthäufigsten Behandlungsanlass (n = 2.085 Fälle; 8,6 %), der in ARS an sechster Stelle stand (n = 131 Fälle; 2,9 %). Auf Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von Störungen durch den Konsum von Flüchtigen Lösungsmitteln, Tabak oder Halluzinogenen entfiel jeweils nur ein geringer Anteil. Gleiches gilt für Exzessive Mediennutzung.

    3.2 Klientelcharakteristika

    a) Soziodemographie

    Die aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen behandelte ARS-Klientel unterschied sich hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika systematisch von der STR-Klientel (siehe Tabelle 1). Bei beiden Konsumstörungen war die ARS-Klientel im Mittel älter und es fand sich ein geringerer Anteil an unter 30-Jährigen. Zudem lebte die ARS-Klientel jeweils seltener allein, hatte ein höheres Bildungsniveau (Abiturquote höher, Schulabbruchquote geringer) und war häufiger an den Arbeitsmarkt angebunden (Erwerbstätigkeit häufiger, Arbeitslosigkeit seltener). Für Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fand sich in ARS zudem ein höherer Anteil an Frauen und an Eltern minderjähriger Kinder.

    b) Störungsbezogene Parameter

    Der Erstkonsum von Alkohol bzw. Cannabinoiden erfolgte bei der ARS-Klientel und der STR-Klientel ähnlich früh, jedoch waren die ARS-Fälle bei Störungsbeginn im Mittel älter (siehe Tabelle 1). ARS wurde häufiger abstinent angetreten als STR, zugleich waren die drei Konsumklassen „7 bis 15 Tage“, „16 bis 28 Tage“ und „fast täglich“ schwächer besetzt (höchste Klasse bei cannabinoidbezogenen Störungen nicht signifikant). Für ARS-Fälle mit alkoholbezogenen Störungen ließen sich zudem im Mittel weniger Konsumtage im Monat vor Maßnahmenantritt beobachten.

    c) Dokumentierte Problembereiche

    Grundsätzlich wurde in ARS seltener eine Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche dokumentiert als in STR, wobei die entsprechenden Unterschiede für beide Konsumstörungen meist signifikant waren (siehe Abbildung 2). Lediglich psychische Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 67,9 %; STR = 71,8 %; p = 0,02 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 71,0 %; STR = 79,0%; p = 0,09) und familiäre Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 54,7 %; STR = 51,8 %; p = 0,05 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 53,4 %; STR = 62,9 %; p = 0,03) wurden in ARS und STR jeweils ähnlich häufig erfasst.

    3.3 Behandlungsergebnisse

    Grundsätzlich endeten Entwöhnungsbehandlungen überwiegend planmäßig, wobei die Haltequote bei ARS und STR jeweils ähnlich war (siehe Abbildung 3). In wenigen Fällen wurde nicht dokumentiert, ob die Maßnahme planmäßig oder unplanmäßig endete, ohne dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen ARS und STR bestanden (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,8 %, STR = 0,2 %; p = 0,16 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 2,3 %, STR = 0,3 %; p = 0,68).

    Betrachtet man die Anlässe einer planmäßigen Beendigung, so kam es in ARS jeweils häufiger als in STR zur Beendigung nach Behandlungsplan (alkoholbezogene Störungen 80,2 % vs. 73,8 %; p = 0,0003 | cannabinoidbezogene Störungen 80,1 % vs. 57,5 %; p < 0,0001) und seltener zu planmäßigen Wechseln in andere Einrichtungen (alkoholbezogene Störungen 5,1 % vs. 12,6 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 5,8 % vs. 17,9 %; p < 0,0001). Bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fanden sich in ARS zudem häufiger vorzeitige Beendigungen mit ärztlichem / therapeutischem Einverständnis (8,8 % vs. 7,3 %; p = 0,008) und bei cannabinoidbezogenen Störungen seltener Beendigungen auf ärztliche / therapeutische Veranlassung (7,6 % vs. 15,4 %; p = 0,0003).

    In Bezug auf eine unplanmäßige Beendigung waren disziplinarische Beendigungen in ARS seltener als in STR (alkoholbezogene Störungen 10,7 % vs. 17,5 %; p = 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 9,8 % vs. 27,9 %; p = 0,003). Zudem kam es bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen in ARS häufiger zu außerplanmäßigen Einrichtungswechseln (17,1 % vs. 2,7 %; p < 0,0001) und bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen gab es in ARS mehr Todesfälle (2,7 % vs. 0,1 %; p < 0,0001).

    Im Zuge der Entwöhnungsbehandlung wurde bei beiden Konsumstörungen in ARS und STR ähnlich häufig eine Verbesserung der Ausgangssituation erreicht (siehe Abbildung 4). Bei alkoholbezogenen Störungen bestand auch hinsichtlich des Prozentsatzes, der stabil geblieben ist, kein Unterschied zwischen ARS und STR. Bei cannabinoidbezogenen Störungen wurde in ARS indes seltener eine Stabilisierung erreicht als in STR (13,3 % vs. 21,9 %; p = 0,005). Die Ausgangsproblematik verschlechterte sich in ARS jeweils häufiger als in STR, allerdings auf niedrigem Niveau (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,6%; STR = 0,6 %, p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 5,5%; STR =1,0 %, p < 0,0001).


    Zugleich war der Anteil an Behandelten, die die Konsumenge von Alkohol bzw. Cannabinoiden im Zuge der Entwöhnungsbehandlung verringert haben, in ARS niedriger als in STR (alkoholbezogene Störungen: 38,3 % vs. 72,5 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: 35,2 % vs. 63,4 %; p < 0,0001). Allerdings war am Ende der Maßnahme nicht immer dokumentiert, ob sich die anfängliche Suchtproblematik verändert hat, wobei dies bei der Klientel mit cannabinoidbezogenen Störungen in ARS seltener vorkam als in STR (5,0 % vs. 9,9 %; p = 0,002).

    4 Einordnendes Fazit

    Dieser Artikel vergleicht erstmals anhand von aktuellen Daten der DSHS die Fallzusammensetzung und das Ergebnis bei ambulanten und stationären Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen. Hierbei zeigt sich, dass stationäre Suchtrehabilitation deutlich weiter verbreitet ist als ambulante Maßnahmen, wobei in beiden Settings jeweils eine spezifische Klientel behandelt wird. Einschränkend sei darauf verwiesen, dass die Gegenüberstellung Fälle mit alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen – die Hauptanlässe für Suchtrehabilitation – adressierte. Eine Verallgemeinerung auf andere stoffgebundene und stoffungebundene Suchterkrankungen ist nicht unmittelbar möglich.

    Grundsätzlich waren soziodemographische Unterschiede zwischen der ARS-Klientel und der STR-Klientel ausgehend von den Anforderungskriterien, für wen eine ambulante Maßnahme geeignet ist, zu erwarten: Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ fordert unter anderem, dass im Falle einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung ein stabilisierendes / unterstützendes soziales Umfeld sowie ausreichende berufliche Integration gewährleistet sein sollten (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Dass den DSHS-Daten zu Folge die ARS-Klientel seltener allein lebt und häufiger erwerbstätig sowie seltener arbeitslos ist als die STR-Klientel, spiegelt eine adäquate Umsetzung dieser Vorgabe.

    Darüber hinaus hat die ARS-Klientel ein höheres Bildungsniveau (d. h. Abitur häufiger, Schulabbruch seltener) als die STR-Klientel. Dies deckt sich mit Beobachtungen in einer kleinen monozentrischen Studie unter Alkoholabhängigen (Schmidt et al., 2009). Hier steht zu vermuten, dass das höhere Bildungsniveau sich förderlich auf die Therapieadhärenz auswirkt, die wiederum eine Grundanforderung an die ambulante Durchführbarkeit einer Suchtrehabilitation darstellt (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Zudem legt episodische Evidenz nahe, dass ein höherer Bildungsgrad – insbesondere bei Frauen – positiv mit dem Verbleib in der Suchtbehandlung assoziiert ist (Courtney et al., 2017; Pinto et al., 2011; Vigna-Taglianti et al., 2016).

    Des Weiteren finden sich in ARS häufiger Eltern minderjähriger Kinder als in STR. In einem ambulanten Setting lassen sich annahmegemäß Fürsorge- und Aufsichtspflichten leichter realisieren als in einem stationären Setting, weswegen Eltern gewisse Präferenzen für ambulante Angebote haben könnten. Dies legt zumindest eine Studie nahe, die den Mangel an auf Eltern zugeschnitten Therapieangeboten als eine von mehreren Hürden für die Inanspruchnahme stationärer Entwöhnungsbehandlungen unter Methamphetaminabhängigen identifizierte (Hoffmann et al., 2018). Eine Übertragbarkeit auf andere Suchterkrankungen erscheint hier legitim.

    Darüber hinaus spricht das klinische Bild der STR-Klientel für eine komplexere Problematik. Die STR-Fälle haben häufiger Probleme in verschiedenen Lebensbereichen und konsumieren Alkohol bzw. Cannabinoide im Monat vor Behandlungsbeginn intensiver. Dies korrespondiert mit den Klientelcharakteristika einer früheren Studie, die Risikoprofile für den frühzeitigen Abbruch einer ambulanten bzw. stationären Entwöhnungsbehandlung unter Personen mit Alkoholkonsumstörungen analysierte (Preuss et al., 2012). Hier fand sich eine höhere Prävalenz psychischer und körperlicher Begleiterkrankungen und eine kürzere Abstinenzperiode unter den stationär Behandelten. Beide Befunde reflektieren die Vorgaben der Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die bei Personen mit intensivem Suchtverlauf und schwerwiegenden psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen eine stationäre Rehabilitation empfehlen (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Trotz dieser unterschiedlichen Fallcharakteristika wird in ARS und STR ähnlich häufig ein positives Behandlungsergebnis (Reduktion oder Stabilisierung) erzielt. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich in ARS behandelte Personen mit cannabinoidbezogenen Störungen zwar signifikant seltener stabilisieren, sich aber zugleich (nicht-signifikant) häufiger verbessern. Dies spricht für eine tendenzielle Verschiebung aus der Kategorie „Stabilisierung“ in die Kategorie „Verbesserung“. Zudem ist eine Verringerung der initialen Suchtproblematik in ARS und STR ähnlich wahrscheinlich. Dies lässt vermuten, dass Personen mit komplexerem Störungsbild von STR zumindest kurzfristig stärker profitieren als von ARS. Zugleich kommt es in ARS häufiger als in STR zu einer Verschlechterung der Suchtproblematik und die Konsummenge wird seltener verringert – was sicher auch mit der ausgangs niedrigeren Konsumintensität zusammenhängt. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür dürfte aber insbesondere die einfachere Verfügbarkeit der Substanzen kombiniert mit weniger engmaschigen Kontrollmöglichkeiten im ambulanten Setting sein.

    Da die Daten die Situation unmittelbar zum Behandlungsende abbilden, besteht keine Rückschlussmöglichkeit, ob sich die für STR beobachtete deutlich stärkere Konsummengenreduktion nachhaltig verstetigt. Es ist anzunehmen, dass bei stationären Entwöhnungsbehandlungen ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht, sobald die Betroffenen in ihrer regulären Lebenswelt wieder erleichterten „Substanzzugriff“ haben. So geht der Katamnesebericht des Fachverbandes Sucht für das Datenjahr 2018 davon aus, dass die Hälfte der Personen, die eine ambulante Entwöhnungsbehandlung durchlaufen haben – davon 79,2 % aufgrund von Alkohol- und 6,4 % aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen – ein Jahr nach deren Abschluss gemäß DGSS 4-Standard (also ggf. nach Rückfall) abstinent war (Becker et al., 2021). Im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung galt dies im Datenjahr 2020 aber nur für zwei Fünftel der Personen, die aufgrund von Alkoholkonsumstörungen behandelt worden waren (Bachmeier et al., 2023), bzw. für ein Fünftel der Personen, die aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen behandelt worden waren (Kemmann et al., 2023). Dies unterstreicht implizit die Bedeutung, die einer adäquaten Rehabilitations-Nachsorge (Deutsche Rentenversicherung, 2015) insbesondere nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung zukommt.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ARS und STR unterschiedliche Personengruppen erreichen und nicht per se individuell austauschbare Behandlungsangebote darstellen. Da es die Aggregatdaten der DSHS nicht erlauben, soziodemographische und störungsbezogene Unterschiede zwischen ARS-Klientel und STR-Klientel statistisch zu berücksichtigen, ist ein Vergleich der „Effektivität“ von ARS und STR grundsätzlich nicht angebracht. Vor dem Hintergrund der komplexeren Problematik der STR-Fälle ist der fehlende Unterschied zwischen beiden Behandlungsansätzen hinsichtlich Haltequote und Anteil an Fällen mit verbesserter Suchtproblematik allerdings positiv zu werten. Anscheinend gelingt es ARS und STR gleichermaßen gut, ihre spezifische Klientel bedarfsgerecht durch die Entwöhnung zu begleiten.

    5 Abkürzungsverzeichnis
    • ARS                Ambulante Medizinische Rehabilitation
    • DSHS             Deutsche Suchthilfestatistik
    • ICD                 International Classification of Diseases
    • IFT                  Institut für Therapieforschung
    • KDS                Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe
    • STR                Stationäre Medizinische Rehabilitation
    6 Literatur
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    • Becker, A., Bick-Dresen, S., Schneider, B., Bachmeier, R., Bingel-Schmitz, D., Fölsing, B., Funke, W., Klein, T., Kramer, D., Löhnert, B., Steffen, D., Seydlitz, U., & Granowski, M. (2021). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation–FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2018 von Ambulanzen für Alkohol-und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2021(3) 38-47.
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    Förderhinweis

    Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf(at)ift.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Die Autorinnen repräsentieren die Forschungsgruppe „Therapie und Versorgung“ am IFT Institut und Therapieforschung. Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, bildet einen zentralen Grundpfeiler dieser Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Forschungsgruppe Therapie und Versorgung schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS.

    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl.-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Monika Murawski, MPH, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Carlotta Riemerschmid, MSc. Psychologie, IFT, Doktorandin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Jutta Künzel, Dipl.-Psych., IFT, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsgruppe Therapie- und Versorgung
  • Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Beitrag von Daniel Zeis über die Zukunft der Suchtberatung, der auf KONTUREN online am 7. Februar 2023 publiziert wurde, greift ein sehr wichtiges Thema auf. Grundsätzlich kann man den Kernaussagen des Textes nicht widersprechen: Suchtberatung ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge und als solche muss diese Leistung angemessen finanziert werden. Dass die Wirklichkeit in vielen Städten und Landkreisen anders aussieht und dass die Lage nicht besser wird, braucht nicht diskutiert zu werden. Aus meiner Sicht hat das Vergabebrecht für die Suchtberatung aber nicht nur negative Auswirkungen bzw. eine Verschärfung der Probleme zur Folge.  Es bedarf einer differenzierteren Analyse, um sinnvolle Handlungsoptionen für die Absicherung der Suchtberatung in den kommenden Jahren entwickeln zu können.

    Leistungsanbieter haben meistens die schlechtere Verhandlungsposition

    Im Netzwerk des Therapiehilfeverbundes arbeiten in vier norddeutschen Bundesländern rund 30 Suchtberatungsstellen, und wir haben im Hinblick auf die Finanzierung dieser Leistungsangebote in den letzten Jahren viele und teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vertragsverhandlungen und Ausschreibungsverfahren gemacht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die „Gesetzte des Quasi-Marktes“ im Bereich sozialer Dienstleistungen für uns als Leistungsanbieter meistens nicht einfach sind und wir einem Monopolisten oder einem „Nachfrage-Oligopol“ gegenüberstehen. Das ist aber nicht nur bei der Suchtberatung so, auch in der medizinischen Reha, in der Akutbehandlung, in der Eingliederungshilfe oder in der Kinder- und Jugendhilfe sind wir in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis. Dabei spielt es i. d. R. keine Rolle, ob der Leistungsanbieter frei-gemeinnützig oder privatwirtschaftlich organisiert ist, die Zuwendungsgeber bzw. Kosten- und Leistungsträger haben eigentlich immer die stärkere Verhandlungsposition. Es gibt zwar vereinzelt normative Rahmenbedingungen, die so etwas wie „Augenhöhe“ bei Verhandlungen schaffen sollen (bspw. die Möglichkeit der Einschaltung von Schiedsstellen), aber mit Blick auf die Machtverteilung und Abhängigkeiten muss es wohlüberlegt sein, ob man solche Möglichkeiten nutzen will.

    Diesen Zustand kann man beklagen, und es ist auf jeden Fall sinnvoll, an Verbesserungen der Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die laufenden Verhandlungen der Reha-Verbände mit der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit der notwendigen Neuregelung des „Reha-Marktes“ zeigen, dass das sehr mühsam ist und viel Geduld erfordert. Aber wenn man in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft unternehmerisch verantwortlich ist, dann muss man sich über die Spielregeln im Klaren sein. Auch wenn unser Verhandlungsspielraum nicht sehr groß ist, so gibt es doch viele Möglichkeiten, ihn intelligent nutzen.

    Rahmenbedingungen haben sich deutlich verändert

    Im Bereich der Suchtberatung und niedrigschwelligen Suchtarbeit ist es in der Tat so, dass sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Langfristige oder gar unbefristete Verträge sind selten geworden und die Finanzmittel für die kommunale Förderung bzw. Zuwendung sind knapper geworden. Das führt zu Veränderungsdruck bei den Leistungserbringern, den spüren wir auch in den Suchtberatungsstellen des Therapiehilfeverbundes. Der Hintergrund für diese Entwicklungen ist auch allgemein bekannt:

    1. Zum einen wird die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwieriger, wenn auch mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden. Dass Suchthilfe eher nach Kassenlage und nicht nach den Bedarfen organisiert und finanziert wird, ist ungeheuerlich, und wir bemühen uns über die Suchtverbände um Einflussnahme auf die entsprechenden sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen.
    2. Zum anderen werden in nahezu allen öffentlichen Bereichen die staatlichen Auftraggeber dazu aufgefordert, wirtschaftlich mit Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen umzugehen. Das kann aus meiner Sicht nur begrüßt werden, denn Deutschland steht leider nicht ganz so gut da im Ranking von „Transparency International“ (2021 auf Platz 10). Öffentliche Vergabeverfahren sollen so transparent wie möglich sein, und dabei sind Ausschreibungen eine von mehreren Optionen.

    Diskussion der Umfrageergebnisse

    Ein Ergebnis der Umfrage von Daniel Zeis ist, dass 17,5 Prozent der Beratungsstellen, die geantwortet haben, sich bereits an Ausschreibungen beteiligt haben. Das ist eine interessante Zahl, ich hätte einen deutlich höheren Anteil erwartet, denn der o. g. Handlungsdruck im Hinblick auf Transparenz und Wirtschaftlichkeit ist nach meiner Erfahrung hoch. Ich finde nicht, dass man hier von einem quantitativ großen Problem sprechen kann. Im Übrigen würde mich interessieren, wie viele der über 1.000 Suchtberatungsstellen in Deutschland an der Umfrage teilgenommen haben.

    Außerdem finde ich es schwierig, eine qualitative Bewertung zu diesem Thema vorzunehmen, indem man nur eine beteiligte Seite befragt. Ich fühle mich ein wenig an den Spruch erinnert „Wenn man den Sumpf austrocknen will, sollte man nicht die Frösche fragen“. Aber bleiben wir sachlich: Dass Ausschreibungsverfahren für alle Beteiligten aufwendig sind und nicht automatisch zu den besten Ergebnissen führen, kann als gesichert angesehen werden. Aber die von Daniel Zeis aufgeführten Gründe, warum Ausschreibungen grundsätzlich ungeeignet für den Bereich der Suchtberatung sein sollen, sind aus meiner Sicht nicht zwingend. Wie so oft ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern es gibt Graubereich, die man sich genauer anschauen sollte, wenn man gute Lösungen finden will.

    Dazu möchte ich nur einige Aspekte exemplarisch aufführen:

    • In den mir bekannten Ausschreibungen waren Merkmale wie „bestehende regionale Vernetzung“ oder „nachgewiesene Erfahrungen mit den Zielgruppen“ wesentliche Bewertungskriterien, d. h., neue Bewerber ohne diese qualitativen Merkmale haben weniger Erfolgschancen als etablierte Leistungsanbieter.
    • Für diese etablierten Leistungsanbieter entsteht aber die Notwendigkeit, das eigene Leistungsspektrum und die Finanzstruktur im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zu hinterfragen. Das kann durchaus zu positiven konzeptionellen Entwicklungen, der Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Veränderung von ineffizienten Organisationsstrukturen führen.
    • Eingespielte Kooperationsstrukturen bei der Erbringung von Leistungen der Suchthilfe in einer Region könnten sicherlich Vorteile haben. Institutionen und Personen sind einander bekannt, Vertrauen und Verlässlichkeit können über Jahre wachsen, und das erleichtert i. d. R. die Zusammenarbeit. Doch gleichzeitig kann dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit entstehen, die die Innovationsfähigkeit im Hinblick auf fachliche Entwicklungen oder Strukturen und Prozesse behindert.
    • Man wird im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens versuchen, Kontakt zu potenziellen Mitbewerbern aufzunehmen. Ich finde es eher förderlich, sich mal anzuschauen, „wie es andere machen würden“, das kann man auch als sportliche Herausforderung sehen. Ich glaube fest daran, dass Wettbewerb jedes Geschäft belebt, auch das soziale!
    • Auch wenn es eigentlich nicht sein soll: Man wird auch versuchen, beim Auftraggeber mehr über Hintergründe zu erfahren, die nicht in den Ausschreibungsunterlagen zu finden sind. Dadurch kann eine sinnvolle Neuausrichtung und Klärung von Kooperationsbeziehungen erfolgen.
    • Die Ausschreibungen, an denen wir uns bisher beteiligt haben, führten nicht zu „Preisdumping“. Im Gegenteil wurde von uns i. d. R. gefordert, dass wir Tarifgehälter zahlen oder angelehnte Vergütungssysteme nachweisen können, und es waren seriöse Sachkostenkalkulationen vorzulegen. Den Zuschlag soll ja das wirtschaftlichste und nicht das billigste Angebot bekommen.

    Entscheidender Faktor ist die Laufzeit der Leistungsvereinbarung

    Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei vielen anderen auch: Es geht nicht nur um das „ob“, sondern vor allem um das „wie“! Wenn Ausschreibungen sachgerecht durchgeführt werden, dann können sie ein sinnvolles Instrument sein, die Leistungserbringung in der Suchtberatung innovativ und leistungsorientiert zu gestalten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Laufzeit der ausgeschriebenen Leistung, denn die Arbeitsverträge mit dem erforderlichen Fachpersonal hängen natürlich eng mit den Zuwendungsverträgen zusammen. Es ist kaum noch möglich, Stellen für zwei oder drei Jahre befristet zu besetzen, und es ist den Trägern der Suchtberatung nicht zuzumuten, unbefristete Arbeitsverträge auf eigenes Risiko abzuschließen. Aus meiner Sicht sollte die Laufzeit von Zuwendungsverträgen mindestens fünf Jahre umfassen, um die Personalstruktur und den Leistungsumfang einigermaßen seriös planen zu können. Sinnvoll wären auch transparente Kriterien und Regelungen für die Verlängerung der Vereinbarungen. Um die möglichen positiven Effekte von Ausschreibungen wirksam werden zu lassen, ist es aus meiner Sicht ausreichend, erst nach acht bis zehn Jahren ein neues Verfahren einzuleiten.

    Nachweis für Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Leistungen

    Wir werden uns in der Suchtberatung wie in nahezu allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr mit der Forderung auseinandersetzen müssen, einen Nachweis für die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Leistungen erbringen zu müssen. Ich halte es für nicht zielführend, solche Anforderungen abzulehnen und auf die Besonderheiten unserer Arbeit und unserer Zielgruppen zu verweisen. Das ist der üblicherweise nicht fachkundigen Öffentlichkeit bzw. Politik kaum vermittelbar. Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass wir offensiv darstellen sollten, welchen ethischen und ökonomischen Nutzen unsere Arbeit bringt. Die aktuell diskutierten Überlegungen und Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) sind eine ausgezeichnete Basis dafür.

    Abschließend und um der Transparenz willen noch einige Angaben zu meinen möglichen Interessenkonflikten: Dieser Beitrag wurde weder in Abstimmung noch im Auftrag oder gar mit finanzieller Förderung der öffentlichen Vertragspartner verfasst, mit denen der Therapiehilfeverbund im Bereich der Suchtberatung zusammenarbeitet. Natürlich verhandeln wir mit Zuwendungsgebern so hart wie möglich, letztlich muss auch bei uns als gemeinnützigem Unternehmen eine schwarze Null im Jahresabschluss stehen. Wir bemühen uns dabei einerseits um Fairness und Offenheit und versuchen andererseits, unsere Spielräume bei Verhandlungen und bei der Ausgestaltung der Leistungserbringung konsequent zu nutzen.

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist seit rund 20 Jahren in der Suchthilfe tätig. Er ist Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes Hamburg/Bremen und Vorsitzender der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef, hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung.

    Kontakt:

    Andreas-Koch(at)therapiehilfe.de

  • Die Zukunft der Suchtberatung liegt nicht im Vergaberecht

    Die Zukunft der Suchtberatung liegt nicht im Vergaberecht

    Daniel Zeis

    Neben der aktuell größten Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise mit all ihren Folgen, ist die Situation der Suchtberatungsstellen in Deutschland sicher ein marginales Problem. Dennoch müssen wir auch die Themen im Blick behalten, die mit einem kleineren Wirkungskreis für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Dazu gehört eine ausreichende Ausstattung der kommunalen Daseinsvorsorge.

    Die Ausgangslage

    Suchtberatungsstellen sind unzureichend ausgestattet. Es mangelt an langfristigen Verträgen, dynamisierter Finanzierung und einer grundsätzlich verlässlichen, durch Gesetze abgesicherten Grundstruktur (DHS, 2019). Der seit 2020 jährlich stattfindende „Aktionstag Suchtberatung“, organisiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), dient dazu, auf den Stellenwert der Suchtberatungsstellen und Defizite in der Ausstattung aufmerksam zu machen. Ein Aspekt, der stark zur unsicheren Situation der Suchtberatungsstellen beiträgt, ist die mögliche Anwendung von Vergaberecht. Suchtberatungsstellen in Deutschland können aktuell von öffentlichen – teilweise europaweiten – Ausschreibungen betroffen sein, was die Erbringung der Leistung für alle Beteiligten erschwert.

    Als Leiter einer Suchtberatungsstelle der AWO und Sprecher der AG Suchtberatungsstellen beim AWO Bundesverband hat der Autor mit diesen Verfahren umfassende Erfahrungen gemacht und diese in seiner Masterarbeit „Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme“ (Zeis, 2022) beschrieben und ausgewertet. Die folgenden Ausführungen basieren auf dieser Masterarbeit.

    Öffentliche Ausschreibungen gehen an Wesen und Aufgabe der Suchtberatung vorbei

    Im Zuge der EU-Vergaberechtsreform von 2016 kam es zu zahlreichen Veränderungen (vgl. Rock et al., 2019). Rechtsunsicherheiten entstanden, diese mussten und müssen neu ausgefochten werden. So gilt beispielsweise für die Rettungsdienste in der Notfallrettung mittlerweile eine sogenannte Bereichsausnahme. Leistungen können also unter bestimmten Bedingungen auch ohne europaweite Ausschreibungen an gemeinnützige Träger vergeben werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof am 21.03.2019 geschaffene Rechtssicherheit gibt es für den Bereich der Suchtberatung oder anderer Beratungsdienste nicht. Es liegen zwar mittlerweile zahlreiche Zivilgerichtsurteile vor, die Ausnahmen im Vergaberecht zulassen, z. B. entschied das OLG Düsseldorf 2018, dass öffentlich geförderte Dienstleistungen nicht ausschreibungspflichtig sind (11.07.2018, VII-Verg 1/18). Von Sozial- und Verwaltungsgerichten stehen solche Urteile leider noch aus.

    Schnell wurde allen Sozialverbänden klar, dass öffentliche Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen der benötigten und gewünschten Leistung nicht gerecht werden (vgl. Positionspapiere der DHS, der BAGFW, der LIGA der freien Wohlfahrtspflege und viele weitere), und zwar aus mindestens drei triftigen Gründen, die als Grundprämissen angenommen werden können:

    1. Soziale Dienstleistungen haben besondere Merkmale, die sie von anderen Produkten am Markt unterscheiden. Hier sind u. a. die grundsätzliche Immaterialität, das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsum der Leistung fallen zeitlich zusammen), die Ko-Produktion durch und mit der jeweiligen Nutzer:innengruppe, eine hohe Individualität und eine eingeschränkte Möglichkeit der Rationalisierung zu nennen (vgl. Dahme & Wohlfahrt, 2013; Arnold, 2014).
    2. Soziale Dienstleistungen werden auf einem „Quasi-Markt“ angeboten. Auf diesem Quasi-Markt tritt der jeweilige Leistungsträger – im Falle von Suchtberatungsstellen meist die Kommune – als Monopolist auf. Er allein vergibt die Leistung, er allein nimmt die Leistung letztlich ab. Die Leistungserbringer befinden sich daher in voller Abhängigkeit zum Leistungsträger (vgl. Seithe, 2010; Wohlfahrt, 2012; Hagn, 2012).
    3. Suchtberatungsstellen gehören mit ihren Funktionen zur kommunalen Daseinsvorsorge. Dies wird oft bestritten, lässt sich aber belegen. Der vom Staatsrechtler Ernst Forsthoff beschriebene Begriff der Daseinsvorsorge wird bis heute immer dann genutzt, wenn es um öffentliche Leistungen und Güter geht, ohne die ein vernünftiges Zusammenleben einer Gemeinschaft nur schwer möglich ist (vgl. Neu, 2009). Leistungen der Daseinsvorsorge sind elementare, sinnvolle, sogenannte meritorische und neuerdings sicherlich auch „systemrelevante“ Güter, die der einzelnen Person und der Allgemeinheit zugutekommen (vgl. Bachert, 2018). Dass Suchtberatungsstellen zur kommunalen Daseinsvorsorge gehören, davon zeugen die Ergebnisse der jährlichen Suchthilfestatistik oder aktuelle Studien zum Social Return on Investment (SROI). Menschen, die ihre Konsum- und Verhaltensweisen verändern, reduzieren gesellschaftliche Kosten, verringern die Risiken für Folgeerkrankungen aller Art und stabilisieren sich und ihr soziales Umfeld (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022).

    Als weiteres Merkmal kommt hinzu: Suchtberatungsstellen sind nicht, wie viele andere öffentliche Dienstleistungen, durch ein sogenanntes sozialstaatliches Dreiecksverhältnis abgesichert (Anspruch des Hilfeberechtigten auf Leistung gegenüber dem Leistungsträger, Erbringung der Leistung durch den Leistungserbringer unter vertraglicher Vereinbarung mit dem Leistungsträger). Sie sind allein vom politischen Willen bzw. vom Handeln der kommunalen Verwaltung (= Leistungsträger) abhängig. Die Gesundheitsdienstgesetze als gesetzliche Grundlage schaffen hier keine verlässliche Struktur, da sie lediglich den Kommunen auftragen, sich um die jeweiligen Bereiche, also beispielsweise auch um suchtgefährdete oder suchtkranke Menschen, im Rahmen von Fürsorge zu kümmern. Wie sie das tun, ist regional höchst unterschiedlich (vgl. Deutscher Bundestag, 2015).

    Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere sind seit der EU-Vergaberechtsreform geschrieben worden. Alle sprechen sich ausnahmslos gegen öffentliche, also wettbewerbsorientierte, Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen aus. Hauptargument ist u. a. der enge regionale Bezug dieser Leistungen. Dies trifft auch auf Suchtberatungsstellen zu. Diese werden zum größten Teil von gemeinnützigen Sozialverbänden betrieben, sind zumeist in einer Stadt oder in einem Landkreis aktiv und dort über Jahrzehnte gewachsen, sie sind gut vernetzt und an der Gestaltung des regionalen Sozialraums beteiligt. Sie leisten essenzielle (Überlebens-)Hilfen und entfalten neben einem enormen Output auch eine messbare Wirkung (Outcome, Impact), beispielsweise in der Reduzierung von Folgekosten (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022). Im Bundestagswahlkampf 2021 hatten sich auch die politischen Parteien in ihren Wahlprogrammen des Vergaberechts angenommen. Bündnis 90/Die Grünen waren hier am deutlichsten und wollten eine Ausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Leider hat es diese Forderung nicht in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft.

    Trotz dieser Voraussetzungen werden wettbewerbsorientierte Vergabeverfahren für soziale Dienstleistungen bis heute immer wieder vereinzelt angewendet, nicht nur im Bereich der Suchtberatung, sondern auch in anderen Feldern der Beratung, so beispielsweise bei der Schuldnerberatung, bei Kontaktstellen für psychisch erkrankte Menschen, in der Migrationsberatung oder bei Integrationsfachdiensten.

    Das Vergaberecht missachtet dabei

    • die wesentlichen und historisch gewachsenen Prinzipien der Subsidiarität,
    • wichtige Inhalte des Sozialstaatsprinzips sowie
    • die positiven Aspekte von Gemeinnützigkeit (vgl. Themenoffensive des PARITÄT).

    Es verkennt die Bedeutung der zu Beginn des Artikels genannten Grundprämissen wie

    • die besonderen Merkmale von sozialen Dienstleistungen auf einem Quasi-Markt,
    • die Grundsätze der kommunalen Daseinsvorsorge und der Regionalität sowie
    • die jeweiligen Pfadabhängigkeiten.

    Umfrage zur aktuellen Relevanz von Ausschreibungen

    Die Ergebnisse einer im Rahmen der vorne genannten Masterarbeit durchgeführten Online-Umfrage unter Suchtberatungsstellen in Deutschland zeigen, dass bei einem Anteil von 17,5 Prozent die Leistung bereits einmal oder mehrfach öffentlich ausgeschrieben wurde (Zeis, 2022).

    Öffentliche Ausschreibungen sind Vergabeverfahren, die einen klaren Wettbewerbscharakter haben. Das heißt, jede Institution, jeder Verein, jede Gesellschaft, ob gewinnorientiert oder nicht, kann sich bewerben. Liegt der zu vergebende Auftrag über dem EU-Schwellenwert von 750.000 Euro für soziale Dienstleistungen, muss sogar europaweit ausgeschrieben werden. Dies sieht das EU-Vergaberecht so vor. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) forciert den Wettbewerbsgedanken auf Bundesebene, und nach zahlreichen Gesprächen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist die Forderung nach Wettbewerb in den Haushaltsressorts der Länder die eindeutige, verabredete Maßgabe, egal in welchem Bereich. Die Rechnungshöfe oder Innenrevisionen machen hier zusätzlich Druck auf die beteiligten Leistungsträger, indem sie Vergabeverfahren anmahnen und auch einfordern.

    Die Umfrage ergab auch, dass sich zum Zeitpunkt der Befragung rund ein Fünftel der Suchtberatungsstellen in Neuverhandlungen befand (Zeis, 2022). Zum größten Teil lag das darin begründet, dass der alte Vertrag auslief. In vielen Fällen wurden die Neuverhandlungen aber auch direkt durch Politik oder Verwaltung ausgelöst und die Leistung öffentlich ausgeschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch in Zukunft Aufträge im Bereich der ambulanten Suchtberatung öffentlich ausgeschrieben werden.

    Die Umfrage zeigt deutlich die Nachteile von öffentlichen Vergaben (Zeis, 2022). Neben der Feststellung des hohen Aufwands an Zeit und Kosten werden vor allem Preisdumping und die Auflösung von gewachsenen Netzwerken befürchtet. Weitere in der Umfrage genannte negative Aspekte zu den Auswirkungen von Ausschreibungen sind:

    • hoher Ökonomisierungsdruck
    • Unsicherheit darüber, ob man die Vergabe „gewinnt“
    • Externalisierung von Risiken an die Träger
    • hohe Komplexität der Vergabeverfahren und damit hoher Zeitaufwand für alle Beteiligten (und damit weniger Zeit für Innovation)
    • Missachtung des Subsidiaritätsprinzips
    • Mehrarbeit durch die Unerfahrenheit der Vergabestellen
    • kaum und schwierig zu erfassende Berücksichtigung regionaler gewachsener Strukturen und die Beschädigung dieser Netzwerke (samt Betriebskultur)
    • Misstrauen
    • (Wett-)Streit und Vertrauensverlust durch die Konkurrenzsituation
    • Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsaspekten
    • befristete und am Lohnminimum angesetzte Arbeitsverträge und damit in der Folge auch Fachkräftemangel
    • Verunsicherung von Nutzer:innen und Abbrüche von Beratungsprozessen

    Weitere negative Auswirkungen liegen auf der Hand: Vergabeverfahren sind kostspielig, es gibt, wenn überhaupt, nur wenige weitere Wettbewerber (es findet also kein Wettbewerb statt), seitens der Kommune sind Überforderung und fehlende Kundennähe derzeit die Regel, die Verfahren unterliegen einer Rechtsunsicherheit und sind unflexibel und praxisfern, es entsteht keine Korrelation von Liberalisierungsgrad und der erwarteten Qualität, langfristige Planung wird reduziert, es kommt zu Sozialdumping, ein Aufbau von Kooperation und Beziehung ist kaum möglich, da regelmäßig erneut (europaweit) ausgeschrieben wird, sämtliche Risiken liegen beim Leistungserbringer, und etablierte Beziehungen werden aufgelöst (vgl. Zeis, 2022).

    In Summe kann man also sagen: Öffentliche Ausschreibungen sind in höchstem Maße ineffizient und letztlich überflüssig! Ein Zitat von Moldaschl & Högelsberger (2016) bringt dies deutlich auf den Punkt:

    „Es mag kurios klingen, aber: Je besser, fairer und sozialer eine Ausschreibung gestaltet ist, desto unnötiger wird sie. Dadurch werden nämlich immer mehr Parameter fixiert, die dann bei Ausschreibungen nicht mehr variabel sein können. Es bleiben dadurch kaum Aspekte übrig, bei denen es zu einem Wettbewerb kommen kann.“

    Was muss geschehen?

    Glücklicherweise mehren sich mittlerweile die Stimmen, die sich gegen öffentliche Ausschreibungen richten. Die Kommunen haben ebenfalls Erfahrungen gesammelt und entscheiden sich teilweise bewusst gegen diese Art der Vergabe. Dennoch sind die Rahmenbedingungen (EU-Vergaberecht, GWB, Druck zum Wettbewerb) unverändert, und es ist nur eine Frage des Zufalls, in welcher Kommune, in welchem Landkreis demnächst ein Vergabeverfahren mit Wettbewerbscharakter ausgelöst wird. Wurde einmal ein Vergabeverfahren durchgeführt, ist die Kommune im Übrigen mehr oder weniger gezwungen, das Vergabeverfahren immer wieder durchzuführen. Dieser Automatismus ist nur schwer zu durchbrechen und erfordert Mut und Überzeugungskraft bei den kommunal Handelnden gegenüber Innenrevisionen, Haushaltsressorts oder Rechnungshöfen.

    Es braucht daher zum einen eine bundesweite Aufklärungskampagne über die Nachteile solcher Vergabeverfahren, zum anderen sollte sich der Bundesgesetzgeber mit diesem Thema befassen und eine Bereichsausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Das EU-Vergaberecht lässt, gut begründet, Ausnahmen zu. Soziale Dienstleistungen haben eben besondere Merkmale, die sie auf einem Quasi-Markt anbieten. Es geht hier nicht um Produkte, die produziert werden und skalierbar sind. Es geht um die Beratung und Begleitung von Menschen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, es geht um Menschen, die aus vielfältigen Gründen Hilfe und Unterstützung benötigen, sei es aufgrund von problematischen Konsum- und Verhaltensweisen, Überschuldung, psychischen Erkrankungen, Flucht oder anderen Belastungen.

    Weitere Maßnahmen, die eine Alternative zu Vergabeverfahren darstellen und insgesamt zu einer Verbesserung der Situation von Suchtberatungsstellen führen können, sind:

    • eine gesicherte Finanzierung und solide Vertragsgrundlagen für Suchtberatungsstellen schaffen, z. B. im Rahmen der Gesundheitsdienstgesetze der Länder
    • Interessenbekundungsverfahren oder ähnliche Alternativen nutzen, die Träger in die Gestaltung des regionalen Sozialraums mit einbeziehen
    • sachliche Begründungen für den Ausstieg aus Vergabespiralen liefern
    • Subsidiaritätsprinzip stärken
    • regionalen Bezug der Dienstleistung stärker beachten
    • Landesstellen für Suchtfragen stärken
    • Wirkungsforschung (Outcome, Impact, Public Value, SROI etc.) stärker nutzen und die Ergebnisse in Bewertungen mit aufnehmen
    • Expertise zu all den hier genannten Themen in den Kommunen und bei den Trägern erhöhen
    • Anerkennung gestiegener Anforderungen durch Reduktion bzw. Streichung von Eigenanteilen
    • eine gemeinsame Sprache finden, um damit Vertrauen zwischen Beratungsstellen und Kommunen wiederherzustellen und zu verfestigen

    Unabhängig von diesen Maßnahmen gilt es, die hier beschriebenen Vergabeverfahren zu vermeiden. Sonst gehen eingespielte Strukturen vor Ort, Kontinuität in der Betreuungsqualität und somit das Vertrauen der Nutzer:innen unnötig verloren (vgl. Wintermann, 2021).

    In der Klimapolitik werden wissenschaftliche Erkenntnisse nur mühsam in politische Kompromisse gegossen, obwohl wir genau wissen, dass wir besser früher als später aus den fossilen Energieträgern aussteigen müssen, um eine weitere Erderwärmung mit all ihren Folgen zu stoppen.

    Im Bereich der öffentlichen Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen ist ebenfalls klar, was zu tun wäre, und dieses Wissen ließe sich sicherlich um ein Vielfaches einfacher, schneller und reibungsloser umsetzen. Wieso noch einen Tag länger diese ineffizienten und überflüssigen Verfahren im Bereich der Suchtberatung (und ähnlicher Beratungs- und Fachdienste) anwenden? Haben wir den Mut, sagen wir Nein, steigen wir aus, bleiben wir kreativ, suchen wir nach neuen Lösungen und bleiben wir vor allem im Gespräch miteinander! Hierzu braucht es alle Beteiligte in den Kommunen und der Sozialwirtschaft mit Unterstützung des Bundes und der Länder und eine Rechtsprechung, die die genannten Aspekte berücksichtigt.

    Kontakt:

    Daniel Zeis
    Ambulante Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete
    Großbeerenstr. 187
    14482 Potsdam
    daniel.zeis(at)awo-potsdam.de
    Tel. 0331 73040740
    www.awo-potsdam.de

    Angaben zum Autor:

    Daniel Zeis ist Einrichtungsleiter der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchgefährdete des AWO Bezirksverbandes Potsdam. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit (Diplom) absolvierte er die Weiterbildung zum Sozialtherapeut Sucht (DRV/GKV-anerkannt) und schloss 2022 sein Masterstudium (Sozialmanagement) erfolgreich ab. Er ist seit 16 Jahren in der Suchthilfe tätig.

    Literatur:
    • Arnold, Ulli; Grunwald, Klaus; Maelicke, Bernd (Hg.) (2014): Lehrbuch der Sozialwirtschaft. Unter Mitarbeit von Holger Backhaus-Maul, Benjamin Benz und Karl-Heinz Boeßenecker. 4. erweiterte Auflage. Baden-Baden: Nomos.
    • Bachert, Robert; Dreizler, Andrea (Hg.) (2018): Finanzierung von Sozialunternehmen. Theorie, Praxis, Anwendung. 2., aktualisierte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus (Sozialmanagement).
    • Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (2022): Kurzbericht zur Studie. Analyse zur Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern. Messung von Lebensqualität (SROI 5) und Ermittlung der Alternativkosten (SROI 3).Online verfügbar unter https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2022/09/kurzbericht_wertschoepfung_ambulante_suchtberatung.pdf; letzter Zugriff 31.01.2023.
    • Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert (2013): Lehrbuch Kommunale Sozialverwaltung und Soziale Dienste. Grundlagen, aktuelle Praxis und Entwicklungsperspektiven. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
    • Deutscher Bundestag (2015): Ausarbeitung – Die Gesundheitsdienstgesetze der Länder. Wissenschaftliche Dienste. Aktenzeichen: WD 9 – 3000 – 027/14. Fachbereich: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
    • DHS (2019): Notruf Suchtberatung. Stabile Finanzierung jetzt! Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/dhs-stellungnahmen/2019-04-23_Notruf_Suchtberatung.pdf; letzter Zugriff 30.01.2023.
    • Hagn, Julia (2012): Ergebnisse und (Neben-) Wirkungen des Neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
    • Moldaschl, Thomas; Högelsberger, Heinz (2016): Die vielen Nachteile von Ausschreibungen. A&W Blog, Blog zum Magazin Arbeit & Wirtschaft, 07.03.2016. https://awblog.at/die-vielen-nachteile-von-ausschreibungen/, letzter Zugriff 30.01.2023.
    • Neu, Claudia (2009): Daseinsvorsorge: Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    • Rock, Joachim; Steinke, Roß (2019): Die Zukunft des Sozialen – in Europa? Soziale Dienste und die europäische Herausforderung. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
    • Seithe, Mechthild (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
    • Wintermann, Thore (2021): Positionspapier „Kommunale Vergabepraxis bei sozialen Diensten“. AWO Bezirksverband Weser-Ems.
    • Wohlfahrt, Norbert (2012): Auswirkungen der Neuen Steuerungsmodelle auf die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der Sozialen Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
    • Zeis, Daniel (2022): Von der Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme. Alice-Salomon-Hochschule. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:b1533-opus-4994; letzter Zugriff 30.01.2023.
  • Substanzkonsum geflüchteter Menschen

    Substanzkonsum geflüchteter Menschen

    Dr. Simone Penka
    Panagiotis Stylianopoulos
    Laura Hertner

    Dass geflüchtete Menschen Suchtmittel konsumieren, ist anzunehmen. Dennoch wissen wir wenig über die Art der konsumierten Substanzen, über Konsummuster oder -motivationen. Insgesamt gibt es international wenig Daten zum Substanzkonsum von geflüchteten Menschen. Studien, wie beispielsweise zusammengefasst in dem systematischen Review von Horyniak et al. (2016) oder Lo et al. (2017), weisen jedoch auf eine erhebliche Heterogenität in den Mustern sowie Prävalenzraten des Suchtmittelkonsums hin.

    Eine bisher häufige Annahme ist, dass geflüchtete Menschen aus Abstinenz-orientierten Herkunftsregionen aufgrund kultureller und religiöser Faktoren weniger Substanzen konsumieren als die europäische Bevölkerung, die u. a. einen sehr liberalen Umgang mit Alkohol pflegt (z. B. Salas-Wright & Schwartz, 2019). Im Kontrast hierzu steht die Annahme, dass eine – durch zahlreiche Studien erwiesene – erhöhte Prävalenz von Traumafolgestörungen bei geflüchteten Menschen auch eine erhöhte Prävalenz von Suchterkrankungen als komorbide psychische Erkrankung bedingt (Horyniak et al., 2016; Vaughn et al., 2015; Weaver & Roberts, 2010; Lindert et al., 2021). Letztere Annahme bildet sich allerdings in der Praxis nicht in der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Suchthilfe ab. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass geflüchtete Menschen, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund, aufgrund kultureller, ökonomischer und rechtlicher Gründe als schwer erreichbar für suchtspezifische Versorgungsangebote zu betrachten sind (Penka et al., 2008). Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund deshalb in Einrichtungen der Suchthilfe unterrepräsentiert sind (Kimil, 2016; Rommel & Köppen, 2014; Schwarzkopf et al., 2021). Für geflüchtete Menschen im Spezifischen liegen hierzu bislang keine Daten vor.

    Um Suchthilfeangebote und Prävention für geflüchtete Menschen zu gestalten und bedarfsadäquat auszurichten, scheint vor allem ein tiefgreifendes Verständnis für Konsummotive und Faktoren, die den Substanzkonsum beeinflussen, notwendig. Das Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PREPARE (Prevention and Treatment of Substance Use Disorders in Refugees)* liefert nach drei Jahren Laufzeit hierzu Anknüpfungspunkte. Dieser Artikel präsentiert aus dem Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ gewonnene Erkenntnisse zum Substanzkonsum geflüchteter Menschen und zu einer passgenaueren Versorgung durch das Suchthilfesystem. Die Ergebnisse geben Aufschluss über die von geflüchteten Menschen konsumierten Substanzen, über Konsummuster sowie Substanzkonsum fördernde Faktoren. Darüber hinaus werden 39 Strategien „Guter Praxis“ skizziert, mit deren Hilfe Einrichtungen der Suchthilfe für geflüchtete Menschen zugänglicher werden können und eine gute Versorgung gewährleistet werden kann.

    Wer konsumiert welche Substanzen?

    Im Rahmen von PREPARE wurden zwischen 2019 und 2021 an acht Standorten – Berlin, Bremen, Frankfurt (Main), Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig und München – 108 semistrukturierte Interviews sowie 218 strukturierte Befragungen mit Schlüsselpersonen der lokalen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie weiteren Personen durchgeführt. Die gesammelten Erkenntnisse wurden anschließend in zehn Fokusgruppen diskutiert. Leitfragen der Interviews und Befragungen waren: Wer konsumiert Substanzen in besonders auffälliger Art und Weise? Welche Substanzen werden konsumiert? Welche Probleme treten im Zusammenhang bzw. in Folge von Substanzgebrauch auf? Welche Faktoren beeinflussen den Substanzgebrauch? Die Schlüsselpersonen waren aufgefordert, sich vor allem auf geflüchtete Menschen zu beziehen, die seit 2015 in Deutschland angekommen waren. Im entsprechenden Zeitraum waren in Summe Syrien, Afghanistan und Irak die Hauptherkunftsländer von Menschen, die einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt hatten (bpb, 2022).

    Es zeigte sich deutlich, dass es vor allem geflüchtete junge Männer sind, die in puncto Substanzkonsum auffallen. Dies muss vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass junge Männer gemäß den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den Jahren 2015 bis 2020 die größte Gruppe unter den Asylantragstellenden in Deutschland ausmachten (bpb, 2022). Über den Substanzkonsum von Frauen wurde vergleichsweise wenig berichtet. Es bleibt unklar, ob und in welchem Ausmaß der Suchtmittelkonsum von geflüchteten Frauen ungesehen bleibt, z. B. aufgrund der konsumierten Substanzen oder der gesellschaftlichen Rollenbilder. Schlüsselpersonen betonen in ihren Berichten häufig, dass der Konsum geflüchteter Frauen landläufig weit unterschätzt wird.

    Interessanterweise zeigen unsere Daten, dass geflüchtete Menschen nicht auf einzelne bestimmte Substanzen zurückgreifen, die ihnen beispielsweise aus den Herkunftsländern vertraut sind, sondern dass die lokale Verfügbarkeit bzw. die Verfügbarkeit innerhalb der eigenen Peergroup die Art der konsumierten Substanz(en) bzw. die Konsummuster bedingt. Somit sind Alkohol und Cannabis den Befragungen zufolge die am häufigsten konsumierten Substanzen. Aber auch Medikamente, Heroin und – v. a. in Leipzig und dem Umland – Amphetamine werden konsumiert.

    Häufig wird die Frage gestellt, ob geflüchtete Menschen bereits in den Herkunftsländern Suchtmittel konsumiert haben und der aktuelle Substanzkonsum eine Kontinuität bereits bestehender Abhängigkeiten darstellt. Viele Fachkräfte konnten hierzu keine Angaben machen. Da viele geflüchtete Menschen sehr jung in Europa ankommen, ist neben der Betrachtung der individuellen Konsumbiografie die Betrachtung der substanz- bzw. konsumbezogenen Normen im Herkunftskontext überaus zentral. Selbst wenn, z. B. aufgrund des jungen Alters, in den Herkunftsländern noch nicht selbst konsumiert wurde, sind die dortigen gesellschaftlichen Haltungen rund um Suchterkrankungen, Substanzkonsum und Suchtmittel prägend. Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Haltungen im hiesigen und dem Herkunftskontext bedingen Konsequenzen, beispielsweise für die individuelle Konsumkompetenz.

    So verdient gerade der Alkoholkonsum geflüchteter Menschen als ein Beispiel dieses Zusammenspiels eine intensivere Betrachtung: Die hohe Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit und die ausgeprägte gesellschaftlicher Akzeptanz von Alkohol in Deutschland kann bei Menschen, die in Bezug auf Alkohol in restriktiven Kontexten sozialisiert wurden, den Anschein von Harmlosigkeit erwecken. Extrem riskanter Alkoholkonsum ist die Folge.

    Welche Faktoren fördern den Substanzkonsum geflüchteter Menschen?

    Das mit Abstand am häufigste benannte Konsummotiv geflüchteter Menschen ist Selbstregulierung bei psychischen Belastungen – sich zu betäuben, zu vergessen, sich davon abzulenken, einfach mal abzuschalten. Diese psychischen Belastungen sind häufig bedingt durch migrationsbezogene Faktoren. Auf einige besonders relevante Faktoren, die den Substanzkonsum geflüchteter Menschen fördern, werden wir im Folgenden eingehen.

    Es zeichnet sich in unseren Daten deutlich ab, dass ein Leben in Deutschland ohne Familie, Partner:in und/oder Kinder konsumfördernd wirkt. Dabei ist ein zweiteiliger Mechanismus zu beobachten: Erstens stellen die Einsamkeit und das Vermissen der zurückgelassenen geliebten Menschen sowie die Sorge um deren (Über)Leben eine besondere psychische Belastung dar, die durch Substanzkonsum vermeintlich aushaltbarer wird. Zweitens bietet das Fehlen „sozialer Kontrolle“, von Struktur und Verantwortung innerhalb von Familienverbünden ein Einfallstor dafür, Verhaltensweisen, die im Herkunftsland nicht zu rechtfertigen gewesen wären, auszuprobieren bzw. im schlimmsten Fall die Kontrolle darüber zu verlieren. Gerade bei geflüchteten Frauen scheint sich dieser Effekt stark auf die Art der konsumierten Substanz und die Maßlosigkeit des Konsums auszuwirken: Frauen mit Kindern konsumieren den befragten Schlüsselpersonen zufolge in der Regel ausschließlich und oftmals unauffällig Medikamente, wohingegen Frauen (inklusive Transfrauen) ohne Familien bzw. Kinder durch exzessiven Alkohol-, Cannabis- und Kokainkonsum auffallen.

    Ähnlich wie bei anderen Personengruppen bietet Substanzkonsum auch geflüchteten Menschen eine Möglichkeit, sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren und ein Gefühl erlebter Zugehörigkeit zu schaffen. Den Berichten der Schlüsselpersonen zufolge scheint bei geflüchteten Menschen dieser Aspekt von besonderer Relevanz zu sein, da zum einen soziale Beziehungen durch die Fluchtmigration erschüttert werden, zum anderen das Leben in Deutschland allzu häufig ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, des sozialen Ausschlusses und diskriminierender Erfahrungen mit sich bringt. Somit ist es wenig überraschend, dass sich beispielsweise geflüchtete Jugendliche den alterstypischen Konsummustern anschließen und Alkohol und Cannabis konsumieren.

    Auch die Wohnsituation bzw. das sozial-räumliche Wohnumfeld geflüchteter Menschen scheint ein Suchmittelkonsum fördernder Faktor zu sein. Neben allseits bekannten Stressoren des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften – in erster Linie wenig Privatsphäre sowie Autonomie –, die vermeintlich über Substanzkonsum reguliert werden können, ist von einer hohen Verfügbarkeit von Suchtmitteln innerhalb dieser Unterkünfte auszugehen. Vielfach wurde von befragten Schlüsselpersonen berichtet, dass gerade unter Mitbewohner:innen Konsumempfehlungen im Sinne von Erfahrungsberichten ausgesprochen werden: „Du bist ja so traurig, du hast ja so Stress. Komm rauch mal!“ (Originalzitat)

    Weitere zentrale Faktoren, die sich fördernd auf den Substanzkonsum auswirken, scheinen fehlende Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu sein. Für viele bedeutet die Ankunft in Deutschland weniger ein Ankommen als ein Warten, ein Bangen um den Aufenthaltsstatus und letztlich oftmals eine erlebte Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Die hieraus resultierende induzierte psychische Belastung, Überforderung und Enttäuschung über die Situation in Deutschland scheinen maßgeblich Substanzkonsum zu fördern.

    In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Perspektiven und Möglichkeiten geflüchteter Menschen in Deutschland je nach Herkunftsland unterscheiden. Der Effekt von herkunftsabhängigen Perspektiven in Deutschland führt scheinbar zu einem schädlicheren Konsum von Suchtmitteln in manchen Subgruppen im Vergleich zu anderen. Eine mangelnde Arbeitserlaubnis bzw. etwaige Barrieren des Arbeitsmarktes resultieren in nur wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschäftigung. Mögliche Folgen sind Langeweile und – da Substanzkonsum u. a. das Erleben von Zeit verändert – in der Konsequenz der Konsum von Suchtmitteln. Hierzu ein zusammenfassendes Zitat: „Also die wissen, das [Substanzkonsum] ist dreckig, aber dreckiger als die Situation, in der sie sich befinden, ist das gar nicht.

    Strategien „Guter Praxis“ zum Erreichen und Versorgen geflüchteter Menschen

    Im Rahmen unserer Erhebungen wurde deutlich, dass Einrichtungen der Suchthilfe selten, und insbesondere in ländlichen Regionen kaum Kontakt zu geflüchteten Menschen haben. Mitarbeitende von Suchthilfeeinrichtungen lehnten Interviewanfragen sehr häufig ab, da sie über zu wenig Kontakt und Wissen zu der Zielgruppe verfügten. In der Folge gab der Großteil der interviewten Schlüsselpersonen an, im Bereich der Geflüchtetenhilfe zu arbeiten. Diese berichteten von gescheiterten Bemühungen, Konsument:innen in die lokalen Suchthilfeeinrichtungen zu vermitteln. Hierbei wurden Barrieren benannt, die aus der Literatur über Zugangsbarrieren in Bezug auf verschiedene psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen bereits bekannt sind, wie beispielsweise Sprachbarrieren oder die Angst vor Stigmatisierung (z. B. Byrow et al., 2020; Straßmayr et al., 2012). Beim Konsums illegalisierter Substanzen kommen Ängste vor rechtlichen und im schlimmsten Fall aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen hinzu (Greene et al., 2021). Um die suchtspezifische Versorgungssituation von geflüchteten Menschen systematisch zu verbessern, wurden im Rahmen der Studie Lösungsansätze identifiziert. Ein Delphi-Prozess mit 22 Expert:innen resultierte in 39 Strategien „Guter Praxis“. Eine Handreichung, die alle Strategien umfasst, aufgeteilt auf neun Themenfelder, steht online zur Verfügung (Hertner, Panagiotis & Penka, 2022).

    Die Handreichung enthält Strategien, die auf die benannten strukturellen Aspekte und migrationsbezogenen Stressoren sowie auf Rechte zur Inanspruchnahme verschiedener Gesundheitsdienste Bezug nehmen (z. B. Reduktion strukturell suchtfördernder bzw. aufrechterhaltender Faktoren). Daneben werden einige grundlegende Ansprüche an das Versorgungssystem der Suchthilfe adressiert, wie z. B. die Gewährleistung einer Beständigkeit von Angeboten vor allem durch dauerhafte Finanzierung. Diese Strategien sind im Sinne der strukturorientierten Verhältnisprävention zwar wichtig, liegen aber außerhalb des direkten Einflussbereiches der Einrichtungen. Politische Schritte hierfür sind gefragt. 33 der 39 Strategien bieten hingegen konkrete Anknüpfungspunkte für Einrichtungen der Suchthilfe. Exemplarisch werden einige Strategien an dieser Stelle angeführt.

    Eine Vielzahl an Strategien fokussiert auf Ansätze zur Überwindung von Sprachbarrieren. Die hohe Sprachenvielfalt unter geflüchteten Menschen lässt sich nicht über muttersprachliches Personal alleine abdecken. Daher bietet sich der Einsatz von Sprachmittler:innen an. Damit die Versorgung mit Sprachmittler:innen gelingt, sollten folgende Faktoren erfüllt sein:

    a) Gewährleistung der Finanzierung, z. B. durch Berücksichtigung etwaiger Kosten in Förderungsanträgen und Budgets,
    b) niedrigschwellige und schnelle Verfügbarkeit, z. B. auch durch sprachmittelnde Telefon- oder Videodienstleistende, sowie
    c) Professionalität, die gerade im Suchtbereich gewährleistet, dass korrekt und ohne persönliche Wertung übersetzt wird.

    Leicht umzusetzen ist die mehrsprachige Übersetzung von schriftlichen Dokumenten in den Einrichtungen, z. B. Datenschutzerklärungen, Behandlungsvereinbarungen.

    Als Grundvoraussetzung für eine bedarfsadäquate Versorgung geflüchteter Menschen zeichnet sich in den Strategien das gemeinsame Handeln von Sucht- und Geflüchtetenhilfe ab. Es finden sich in der Handreichung einige Strategien „Guter Praxis“ zur zielgerichteten Netzwerkarbeit dieser beiden Arbeitsbereiche.

    Darüber hinaus ist auch ein Wissensaustausch zwischen den beiden Bereichen zu implementieren. Einerseits gilt es, Akteure der Geflüchtetenhilfe für Suchtthemen zu sensibilisieren, Unsicherheiten im Umgang mit Substanzen und Sucht abzubauen und eine eigene reflektierte Haltung gegenüber Konsum und Konsumierenden zu entwickeln. Dadurch können Mitarbeitende der Geflüchtetenhilfe frühzeitig problematischen Suchtmittelkonsum erkennen und mit dem Wissen über verfügbare Angebote der Suchthilfe dorthin vermitteln. Vice versa sollten auch Fachkräfte der Suchthilfe zur Lebenssituation geflüchteter Menschen und deren sozio-politischen Rahmenbedingungen informiert und regelmäßig geschult werden, z. B. in Bezug auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Aspekte, Familiennachzug, Regelungen zu Kostenübernahmen und Zuständigkeiten von Kostenträgern. Keinesfalls geht es dabei darum, dass Fachkräfte die Aufgaben des jeweils anderen Arbeitsbereichs übernehmen sollen, sondern lediglich um eine Sensibilisierung für eine spezielle Lebenssituation und die Kenntnis von adäquaten Unterstützungsangeboten. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde mehr als deutlich, dass der Grad der Vernetzung zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe ausschlaggebend ist für die Versorgungssituation geflüchteter Menschen vor Ort.

    Neben der sprachlichen Verständigung und der Netzwerkarbeit kommt auch der Haltung von Suchthilfe-Mitarbeitenden eine große Bedeutung zu. Ideal ist eine transkulturelle Kompetenz im Sinne von diskriminierungsfreier Haltung und Selbstreflexion im Umgang mit geflüchteten Klient:innen. Wichtig ist es, geflüchteten Menschen mit einer offenen, neugierigen und fragenden Haltung auf Augenhöhe, anstatt mit Vorurteilen und Wertung, zu begegnen.

    Darüber hinaus sollten geflüchtete Menschen für Themen rund um Substanzkonsum und Suchterkrankungen sensibilisiert und über die ausdifferenzierten Unterstützungsangebote in ihrer Region informiert werden. Die Strategien „Guter Praxis“ schlagen diesbezüglich vor, Präventions- und Aufklärungsangebote an Orten durchzuführen, an denen sich geflüchtete Menschen aufhalten. Damit sind nicht nur interaktive, mehrsprachige Infoveranstaltungen in Gemeinschaftsunterkünften gemeint, sondern auch das Einbringen von Themen rund um Substanzen und Suchterkrankungen in z. B. Deutsch- und Integrationskursen, Selbsthilfegruppen oder sozialen Medien. Zum Informieren und Aufklären über Substanzen und deren Risiken liegen bereits viele Materialien in diversen Sprachen vor, die hierfür genutzt werden können (z. B. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen).

    Beispielhaft haben wir einige Einrichtungen der Suchthilfe zusammengestellt, die verschiedene Strategien „Guter Praxis“ bereits umsetzen und geflüchtete Menschen gut erreichen und versorgen. Die Kollektion der Projektsteckbriefe, die als Inspiration für andere Einrichtungen dienen kann, kann hier heruntergeladen werden.

    Ausblick

    Die dargestellten Ergebnisse unseres Teilprojektes des PREPARE-Forschungsverbundes zeigen deutlich, dass bisherige Ansätze der Suchtprävention, die im Sinne einer Verhaltensprävention auf Individuen, deren Wissen rund um die Themen Konsum und Sucht sowie auf Versorgungsstrukturen der Suchhilfe fokussieren, unzulänglich sind. Eine Erweiterung um Ansätze strukturorientierter Verhältnisprävention ist wichtig, um den Einfluss von Faktoren, die die Vulnerabilität strukturell erhöhen, einzudämmen. Dabei sind insbesondere die Themenfelder Unterbringung, Ungewissheit über Bleibeperspektiven, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit sowie Nutzungsrechte von Gesundheitsdiensten von Relevanz.

    Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Angebote der Suchthilfe vielerorts nicht genügend auf die speziellen Bedürfnisse geflüchteter Menschen (z. B. Sprachmittlung, Niedrigschwelligkeit) zugeschnitten sind und geflüchtete Konsument:innen häufig nicht in Einrichtungen der Suchthilfe ankommen bzw. dort nicht dauerhaft angebunden werden. Oftmals sind die Mitarbeitenden der Unterkünfte somit die einzigen Fachkräfte, zu denen längerfristiger Kontakt besteht.

    Das Thema Substanzkonsum unter geflüchteten Menschen sollte bundesweit Berücksichtigung finden. Unter anderem deshalb bewerten wir es als vorbildlich, wie im Rahmen aktueller Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine für bestimmte Personenkreise von aus der Ukraine geflüchteten Menschen unbürokratisch aufenthaltsrechtliche und auch arbeitsrechtliche Ausnahmeregelungen geschaffen wurden (vgl. BAMF, 2022). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Rahmenbedingungen auch auf die psychische Gesundheit positiv auswirken und damit eine Anfälligkeit für problematischen Substanzkonsum geringer ausfallen könnte als bei geflüchteten Menschen aus anderen Herkunftsländern wie beispielsweise Afghanistan, Irak oder auch Syrien.

    Ebenfalls zeigt das dynamische Migrationsgeschehen, wie wichtig es ist, bestehende Angebote der Suchthilfe für alle Menschen zu öffnen. Insbesondere der Einsatz von Sprachmittler:innen ermöglicht es, flexibel mit Menschen unterschiedlichster Sprachkompetenzen umzugehen. Auch der Ansatz von transkultureller Kompetenz als selbstreflexive und fragende Haltung trägt zu einer Offenheit für alle zugewanderten Menschen bei – mehr als das Erlernen vermeintlichen Wissens über Herkunftsregionen und deren „Kultur“ (Steinhäuser et al., 2021).

    Darüber hinaus sind Vernetzungen zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie ein stetiger Wissensaustausch zwischen diesen Arbeitsbereichen unabdingbar, um für geflüchtete Konsument:innen einen Zugang zu Hilfen und eine bedarfsadäquate Versorgung zu gewährleisten. Die Strategien „Guter Praxis“ sowie die Kollektion „Praxisbeispiele“ bieten Fachkräften der Suchthilfe sowie Einrichtungsleitungen Inspiration, wie eine gute Vernetzung und interdisziplinäres Arbeiten mit dieser Zielgruppe gut gelingen können.

     *) Der Forschungsverbund PREPARE besteht insgesamt aus vier Teilprojekten. So wurde in einem Teilprojekt eine App (BePrepared) entwickelt, die im Rahmen einer Kurzintervention problematischen Alkohol- und Cannabiskonsum reduzieren soll. Ein anderes Teilprojekt bietet an verschiedenen Standorten auch derzeit weiterlaufend Affektregulations-Trainings in Gruppen für geflüchtete Menschen mit riskantem Suchtmittelkonsum oder einer Suchterkrankung an. Weitere Informationen:

    https://www.sucht-und-flucht.de/forschung/prepare-forschungsverbund

    https://www.mentalhealth4refugees.de/de/prepare

    Kontakt:

    Laura Hertner
    AG transkulturelle Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin
    laura.hertner(at)charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Laura Hertner ist Psychologin und promoviert an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Thema Substanzkonsum geflüchteter Menschen.
    Panagiotis Stylianopoulos befindet sich in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten und promoviert ebenfalls an der Charité.
    Dr. Simone Penka leitet als Ethnologin und Erziehungswissenschaftlerin in Berlin TransVer –Ressourcen-Netzwerk zur interkulturellen Öffnung (www.transver-berlin.de).

    Literatur:
    • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2022). FAQ zur Einreise aus der Ukraine und dem Aufenthalt in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/ResettlementRelocation/InformationenEinreiseUkraine/_documents/ukraine-faq-de.html
    • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2022). Demografie von Asylsuchenden in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265710/demografie-von-asylsuchenden-in-deutschland/
    • Byrow, Y., Pajak, R., Specker, P. & Nickerson, A. (2020). Perceptions of mental health and perceived barriers to mental health help-seeking amongst refugees: A systematic review. Clinical Psychology Review, 75, 101812.
    • Greene, M.C., Haddad, S., Busse, A., Ezard, N., Ventevogel, P., Demis, L., et al. (2021). Priorities for addressing substance use disorder in humanitarian settings. Conflict and Health, 15(1), 1-10.
    • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Kollektion „Praxisbeispiele“ der Versorgung geflüchteter Menschen in der Suchthilfe. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
    • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Handreichung Strategien „guter Praxis“ in der Suchthilfe – Erreichen und Versorgen Geflüchteter Menschen. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
    • Horyniak, D., Melo, J. S., Farrell, R. M., Ojeda, V. D. & Strathdee, S. A. (2016). Epidemiology of substance use among forced migrants: a global systematic review. PLoS one, 11(7), e0159134.
    • Kimil, A. (2016). Sucht und Migration – Ausgangslage, Herausforderungen und Anregungen für die Suchthilfe in Deutschland. Suchthilfe in kultureller Vielfalt (Vol. Infodienst 01/16, pp. 7–11). Berlin: Fachverband der Diakonie Deutschland.
    • Lindert, J., Neuendorf, U., Natan, M. & Schäfer, I. (2021). Escaping the past and living in the present: a qualitative exploration of substance use among Syrian male refugees in Germany. Conflict and Health, 15, 1-11.
    • Lo, J., Patel, P., Shultz, J.M., Ezard, N. & Roberts, B. (2017). A systematic review on harmful alcohol use among civilian populations affected by armed conflict in low- and middle-income countries. Substance Use and Misuse, 52(11), 1494–510.
    • Penka, S. et al. (2008) Explanatory models of addictive behaviour among native German, Russian-German and Turkish youth. European Psychiatry, 23 Suppl 1,36-42
    • Rommel, A. & Köppen, J. (2014). Migration und Suchthilfe – Inanspruchnahme von Leistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund. Psychiatrische Praxis, Epub Oct 27.
    • Salas-Wright, C.P. & Schwartz, S.J. (2019). The study and prevention of alcohol and other drug misuse among migrants: Toward a transnational theory of cultural stress. International Journal of Mental Health and Addiction, 17(2), 346–69.
    • Schwarzkopf, L., Künzel, J., Murawski, M. & Specht, S. (2021). Suchthilfe in Deutschland 2020. Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS). München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Steinhäuser, T., von Agris, A. S., Büssemeier, C., Schödwell, S., & Auckenthaler, A. (2021). Transkulturelle Kompetenz: Spezialkompetenz oder psychotherapeutische Kernkompetenz? Psychotherapeut, 66(1), 46-53.
    • Straßmayr, C. et al. (2012). Mental health care for irregular migrants in Europe: Barriers and how they are overcome. BMC Public Health, 12, 367.
    • Vaughn, M., Salas-Wright, C., Qian, Z., & Wang, J. (2015). Evidence of a ‘refugee paradox’ for antisocial behavior and violence in the United States. The Journal of Forensic Psychiatry and Psychology, pp. 624-631.
    • Weaver, H. & Roberts, B. (2010). Drinking and displacement: A systematic review of the influence of forced displacement on harmful alcohol use. Substance Use Misuse, 45, 2340-55.
  • Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

    Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

    Antje Matthiesen

    Im Januar 2020 tauchten erste Nachrichten über eine unbekannte, leicht übertragbare, mit schweren Krankheitsverläufen einhergehende Infektionskrankheit auf. Dies sorgte für Aufregung, auch unter suchterkrankten Menschen und denen, die mit und für sie arbeiten. Die Sorge, dass sich schnell Infektionsketten unter dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe ausbreiten würden, einhergehend mit der Sorge, dass mit einer Vielzahl an möglichen Todesfällen zu rechnen sei aufgrund der gesundheitlich z. T. stark vorbelasteten Personen, war nicht nur bei uns im Träger spürbar. Zudem wurde ein Ansturm auf die Einrichtungen erwartet, bedingt durch den befürchteten Zusammenbruch des Drogenmarktes sowie infektionsbedingte Schließungen von Substitutionspraxen. Gerade die großen Substitutionspraxen wurden als potentielle Zentren für die Verbreitung von SARS-CoV-2 unter dem Personal und den Patient*innen eingeschätzt – besonders unter dem Aspekt der täglichen Vergabe des Substituts unter Sicht.

    Kurze Vorstellung des Trägers Notdienst Berlin e.V.

    Eine jahrelange Suchtmittelabhängigkeit führt häufig zu gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Problemen wie Schulden, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit sowie gesellschaftlicher Isolation. Die Teilhabe ist deutlich eingeschränkt. Daher bietet der Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V. eine Kombination aus verschiedenen aufeinander abgestimmten Hilfen für die Betroffenen, um eine sinnvolle und nachhaltige Perspektive zu eröffnen. Wir informieren, beraten, betreuen und begleiten Menschen und vermitteln sie bei Bedarf in weiterführende Hilfen. Die Vermittlung in weiterführende Hilfen gelang jedoch unter Pandemiebedingungen kaum, da Einrichtungen geschlossen oder anderweitig genutzt wurden.

    Grundsätzlich unterstützen wir bei der gesellschaftlichen Re-Integration, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Entwicklung einer sinnstiftenden Tagesstruktur und Aufgabe. Unsere Schwerpunkte liegen in den Bereichen:

    • Beratung/ambulante Rehabilitation
    • Substitution (Psychosoziale Betreuung und Betreutes Wohnen)
    • Beschäftigung, Qualifizierung, Tagesstruktur
    • Angebote nur für Frauen
    • Angebote für Familien
    Psychosoziale Betreuung für Substituierte am Standort Genthiner Straße in Berlin

    Einen besonderen Ansatz verfolgen wir in unseren vier Ambulanzen für integrierte Drogenhilfe, A.I.D. Dies bedeutet: konzeptionell eng verzahnte und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Medizin und Sozialarbeit unter einem Dach für die Zielgruppe opioidabhängige Menschen. In diesen Schwerpunktpraxen werden jeweils zwischen 220 bis 330 Patient*innen mit Ersatzstoffen medizinisch behandelt und begleitend psychosozial betreut. Diese Einrichtungen bieten vor allem den schwerstabhängigen, so genannten Nicht-Wartezimmer-fähigen Patient*innen ein auf ihre Bedürfnisse spezialisiertes und eng verknüpftes Angebot. Im Mai 2020 eröffneten wir, mitten in der ersten Corona-Welle, in Lichtenberg unseren vierten Berliner Ambulanzstandort – in Zusammenarbeit mit dem Praxiskombinat Neubau, in dem auch mit dem Originalersatzstoff Diamorphin behandelt wird.

    Corona – die neue Situation

    Nicht nur die bereits erwähnten Ängste vor Praxisschließungen und Ansteckung vor Ort beschäftigten Mitarbeiter*innen und Patient*innen. Auch der Weg zur Substitutionspraxis wurde nun zu einem unkalkulierbaren Ansteckungsrisiko. Die Bitte der Regierung an die Bevölkerung, möglichst zuhause zu bleiben, verschärfte die Problematik und war für diesen Personenkreis kaum umsetzbar.

    Zusätzlich strömten täglich neue Drogenabhängige in die Praxen, die aus Angst vor einem zusammenbrechenden Drogenschwarzmarkt in die Substitution aufgenommen werden wollten. Diese eigentlich positive Entwicklung stellte sich schon bald als temporär heraus, da viele dieser Neu-Patient*innen die Praxis schnell wieder verließen. Dies führte zu einem erheblichen Mehraufwand bei Praxispersonal und PSB-Mitarbeiter*innen.

    Auch fehlende Vermittlungsoptionen durch geschlossene, reduziert besetzte oder anderweitig genutzte Behörden, Einrichtungen und/oder Kliniken prägten den Arbeitsalltag. Stationäre Behandlungsplätze (Entgiftungsbehandlung, Entwöhnungs-, aber auch Schmerztherapie) waren nur noch schwer, wenn überhaupt, verfügbar.

    Mit dem Infektionsschutzgesetz, den SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, den Corona-Beschlüssen des Landes Berlin sowie der Eingliederungshilfe-Covid-19-Verordnung wurden schnell die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst, vorgegeben und fortlaufend aktualisiert. Hier galt es, pragmatisch zwischen Sicherstellung der Versorgung und Infektionsschutz abzuwägen. Dazu gehörte auch, soweit möglich und vertretbar, die Menschen nicht in die Praxen/Einrichtungen kommen zu lassen und die dafür zur Verfügung stehenden neuen Möglichkeiten der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) und der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger (BÄK-Richtlinie) vollumfänglich zu nutzen. Obwohl bereits 2017 Neuregelungen getroffen worden waren, wurden diese vor der Pandemie eher zaghaft genutzt.

    Neue Vorkehrungen und Arbeitsweisen

    Masken und Desinfektionsmittel für die Klient*innen

    Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung für die Patient*innen/Klient*innen war für uns selbstverständlich und ist zudem ein expliziter Auftrag. Die zur Aufrechterhaltung der Angebote notwendigen Veränderungen mussten schnell umgesetzt werden, dazu gehörten:

    • Einlassmanagement in den Praxen/Einrichtungen
    • „Sicherung der Einrichtungen“ mit individuell angepassten Hygienekonzepten
    • verstärkte Nutzung der Take-Home-Regelungen
    • Überprüfung und – wo möglich – Anpassung der Rahmenbedingungen der Behandlung/Betreuung
    • noch engere Abstimmung zwischen Medizin und PSB
    • Umgang mit dem anfänglichen „Sturm“ in die Behandlung
    • Nutzung digitaler Medien wie Messenger, SMS, Chatberatung, Videokonferenzen
    • Etablierung neuer Angebote wie „Fenstern“ oder „Walk to talk“
    • Aufklärung und Durchführung von Testangeboten (ab 12/2020)
    • Aufklärung und Vermittlung in Impfangebote (ab 03/2021)

    Schnell etablierten sich auch bei uns im Träger neue Methoden des miteinander Arbeitens, besonders die „Vikos“. Videokonferenzen wurden das neue Kommunikationsinstrument im Träger sowie darüber hinaus. Die dafür notwendigen technischen Ausstattungsgegenstände wie Laptops und Smartphones wurden auf schnellem Wege angeschafft. Das Schulen der Mitarbeiter*innen gelang meist im üblichen „Do it yourself“-Verfahren – nicht immer reibungslos, aber letztlich mit dem gewünschten Ergebnis.

    Auswirkungen für die Substitutionspatient*innen

    Die SARS-CoV-2-Pandemie wurde für die Substitutionspatient*innen nicht zur anfänglich erwarteten Katastrophe. Ob das an dem eher jüngeren Alter, dem nur selten vorhandenen Übergewicht oder der eventuell präventiven Wirkung der Substitutionsmedikamente liegt, ist bislang unklar. Die klassischen Superspreader Events wie Kreuzfahrten, Skitouren oder Abibälle gehören zudem weniger zum bevorzugten Freizeitverhalten dieser Bevölkerungsgruppe, und die soziale Distanz haben viele auch schon vor der Pandemie verinnerlicht.

    Positiv, vor allem für die medizinische Behandlung, waren die 2017 angepassten gesetzlichen Neuregelungen der BtMVV sowie der ärztlichen Richtlinien, die eine gute Grundlage für die Anpassungen in der Pandemiezeit darstellten. Dazu gehörten der Aufruf zur konsequenten Nutzung der erweiterten Take-Home-Regelungen, die Möglichkeit der Abrechnung von mehr Gesprächen (auch telefonischer und/oder digitaler Art) oder der Postversand von BtM-Rezepten (amtliche Formblätter zur Verschreibung von Betäubungsmitteln). Einige Praxen erweiterten ihre Öffnungszeiten und/oder sorgten durch ein Einlassmanagement für Entzerrung der Patient*innenströme, was sicherlich half, einen Massenausbruch von Covid-19-Infektionen in den Praxen und damit einhergehende Schließungen zu verhindern.

    Die Ausweitung der Take-Home-Regelungen und die dafür an vielen Stellen von Patient*innen, PSB und Ärztin/Arzt gemeinsam vorgenommene Einschätzung der jeweiligen Möglichkeiten sorgte für eine neue positive Bewertung dieses Behandlungsdreiecks. Aufklärung über die aktuelle Pandemieentwicklung, Hygienemaßnahmen, Infektionsgefahren sowie die geltenden Auflagen und Bestimmungen war so schnell und wirkungsvoll möglich.

    Schnelltest

    Eine spannende Erfahrung war, dass es Patient*innen gab und gibt, die lieber wieder häufiger in die Praxis kommen wollten und wollen, da ihnen diese Aktivität als Tagesstruktur, aber auch als menschlicher Kontakt, fehlt. Durch den Lockdown und die eingeschränkten Möglichkeiten, das eigene Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt ausreichend zu stillen, haben die Einrichtungen einen (noch) wichtigeren Stellenwert bei den Patient*innen/ Klient*innen eingenommen. Über einen längeren Zeitraum waren die Betreuungseinrichtungen der einzige Ort, der auch weiterhin täglich geöffnet hatte. Die auch dort notwendigen Einschränkungen wurden weniger negativ wahrgenommen als „draußen“. Vor allem, dass mit den täglichen Ansprechpartner*innen vor Ort auch mal „wohltuende Smalltalks“ möglich waren, wurde positiv kommuniziert. Hier gab es eine große Dankbarkeit der Patient*innen/Klient*innen. Vielerorts entstand ein neues „gutes Miteinander“.

    Die medizinische Versorgung wurde an einigen Stellen umfassender, und Corona als Gesundheitsthema sorgte für ein größeres Bewusstsein für die eigene gesundheitliche Fürsorge. Im Zuge der Impfvorbereitung führte der Blick in den Impfausweis zu der einen oder anderen Nachimpfung, mitunter aber auch dazu, dass ein Impfausweis überhaupt erst einmal ausgestellt wurde. Die verschärften Hygieneregeln und natürlich die Maskenpflicht hatten zudem deutlich weniger Erkältungs- und Grippeinfekte im Herbst/Winter 2020 zur Folge.

    Kooperierende Ärztinnen und Ärzte berichteten, dass sich manche Patient*innen durch die Vereinsamung ihnen gegenüber offener zeigten. Gespräche über Rückfälle oder den Konsum anderer Substanzen konnten gut für therapeutische Interventionen genutzt werden. Die Pandemie selbst stellte zudem oft ein „verbindendes Thema“ zwischen den Lebenswelten der Klient*innen und der Helferpersonen dar.

    Schutz durch Impfung

    Die Entscheidung, suchterkrankte Menschen wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung in die Impfpriorisierungsgruppe 2 aufzunehmen und damit bevorzugt zu impfen, war für die Menschen ein sehr wichtiges Signal. Immer wieder berichteten uns Patient*innen/ Klient*innen, wie neu es für sie sei, als besonders schützenswert angesehen zu werden. Dass die Impfpriorisierung 2 auch für das Behandlungs- und Betreuungspersonal galt, sorgte für große Entspannung und Erleichterung im Arbeitsalltag der Mitarbeitenden.

    Ausblick: Verbesserungen für Behandler*innen und Patient*innen

    Die Pandemie bot die Möglichkeit, auch die Substitutionsbehandlung zu vereinfachen. Abläufe wurden an vielen Stellen verschlankt, und plötzlich waren innerhalb kürzester Zeit Änderungen von Vorgaben möglich, die unter „normalen Umständen“ undenkbar gewesen wären.

    Beim diesjährigen interdisziplinären Suchtkongress in München wurde von einer hohen Corona-Disziplin der Patient*innen gesprochen, von deutlich gesunkenen Behandlungsabbrüchen bis hin zu neuen therapeutischen Zugängen, weil sich die jeweiligen Blickwinkel veränderten. Suchtmediziner*innen berichteten von einem vereinfachten Verfahren, positiven Erfahrungen mit der Ausweitung der Take-Home-Regelungen (inklusive Diamorphin!), einer höheren Patientenzufriedenheit sowie einer Flexibilität der Behandlung. Auch dass weder der Schwarzmarkt mit Substitutionsmedikamenten überflutet wurde noch es zu zahlreichen „verlorenen“ Rezepten kam, war für viele eine Überraschung. Die Rede war an verschiedenen Stellen von einer „stillen Normalisierung“ dieser so wichtigen Behandlung, und demzufolge wurde (erneut) die Forderung laut, dass die ärztlichen Richtlinien dem wissenschaftlichen Stand (nach Pandemie) anzupassen seien.

    Kontakt:

    Antje Matthiesen
    Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V.
    (Notdienst Berlin e.V.)
    Genthiner Straße 48
    10785 Berlin
    Tel. 030-233 240 100
    info@notdienstberlin.de
    https://drogennotdienst.de/ 

    Angaben zur Autorin:

    Antje Matthiesen hat beim Notdienst Berlin e.V. die „Fachbereichsleitung Arbeit & Beschäftigung, Substitution & PSB, Frauen“ inne. Die gelernte Tischlerin und Sozialpädagogin ist seit fast 20 Jahren beim Notdienst Berlin in verschiedenen Funktionen tätig.

  • „In einer Spirale nach oben“

    „In einer Spirale nach oben“

    Kurzinterventionen sind Maßnahmen zur Gesundheitsförderung oder Prävention und eignen sich bspw. bei riskantem Konsumverhalten oder ungesunden Verhaltensweisen. Das motivierende Interventionsangebot Spirale Nach Oben (kurz: SNO) bei glücksspielbezogenen Problemen zielt auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes und der individuellen Lebenslage. Es begleitet Glücksspielende beim Prozess der Verhaltensänderung, indem Ressourcen aktiviert werden, Problembewältigung gefördert und zum veränderten Handeln motiviert wird (vgl. NLS 2020; Majuntke 2013; Meyer & Bachmann 2017).

    Suchthilfeeinrichtungen verfolgen das Ziel, Menschen mit suchtbezogenen Problemen bei der Bewältigung ihrer gesundheitlichen Problemlagen zu unterstützen und auch Hilfe für deren Angehörige anzubieten. Betroffene werden von Fachkräften bei der Veränderung ihres Konsumverhaltens hin zu gesundheitsförderlichem Verhalten begleitet. Um Menschen mit glücksspielbezogenen Problemen fachlich beraten zu können, muss also die Frage gestellt werden, wie Menschen eine nachhaltige und für sie bedeutsame Veränderung erreichen. Eine Verhaltensänderung zu erwirken, ist oft kein leichter Prozess. Bei Suchterkrankungen gilt dies als besonders schwer, da zu Grunde liegende psychische Probleme oft schon länger bestehen und das schambesetzte Verhalten die Inanspruchnahme von Hilfe erschwert (vgl. NLS 2014; Meyer & Bachmann 2017; Hayer 2012; Wöhr & Wuketich 2019; Inglin & Gmel 2011).

    Pathologisches Glücksspielen zählt seit 1980 zu den Störungen der Impulskontrolle und ist seit 2001 von deutschen Kostenträgern als rehabilitationsbedürftige Erkrankung anerkannt. Als eigenständige Verhaltenssucht ist die Spielsucht jedoch erst seit 2013 in der neuen Fassung des DSM-5 kategorisiert (DSM-5, USA). Auch in der ICD-11, die am 1. Januar 2022 in Kraft treten soll, wird die Störung durch Glücksspielen als Verhaltenssucht eingeordnet. Auf neurologischer Ebene lassen sich bspw. Störungen des Belohnungssystems erkennen, die dazu führen können, dass das Verlangen nach dem Suchtmittel stärker ist als die Initiative zur Verhaltensänderung. Glücksspielen erzeugt vergleichbare Effekte wie der Konsum von Substanzen, weshalb gerade Kinder und Jugendliche gefährdet sind, eine Suchterkrankung zu entwickeln (vgl. Hayer 2012; BZgA 2018). Doch wie kann Einfluss auf das Verhalten genommen und dieses nachhaltig verändert werden? Diskutiert werden bspw. der Einfluss von Selbstreflexion und Selbstkontrolle sowie Selbstwirksamkeit und Veränderungsmotivation (vgl. Meyer & Bachmann 2017; Stetter 2000; Kushnir et al. 2016; NLS 2014; BZgA 2018).

    „Spielen macht seit Menschengedenken Alt und Jung Spaß und gehört zum menschlichen Verhaltensmuster. Wenn wir an kleine Kinder denken, verbinden wir Spielen mit Lernen und leuchtenden Augen. Bei Erwachsenen stellen wir uns fröhliche Runden mit Gesellschaftsspielen vor. Spielen heißt aber auch, Geld auf einen unkalkulierbaren Sieg in Spielhallen, Spielbanken, Lotterien und Internet zu setzen. […] Insbesondere gilt es, Jugendliche vor dem Abrutschen in glücksspielsüchtiges Verhalten zu bewahren sowie Menschen mit einem problematischen Glücksspielverhalten frühzeitig Hilfen anzubieten“ (NLS 2010: 4).

    Glücksspielsuchthilfe in Niedersachsen

    Im Mittelpunkt der niedersächsischen (Gesundheits-)Politik stehen auch die Prävention und Beratung bei Glücksspielsucht. Die niedersächsische Glücksspielsuchthilfe wird landesweit durch die Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) koordiniert. Das Land Niedersachen fördert seit 2008 den Ausbau der glücksspielsuchtspezifischen Prävention in der Region und unterstützt deren Weiterentwicklung. In enger Zusammenarbeit mit der NLS werden Präventionsansätze, Beratungsangebote und Interventionen gezielt für Risikogruppen konzipiert und fortgeschrieben. Um den spezifischen Bedürfnissen der betroffenen Personen sowie ihrer Angehörigen begegnen zu können, hält das Landesprojekt regionale Beratungsangebote an 24 Projektstandorten und speziell ausgebildete Glücksspielsuchtfachkräfte bereit (vgl. NLS 2013/2014; Majuntke 2013). Diese Beratungsangebote wie auch das Interventionsangebot „Spirale Nach Oben“ wurden speziell für den Glücksspielsuchtbereich angepasst. Die verpflichtenden Schulungen bzw. Fortbildungen der Fachkräfte erfolgen überregional und werden durch die NLS fachlich begleitet (vgl. NLS 2013/2014).

    Einen wichtigen Faktor in der Prävention und Behandlung von glücksspielbezogenen Problemen stellt die personelle Verstärkung der Suchthilfe dar. Durch die Fachkräfte, welche seitens der NLS ausgebildet wurden, konnten im Rahmen des Landesprojektes die präventiven und beratenden Aufgabenfelder verstärkt werden. Diese Aufgabenfelder verfolgen das Ziel der Vermeidung und der Abwehr glücksspielbezogener Suchtgefahren auf universeller und regionaler Ebene. Um dieses Ziel zu erreichen, führen die Fachkräfte sowohl kurzfristig angelegte, informationsorientierte als auch längerfristig angelegte, problemorientierte Beratungsarbeit durch (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; NGlüSpG §1 Abs. 5). Diese Beratungsarbeit ist angelehnt an den klientenzentrierten Beratungsprozess. Bei diesem werden durch Reflexion, Spiegelung und motivierende Gesprächsführung individuelle Lösungen und Bewältigungsmöglichkeiten entwickelt. Ggf. erfolgt die Weitervermittlung in eine spezialisierte Rehabilitationsmaßnahme (ambulant/stationär) und eine anschließende Betreuung zur Stabilisierung und Sicherung des Therapieerfolges (vgl. NLS 2014; Prochaska & DiClemente 1982; Majuntke 2013).

    Das für den Glücksspielbereich adaptierte Interventionsprogramm „Spirale Nach Oben“ (SNO) zur Reduzierung des problematischen Spielverhaltens dient den Fachkräften dabei als Arbeitshilfe. Diese Arbeitshilfe ist eine Adaption eines Manuals aus dem Hartdrogenbereich. Das ursprüngliche Kurzinterventionsprogramm „In einer Spirale nach oben. Mehr Selbstkontrolle über Drogengebrauch“ wurde in Deutschland und in anderen europäischen Ländern bereits in der Praxis erprobt und wissenschaftlich begleitet (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; Amsterdam Institute for Addiction Research, AIAR 2005). Die Arbeitshilfe SNO kommt in präventiven Arbeitsfeldern zur Erreichung eines reflektierten, veränderten Spielverhaltens zum Einsatz. In Therapie und Beratung wird sie in unterschiedlichen Settings eingesetzt, z. B. prozessbegleitend oder informativ ergänzend im Einzel-, Paar- oder Gruppengespräch (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; NGlüSpG §1 Abs. 5).

    Methodische Grundlagen der Arbeitshilfe „In einer Spirale nach oben“

    Das Interventionsprogramm wurde 2013 unter dem Titel „In einer Spirale nach oben – der Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten“ veröffentlicht (vgl. NLS 2013). Im Beratungskontext eingesetzt, werden kleine Veränderungen als Handlungsmöglichkeiten dargestellt, anhand derer der Weg zu mehr Selbstkontrolle und einem reduzierten Konsum aufgezeigt wird. Gezielte Fragen und praktische Lösungsansätze sollen eine aktive Auseinandersetzung mit dem (Spiel-)Verhalten bewirken. Die Arbeitshilfe unterstützt in zehn Schritten die Veränderung hin zu mehr spielfreier Lebensqualität. Fortschritte können gezielt erreicht werden: Sie zeigen sich in Absichtsbildung, Vorbereitung und Aktion. Das Programm SNO begleitet verschiedene Veränderungsstadien, so kann z. B. ein besseres Problemverständnis erlangt oder das Erkennen von Frühwarnsignalen unterstützt werden. Das Thema Glücksspielen wird schrittweise anhand von Beispielen und Arbeitsblättern thematisiert, z. B. werden alternative Beschäftigungen oder Strategien des Geldmanagements erarbeitet. Aufgabenstellungen sollen die Beurteilung und Reflexion des eigenen Spielverhaltens ermöglichen (vgl. NLS 2020; Prochaska & DiClemente 1992; Majuntke 2013).

    SNO basiert auf dem transtheoretischen Modell der Verhaltensänderung nach Prochaska und DiClemente. Bei diesem Modell verläuft die Veränderung in Stadien, in denen es von der Bildung einer Absicht bis zur eigentlichen Veränderung kommt. Die Verhaltensänderung wird strategisch durch Beratung begleitet, die sich zugleich am Tempo und der jeweiligen Phase der betroffenen Person orientiert und dadurch eine optimale Begleitung und prozessorientierte Unterstützung bietet (vgl. Prochaska & DiClemente 1982; Uhl & Lutz 2020; Maurischat 2001; Kushnir et al. 2016).

    Das transtheoretische Modell stellt die Verhaltensänderung als mehrstufigen Lernprozess dar. Oft müssen Veränderungsphasen mehrmals durchlaufen werden, bis sich das Erlernte verfestigt hat. Unterschieden wird zwischen Stufen, Prozessen und Ebenen der Veränderung: Das spiralförmige Durchlaufen der fünf bzw. sechs Veränderungsstufen, beschreibt die motivationalen Zustände. Die Prozesse können dabei in Schleifen ablaufen, bspw. durch Rückfälle auf eine niedrigere Stufe, die zum Lernprozess dazugehören. Unterschiedliche Stufen und Prozesse werden auf verschiedenen Ebenen der Veränderung wirksam, z. B. auf interpersoneller Ebene durch die Reduzierung von Konflikten oder auf der Ebene des Suchtverhaltens durch Reduktion der Spielhäufigkeit. Die Stufen, die im Verlauf der Verhaltensveränderung durchlaufen werden, finden sich als einzelne Schritten in der Arbeitshilfe wieder (vgl. Tab. 1).

    Tab. 1: Eigene Darstellung der Schritte der Arbeitshilfe SNO nach dem transtheoretischen Modell (vgl. Maurischat 2001; Majuntke 2013; NLS 2013; Prochaska & DiClemente 1982; Uhl & Lutz 2020)

    (Selbsthilfe-)Manuale verfolgen das allgemeine Ziel, in leichtverständlicher Weise spezifisches Wissen weiterzugeben und/oder Kompetenzen im Umgang mit (Bewältigungs-)Techniken zu vermitteln. Die Arbeitshilfe SNO bietet Ansätze zur Einschätzung, Beeinflussung und Stabilisierung des Spielverhaltens. Erste Reduktionsziele werden eigenverantwortlich erreicht, wodurch sich die Person wieder selbstwirksam erlebt. Die Arbeitshilfe SNO bietet mit einem zieloffenen Ansatz die Möglichkeit, einen niedrigschwelligen Zugang zu schaffen und somit auch jene Personen anzusprechen, die durch abstinenzorientierte Konzepte nicht erreicht werden. Dabei geht sie auf die Vielfältigkeit der Problemfelder von Glücksspielabhängigkeit ein. Die motivierenden Aspekte der Intervention bereiten den Weg zur Reduktion und zu mehr Selbstkontrolle über das eigene Spielverhalten. Die Betroffenen werden dabei unterstützt, selbstbestimmt gesundheitsförderlich zu handeln sowie Tempo und Umfang des Reduktionsbestrebens erfolgreich selbst zu bestimmen (vgl. NLS 2020; Meyer & Bachmann 2017.; Majuntke 2013; NLS 2014/2020).

    Konzept von SNO im Beratungskontext:

    • Krankheitseinsicht, Selbstreflexion und Absichtsbildung werden gefördert und können gesprächsbegleitend verfestigt werden.
    • Tempo und Ziele werden durch die betroffene Person selbst vorgegeben.
    • Verwendung von Arbeitsblättern ermöglicht die Dokumentation von Erfolgen und visualisieren den Fortschritt.
    • Aufbau der Arbeitshilfe strukturiert das Gespräch und den Beratungsprozess.
    • Aufgabenstellung und Hausaufgaben begleiten durch den spielfreien Alltag und unterstützen die Vorbereitung.
    • Keine Erzeugung von äußerem Druck oder Bevormundung bei der betroffenen Person durch Ergebnisoffenheit und kleine Schritte.
    • Akzeptanz, Respekt und Selbstbestimmung werden gefördert.

    Aktualisierung der Arbeitshilfe SNO

    Im Zeitraum von 2015 bis 2020 wurde die Arbeitshilfe evaluiert und bearbeitet. Unter Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking führte die Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, in enger Zusammenarbeit mit der NLS und mit Fachkräften der niedersächsischen Glücksspielsuchthilfe eine Untersuchung durch. Im Projektzeitraum wurden Arbeitsweise, Einsatzfelder und Verwendungsform der Arbeitshilfe untersucht sowie bisherige Erfahrungen ausgewertet. Nachfolgend wurde das Interventionsangebot weiterentwickelt und zielgruppenorientiert angepasst. Erfahrungen aus der Beratungspraxis und wissenschaftliche Erkenntnisse gingen in die Überarbeitung ein. Design, (An-)Sprache und Inhalt der Arbeitshilfe wurden verändert und Themenbereiche spezifisch für Glücksspielsucht mit Beispielen und Vorlagen angepasst. Auch wurden sprachliche Anpassungen vorgenommen, um einer Stigmatisierung von Glücksspielenden entgegenzuwirken. Negative Attribute wie ein Mangel an Selbstkontrolle, moralische Schwäche oder Impulsivität erschweren nicht nur den Betroffenen den Zugang zu Hilfeangeboten, sondern stellen auch Therapiehindernisse dar. Mitunter können entsprechende Stigmata zum Ausschluss von verschiedenen Versorgungsangeboten, vor allem von strikt abstinenzorientierten Einrichtungsangeboten, führen (vgl. Wöhr & Wuketich 2019; Goffman 1986; Orford & McCartney 1990; Inglin & Gmel 2011; Grunfeld et al. 2004; NLS 2013).

    Die aktuelle Fassung der Arbeitshilfe SNO kann über die NLS kostenlos als Download bezogen werden: http://www.nls-online.de/shop/index.php/online-shop/glückspielsucht/gluecksspielsucht-spirale-detail.html

    Ausblick

    Interventionsmaßnahmen wie das Angebot SNO der niedersächsischen Glücksspielsuchthilfe zielen auf die gesundheitsförderliche Verhaltensänderung. Das Programm SNO begleitet den beratenden Prozess angepasst an die Ziele, Änderungsbereitschaft und Motivation der jeweiligen Person. Der Programmaufbau ist einfach und bietet Ansätze für die motivierende Gesprächsführung und eine individualisierte Rückmeldung. Fachkundige Personen mit Bezug zum Thema Glücksspielsucht ohne suchtspezifische Ausbildung können die Umsetzung der Intervention schnell erlernen und in verschiedenen Settings (Suchthilfe- und Bildungseinrichtungen etc.) einsetzen. Damit können sie frühzeitig für die Risiken und Gefahren sensibilisieren und zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfen motivieren. Die Wirksamkeit motivierender Kurzinterventionen zeigt sich bei vielen Präventionsmaßnahmen zum gesundheitsgefährdenden Substanzkonsum, wie z. B. Tabak-, Drogen- oder Alkoholkonsum bei Jugendlichen (vgl. Reis et al. 2009; Majuntke 2013; Stolle et al. 2013; Wurdak et al. 2016).

    Das Kurzinterventionsangebot SNO setzt bei der Reduktion von Widerständen, Stigmatisierung und fremdbestimmter Zielsetzung an. Wie auch einige der anderen Gesundheitsprogramme (z. B. gegen Bewegungsmangel oder zur Stressbewältigung) soll das niedrigschwellige Angebot für weniger Abwehr bei der reflexiven Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhalten sorgen. Schriftliche Informationen, wie auch einfache Maßnahmen (Kurzberatung, Feedback usw.) bewirken zudem eine erste Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten. Kurzinterventionen bieten neben einer ersten Hilfe zur Selbstexploration vor allem Chancen für einen frühzeitigen Zugang von Menschen mit einem Gesundheitsproblem in die (suchtspezifische) Gesundheitsversorgung. Dies ist ein wichtiger Ansatzpunkt, denn eine Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfeangebote durch Risikokonsumierende ist eher gering und noch seltener frühzeitig.

    Die landes- und bundesweite Förderung solcher suchtspezifischen und gesundheitsförderlichen Interventionsangebote wie das Programm SNO ist bedeutsam für die erfolgreiche Prävention und frühzeitige Behandlung von Glücksspielsuchtproblemen. Gesundheitspolitische Bemühungen sollten daher die glücksspielbezogene Suchthilfe und Forschung bei den neuen Herausforderungen unterstützen, um die Bevölkerung effektiv vor den Gefahren und Risiken, auch von illegalem und simuliertem Glücksspiel, zu schützen (vgl. Majuntke 2013; NLS 2014; Stolle et al. 2013; Wurdak et al. 2016; Fleckenstein et al. 2019).

    Kontakt:

    Meike Panknin-Rah
    Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
    Hochschule Emden/Leer
    Constantiaplatz 4
    26723 Emden
    meike.panknin-rah@hs-emden-leer.de

    Angaben zu den Autor*innen:

    Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Bedeutung der Selbstkontrolle für die Reduzierung des eigenen Glücksspielverhaltens – Untersuchung am Beispiel des Manuals ‚In einer Spirale nach oben – der Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten‘“ (2015–2020). Christina Diekhof und Meike Panknin-Rah sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer.

    Literatur:
    • Amsterdam Institute for Addiction Research (AIAR) (2004): In einer Spirale nach oben. Wege zur mehr Selbstkontrolle und reduziertem Drogenkonsum. Stiftung Sirop: Amsterdam.
    • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2018): Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland 2017. Ergebnisbericht. Technical report. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Köln.
    • Fleckenstein, M./ Heer, M./ Leiberg, S./ Gex-Fabry, J./ Lüddeckens, T. (2019): Leistungssensible Suchttherapie: Vorstellung und Wirksamkeitsprüfung einer neuer Kurzintervention. Suchttherapie 20. 68-75.
    • Goffman, E. (1986): Stigma. Notes on the management of spoiled identity. Simon and Schuster: New York.
    • Grunfeld, R./ Zangenneh, M./ Grundfeld, A. (2004): Stigmatization Dialogue: Deconstruction and Content Analysis. INTERNATIONAL JOURNAL OF MENTAL HEALTH & ADDICTION, 1.Jg., Heft 2, 1–14.
    • Hayer T. (2012): Jugendliche und Glücksspielbezogene Probleme. In: Becker T. (Hrsg.). Schriftenreihe zur Glücksspielforschung. Peter Lang-Verlag. o. O.
    • Inglin, S./ Gmel, G. (2011): Beliefs about and attitudes toward gambling in French-speaking Switzerland. Journal of gambling studies, 27. Jg., Heft 2, 299–316.
    • Kushnir, V./ Godinho, A./ Hodgins, D./ Hendershot, C./ Cunningham, J. (2016): Motivation to quit or reduce gambling: Associations between Self-Determination Theory and the Transtheoretical Model of Change. In: J Addict Dis. 2016;35(1):58-65.
    • Maurischat, C. (2001): Erfassung der „Stage of Change“ im Transtheoretischen Modell Procháskas – eine Bestandsaufnahme. Psychologisches Institut, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Internetquelle: https://www.psychologie.uni-freiburg.de/forschung/fobe-files/154.pdf. Abgerufen am: 14.06.2020.
    • Majuntke, I. (2013): In einer Spirale nach oben. Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten. Internetquelle: http://www.gluecksspielsucht.de/files/19_majuntke_fags_2013.pdf. Abgerufen am 12.06.2020.
    • Meyer, G./ Bachmann M. (2017): Spielsucht. Ursachen, Therapie und Prävention von glücksspielbezogenem Suchtverhalten. Springer Verlag GmbH, Berlin.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2010): Gemeinsam gegen Glücksspielsucht. Zwischenbericht zum Projekt „Glücksspielsucht in Niedersachsen – Prävention und Beratung“. Hannover. Internetquelle: https://nls-online.de/home16/images/nls/Gl%C3%BCcksspiel/Gemeinsam_gegen_Gluecksspielsucht.pdf. Abgerufen am: 02.06.2020.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS 2013): In einer Spirale nach oben. Arbeitshilfe zur Reduktion des eigenen Glücksspielverhaltens. 1. Auflage. Internetquelle: http://nls-online.de/home16/images/nls/Glücksspiel/Spirale_nach_oben_Internet.pdf. Abgerufen am: 02.06.2020.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2014): Konzept zur Prävention und Beratung von Glücksspielsucht in Niedersachsen – Fortschreibung 2014. Internetquelle: https://nls-online.de/home16/index.php/downloads/cat_view/35-gluecksspielsuchtpraevention. Abgerufen am 01.06.2020.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2016): Jahresbericht. NLS, Hannover
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2020): In einer Spirale nach oben. Auf dem Weg zu einem anderen Glücksspielverhalten. Internetquelle: https://nls-online.de/shop/index.php/online-shop/gl%C3%BCckspielsucht/gluecksspielsucht-spirale-detail.html Abgerufen am 01.07.2020.
    • Orford, J./ McCartney, J. (1990): Is excessive gambling seen as a form of dependence? Evidence from the community and the clinic. Journal of gambling studies, 6. Jg., Heft 2, 139–152.
    • Prochaska, J. & DiClemente, C. (1982). Transtheoretical therapy: Toward a more integrative model of change. Psychotherapy: Theory, Research & Practice19 (3), 276–288.
    • Reis, O./ Papke, M./ Haessler, F. (2009): Ergebnisse eines Projektes zur kombinierten Prävention jugendlichen Rauschtrinkens. Sucht, 55, 347–356.
    • Stetter, F. (2000): Psychotherapie von Suchterkrankungen. In: Psychotherapeut 45:141–152 Springer-Verlag.
    • Stolle, M./ Sack, P.M./ Broening, S./ Baldus, C./Thomasius, R. (2013): Brief Intervention in alcohol intoxicated adolescent – a follow-up study in an access-to-care sample. Journal of Alcoholism & Drug Dependence, 1, 106. DOI:10.4172/2329-6488.1000106. Abgerufen am 01.06.2020.
    • Uhl, M./ Lutz, W. (2020): „Transtheoretisches Modell“ in: Wirtz, M.A. (Hrsg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. Internetquelle: https://portal.hogrefe.com/dorsch/transtheoretisches-modell-1/. Abgerufen am 24.06.2020.
    • Wöhr, A./ Wuketich, M. (2019): Stigmatisierung von Glücksspielern als Zuschreibungsprozess. In Wöhr, A./ Wuketich, M. (Hrsg.) (2019): Multidisziplinäre Betrachtung des vielschichtigen Phänomens Glücksspiel. Festschrift zu Ehren des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Tilman Becker. Springer VS: Wiesbaden.
    • Wurdak, M./ Wolstein, J./ Kuntsche, M. (2016): Effectiveness of a drinking-motive-tailored emergency-room intervention among adolescents admitted to hospital due to acute alcohol intoxication – A randomized controlled trial. Preventive Medicine Reports, 3, 83–89.
  • Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Karl Lesehr

    Zum 31.07.2019 wurden die letzten Teilnehmenden* aus dem Projekt Su+Ber – Sucht und Beruf verabschiedet. Damit wurde dieses Projekt zur Teilhabeverbesserung langzeitarbeitsloser und suchtkranker Menschen nach gut dreieinhalb Jahren mangels weiterer Förderung vorläufig beendet. Wir haben über Su+Ber  ausführlich bereits 2017 in einem zweiteiligen Artikel auf KONTUREN online (Teil 1 + Teil 2) berichtet. Eine abschließende differenzierte und mehrteilige wissenschaftliche Evaluation legte das IFT München planmäßig bis zum Jahresende 2019 vor (PDF zum Download).

    Der hier vorliegende Artikel möchte einen anderen Aspekt, nämlich die innere Projektentwicklung reflektieren. Aus der Sicht eines verantwortlich Beteiligten möchte ich unsere Erfahrung von Hemmnissen und Schwierigkeiten darstellen und zeigen, wie sich unsere Arbeitshaltungen durch diese Erfahrungen im Projektprozess verändert haben. Mit einer solchen, eben nicht nur an Erfolgskennzahlen orientierten Evaluation wollen wir uns auf Entwicklungsschritte einlassen, wie wir sie ja auch von unseren Projekt-Teilnehmenden erhoffen und erwarten. Aufgrund meiner fachlichen Herkunft nehme ich dabei v. a. die Perspektive der Suchthilfe ein; viele meiner Aussagen gelten aber in vergleichbarer Weise auch für den Bereich der Arbeitshilfen.

    Entwicklungsgeschichte und Zielsetzungen des Projekts Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber ist in Baden-Württemberg in einem mehrjährigen Diskussionsprozess entstanden, an dem neben zahlreichen Akteuren der Suchthilfe und der Suchtreha auch engagierte Fachkräfte aus Jobcentern und Politikvertreter beteiligt waren. Mit Su+Ber sollte an sechs Standorten für Langzeitarbeitslose mit einem teilhabebeeinträchtigenden Suchtverhalten (Alkohol/Drogen) auf einem ganz neuen Weg eine stabile Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ermöglicht werden. Wesentliche Teile des Projekts Su+Ber wurden vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land finanziert; die in die Projektkonzeption integrierten und relativ personalintensiven Arbeitsfördermaßnahmen wurden dabei in vollem Umfang von den beteiligten Jobcentern finanziert.

    Suchtprobleme gelten bei der Wiedereingliederung in Arbeit als wesentliches Vermittlungshemmnis. Gleichzeitig ist es ein Grundaxiom der Suchthilfe, dass eine regelmäßige Arbeit entscheidend zu einer gesundheitlichen Stabilisierung suchtkranker Menschen beitragen kann. Die fachliche Entwicklung der medizinischen Suchtreha orientierte sich deshalb stets an dem Ziel einer Reintegration in Arbeit, wofür eine Suchtmittelabstinenz bislang als unumgängliche Voraussetzung galt. Wer allerdings inzwischen die konkreten Arbeitsmarktperspektiven für langzeitarbeitslose Menschen mit Suchtstörungen ehrlich anschaut, für den wird spürbar, dass eine solche vorrangig auf eine formale Arbeitsreintegration orientierte Suchtreha den Teilhabebedürfnissen und -rechten dieser Menschen oft nicht gerecht wird. Die Grundkonzeption unseres Projekts Su+Ber baut zwar notwendigerweise auf diese arbeitsorientierte Tradition der Suchtreha auf, versucht aber, innerhalb der geltenden Rechtssystematik für bestehende versorgungspolitische Schwachstellen neue Lösungen zu finden.

    Konsequente arbeitsorientierte Leistungsvernetzung als Antwort auf Schnittstellenprobleme

    Das Projekt Su+Ber sieht als Antwort auf viele letztlich ungelöste Schnittstellenprobleme bei Maßnahmen zur Arbeitsreintegration im Anschluss an eine Suchtreha eine weitgehende örtliche, zeitliche und personelle Vernetzung aller Fördermaßnahmen: Leistungen der Suchtberatung, Arbeitsfördermaßnahmen der Jobcenter und der Arbeitshilfeträger sowie Leistungen einer arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha sollen im Projekt in einer konsequenten Gesamtmaßnahme integriert werden. Zentrale Bausteine des Projekts waren:

    • eine Zielorientierung der Gesamtmaßnahme auf die Gewinnung eines eigenen Arbeitsplatzes unter konsequenter Berücksichtigung der eben auch widersprüchlichen individuellen Entwicklungsinteressen und der nutzbaren Entwicklungsressourcen der Teilnehmenden. Die Orientierung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sollte alle Beteiligten vor defizit- und mangelorientierten Selbst- und Fremdeinschätzungen und vor zu kleinteiligen Maßnahmenzielen schützen.
    • eine fallbezogene personale Vernetzung aller am Projekt beteiligten Akteure in einem gemeinsamen Clearingprozess und in der Maßnahmenplanung. Die Erfolgsprognose, die sozialleistungsrechtlich erforderlich ist, damit Maßnahmen gewährt werden, orientierte sich nicht an Maximalzielen (Abstinenz, volle Arbeitsintegration), sondern an konkreten Verbesserungen beruflicher Teilhabe und damit verbundener subjektiver Lebensqualität.
    • eine Konzeption der ambulanten Suchtreha, die vorrangig auf die Entwicklung einer hinreichenden Arbeitsfähigkeit orientiert ist und dabei notfalls auch auf den bisherigen Vorrang des gesundheitlichen Maximalziels einer Abstinenz verzichtete.
    • die nahtlose Nutzung aller individuell erfolgversprechenden Fördermaßnahmen der beteiligten Leistungsträger einschließlich einer suchtkompetenten Unterstützung auch im ersten Jahr an einem eigenen Arbeitsplatz.

    Innovation erfordert Mut zum Risiko, erhöht aber auch die institutionellen Erfolgserwartungen

    Ein solcher Projektansatz ließ sich natürlich nur realisieren, indem alle Beteiligten über ihre gewohnten Konzepte und Leistungsformen hinausgingen: So ließen sich die beteiligten Jobcenter auf einen gegenüber sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen höheren Personaleinsatz ein. Die DRV Baden-Württemberg wagte den Versuch einer konsequent arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha auch unter Verzicht auf die traditionelle Abstinenzbindung. Die Suchtberatungsstellen waren zu sozialräumlichen Kooperationen mit anderen PSBs (Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und Suchtkranke) und zu einem mehrheitlich externen Arbeitseinsatz beim Arbeitshilfeträger aufgefordert. Und für alle beteiligten Fachkräfte galt es, sich im geforderten Clearingprozess und in der fallbezogenen Maßnahmenplanung auf eine personale Kooperation einzulassen und dabei die eigenen fachlichen Sichtweisen und Denktraditionen immer wieder zu hinterfragen.

    Bei den beteiligten Leistungsträgern (Jobcenter und DRV Baden-Württemberg), die für das Projekt substantiell/materiell in Vorleistung gehen mussten, entstand dabei verständlicherweise ein hoher Druck, ihre Aufwendungen/Wagnisse auch durch möglichst gute Ergebniszahlen zu legitimieren. Bei den Jobcentern war dennoch die Bereitschaft, auch die eigenen internen Verwaltungsabläufe auf diese neue Projektstruktur abzustimmen, angesichts der je Standort nur bescheidenen Maßnahmekapazitäten (max. zwölf Plätze) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und auch in der projektbezogenen Kooperation mit der DRV Baden-Württemberg gelang es trotz einer insgesamt vertrauensvollen Arbeitsbasis erst zum Ende des ersten Projektjahres und damit zur Hälfte der anfänglich bewilligten Projektlaufzeit, eine für beide Seiten vertretbare Reha-Konzeption für das Projekt Su+Ber zu verabschieden.

    Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung für Su+Ber

    Während solche Schwierigkeiten mit den Leistungsträgern für uns schon in der Projektvorbereitung absehbar waren, hatten wir geglaubt, dass durch die zahlreichen Diskussionen und Fachveranstaltungen der Landesstelle für Suchtfragen im Projektvorlauf und durch ein detailliertes Anforderungsprofil in der ESF-Projektausschreibung bei der Teilnehmergewinnung und in der Projektumsetzung keine größeren Probleme auftreten würden. Tatsächlich hatten wir vor allem im ersten Projektjahr aber an nahezu allen Standorten erhebliche Schwierigkeiten, die in den Arbeitsfördermaßnahmen bereitgestellten Plätze auch zu füllen – deren Auslastung lag in dieser Zeit insgesamt deutlich unter 50 Prozent!

    Als wesentliche Ursachen dieser für uns unerwarteten Entwicklung konnten wir – trotz aller konzeptionellen Absprachen/Vereinbarungen im Vorfeld einer Projektbeteiligung – Folgendes feststellen:

    • Bei vielen Fachkräften der Suchtberatungsstellen herrschte große Skepsis gegenüber einem suchtrehabilitativen Ansatz ohne Abstinenzverpflichtung.
    • In vielen Suchthilfeeinrichtungen wird eine „Reha-Gesamtplanung“ praktiziert, bei der Fragen der Reintegration in Arbeit immer noch meist erst nach einer (stationären) Suchtreha in den Blick genommen wurden.
    • Bei einer Einbeziehung arbeitsorientierter Fördermaßnahmen in die Suchtreha-Planung wurde – unabhängig von der fachlichen Art des Angebots – bevorzugt in trägereigene Maßnahmen vermittelt.

    Offenbar führt eine hohe Autonomie der Fachkräfte in den PSBs bei gleichzeitig subjektiv hoher Arbeitsbelastung in der Fallarbeit dazu, dass vertraute rehabilitative Handlungs- und Denkmuster weitergeführt und innovative Interventionsansätze kaum ernsthaft registriert werden. Im Ergebnis gab es während der drei Projektjahre trotz vielfacher Informationsangebote und Werbung fast ausschließlich von denjenigen Suchtberatungsstellen Vermittlungen in das Projekt Su+Ber, in denen durch Honorarverträge Mitarbeitende unmittelbar in die Projektarbeit eingebunden waren. Aber auch in den direkt am Projekt beteiligten Suchtberatungsstellen gelang es mehrheitlich erst durch eine regelmäßige Präsenz von Projektmitarbeitenden in den eigenen Reha-Teams,  die Quote an Vermittlungen in das „eigene“ Projekt Su+Ber innerhalb der gesamten indikationsgerechten Vermittlungen in Suchtreha zu erhöhen.

    Unterschätzt hatten wir in der Projektplanung aber auch zwei materielle/leistungsrechtliche Faktoren:

    • Aufgrund der knappen Fördermittel für Su+Ber hatten wir für die sechs- bis achtmonatige Projektphase B der Arbeitsförderung und der integrierten ambulanten Suchtreha keine Mehraufwandsentschädigung für die Teilnehmenden vorgesehen. Dadurch waren wir für manchen Kunden/Klienten im Vergleich zu anderen vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen aber deutlich weniger attraktiv (ganz unabhängig von der im Projekt ja zusätzlich geforderten offenen Befassung mit dem eigenen Suchtverhalten).
    • Angesichts der in Baden-Württemberg derzeit sehr guten Arbeitsmarktlage erlebten wir es in der Projektphase A (Motivierung und vorläufige Integrationsplanung) immer wieder, dass Interessenten kurzfristig eine Arbeit fanden und deshalb eine Projektteilnahme im Sinne ihres bisherigen Problembewältigungsmusters fallen ließen. Wenn dann nach oft schon absehbaren Krisen dieser Arbeitsplatz wieder verloren ging, griff die Regelung der „schädlichen Unterbrechung“ der Langzeitarbeitslosigkeit: Eine Wiederaufnahme ins Projekt war dann (eigentlich) genauso wie nach längerer Krankschreibung oder auch kurzfristigen Inhaftierungen (v. a. bei Drogenabhängigen) erst wieder nach einer längeren (kontraproduktiven) Wartezeit möglich; ein möglicherweise günstiges „Motivationsfenster“ blieb wegen unsinniger Zuständigkeitsregelungen so ungenutzt.

    Eine von der Projektkonzeption deutlich abweichende Teilnehmenden-Gruppe

    Im Ergebnis bestand unsere Su+Ber-Teilnehmergruppe v. a. aus Menschen, die von den Jobcentern vermittelt wurden und dort nach zahlreichen, aber wirkungsarmen Maßnahmen als weitgehend hoffnungslose Fälle eingestuft worden waren („hartnäckiger Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit“). Gleichzeitig fehlten uns aus den Suchtberatungsstellen diejenigen Menschen, die sich dort zum wiederholten Mal aktiv um eine Suchtreha-Maßnahme bemühten.

    Es wurde aber auch deutlich, dass mehr als 80 Prozent unserer Teilnehmenden bereits Vorerfahrungen mit der ambulanten Suchthilfe und etwas mehr als die Hälfte auch Erfahrungen mit Suchtreha-Maßnahmen hatten. Zumindest bei dieser Gruppe stark chronifizierter Langzeitarbeitsloser mit Suchtproblemen ist also davon auszugehen, dass aufgrund zweier im Lebensalltag der Menschen ja zusammenhängender Teilhabe-Beeinträchtigungen häufig auch beide leistungsrechtlich getrennten Hilfesysteme in Anspruch genommen werden, allerdings oft ohne irgendeine erkennbare Kooperation und Abstimmung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass wir mit unserem leistungsvernetzten Förder- und Behandlungsangebot von Su+Ber 44 Prozent der Teilnehmenden erstmals für die Nutzung einer Suchtreha-Maßnahme gewinnen konnten.

    Da im Projekt Su+Ber bei den Bemühungen um eine Arbeitsintegration ausdrücklich auch das Suchtverhalten thematisiert werden sollte, war für uns ein freiwilliger und von Sanktionen unabhängiger Zugang zum Projekt grundlegende Bedingung. Daraus leiteten wir die Hypothese ab, dass unsere Projekt-Teilnehmenden trotz ihrer vielfachen Erfahrungen des Scheiterns und vieler aktueller Alltagsprobleme und Beeinträchtigungen sehr wohl weiter an einer Verbesserung ihrer Lebenslage interessiert waren. Auch die zu den formalen Qualifikationen erhobenen Daten lassen vermuten, dass für einen deutlichen Teil der Teilnehmenden die Perspektive einer beruflichen Reintegration keineswegs abwegig ist: Nur 13 Prozent hatten keinen regulären Schulabschluss, aber immerhin 51,5 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung.

    Entwicklung der Teilnehmerzahl

    In der (nach einer Verlängerung) schließlich dreijährigen Projektlaufzeit haben wir nach ESF-Kriterien 301 Teilnehmende ins Projekt Su+Ber aufgenommen, also in die Projektphase A mit ihrem interinstitutionellen Clearing, der vertieften Motivierung und einer vorläufigen Maßnahmenplanung sowie schließlich der formalen Beantragung der ambulanten Suchtreha-Maßnahme. Tatsächlich wurden dann aber von diesen 301 ernsthaften Projektinteressenten nur 199 Teilnehmende in die Projektphase B übernommen, also in die sechs- bis achtmonatige Arbeitsfördermaßnahme mit integrierter ambulanter Suchtreha.

    Nach allen Erfahrungen aus der Motivierungsarbeit der Suchtberatung hatten wir zwar an diesem Übergang mit einem Schwund an Teilnehmenden gerechnet, der Ausstieg von einem Drittel hat uns aber doch beschäftigt. Ein Teil dieser Quote erklärt sich mit den bereits skizzierten leistungsrechtlichen Regelungen („schädliche Unterbrechung“). Andere Teilnehmende fühlten sich abgeschreckt durch die umfangreichen datenschutzrechtlichen Regelungen, die durch die wissenschaftliche Evaluation notwendig wurden und für die wir auch keine grundlegende Vereinfachung finden konnten.

    In der Analyse wurde für uns aber auch deutlich, dass wir es versäumt hatten, Ansätze und Strukturen für eine projektspezifische Veränderungsmotivierung der Teilnehmenden zu entwickeln. Obwohl wir davon ausgegangen waren, dass die vorrangige Triebfeder für die Beteiligung an Su+Ber bei den meisten Teilnehmenden die Gewinnung eines „vollwertigen“ Arbeitsplatzes sei, fanden die meisten (bestenfalls wöchentlichen) Kontakte der Phase A im rein verbalen Setting der Suchtberatungsstelle statt und gingen von den klassischen Konzepten einer Problemanamnese und Motivationsklärung aus.

    Diese Setting-Strukturen hatten Konsequenzen: Im Durchschnitt wurden diejenigen Teilnehmenden, die in oder nach der Phase A bereits wieder aus dem Projekt ausgeschieden sind, knapp vier Monate lang betreut – aus unserer Sicht viel zu viel Lebenszeit für Menschen, die mit einem  Entwicklungswunsch ins Projekt eingetreten waren. Aufgrund der Erfahrungen aus den supervisorischen Praxiswerkstattrunden vermuten wir zudem, dass in diesen Gesprächen mehrheitlich die Suchtproblematik und aktuelle Alltagsprobleme und weniger individuelle Entwicklungssehnsüchte und Hoffnungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt standen. Wir haben es deshalb im zweiten Projektjahr ermöglicht, dass Teilnehmende auch direkt in die Phase B beim Arbeitshilfeträger ins Projekt Su+Ber einsteigen konnten; die für die Projektphase A vorgesehenen Aufgaben konnten dann dort begleitend zu den ersten Arbeitserfahrungen in den ersten drei Wochen bearbeitet und dann nahtlos auch in der ambulanten Suchtreha weitergeführt werden.

    Unterschätzt hatten wir auch einen weiteren Effekt der bereits genannten Skepsis in der ambulanten Suchthilfe gegenüber einem nicht abstinenzgebundenen Suchtreha-Ansatz: An der Mehrzahl der Projektstandorte fanden sich trotz wohlwollender Haltung der PSB-Leitungen nur Fachkräfte für die Mitarbeit im Projekt Su+Ber, die bislang kaum oder gar nicht in Leistungen der ambulanten Suchtreha eingebunden waren. Gleichzeitig fehlte an vielen Standorten aber auch die regelhafte kollegiale Einbindung in das „normale“ Reha-Team. In der Verbindung mit den für alle Beteiligten neuartigen konzeptionellen Anforderungen im Projekt Su+Ber führte dies dazu, dass einige unserer Projektfachkräfte lange Zeit stark verunsichert waren und so die konzeptionellen Entwicklungsräume unserer Reha-Konzeption zunächst kaum für ihre Teilnehmenden nutzen konnten.

    Das Projekt startete aus fördertechnischen Gründen zum Jahresanfang 2016 und damit noch vor dem positiven Ethikvotum zur Evaluationsforschung im Juni 2016. Dies führte – zusammen mit den aufwendigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen, die viele Teilnehmende abschreckten – dazu, dass letztlich nur die Daten von etwa 60 Prozent der tatsächlichen Projekt-Teilnehmenden in die wissenschaftliche Evaluation einbezogen werden konnten.

    „Wir haben die falschen Projekt-Teilnehmenden“

    Rückblickend waren die Austauschrunden der ersten anderthalb Projektjahre neben der Klärung vieler formaler und dokumentationsrelevanter Fragen beherrscht von der Feststellung, dass wir an den meisten Standorten zu wenige und dann auch noch die „falschen“ Teilnehmenden im Projekt hätten, d. h. Personen, die voraussichtlich nicht direkt in den Arbeitsmarkt reintegrierbar wären. Dies fand seine Entsprechung auch in den Ergebnissen unseres prognostischen interinstitutionellen Grobclearings in der Projektphase A: Nur für etwa zehn Prozent der Teilnehmenden wurde von den beteiligten Fachkräften eine gemeinsame positive Prognose abgegeben. Offenbar haben sich in der Wahrnehmung der professionellen Akteure viele statistisch belegte Korrelationen („Vermittlungshemmnisse“, störungsbedingte Leistungseinschränkungen, unzureichende Veränderungsmotivation) als quasi persönliche Eigenschaften zu direkten personalen Zuschreibungen verfestigt und damit verselbständigt („mit diesen Problemen kannst du das doch nicht“). Das gemeinsame Grobclearing wurde so v. a. zum Prüfstein, an dem solche verfestigten individuellen oder institutionellen Zuschreibungen deutlich werden konnten; nach unseren bisherigen Auswertungen haben die prognostischen Einschätzungen dieses Grobclearings nur eine geringe Aussagekraft hinsichtlich des tatsächlich erzielten positiven Projektergebnisses.

    Paradoxerweise wird diese Zuschreibung von Schwächen in der individuellen Betreuungsarbeit oft scheinbar bestätigt durch brüchige und widersprüchliche Selbstkonzepte der Teilnehmenden. Deren eigentlich motivierende Einstellung „Ich will arbeiten, ich brauche das!“ wird regelhaft beeinträchtigt oder blockiert durch die chronifizierte Erfahrung „Ich kann es doch nicht recht machen, ich halte das eh nicht durch“. Vielfältige beschämende Erfahrungen des Scheiterns und unerfüllter Eigen- und Fremderwartungen sind offenbar stärker als einzelne Erfolgserfahrungen. Das Selbstwertgefühl der Menschen als „psychisches Immunsystem“ ist kollabiert. Statt auf Entwicklungskräfte und Alltagskompetenzen zu schauen, konzentrieren sich alle Beteiligten in vermeintlich bester Förder- und Entwicklungsabsicht dann faktisch nur noch auf Schwächen und Defizite, die es durch symptomorientierte Interventionen aufzulösen gelte.

    Fallbezogene Leistungsvernetzung als Weg zu einer gemeinsamen Reha-Verantwortung

    Schon als wir uns in der Projektentwicklung mit den Kriterien des Grobclearings befassten, war uns deutlich, welche fatalen Verstärkungseffekte solche problemorientierten individuellen Prognosen für die „gebrochenen Selbstwirksamkeitserfahrungen“ unserer Teilnehmenden haben (können). Im Projekt Su+Ber haben wir deshalb das Grobclearing als ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Instrument im Rahmen einer konsequenten Leistungsvernetzung konzipiert. Grundsätzlich war demnach eine Projektteilnahme auch dann möglich, wenn nur eine der beteiligten Institutionen eine positive Prognose aussprach. Dieses Instrument der Leistungsvernetzung forderte somit alle Beteiligten zum intensiven Austausch und Abgleich ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen, ihrer Erfahrungen und Bewertungen heraus.

    Dieser weit über eine gewohnte fachliche Kooperation hinausgehende Vernetzungsanspruch in Su+Ber fand im Projektalltag unterschiedliche Akzeptanz. Einzelne Jobcenter sahen sich organisatorisch grundlegend nicht in der Lage, für die Betreuung aller ihrer Teilnehmenden eine konkret verantwortliche Fachkraft zu benennen. Einzelne Fachkräfte zogen sich in diesem Austausch von Sichtweisen und Argumenten immer wieder auf eine übergeordnete Position als Vertreter eines Leistungsträgers zurück. Die breite Mehrheit der Projektbeteiligten erlebte diesen Vernetzungsprozess jedoch als den zentralen fachlichen Gewinn aus der Projektarbeit. Die fallbezogene Verknüpfung persönlicher Sichtweisen, fachlicher Kompetenzen und unterschiedlicher leistungsrechtlicher Perspektiven wurde als Bereicherung erlebt und als Chance, die komplexe Lebenswirklichkeit und die Entwicklungspotentiale der Teilnehmenden umfassender wahrzunehmen und dann auch für die gewünschten Entwicklungsprozesse zu nutzen.

    Im Zuge dieser gemeinsamen Einlassung auf die Teilnehmenden und deren Lebensentscheidungen spürten die Profis oft auch Respekt und Demut: Es wurde für sie erlebbar, dass es bei allen Angeboten einer Teilhabeförderung für Menschen in stark chronifizierten Lebenslagen weniger um die Befähigung zu einer schnellstmöglichen Erreichung irgendwelcher von außen definierter oder verstärkter Ziele gehen sollte, als vielmehr um die Unterstützung einer eigenverantworteten Entwicklung und die Befähigung zu einer individuell spürbar verbesserten Teilhabe. Letztlich muss es um die Förderung einer individuellen Würde gehen, die sich speist aus entwicklungsorientierten Erfahrungen der Selbstwertschätzung und der Selbstwirksamkeit einerseits und der Erfahrung sozialer Wertschätzung und Achtung andererseits.

    Die Feedbacks, die die Profis im Projektverlauf von ihren Teilnehmenden erhielten, machen deutlich, dass eine derart veränderte Betreuungshaltung sehr wohl wahrgenommen und wertgeschätzt wurde: „Ich musste mich mit meinen Schwierigkeiten nicht mehr verstellen, brauchte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen.“ „Die Mitarbeit im Projekt hat mich interessiert, Beikonsum war da kein Thema mehr.“ „Wenn ich eine Aufgabe habe, geht es mir besser.“ „Ich kann etwas, auch so, wie ich derzeit bin.“ Und gleichzeitig machen für mich Rückmeldungen einzelner Projektfachkräfte deutlich, dass dieses gemeinsame Bemühen um einzelne, ganz konkrete Menschen auch zur Verbesserung der eigenen professionellen Identität beigetragen hat.

    Verbesserungsmöglichkeiten für Folgeprojekte

    Zusammenfassend halten wir aufgrund unserer Erfahrungen folgende Ansätze für Verbesserungen bei künftigen vergleichbaren Projekten für grundlegend notwendig:

    • Bei Menschen in chronifiziert teilhabebeeinträchtigten Lebenslagen kann jede suchtrehabilitative Verbesserung der individuellen Lebensqualität soziale und berufliche Krankheitsfolgen und Krankheitsschädigungen reduzieren. Suchtreha-Leistungen dürfen deshalb nicht nur mit dem Ziel einer bestmöglich gesicherten Arbeitsintegration gewährt werden; bei Suchtberatungsstellen sollte zugunsten einer individuell möglichen Teilhabeverbesserung auch für eine bedarfsorientierte Nutzung suchtrehabilitativer Ansätze ohne Abstinenzverpflichtung geworben werden, und es sollten entsprechende Interventionskonzepte entwickelt werden.
    • Damit Menschen unserer Zielgruppen sich angesichts einer Vielzahl von Förderansätzen für ein Konzept unter Einbeziehung spezifischer Suchtreha-Leistungen entscheiden können, müssen motivationale Faktoren (z. B. Mehraufwandsentschädigungen, Zeitperspektiven von Maßnahmen) geschaffen und strukturelle Hemmnisse (z. B. „schädliche Unterbrechung“) bestmöglich beseitigt werden. Gegebenenfalls sollten in enger Abstimmung mit den Jobcentern fallbezogen motivationsstützende Förderalternativen gesucht werden.
    • Für einige Interessenten ist statt einer nur verbalen Klärung und Entwicklungsmotivierung ein frühzeitiger Einstieg in eine Maßnahme der Beschäftigungsförderung motivations- und selbstwertstärkend und ermöglicht gleichzeitig allen Beteiligten konkret sichtbare und ansprechbare Informationen über Belastungsgrenzen und lebensweltliche Hemmfaktoren.
    • Für Langzeitarbeitslose mit Suchtproblemen gibt es nach unserer Erfahrung nur selten nachhaltige und subjektiv befriedigende Arbeitsplätze. Bemühungen um eine berufliche Reintegration sollten deshalb nicht nur an formalen Integrationsdaten orientiert sein, sondern – als Maßnahme einer grundlegenden Teilhabeförderung – gleichgewichtig auch an einer Verbesserung persönlicher Lebensqualität und am Erleben von Selbstwert. Eine solche Teilhabeperspektive sollte von allen Beteiligten akzeptiert sein und an gemeinsam vereinbarten Parametern auch dokumentiert werden. Verbindliche Kooperationspartner bei Jobcentern und Arbeitshilfeträgern erleichtern eine solche gemeinsame Teilhabeperspektive.

    Teilhabeförderung muss sich auch in Ergebniszahlen bewähren

    Jede Form psychosozialer Arbeit und jede Teilhabeförderung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen von der Gesellschaft getragenen Angeboten und individuellen Bedarfen. Somit ist neben allen subjektiv positiven Effekten auch wichtig, wie hoch die Kosteneffizienz und die Zielerreichung eines neuen Projektes ist. Die unzureichende Belegung der zur Verfügung gestellten Plätze im Projekt Su+Ber bedeutet natürlich schon mal eine relativ schlechte Kosteneffizienz. Wir gehen allerdings aufgrund der Verlaufsentwicklung in den drei Projektjahren davon aus, dass bei einer längeren Projektlaufzeit unsere veränderten Strategien der Teilnehmergewinnung und -haltung auch eine deutlich bessere Auslastung ermöglichen könnten.

    Von den 199 Teilnehmenden, die in die Projektphase B gestartet waren, konnten  42 in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit überführt werden. Diese Integrationsquote von insgesamt etwa 21 Prozent entspricht nicht unseren ursprünglichen Hoffnungen bei der Projektkonzeption und zumindest teilweise auch nicht den Erwartungen der beteiligten Jobcenter bzw. der DRV Baden-Württemberg. Zudem waren die Integrationsquoten an den einzelnen Projektstandorten – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation – recht unterschiedlich. Nach unserer Beobachtung spiegeln diese Unterschiede wider, wie intensiv und engagiert sich die Fachleute  der jeweiligen Standorte mit dem Handlungsansatz des Projekts Su+Ber identifiziert und die durch dieses Projekt ermöglichten Handlungsfreiräume auch genutzt haben.

    Es bleibt aber immer noch die Frage, wie eigentlich die Quote von 21 Prozent für die Wiedereingliederung in Arbeit von Menschen unserer Zielgruppen zu bewerten ist bzw. ob nachhaltig wirksamere Maßnahmen für sie konkret zur Verfügung stehen. Es nützt ja wenig, wenn, wie an einem unserer Standorte, nach dem Ende von Su+Ber  zur Sicherung des weiteren Leistungsbezugs der Klientel einfach eine neu benannte Maßnahme aufgelegt wird und die Kunden dann wieder durch eine scheinbar neue Maßnahme geschleust werden. Wir haben uns deshalb in der Analyse unserer Projektarbeit intensiv auseinandergesetzt mit dem Verhältnis von

    • gesellschaftlich geforderten kurzfristigen Ergebniszahlen,
    • den durch SGB IX und das BTHG definierten Anforderungen an eine umfassende Förderung gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe für teilhabebeeinträchtigte Menschen
    • sowie einer subjektiv wahrgenommenen Verbesserung der individuellen Lebenswirklichkeit für die betroffenen Menschen („Lebensqualität“).

    Wir erleben um uns herum eine Praxis der Teilhabeförderung, in der Maßnahmen v. a. nach dem Kriterium kurzfristiger Kosteneinsparung und entlang leistungsrechtlicher Grenzziehungen auf der Basis von Kennzahlen als Verwaltungsakte umgesetzt werden. Dabei werden die betroffenen Menschen zum zu fördernden und zu bewertenden Objekt und letztlich auch zum Störfaktor, weil diese Förderpraxis individuelles Scheitern und kostenträchtige Maßnahmenwiederholungen bei unserer Zielgruppe kaum verringert. Auch wenn wir aufgrund der kurzen  Projektlaufzeit noch keine handfesten Belege liefern können, sind wir nach unseren Erfahrungen aber weiter davon überzeugt, dass – unter Nutzung aller bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen und fachlichen Konzepte – eine konsequent an der Lebenslage der betroffenen Menschen und an ihren Entwicklungssehnsüchten orientierte Förderung/Reha-Maßnahme nicht teurer wäre als die bisherige Praxis, aber für die Teilnehmenden und für die Profis mehr Lebensqualität ermöglichen könnte. Wir brauchen dafür sicherlich neue persönliche Haltungen der Profis, aber wir brauchen auch grundlegende Interventionsansätze, die Handlungsfreiräume schaffen und dazu ermutigen, sich mit den hochkomplexen, natürlich auch widersprüchlichen und biografisch beeinträchtigten „Wirklichkeitskonstruktionen“ von Menschen in chronifizierter sozialer Exklusion auseinanderzusetzen mit dem Ziel einer für sie adäquaten Förderung.

    Was wäre für uns deshalb in einem weiterführenden Projekt wichtig?

    1. Die Praxis von Teilhabeförderung/Behandlung orientiert sich vielfach an linearen Kausalitätsmodellen, denen zufolge einzelne Störungen/Defizite zu Teilhabehemmnissen werden, die behoben werden sollen. Insbesondere die medizinische Suchtreha, die in ihren Anfängen als stationäre Reha ja einen Gegenentwurf zum Lebensalltag der Menschen erlebbar machen wollte, hat die Idee einer rehabilitativen „Befähigung“, die in einem hochspezialisierten Setting effizient vermittelt wird, gefördert. Dieses Modell hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die betroffenen Menschen in der Lage sind, die vermittelten Qualifizierungen/Kompetenzen auch eigenständig und möglichst umfassend in ihren identitätsstiftenden Lebensalltag und ihr Beziehungsnetz zu integrieren. Wenn wir im Kontrast dazu die Alltagsstrukturen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchtproblemen trotz all ihrer Beeinträchtigung auch als Überlebenshilfen sehen, dann wird klar, dass eigenverantwortete radikale Brüche und Veränderungen in diesem Alltag für diese Menschen kaum möglich und selten nachhaltig sind. Wir sind deshalb davon überzeugt davon, dass nachhaltige Teilhabeförderung für diese Zielgruppen nur in alltagsnahen und im Sozialraum verankerten Strukturen gelingen kann, auch um den Preis, dass individuelle Entwicklungen eben oft nur in kleineren Schritten und mit Brüchen möglich sind.
    2. Obwohl die Arbeit der ambulanten Suchthilfe in vielfacher Weise auf eine berufliche Reintegration ausgerichtet ist, versteht sich die Suchtberatung meist nicht als unmittelbar dafür verantwortlicher Akteur. Wenn aber nicht mehr nur die Suchtstörung, sondern deren chronifizierte Einbindung in eine umfassende Lebenslage Grundlage der Hilfen und einer Teilhabeförderung werden soll, dann reicht es nicht, wenn einzelne Fachkräfte in kleinen Projekten sich einem solchen Perspektivenwechsel stellen. In Baden-Württemberg, wo die Kommunen die Hauptfinanziers der Suchtberatung sind, müssen wir vielmehr Land und Kommunen für eine solche gemeinsame Fallverantwortung in der beruflichen Reintegration gewinnen, z. B. indem projektunabhängig die Effekte der Suchtberatung für eine berufliche Reintegration differenziert beobachtet und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden.
    3. Michael Bohne hat in seiner Arbeit sehr anschaulich ausgeführt, wie beschämende Erfahrungen hirnphysiologisch als vorrangige „Gefahreninformation“ abgespeichert werden und in der Folge manches positive Erleben überlagern. In seinen „Big Five der Lösungsblockaden“ beschreibt er Blockaden, die in einem sehr großen Ausmaß auch bei unseren Projekt-Teilnehmenden vorzufinden waren. In der Teilhabeförderung für Menschen in chronifizierten Lebenslagen muss es für uns darum gehen, solche beschämenden Erfahrungen des Scheiterns genauso zu vermeiden wie kurzfristige Erfolgserfahrungen, die die Betroffenen (noch) nicht als Selbstwirksamkeitserfahrung integrieren können, sondern als Glück, Zufall oder als überwiegend externe Unterstützung empfinden (vgl. Sußebach & Willeke, 2019). Wie in jedem guten Management brauchen wir auch für die Teilhabeförderung eine transparente und ehrliche Kultur der Fehlerfreundlichkeit, die Scheitern und Irrtum nicht ausblendet, aber dies als Markierung auf einem eigenverantworteten Entwicklungsweg versteht.
    4. Um solche veränderten Perspektiven plausibel und zu einer effizienten Arbeitsgrundlage werden zu lassen, ist nach unserer Erfahrung eine konsequente fallbezogene Leistungsvernetzung unter der Idee einer gemeinsamen Entwicklungsverantwortung unumgänglich. Bislang legitimiert sich jede Institution über eine abgegrenzte Handlungs- und Leistungsperspektive und wähnt sich in ihrer Abgegrenztheit als wirksamer Partner. Aber erst in einer fallbezogenen Leistungsvernetzung, in der die bestmögliche Förderung gemeinsam in den Blick genommen wird sowie die Möglichkeiten der beteiligten Institutionen und Personen eingefordert und die Grenzen berücksichtigt werden, kann sich eine Teilhabeförderung entwickeln, bei der die Chance auf eine realistische Unterstützung der bestehenden Entwicklungssehnsüchte und -ressourcen der betroffenen Menschen besteht.
    5. Im Projekt Su+Ber haben wir erlebt, wie viel Handlungsenergie im Projekt abgezogen wurde für die Klärung und Einhaltung formalistischer Vorgaben. Wenn Qualität und Effizienz nur noch an formalen Kennwerten gemessen werden, gehen Kreativität und bedarfsorientierte Flexibilität verloren und Entwicklungsförderung verkommt zum Versuch einer Dressur. Entwicklung braucht Zeit, braucht klare, reale Orientierungen, aber auch die Chance zu Irrtümern und Umwegen. In diesem Sinne wünschen wir uns eine Weiterführung von Erfahrungen wie aus unserem Projekt Su+Ber.

    „Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“ (Giovanni Maio, Medizinethiker)

    Weitere Informationen und Berichte aus dem Projekt:
    https://www.werkstatt-paritaet-bw.de/abgeschlossene-projekte/suber-sucht-und-beruf/
    (für die Berichte nach unten scrollen)

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind miteingeschlossen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr
    lesehr@paritaet-bw.de

    Textverweise (die Unterlagen sind über den Verfasser erhältlich):
    • Werkstatt Parität gGmbh: Rahmenkonzeption für eine bei ihrer Arbeitsorientierung leistungsvernetzte ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber. Stuttgart, 12/2016
    • Sara Specht, Karl Lesehr: Das Landes-ESF-Projekt Su+Ber: Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht. Beitrag zu den 24. Suchttherapietagen in Hamburg. 11.06.2019
    • Michael Bohne, Sabine Ebersberger: Synergien nutzen mit PEP. Heidelberg 2019 (Carl Auer-Verlag)
    • Interview mit Michael Bohne zu den Big Five Lösungsblockaden: https://www.youtube.com/watch?v=5i8i7bhGfZw
    • Henning Sußebach, Stefan Willeke: „Die Fee von Fulda“, in: DIE ZEIT 15/2019, 4.4.2019
    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr (70) war 18 Jahre als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er seit 2001 als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und ab 2009 beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der „Fachberatung Sucht“ im von ihm wesentlich initiierten ESF-Projekt Su+Ber hat er in den letzten Jahren noch das Landesprojekt VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung) verantwortet.

  • Das Modell „prospektive Standardkatamnese“ in der ambulanten Rehabilitation Sucht

    Das Modell „prospektive Standardkatamnese“ in der ambulanten Rehabilitation Sucht

    1 Einleitung

    Die ambulante medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker wird in Deutschland schon seit vielen Jahren erfolgreich umgesetzt. Wirksamkeitsnachweise konnten verschiedentlich erbracht werden (Linster & Rückert, 1998, 2000; Walter-Hamann & Wessel, 2015; Lange et al., 2018). Die fachliche Einbindung der ambulanten medizinischen Rehabilitation in das umfassende Leistungsspektrum einer Suchtberatungsstelle hat sich dabei bewährt, weil dadurch eine Behandlungskontinuität sichergestellt wird, die für viele suchtkranke Menschen hilfreich ist.

    Der Baden-Württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation gGmbH (bwlv) ist in Baden-Württemberg der größte Träger sowohl der Suchtkrankenhilfe als auch von Integrationsfachdiensten für schwerbehinderte Menschen. Er hat im Jahre 2005 für alle eigenen ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen die Implementierung einer prospektiven Standardkatamnese in einer neuen Form beschlossen. Diese sieht vor, die Überprüfung des Behandlungserfolgs sowie die Untersuchung von längerfristigen Effekten anhand von Erhebungen zu drei Messzeitpunkten – Beginn und Ende der Behandlung sowie Katamnese – vorzunehmen. Mittlerweile liegen Ergebnisse aus sechs Entlassjahrgängen vor. In diesem Artikel sollen das Modell der prospektiven Standardkatamnese sowie Überlegungen zur Implementierung von Katamnesen vorgestellt werden. Anhand von ausgewählten Ergebnissen zum Erfolg der Implementierung und zu Effekten im Behandlungsverlauf werden mögliche Vorteile des Modells aufgezeigt.

    2 Stichprobe, Untersuchungsdesign und Methoden

    2.1 Stichprobe (Entlassjahrgänge 2007 – 2012)

    Der Beginn der Datenerhebung war im Oktober 2005. Zielgruppe sind alle abrechenbaren Fälle der ambulanten medizinischen Suchtrehabilitation. Die Fälle aus dem Entlassjahrgang 2006 wurden aus der hier betrachteten Stichprobe herausgenommen, weil zu ihnen keine Daten aus dem (damals) neuen Kerndatensatz vorliegen (dieser wurde erst 2007 eingeführt). Die Stichprobe umfasst n=2.032 Fälle. Von n=111 Fällen liegen keine Einverständniserklärungen für die Erhebung mit Fragebögen vor, so dass insgesamt eine Stichprobe von n=1.921 dem Artikel zugrunde liegt. Untersucht wurden somit die Entlassjahrgänge 2007 bis 2012 von insgesamt 20 Einrichtungen.

    Vergleichsweise hoch ist mit einem Drittel (33,9 Prozent) der Frauenanteil bei der ambulanten Entwöhnungsbehandlung. Diese Form der Behandlung ist speziell für Frauen aufgrund der Wohnortnähe und der Behandlungszeiten eine Alternative zur klassischen stationären Entwöhnungs­behandlung, bei der der Frauenanteil 28,7 Prozent (Bachmeier et al., 2018) beträgt. Beim Familienstand fällt auf, dass Männer eher ledig (29,5 vs 19,8 Prozent) und Frauen eher geschieden oder verwitwet sind (30,6 vs 16,7 Prozent). Erwartungsgemäß leben die Rehabilitanden in stabilen Wohnverhältnissen. Die Erwerbsquote ist mit 71,7 Prozent deutlich höher als bei stationären Entwöhnungsbehandlungen (41,4 Prozent, vgl. Bachmeier et al., 2018). Während Männer eher erwerbstätig sind, finden sich in der Gruppe der Frauen eher nicht erwerbstätige Personen (Schülerinnen, Studentinnen, Hausfrauen). Die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist nach Selbstangaben nur bei 8,2 Prozent gefährdet. 67,9 Prozent besitzen zum Zeitpunkt der Aufnahme eine gültige Fahrerlaubnis, bei 25,3 Prozent wurde sie wegen Alkohol oder Drogen entzogen. Das Durchschnittsalter der gesamten Stichprobe beträgt M=46,7 Jahre. 

    2.2 Untersuchungsdesign prospektive Katamnese

    Das „Modell prospektive Katamnese“ sieht drei Messzeitpunkte vor: Beginn und Ende der Behandlung sowie 1-Jahreskatamnese. Im Unterschied zu retrospektiven Katamnesen wird in prospektiven Katamnesen „von Anfang an festgelegt, welche Merkmale zu Beginn, zum Abschluss und im Rahmen der Katamnese erhoben werden sollen“ (DHS, 2019, S. 111).

    Die Datenerhebung erfolgt als schriftliche Befragung der Rehabilitanden und Therapeuten*. Neben Fragen aus dem Kerndatensatz Katamnese (KDS-2) wurden weitere Themenbereiche (z. B. Motivation, Selbstbewusstsein) aufgenommen. Insgesamt kommen fünf Fragebögen zum Einsatz, wobei die Fragen zu den verschiedenen Messzeitpunkten weitgehend identisch sind:

    + Fragebogen zu Beginn der Rehabilitation (Rehabilitand)
    + Fragebogen zu Beginn der Rehabilitation (Therapeut)

    + Fragebogen zum Ende der Rehabilitation (Rehabilitand)
    + Fragebogen zum Ende der Rehabilitation (Therapeut)

    + Fragebogen Kerndatensatz Katamnese (Rehabilitand)

    In jeder Einrichtung wurde ein Dokumentationsbeauftragter geschult, dabei wurden folgende Inhalte vermittelt:

    • Allgemeiner Ablauf
    • Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten der verschiedenen Mitarbeiter(Dokumentationsbeauftragte, Therapeutische Mitarbeiter, Verwaltungsfachkräfte)
    • Zielgruppe
    • Beginn der Datenerhebung
    • Fragebögen
    • Dokumente und Arbeitshilfen
    • Fallbeispiele

    Die Fragebögen zu Beginn der ambulanten Rehabilitation sollen innerhalb der ersten vier Wochen nach der ersten abrechenbaren Stunde von dem Rehabilitanden und dem Therapeuten ausgefüllt werden. Die Fragebögen zum Ende der ambulanten medizinischen Rehabilitation sollen (sowohl von dem Rehabilitanden als auch von dem Therapeuten) in einem Zeitraum von vier Wochen vor dem Behandlungsende (Finanzierungsende) ausgefüllt werden. Bricht der Rehabilitand die Behandlung vorzeitig ab, ist dafür Sorge zu tragen, dass der entsprechende Fragebogen beantwortet wird, um eine positive Selektion zu vermeiden.

    Für 1-Jahreskatamnesen ist eine Schwankungsbreite des Erhebungszeitraums von minus einem Monat bis plus zwei Monaten vorgesehen. Für die katamnestische Erhebung gilt, dass die Rehabilitanden elf Monate nach Finanzierungsende angeschrieben werden sollten. Bei diesem Anschreiben wird ein Fragebogen sowie ein Freiumschlag mit der Adresse der Beratungsstelle beigelegt (Porto zahlt Empfänger). Ist sechs Wochen nach Erstversendung noch keine Katamnese eingetroffen, wird ein erstes Erinnerungsschreiben versandt. Weitere sechs Wochen später wird bei noch nicht eingetroffener Katamnese ein zweites Erinnerungsschreiben mit erneutem Fragebogen und Freiumschlag versandt. Durch die Vergabe einer Fallnummer ist eine anonymisierte Auswertung sichergestellt.

    In Tabelle 1 werden die Rücklaufquoten für den Fragebogen zu Beginn und zum Ende der ambulanten medizinischen Rehabilitation (Rehabilitand) differenziert nach Geschlecht und Diagnose aufgelistet. Die Rücklaufquoten zu Beginn der Behandlung sind befriedigend. Die Rücklaufquoten am Ende der Behandlung verdeutlichen, dass es nicht immer gelungen ist, vorzeitige Beender zum Ausfüllen eines Fragebogens zu bewegen. Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Rücklaufquoten lassen sich nicht erkennen. Die Gruppe der Rehabilitanden mit Hauptdiagnose Opioide hat deutlich niedrigere Rücklaufquoten, was u. a. mit einer schlechteren Haltequote zu erklären ist.

    Tabelle 1: Rücklaufquoten der Fragebögen für Rehabilitanden

    2.3 Auswertungen

    Bei den Auswertungen handelt es sich um deskriptive Darstellungen mit Angaben zu Häufigkeiten, Prozenten sowie Mittelwerten und Standardabweichungen. Darüber hinaus wurden Chi-Quadrat-Tests und für Mittelwertsvergleiche t-Tests durchgeführt. Die Berechnung der Effektstärken erfolgte beim t-Test mit Cohen´s d und beim Chi-Quadrat-Test mit Cramer-V. Als Programm für die Auswertung wurde SPSS Statistics Version 21 verwendet.

    3 Ergebnisse

    3.1 Unterscheiden sich Fälle mit bzw. ohne Einverständniserklärung?

    Die Angaben aus Fragen des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) wurden mit den Angaben aus den Klientenlisten der Implementierungsstudie „gematched“. So konnte untersucht werden, ob sich Fälle mit Einverständniserklärung (n=1.921) von Fällen ohne Einverständniserklärung (n=111) unterscheiden. Bei den meisten Variablen zeigten sich keine Unterschiede zwischen diesen beiden Populationen (z. B. Geschlecht, Hauptdiagnose, Nationalität, Auflagen, Partnerbeziehung, Migrationsstatus, höchster Schulabschluss, höchster Ausbildungsab­schluss, Erwerbs­situation, Wohnsituation, problematische Schulden, ambulante medizinische Rehabilitation in der Vorbehandlung). Bei folgenden Variablen konnten Unterschiede ermittelt werden:

    • Form der Entlassung: Fälle ohne Einverständniserklärung beenden im Verlauf der Behandlung die Therapie eher vorzeitig. Die Abbruchquote durch den Rehabilitanden ist deutlich höher (30,9 vs 10 Prozent; p=.000; Cramer-V=.193).
    • Es gibt deutliche Unterschiede bzgl. der Quoten von Rehabilitanden ohne Einverständniserklärung in den jeweiligen Einrichtungen (range 0 bis 26 Prozent, p = .000, Cramer-V = .286).
    • Fälle ohne Einverständniserklärung haben im Vorfeld mehr Erfahrungen mit der Suchtkrankenhilfe (Jemals zuvor Suchthilfe beansprucht: 77,6 vs 62,7 Prozent, p=002; Cramer-V=.074). Dies zeigt sich z. B. bei den Angaben zu Vorerfahrungen mit stationären Entwöhnungsbehandlungen oder Entgiftungen.
    • Folgerichtig finden sich bei den Fällen ohne Einverständniserklärung mehr Wiederaufnahmen (56,1 vs 45,8 Prozent, p=.045; Cramer-V=.049).
    • Familienstand: Bei den Fällen ohne Einverständniserklärung finden sich eher ledige oder geschiedene Rehabilitanden (p=.048; Cramer-V=.073).

    Zusammengefasst lässt sich unter Berücksichtigung der Effektstärken konstatieren, dass die Fälle ohne Einverständniserklärung mehr Erfahrungen im Hinblick auf suchtspezifische Vorbehandlungen haben und die Therapie eher vorzeitig abbrechen. Der größte Effekt ergibt sich allerdings bei den unterschiedlichen Quoten von Rehabilitanden ohne Einverständniserklärung in den jeweiligen Einrichtungen. Die Vermittlung der Notwendigkeit von Datenerhebungen durch die jeweiligen Therapeuten wird in den Einrichtungen offenbar unterschiedlich gestaltet. In Implementierungsstudien sollte diesem Aspekt besondere Beachtung geschenkt werden.

    3.2 Behandlungsverlauf

    Die Behandlungsdauer liegt im Durchschnitt bei 208 Tagen. Erwähnenswert ist die Dauer der Vorbereitungsphase vor Beginn der ambulanten medizinischen Rehabilitation. Diese beträgt insgesamt knapp vier Monate (M=3,9) und ist durch keine Regelfinanzierung abgedeckt. Bei Rehabilitanden, die illegale Substanzen konsumieren, ist die Vorbereitungsphase im Schnitt ca. einen Monat länger als bei Alkoholkonsumenten. Die Ergebnisse zur Hauptdiagnose zeigen, dass die ambulante medizinische Rehabilitation in der Regel nur bei der Indikation Alkoholabhängigkeit (93,5 Prozent) durchgeführt wird. 85,9 Prozent beenden die Behandlung planmäßig, wobei Geschlechtsunterschiede nicht bedeutsam sind.

    3.2.1 Suchtmittelkonsum   

    Die Entwicklung des Substanzkonsums wurde nach Hauptdiagnosen getrennt ausgewertet. Die nachfolgenden Aussagen beziehen sich nur auf Rehabilitanden mit der Hauptdiagnose Alkohol (für die anderen Diagnosegruppen sind die Fallzahlen zu niedrig).

    Mittels Selbstangaben zum Suchtmittelkonsum wurde zu Beginn und am Ende der Behandlung der Suchtmittel­konsum erfasst. Es wurden nur Fälle ausgewertet, bei denen zu Beginn und am Ende ein Fragebogen vorlag. Es fällt auf, dass bereits zu Beginn der Behandlung 85,3 Prozent der Rehabilitanden abstinent von Alkohol leben (14,5 Prozent kein Konsum in den letzten zwölf Monaten, 70,8 Prozent kein Konsum in den letzten 30 Tagen). Im Verlauf der Behandlung kann die Alkoholabstinenz stabilisiert werden, so dass am Ende der Behandlung 89,7 Prozent abstinent von Alkohol leben (78,1 Prozent kein Alkoholkonsum während der Behandlung, 11,6 Prozent kein Alkoholkonsum in den letzten 30 Tagen). Etwa ein Fünftel der Rehabilitanden (21,9 Prozent) hatte während der Behandlung einen Rückfall mit Alkohol. Substanzen wie Opioide, Kokain, Crack, Amphetamine, Stimulantien, Ecstasy, Halluzinogene sowie flüchtige Lösungsmittel spielen bei Alkohol-Patienten keine Rolle. Bei 6,3 Prozent der Klientel wurde Cannabis in den letzten zwölf Monaten vor der Behandlung konsumiert. Während der Behandlung haben nur zwei Prozent der Rehabilitanden Cannabis konsumiert.

    Eine etwas größere Bedeutung beim Begleitkonsum spielen Barbiturate/Schmerzmittel und Beruhigungsmittel. Da es sich um Selbstangaben handelt, kann nicht geklärt werden, ob es sich dabei zum Teil um Substanzen handelt, die ärztlich verschrieben wurden. Gesondert dargestellt wird der Tabakkonsum. Ein Großteil der Alkohol-Rehabilitanden raucht zu Beginn der Behandlung (fast) täglich (60,8 Prozent). Im Verlaufe der Behandlung gelingt es kaum, das Rauchverhalten positiv zu beeinflussen. Der Anteil der täglichen Raucher (60,1 Prozent) ist nahezu auf dem gleichen Niveau (vgl. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Substanzkonsum zu Beginn und am Ende der Behandlung (Rehabilitanden mit Hauptdiagnose Alkohol; N = 1.309; Daten mit zwei Messzeitpunkten)
    3.2.2 Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen

    In allen Lebensbereichen ergibt sich im Verlauf der Behandlung eine Verbesserung der Zufriedenheit (vgl. Tabelle 3), die jeweils statistisch abgesichert ist (t-Test; p=.000). Bei Betrachtung der Effektstärken zeigen sich die größten Effekte bei der Zufriedenheit in Bezug auf Straftaten (d=0,66). Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass nur ein geringer Anteil der Rehabilitanden (n=71) dieses Item beantwortet hat, weil bei den meisten Rehabilitanden keine Straftaten oder sonstige Delikte vorliegen. Weiterhin verbessern sich bei den Rehabilitanden die Zufriedenheitswerte in Bezug auf den seelischen Zustand (d=0,41), die Alltagsbewältigung (d=0,34) und die Freizeitgestaltung (d=0,32). Die kleinsten Effekte ergeben sich beim Suchtmittelgebrauch (d=0,15), bei der Wohnsituation (d=0,20), bei der Familie (d=0,22) oder bei Freunden und Bekannten (d=0,22). Bei der Entwicklung der Zufriedenheit mit dem Suchtmittelkonsum muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Rehabilitanden bereits zu Behandlungsbeginn sehr gute Zufriedenheitswerte (M=1,86) haben, die vermutlich durch Effekte der Vorbereitungsphase zu erklären sind.

    Tabelle 3: Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen zu Beginn und am Ende der Behandlung
    3.2.3 Veränderungen im intrapsychischen Bereich

    Neben den Fragen des Kerndatensatzes Katamnese (KDS-2) wurden weitere Fragen (nachfolgend kursiv) in die Fragebögen integriert. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. auch Tabelle 4):

    Abstinenzmotivation
    Ich möchte dauerhaft abstinent leben: Die Abstinenzmotivation ist bereits zu Beginn der Behandlung auf einem sehr hohen Niveau und kann im Verlauf der Behandlung weiter stabilisiert werden.

    Akzeptanz der Suchtkrankheit
    Ich kann meine Suchtkrankheit akzeptieren: Insgesamt lässt sich konstatieren, dass es im Rahmen der therapeutischen Arbeit gelingt, bei den Rehabilitanden die Akzeptanz der Suchtkrankheit zu verstärken. Den deutlichsten Effekt gibt es bei Cannabisabhängigen (d=0,55).

    Problembewusstsein
    Ich habe erkannt, dass mein Suchtmittelkonsum in vielen Bereichen meines Lebens zu Problemen geführt hat: Das Problembewusstsein ist bereits zu Beginn der Behandlung sehr ausgeprägt und bleibt auch während der Behandlung weitgehend konstant. Den stärksten Effekt gibt es wiederum bei der Gruppe der Cannabisabhängigen (d=0,30).

    Therapiemotivation
    Frage zu Beginn: Ich bin bereit, mich aktiv in die Therapie einzubringen.
    Frage am Ende: Ich habe mich aktiv in die Therapie eingebracht.
    Die Therapiemotivation, die zu Beginn der Behandlung auf hohem Niveau ist, nimmt im Behandlungsverlauf ab. Während zu Behandlungsbeginn die Therapiemotivation eher überschätzt wurde, gibt es vermutlich zum Behandlungsende eine realistischere Einschätzung.

    Selbstbewusstsein
    Ich halte mich für einen selbstbewussten Menschen: Das Selbstbewusstsein kann im Verlauf der Behandlung gestärkt werden. Zu Behandlungsbeginn gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen dergestalt, dass Frauen weniger Selbstbewusstsein haben. Im Behandlungsverlauf kann aber das Selbstbewusstsein bei den Frauen mehr gestärkt werden als bei den Männern (d=0,40 versus d=0,19).

    Tabelle 4: Intrapsychische Variablen zu Beginn und am Ende der Behandlung

    4 Zusammenfassung, Diskussion und Schlussfolgerungen für die Praxis

    4.1 Erfolgsfaktoren für die Implementierung

    In klassischen Katamnesestudien wird häufig die Situation der Rehabilitanden zum Katamnesezeitpunkt ohne Bezug zur Situation zu Behandlungsbeginn erhoben. Das hier vorgestellte „Modell prospektive Katamnese“ sieht drei Erhebungszeitpunkte vor, so dass Effekte im Behandlungsverlauf erfasst und die Angaben zum Katamnesezeitpunkt mit den vorherigen verglichen werden können. (Inwieweit die Veränderungswerte stabil sind, soll in anderen Artikeln untersucht werden.) Da der Rehabilitand den Fragebogen bereits im Rahmen der Behandlung ausfüllt, können bei etwaigen Rückfragen die Therapeuten behilflich sein. Dadurch wird die compliance erhöht. Im Grunde handelt es sich hier um eine Art Katamneseschulung, die auch von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2019) als Strategie zur Verbesserung der Teilnahme und des Rücklaufs empfohlen wird. Bei der Implementierung von Katamnesen ist es wichtig, die Therapeuten in der Vermittlung des Sinns von Datenerhebungen zu schulen. Darin liegt ein bedeutsamer Erfolgsfaktor. Es konnte gezeigt werden, dass die Bereitschaft der Rehabilitanden zur Teilnahme an Studien nicht so sehr von Variablen der Rehabilitanden abhängt, sondern vielmehr von der Überzeugungskraft der Therapeuten und ihrer Fähigkeit, die Notwendigkeit von Studien zu vermitteln. Zusammenfassend empfiehlt sich bei der Implementierung von Katamnesen ein prospektiver Ansatz mit mehreren Messzeitpunkten sowie eine umfassende Schulung der durchführenden Personen.

    4.2 Effekte im Behandlungsverlauf

    Vor Beginn der ambulanten medizinischen Rehabilitation gibt es in der Beratungsstelle in der Regel eine Vorbereitungsphase ohne Regelfinanzierung zur Förderung der Abstinenz­motivation und der Veränderungs- und Behandlungsbereitschaft. In dieser Phase (ca. vier Monate) werden mit hoher Wahrscheinlichkeit erste therapeutische Effekte erzielt. So leben zu Beginn der ambulanten Rehabilitation bereits einige Rehabilitanden eine gewisse Zeit abstinent von Alkohol (und Drogen), und die Zufriedenheit ist in vielen Lebensbereichen auf einem hohen Niveau. Die Alkoholabstinenz kann während der Behandlung stabilisiert werden, während es beim Tabakkonsum kaum Veränderungen gibt. Es sollte überlegt werden, ob zusätzlich je nach Indikation Tabakentwöhnungskurse auch im Rahmen der ambulanten Rehabilitation angeboten werden. Während der Behandlung zeigen sich bzgl. der Zufriedenheit in verschiedenen Lebensbereichen aus Sicht der Rehabilitanden im psychischen Bereich die größten positiven Effekte. Im Rahmen der ambulanten medizinischen Rehabilitation gelingt es zudem, die Akzeptanz der Suchtkrankheit zu stärken und das Selbstbewusstsein speziell bei den Frauen zu verbessern. Die Effekte im Behandlungsverlauf ergänzen in einem positiven Sinne die Ergebnisse von Katamnesen und helfen bei deren Interpretation.

    4.3 Schlussfolgerungen

    Die ambulante medizinische Rehabilitation wird hauptsächlich bei der Indikation Alkoholabhängigkeit durchgeführt. Erste Ergebnisse bei Konsumenten von illegalen Drogen im Behandlungsverlauf zeigen, dass diese Behandlungsform auch für diese Indikation durchaus eine erfolgreiche Option darstellt. Die Organisation, Durchführung und Auswertung von prospektiven Katamnesen im ambulanten Setting ist sehr aufwändig. Katamnese­erhebungen sollten sich daher auf eine definierte und begrenzte Population (z. B. ambulante medizinische Rehabilitation) beziehen. Prinzipiell sind selbstverständlich auch für weitere Klientengruppen ambulanter Suchthilfeeinrichtungen Katamnesestudien wünschenswert. Diese sollten aber nicht als Standardkatamnese, sondern eher im Rahmen von finanzierten Forschungsprojekten durchgeführt werden.

    *Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Sprachform verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts.

    Kontakt:

    Detlef Weiler
    Baden-Württembergischer Landesverband für Prävention und Rehabilitation gGmbH
    Referat Qualitätsmanagement und Forschung
    Renchtalstraße 14
    77871 Renchen
    Tel. 07843/949-203
    detlef.weiler@bw-lv.de

    Angaben zu den Autoren:

    Detlef Weiler ist Diplom-Psychologe und arbeitet beim Baden-Württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation (bwlv) im Referat Qualitätsmanagement und Forschung. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Institutionen tätig (z. B. Institut für Therapieforschung in München, Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf).
    Dr. Hans Wolfgang Linster war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Jetzt ist er im Ruhestand und dort weiterhin als Lehrbeauftragter tätig.
    Wolfgang Langer, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, ist Leiter der Suchtberatungsstellen Rastatt und Baden-Baden. Seit 1987 ist er als Therapeut und Berater im Bereich Suchtbehandlung tätig.

    Literatur:
    • Bachmeier, R. / Bick-Dresen, S. / Dreckmann, I. / Feindel, H. / Kemmann, D. / Kersting, S. / Kreutler, A. / Lange, N. / Medenwaldt, J. / Mielke, D. / Missel, P. / Premper, V. / Regenbrecht, G. / Sagel, A. / Schneider, B. / Strie, M. / Teigeler, H. / Weissinger, V. (2018). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2015 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 1, 49-65.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) (Hrsg.) (2010). Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe. Stand: 05.10.2010. www.dhs.de
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) (Hrsg.) (2019). Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe 3.0. Stand: 01.01.2019. www.dhs.de
    • Lange, N. / Neeb, K. / Parusel, F. / Missel, P. / Bachmeier, R. / Brenner, R. / Fölsing, S./ Funke, W. / Herder, F. / Kersting, S. / Klein, T. / Kramer, D. / Löhnert, B. / Malz, D. / Medenwaldt, J. / Bick-Dresen, S. / Sagel, A. / Schneider, B. / Steffen, D. / Verstege, R. / Weissinger, V. (2018). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2015 von Ambulanzen für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 1, 87-94.
    • Linster, H.W. & Rückert, D. (1998). Ambulante Behandlung von Abhängigkeitskranken. Ein Beitrag zur Untersuchung der Effektivität ambulanter Entwöhnungsbehandlung von Alkoholikern/innen. Sucht Aktuell, 3+4, 25-30.
    • Linster, H.W. & Rückert, D. (2000). Wirksamkeit ambulanter Entwöhnungsbehandlung abhängigkeitskranker Patientinnen und Patienten. In DHS (Hrsg.). Individuelle Hilfen für Suchtkranke. Früh erkennen, professionell handeln, effektiv integrieren. Schriftenreihe zum Problem der Suchtgefahren, Band 42, 187- 210. Freiburg: Lambertus.
    • Walter- Hamann, R. & Wessel, t (2015). Einführung von Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht – Ausgewählte Ergebnisse der ersten Entlass-Jahrgänge 2011 und 2012. In: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.): DHS Jahrbuch Sucht 2015. Pabst, Lengerich: S. 199-213.
  • Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema

    Stefan Bürkle

    Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:

    • Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
    • Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
    • Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?

    Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.

    Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.

    Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:

    • eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
    • die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
    • eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.

    Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.

    Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung

    Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:

    • Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
    • Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
    • Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?

    Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.

    Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene

    • Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
    • Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
    • Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
    • Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.

    Externe Ansprüche

    • Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
    • Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
    • Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
    • Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
    • Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.

    Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband

    Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“

    Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.

    • Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
    • Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
    • Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
    • Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
    • Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.

    Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.

    Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene

    Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.

    Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik

    Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:

    • Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
    • Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
    • Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
    • Druck zur Arbeitsplatzsicherung
    • Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
    • Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
    • Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter

    Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.

    Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?

    Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).

    • Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
    • Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
    • Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
    • Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
    • Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
    • Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.

    Ambulante Rehabilitation Sucht

    Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:

    • Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
    • Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
    • Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.

    Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.

    Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.

    Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.

    Schlussgedanke

    Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.

    Literatur:
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
    • Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
    • Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
    • Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
    • Sven Precht: Sind wir in unseren Entscheidungen frei?, in: Netzwerk Ethik Heute, https://ethik-heute.org/sind-wir-in-unseren-entscheidungen-frei/ (letzter Zugriff 21.11.2017)
    • Wulff D. Rehfus (Hrsg., 2003): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht

    Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht

    Renate Walter-Hamann
    Dr. Theo Wessel

    Der Deutsche Caritasverband (DCV) und der Gesamtverband für Suchthilfe – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) haben im Jahr 2012 mit der Einführung von Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) begonnen und mittlerweile Ergebnisse aus vier Erhebungsjahrgängen (2013 bis 2016 = Entlassjahrgänge 2011 bis 2014) vorliegen. Im „Jahrbuch Sucht 2015“ (hrsg. v. DHS) sind die Ergebnisse der beiden ersten Entlassjahrgänge 2011 und 2012 dargestellt (S. 199–213). Im Rahmen des verbandsübergreifenden Fachtages „Ergebnisse der Katamnesen Ambulante Rehabilitation Sucht – Wirkungsdialog und daraus abgeleitete Perspektiven“ am 15.11.2016 in Frankfurt am Main wurden die Ergebnisse aller vorliegenden Entlassjahrgänge bei alkoholbezogener Störung (F10, ICD-10) dargestellt. Vorgestellt wurden außerdem Katamnesedaten zur ambulanten Rehabilitation bei Pathologischem Glückspiel (F63, ICD-10) und bei Illegalen Drogen (F11, F12, F14, F15, F16 und F19, ICD-10). In weiteren Tagungsbeiträgen wurden die Ergebnisse einer Umfrage bei den beteiligten Einrichtungen zur Bewertung der Implementierung der Katamnesen ARS dargestellt sowie Sonderauswertungen zu Veränderungen im Erwerbsstatus im Rahmen von ARS. Vorträge zur Bewertung der Katamnesen ARS von einem Leistungsträger (DRV) und aus internationaler Perspektive ergänzten und vertieften die Ergebnisse. Eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung von Vertretern der Leistungsträger VdEK und DRV Schwaben, der beiden Verbände DCV und GVS und des Referenten aus Amsterdam, der die internationale Perspektive vertrat, rundeten den Fachtag ab. Die Resonanz der Teilnehmenden zu diesem Fachtag war außerordentlich positiv.

    Einführung

    Schätzungen aus verschiedenen Quellen weisen auf eine Gesamtzahl von etwa 8.000 Fällen ARS (ohne ambulante Nachsorge) pro Jahr in Deutschland hin. Die Deutsche Rentenversicherung weist 369 anerkannte ambulante Fachstellen aus, die ARS anbieten. Etwa 220 Fachstellen sind in Caritas oder Diakonie organisiert. Von diesen Fachstellen konnten bis zu 95 im Rahmen des Katamnese-Projektes erreicht werden (45 Prozent). Die technische Unterstützung des Projektes erfolgt durch Redline-Data, Ahrensbök (Jens Medenwaldt). Die Ziele des Implementierungsprojektes konnten weitgehend erreicht werden.

    Ergebnisse der Katamnesen ARS aus den Entlassjahrgängen 2011 bis 2014

    In den Jahren 2011 bis 2014 bewegten sich die Fallzahlen ARS zwischen 2.350 und 3.150 pro Jahr. Davon waren etwa 41 Prozent ARS ohne stationäre Beteiligung, 23 Prozent mit stationärer Beteiligung und 36 Prozent ambulante Nachsorge. 80 bis 85 Prozent der Fälle wiesen die Hauptdiagnose Alkohol (F10) auf, sieben bis acht Prozent die Hauptdiagnose Illegale Drogen (F11, F12, F14, F15, F16, F19) und fünf bis sieben Prozent die Hauptdiagnose Pathologisches Glücksspiel (F63). Eine starke Beteiligung am Projekt erfolgte aus den Bundesländern Niedersachsen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen.

    Die ARS weist bei der Diagnose F10 (Alkohol) und einem Rücklauf ab 45 Prozent Abstinenzquoten nach DGSS 4 von 50 bis 54 Prozent für alle im Kalenderjahr Entlassenen auf, wenn keine stationäre Rehabilitationsmaßnahme beteiligt war. Mit stationärer Beteiligung (Kombinationsbehandlungen) liegt die Erfolgsquote bei 43 bis 52 Prozent.

    Die soziodemographischen Merkmale der Rehabilitanden in der ARS ohne stationäre Beteiligung werden deutlich günstiger beschrieben als die der Rehabilitanden in der ARS mit stationärer Beteiligung – mit den entsprechenden unterschiedlichen Auswirkungen auf die Ergebnisqualität. Somit werden verschiedene Zielgruppen erreicht. Insgesamt zeigt sich, dass die indikative Zuweisung der Rehabilitanden zum ambulanten und/oder stationären Setting zielgruppengerecht erfolgt.

    Bewertung der Implementierung von Katamnesen ARS

    Die am Katamnese-Projekt beteiligten Einrichtungen wurden gefragt, wie sie die Implementierung der Katamnesen ARS bewerten. Insgesamt haben sich 56 Einrichtungen an der Umfrage beteiligt, 43 davon haben kontinuierlich zu allen Entlassjahrgängen Daten zur Verfügung gestellt. 80 Prozent geben an, dass die Implementierung von Katamnesen ARS gelungen ist. 68 Prozent benutzen die Ergebnisse als einrichtungsbezogene Auswertung. Insgesamt haben Katamnesen eine hohe Relevanz für die eigene Arbeit (Erfolgskontrollen, Konzeptverbesserungen usw.). 44 Prozent der Umfragebeteiligten wünschen sich auch zukünftig verbandliche Unterstützung bei der Durchführung von Katamnesen (Austausch, Schulungen, Forum usw.).

    Zusatzauswertungen „Illegale Drogen“ und „Pathologisches Glücksspiel“

    In den vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016 gab es 630 ARS-Fälle „Illegale Drogen“, davon waren 65 Prozent ohne und 35 Prozent mit stationärer Beteiligung. Die Hauptdiagnose Cannabis (F12) hat einen Anteil von etwa 40 Prozent, Opioide machen 20 bis 30 Prozent aus und Kokain zwölf bis 14 Prozent.

    Der Anteil Arbeitsloser reduzierte sich bis zum Behandlungsende im Vergleich zum Behandlungsbeginn um sieben bis zwölf Prozent, der Anteil Erwerbstätiger erhöhte sich um acht bis zwölf Prozent. Zum Katamnesezeitpunkt (ein Jahr nach Beendigung ARS) reduzierte sich der Anteil Arbeitsloser nochmals um drei Prozent bei ARS ohne stationäre Beteiligung und um zehn Prozent bei ARS mit stationärer Beteiligung (Kombibehandlung).

    Insgesamt gab es 70 bis 80 Prozent planmäßige Beendigungen der ARS-Maßnahmen. Die Katamnese-Rücklaufquote lag bei etwa 30 Prozent. Bei ARS ohne stationäre Beteiligung war die Rücklaufquote höher und die Abstinenzquote nach DGSS 4 lag bei 38 Prozent. Bei ARS mit stationärer Beteiligung lag die Abstinenzquote nach DGSS 4 bei 30 Prozent. Die Gruppe der „definiert Rückfälligen“ (Nichterreichte) betrug bei ARS ohne stationäre Beteiligung 34 Prozent und bei ARS mit stationärer Beteiligung 37 Prozent.

    In den vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016 gab es 373 ARS-Fälle „Pathologisches Glücksspiel“, davon waren 75 Prozent ohne und 25 Prozent mit stationärer Beteiligung. Auch hier zeigt sich am Behandlungsende eine deutliche Reduktion des Anteils Arbeitsloser von sieben bis zwölf Prozent und eine Zunahme des Anteils Erwerbstätiger von neun bis 13 Prozent.

    Insgesamt gab es auch hier etwa 70 bis 80 Prozent planmäßige Beendigungen der ARS-Maßnahmen. Die Katamnese-Rücklaufquote lag bei acht Prozent. So sind die Fallzahlen zu gering für eine Berechnung der Abstinenzquote bzw. der Veränderungen im Erwerbsstatus zum Katamnesezeitpunkt.

    Veränderungen im Erwerbsstatus: Interferenzstatistische Analysen

    92 Prozent der zu Beginn der ARS Erwerbstätigen verbleiben in der Erwerbstätigkeit, während der ARS-Maßnahme werden acht Prozent arbeitslos. Etwa 25 Prozent der zu Beginn der ARS Arbeitslosen gelangen während der ARS-Maßnahme in Erwerbstätigkeit. Die Merkmale dieser Gruppe: Die Menschen sind jünger, beziehen häufiger ALG I als ALG II, beenden die ARS-Maßnahme regulär, bewerten die ARS-Maßnahme als erfolgreich und sie weisen weniger Vorbehandlungen auf (Entzug). Ihre Alkoholstörung war weniger schwer ausgeprägt und die Dauer der Arbeitslosigkeit war geringer. Etwa zehn Prozent der zu Beginn der ARS-Maßnahme Nichterwerbstätigen sind am Ende der Maßnahme erwerbstätig (Schüler, Studenten).

    Bewertung des Katamnese-Projektes und der Ergebnisse aus Sicht eines Rehabilitationsträgers

    Die vier gängigen Formen der ARS sind: ARS ohne stationäre Beteiligung, ambulante Entlassform zum Ende einer stationären Rehabilitation, Wechsel in die ambulante Rehabilitationsform nach Abschluss der stationären Rehabilitation, ARS als Bestandsform von Kombitherapie (ARS mit stationärer Beteiligung).

    Teilhabeaspekte stehen bei der ARS im Vordergrund, insbesondere gilt es, mit den ICF-Kontextfaktoren des sozialen Feldes des Rehabilitanden zu arbeiten. Zentrale Aufgaben der Teilhabe-Leistungen sind die Verbesserung der Erwerbsfähigkeit und das Erreichen von Erwerbstätigkeit. In diesem Zusammenhang spielen arbeitsbezogene Interventionen während der ARS-Maßnahme eine wichtige Rolle. Ein sozialmedizinischer Jahresverlauf von Rehabilitanden aus dem Jahr 2010 zeigt, dass 90 Prozent der Rehabilitanden im Erwerbsleben verbleiben (59 Prozent lückenlose Rentenversicherungsbeiträge, 31 Prozent lückenhafte Rentenversicherungsbeiträge).

    Die Rehabilitandenbefragung nach Beendigung einer ambulanten Suchtrehabilitation mit 4.287 Beteiligten in den Jahren 2013 bis 2015 zeigt, dass die subjektiv wahrgenommenen Erfolge der Rehabilitationsleistungen auf deutliche Verbesserungen in den Bereichen Gesundheitszustand, Leistungsfähigkeit und kurzzeitige Abstinenz hinweisen. Insgesamt geben 90 Prozent der Beteiligten deutliche Verbesserungen an.

    Etwa die Hälfte der Rehabilitanden gibt an, während der ARS keine Beratung und Hilfe bekommen zu haben, um die Situation am Arbeitsplatz zu erleichtern. 60 Prozent sind zu Beginn der ARS und zum Befragungszeitpunkt bei Behandlungsende voll berufstätig, 24 Prozent sind zum Befragungszeitpunkt arbeitslos. 81 Prozent geben an, dass sich die berufliche Leistungsfähigkeit durch die ARS-Maßnahme deutlich verbessert hat. Für die Zukunft gilt die Empfehlung, bei ARS-Verlängerungsanträgen die therapeutische Unterstützung für eine stabile Erwerbssituation der Rehabilitanden mehr als bisher zu berücksichtigen.

    Die Bewertung von Katamnesen aus internationaler Perspektive

    Seit etwa 30 Jahren gibt es deutsche und internationale Studien zur Bewertung von Wirkungen suchttherapeutischer Maßnahmen. Als evidenzbasierte Faustregel kann angenommen werden, dass nach stationärer oder ambulanter Suchtrehabilitation 50 Prozent der Alkoholabhängigen ein Jahr nach der Behandlung durchgehend alkoholabstinent sind. Amerikanische Studien weisen auf 19 Prozent Einjahresabstinenz hin, im ambulanten Behandlungszweig kommt es im Jahr nach der Behandlung zu etwa 80 Prozent abstinenten Tagen.

    In den Niederlanden zeigte sich in dem Projekt „Resultaten scoren“ (fünf Jahreskohorten 2005 bis 2009 mit insgesamt 15.786 behandelten und 8.326 telefonisch erreichten Klienten) eine Abstinenzrate von 23 Prozent in den letzten 30 Tagen vor dem Befragungszeitpunkt (Schippers, Nabitz, Buisman, 2009). Im Vergleich hat Deutschland eine Abstinenzquote von 75 Prozent in den letzten zwölf Monaten (Katamnesebefragung) bei 693 erreichten Klienten (nach DGSS 3).

    So kann die Suchthilfe in Deutschland, insbesondere im Bereich der ARS, ihre Effektivität mittels Routine-Katamnesen nachweisen. Mehr als 50 Prozent der Klienten sind nach der Therapie abstinent. Im internationalen Vergleich ist das ein herausragendes Ergebnis.

    Strukturelles Monitoring und Benchmarking sind ein Weg zur weiteren Verbesserung von Suchthilfe. Die Katamnese-Methodik kann der Anfang einer europäischen Standardisierung sein. Eine schnelle Rückmeldung der Katamneseergebnisse an die Einrichtungen kann zur Verbesserung der ARS-Maßnahmen führen.

    Podiumsdiskussion

    Die abschließende Podiumsdiskussion verlief sehr lebhaft und informativ. Stichworte aus der Diskussion: ARS hat eine gute Wirksamkeit, Kombitherapien sollten mehr genutzt werden, die berufliche Orientierung in der ARS sollte weiter gestärkt werden, eine Veröffentlichung der Katamneseergebnisse ist weiterhin wichtig, Verlängerungsanträge ARS sind die Regel und nicht die Ausnahme, das ARS-Rahmenkonzept aus 2008 ist überarbeitungsbedürftig, die Katamnese-Durchführung liegt im Interesse der Leistungserbringer, insgesamt steht die ambulante Suchthilfe sehr unter Druck.

    Fazit: Auch zukünftig sollten Fachveranstaltungen dieser Art durchgeführt werden.

    Kontakt:

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.
    Renate Walter-Hamann ist Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe und Leiterin des Referats Basisdienste und besondere Lebenslagen beim Deutschen Caritasverband e.V. in Freiburg.