Der folgende Beitrag ist eine Verschriftlichung des Vortrags, den die Autorin im Rahmen der 34. Niedersächsischen Suchtkonferenz am 28. Oktober 2024 gehalten hat.
Stigmatisierung: Definition und Dynamik
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Stigmatisierung ist ein sozialer Prozess, bei dem Individuen oder Gruppen aufgrund bestimmter Merkmale negativ bewertet und ausgegrenzt werden. Diese Merkmale können physischer, psychischer oder sozialer Natur sein. Betroffene werden auf unerwünschte Eigenschaften reduziert, was ihre gesellschaftliche Teilhabe erheblich beeinträchtigt. Hirschauer (2021) beschreibt Stigmatisierung als eine Form der Humandifferenzierung, die kulturelle Unterscheidungen aufgreift, Personen auf unerwünschte Eigenschaften reduziert und so zu dauerhafter sozialer Ausgrenzung führt. Stigmatisierung fungiert hier als grundlegendes Prinzip sozialer Ordnung, das auf Komplexitätsreduktion und klassifizierenden Zuschreibungen basiert.
Stigmatisierungen sind auch deshalb so stabil, weil Menschen sie für ihre Selbstbeschreibungen annehmen (Selbststigmatisierung). Dadurch verstärkt sich der Stigmatisierungsprozess. Ein zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist das Thomas-Theorem, das besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.“ (Thomas & Thomas, 1928) Dies bedeutet, dass die subjektive Wahrnehmung einer Situation das Verhalten der Menschen beeinflusst und somit reale Konsequenzen nach sich zieht. Ein klassisches Beispiel hierfür aus einem anderen Kontext ist ein Bank-Run: Wenn Menschen glauben, dass eine Bank insolvent ist, werden sie massenhaft ihr Geld abheben, was tatsächlich zur Insolvenz der Bank führen kann, selbst wenn sie zuvor finanziell stabil war. Wenn also Menschen eine Selbststigmatisierung aufbauen und die negativen Zuschreibungen für real und gerechtfertigt halten, verhalten sie sich entsprechend und verstärken damit die Zuschreibungen von außen. Aus psychologischer Perspektive ist daher das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung, das von Merton (1948) eingeführt wurde, eng verbunden mit dem Thomas-Theorem. Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die ihre eigene Erfüllung bewirkt, indem sie das Verhalten der Menschen so beeinflusst, dass die erwarteten Ereignisse eintreten.
Stigmatisierung von Sucht
Die Bewertung eines Verhaltens, das als „unmäßig“ beschrieben wird und in Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen, z. B. Alkohol, steht, ist seit der Antike eng mit gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen verknüpft. In vielen Kulturen wurde ein solches Verhalten als moralisches Versagen oder Charakterfehler angesehen, was zu sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung der Betroffenen führte, z. B. wurden sie als ungeeignet für Verantwortungspositionen eingeschätzt. Diese generalisierende Zuschreibung steht in einem engen Verhältnis mit einem weiteren Konstrukt, das als zentral für menschliches Zusammenleben eingeschätzt wird: Vertrauen. In sozialen Interaktionen ist Vertrauen essenziell. Es bildet die Grundlage für stabile und verlässliche Beziehungen. Hartmann (2020) definiert Vertrauen als das „Akzeptieren einer vulnerablen Position gegenüber einer anderen Person“. Menschen mit einem als unmäßig beurteilten Substanzkonsum, der als Sucht kategorisiert wird oder, wie es heute heißt, als Substanzkonsumstörung, werden oft als unzuverlässig und unberechenbar wahrgenommen. Sie gelten in unsicheren Situationen als „nicht vertrauenswürdig“. Ihnen gegenüber akzeptiert man nicht, in einer vulnerablen Position zu sein, denn es könnte eine Selbstgefährdung bedeuten, auf sie z. B. in der Familie oder am Arbeitsplatz angewiesen zu sein. Insofern haben Menschen, denen ein unmäßiger Konsum unterstellt wird, in sozialer Hinsicht seit der Antike ein Vertrauensproblem.
Sucht und Krankheit
Soziologisch betrachtet wird Krankheit als ein vorübergehender Zustand verstanden, der von gesellschaftlichen Normen abweicht und durch Behandlung gemildert oder geheilt werden kann. Für das Phänomen Sucht entsteht im Rahmen dieser Kategorisierung jedoch eine Herausforderung: Die Klassifizierung als „süchtig“ oder „abhängig“ dient einerseits als Voraussetzung für den Zugang zu Hilfsangeboten. Dahinter steht die wichtige Errungenschaft des Bundessozialgerichtsurteils von 1968, mit dem Sucht als Krankheit anerkannt wurde. Andererseits werden die Betroffenen durch die Klassifizierung mit negativen Zuschreibungen konfrontiert, das bestehende Stigma wird also verstärkt, weil es sich um eine klassifizierende Zuschreibung handelt. Diese Doppelfunktion der Krankheitsklassifikation führt dazu, dass Betroffene zwar Unterstützung erhalten können, gleichzeitig aber damit ihre soziale Ausgrenzung weiter vertiefen.
Schwierige bürokratische Zugänge zu Hilfsangeboten tragen ebenfalls zur Verstärkung des Stigmas bei. Wenn dann noch Hilfeangebote aus Effizienzgründen standardisiert werden, kann dies dazu führen, dass individuelle Lebenslagen und spezifische Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden, was die Wirksamkeit der Hilfsangebote mindert und das Gefühl der Stigmatisierung bei den Betroffenen verstärkt. Die Etikettierung als „süchtig“ kann auch dazu führen, dass Betroffene von ihrem sozialen Umfeld auf ihre Suchtproblematik reduziert werden. Dadurch werden sie in ihren Aussagen und Wahrnehmungen nicht (mehr) ernst genommen und geraten aus systemischer Sicht in die Rolle einer Indexperson , deren Verhalten als zentrale Ursache für Schwierigkeiten in einem System wie z. B. Familie oder Arbeitsplatz gesehen wird.
Rolle der Suchtberatung im sektorenübergreifenden Unterstützungssystem
Teilhabe
Die Tätigkeit der Suchtberatung ist aus sozialarbeiterischer Perspektive eng mit dem Konzept der Teilhabe verknüpft. Suchtberatung ermöglicht Teilhabe. Teilhabe bedeutet, dass Menschen aktiv am sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben auf der Basis ihrer Fähigkeiten teilnehmen können. Diese Teilnahme wird verstanden als eigene Entscheidung aufgrund einer Wahloption und erfolgt unter Einbringen der vorhandenen Fähigkeiten. Für suchterfahrene Personen bedeutet dies: Sie können selbst Angebote zur professionellen Unterstützung auswählen und auf Basis dessen, was sie mitbringen, daran teilnehmen. Vor dem Hintergrund, dass viele Angebote vor allem im medizinischen Kontext an ein Bekenntnis zu einer abstinenten Lebensweise gekoppelt sind, ist es nicht trivial, suchterfahrene Personen die Teilhabe an Hilfsangeboten zu ermöglichen. Sie gelten in medizinischen Kontexten als „schwierige Patienten“. Häufig kommen weitere Erkrankungen auf körperlicher oder psychischer Ebene (z. B. Schmerzen und/oder Depressionen) dazu, welche in Wechselwirkung mit der Suchterkrankung stehen können. Im medizinischen System Hilfe zu erhalten, ist für suchterfahrene Personen nicht selten mit weiteren Ausgrenzungserfahrungen verbunden, sodass Hilfe erst gar nicht gesucht wird. Oft wird die Ausgrenzung auch schon erwartet, und ein vorweggenommenes Abwehrverhalten (sich nicht an Terminabsprachen halten, intoxikiert kommen, latent aggressives Verhalten) trägt zum oben beschriebenen Effekt der Selffulfilling Prophecy bei, was wiederum das gegenseitige Misstrauen erhöht.
Diese Konstellation hat nicht selten zur Folge, dass unbehandelte körperliche oder psychische Erkrankungen sich in Kombination mit dem Konsum weiter verstärken bzw. sich chronifizieren. Die Gesamtsituation kann dann weiter eskalieren, wenn Erwerbsarbeit nicht mehr geleistet werden kann, das Familiensystem die Personen nicht weiter mittragen will oder am Ende der Verlust der Wohnung droht.
Soziale Nothilfe und zieloffene Beratung
Anlass für das Aufsuchen von Suchtberatung ist häufig, dass eine soziale Situation eskaliert ist, z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes droht oder das familiäre Umfeld mit Ausgrenzung gedroht hat (Partner:in will sich trennen, Kinder dürfen nicht mehr besucht werden). Diese Situation wird von den Betroffenen nicht immer sofort mit dem eigenen Konsumverhalten in Zusammenhang gebracht, erleben sie sich doch eher als Getriebene, deren Spielräume immer enger werden. Vor dem Hintergrund der drohenden sozialen Ausschließung ist ein Hauptziel der Suchtberatung wie im „Ankerwirkmodell Suchtberatung“ herausgearbeitet (Ottmann, Hansjürgens, Tranel, 2024) daher zunächst, solche Eskalationsprozesse zu unterbrechen und die Personen in ihrem sozialen Umfeld zu stabilisieren. Dies gelingt z. B. durch Reflexion potenziell eskalierender Situationen und ggf. durch die Einleitung von Soforthilfe, z. B. durch Unterstützung bei der Integration in medizinische Behandlung oder bei der Kontaktaufnahme mit Ämtern, die Transferleistungen kürzen. Hierzu werden die Netzwerke der Beratungsstelle genutzt.
Diese soziale Nothilfe in Verbindung mit dem Reflexionsangebot in Bezug auf das Konsumverhalten ermöglicht es den Betroffenen, aus akuten Krisen herauszutreten und einen klareren Blick auf ihre Situation zu gewinnen. Durch zieloffene Beratung werden dann Wege erarbeitet, wie Betroffene ihre Lebenssituation verbessern, ggf. wieder mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen und damit mehr Kontrolle wiedergewinnen können. Die Zieloffenheit der Beratung stellt einen geschützten Raum dar, in dem Betroffene ihre Herausforderungen offen ansprechen können. Gemeinsam mit Berater:innen können sie Lösungen erarbeiten, die ihren persönlichen Bedürfnissen und ihrer Situation entsprechen. Die Berater:innen zeigen Vertrauen in die Fähigkeit der Klient:innen, selbst zur Verbesserung ihrer Situation beitragen zu können, und ermöglichen damit eine Gegenerfahrung zu anderen sozialen Situationen. Dies wiederum kann das Vertrauen der Klient:innen in sich selbst und professionelle Unterstützung wieder erhöhen.
Ein weiterer zentraler Aspekt der Suchtberatung ist die Förderung selbstverantworteter, auf die Zukunft gerichteter Entscheidungsprozesse. Dazu gehört z. B., dass sich eine Person entscheidet, ob sie die Krankenrolle annehmen und sich in ärztliche oder psychotherapeutische Behandlungen begeben möchte. Diese Entscheidung ist nicht trivial, weil damit Anforderungen an die Person bzgl. ihrer zukünftigen Lebensgestaltung gestellt werden, z. B. die Entscheidung für eine abstinente Lebensform. Diese Entscheidung hat in der Regel wichtige Konsequenzen für das weitere Leben der Klient:innen. Das Für und Wider wird in der Beratung ergebnisoffen abgewogen. Zentral ist, diese Entscheidung als Entscheidung der Klient:innen zu akzeptieren und im Falle einer Entscheidung gegen die Annahme der Krankenrolle auch weiter Beratung und Unterstützung anzubieten, um die Erfahrung der Ausgrenzung nicht zu wiederholen und gewonnenes Vertrauen nicht wieder zu zerstören. In jedem Fall werden die Betroffenen ermutigt, Veränderungsziele zu definieren und diese in ihrem eigenen Tempo mit Unterstützung der Suchtberatung zu verfolgen. Empowerment-Prozesse, die darauf abzielen, das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Lebensbewältigung zu stärken, sind integraler Bestandteil der Arbeit der Suchtberatung. Insofern ist ein Entscheidungsprozess für oder gegen eine medizinische Behandlung zwar ein wichtiger Bestandteil von Suchtberatung, aber auf keinen Fall ihr einziger und wird auch nicht in jeder Beratung angefragt.
Brücken bauen
Darüber hinaus hilft die Suchtberatung, Brücken zwischen den suchterfahrenen Personen und ihrem sozialräumlichen Umfeld zu bauen. Dies geschieht beispielsweise durch die Förderung von Selbsthilfegruppen oder durch die Zusammenarbeit mit anderen sozialen und medizinischen Einrichtungen. Netzwerkarbeit trägt dazu bei, soziale Räume zu schaffen, in denen suchterfahrene Menschen als vollwertige Mitglieder akzeptiert werden und sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können. Dadurch wird Teilhabe nicht nur ermöglicht, sondern aktiv gefördert.
Entstigmatisierende Wirkung der Suchtberatung
Durch die Annahme der Krankenrolle und die Integration in das medizinische Hilfesystem oder durch die aktive Umsetzung von Veränderungswünschen außerhalb des medizinischen Systems können Betroffene wieder Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sich zunehmend wieder als verlässliche Interaktionspartner etablieren und sich für ihr Umfeld wieder als vertrauenswürdig erweisen. Dies gilt auch für die Selbstwahrnehmung und einen Zuwachs an „Selbst-Vertrauen“. In der Folge tragen diese Prozesse mit Blick auf einen gesellschaftlichen Impact zu der Botschaft bei, dass Sucht behandelbar und bewältigbar ist. Indem Menschen durch Selbstreflexion und Unterstützung in die Lage versetzt werden, selbstgewählte Veränderungsprozesse umzusetzen, und ein soziales Umfeld dies auch wahrnehmen kann, wird ein differenzierter Blick auf suchterfahrene Menschen gefördert.
Die Unterstützung durch Suchtberatungen umfasst neben der individuellen Beratung und Begleitung von längeren Veränderungsprozessen auch die Förderung von Selbsthilfeaktivitäten und die Wiedereingliederung in soziale Netzwerke. Die Netzwerkarbeit der Beratungsstellen mit dem regionalen Unterstützungssystem (z. B. mit dem Jugendamt oder dem Jobcenter) trägt dazu bei, differenzierte Perspektiven auf Sucht auch in öffentlichen Räumen zu etablieren und Vertrauen in die Möglichkeit der Überwindung von Abhängigkeitsstörungen zu schaffen. Dies trägt dazu bei, ein generalisiertes Misstrauen abzubauen. Durch den Aufbau von Kooperationen (z. B. zwischen Selbsthilfe und Schulen) entstehen Gelegenheiten, weitere soziale Räume für suchterfahrene Menschen zu öffnen und ihnen die Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu berichten und selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Indem suchterfahrende Personen (zu denen auch das soziale Umfeld gezählt werden kann) ermutigt werden, als authentische und verlässliche Interaktionspartner aufzutreten, wird ein Prozess der gegenseitigen Akzeptanz und damit die (Wieder-) Ermöglichung von Teilhabe gefördert.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Suchtberatungen einen wesentlichen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten. Sie helfen suchterfahrenen Personen und ihrem sozialen Umfeld, gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen. Durch die Unterstützung von selbstverantworteten Entscheidungen insbesondere in der Frage, ob eine suchtmedizinische Behandlung angestrebt wird, tragen sie zur Nachhaltigkeit einer solchen Behandlung bei. Darüber hinaus ermöglicht Netzwerkarbeit in den Sozialraum hinein eine differenziertere Wahrnehmung suchterfahrener Personen. Letzteres geschieht sowohl durch Bildungsarbeit als auch durch konkrete Unterstützungsangebote und die Selbsthilfe. Letztlich stellen Suchtberatungen damit eine Plattform bereit, die es suchterfahrenen Personen ermöglicht, selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Dies kann klassischerweise als ein Beitrag von Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden.
Angaben zur Autorin und Kontakt:
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik
Supervisionsbeauftrage
Sozialarbeiterin M. A. Professional Studies, Clinical Social Worker & Clinical Mentor (ECCSW)
Systemische Beraterin
Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
E-Mail: Hansjuergens(at)ash-berlin.eu
Literatur:
Bartelheimer, P., Behrisch, B., Daßler, H., Dobslaw, G., Henke, J., & Schäfers, M. (2022). Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Wansing, G., Schäfers, M., & Köbsell, S. (Hrsg.): Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, S. 13–34. Wiesbaden: Springer.
Hansjürgens, Rita; Ottmann, Sebastian (2025): Ankerwirkmodell Suchtberatung. Wirkannahmen zur Funktion Suchtberatung in: Soziale Arbeit. Berlin: DZI S. 17-24
DOI: doi.org/10.5771/0490-1606-2025-1-17 (open access)
Hartmann, M. (2020). Vertrauen: Die unsichtbare Macht. Frankfurt am Main: S. Fischer
Hirschauer, S. (2021). Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung. Zeitschrift für Soziologie, 50, 155–174.
Merton, R. K. (1948). The Self-Fulfilling Prophecy. Antioch Review, 8 (2), 193–210.
Thomas, W. I., & Thomas, D. S. (1928). The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: Knopf.
*Der Fachbeirat Statistik der DSHS ist derzeit vertreten durch Rudolf Bachmeier, Heike Timmen, Eva Egartner, Wolfgang Klose, Corinna Mäder-Linke, Anja Mevius, Peter Raiser, Gabriele Sauermann, Iris Otto und Detlef Weiler
Einleitung
2021 hatten laut Epidemiologischem Suchtsurvey (ESA) 8,8 % der erwachsenen Wohnbevölkerung in Deutschland binnen der letzten 12 Monate Cannabis konsumiert, wobei die Konsumprävalenz unter Männern (10,7 %) höher war als unter Frauen (6,8 %) (1). Bei knapp einem Drittel der Konsumenten bzw. knapp einem Viertel der Konsumentinnen wurde das Konsumverhalten als problematisch eingestuft (1). Langfristiger Konsum von Cannabisprodukten begünstigt die Entwicklung von Cannabinoidkonsumstörungen (CUD) (2).
Eine wichtige Anlaufstelle für Menschen mit CUD ist die (ambulante) Suchthilfe. Der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) zu Folge wurden 2023 in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen 26.633 Betreuungen aufgrund von CUD begonnen, wobei etwa 4 von 5 Fällen auf Männer entfielen. Nur im Bereich von Alkoholkonsumstörungen (73.746 Fälle) war das Betreuungsvolumen noch größer (3). Trendanalysen auf Basis der DSHS zeigten, dass sich die Anzahl der Betreuungsfälle aufgrund von CUD seit der Jahrtausendwende verdreifacht hat (2001: 10,1 Fälle pro Einrichtung, 2021: 33,2 Fälle pro Einrichtung), der Frauenanteil unter den Betreuten aber nur minimal gestiegen ist (2001: 15,6 %; 2021: 18,1 %) (4).
Entwicklungen innerhalb der Gesamtheit der Hilfesuchenden mit CUD werden somit stark durch Entwicklungen bei hilfesuchenden Männern geprägt. Ob sich bei weiblichen Hilfesuchenden andere Trends zeigen, soll diese Arbeit beleuchten.
Methodik
Datenquelle
Im Rahmen der vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) werden seit etwa 45 Jahren routinemäßig Daten aus ambulanten Suchthilfeeinrichtungen, stationären Rehabilitationseinrichtungen und Einrichtungen der Sozialen Teilhabe gesammelt und aufbereitet. Unsere Analysen nutzen Daten, die ambulante Suchthilfeeinrichtungen von 2001 bis 2023 für die DSHS zur Verfügung gestellt haben. Die an der DSHS teilnehmenden Einrichtungen spiegeln dabei jedes Jahr etwa 70 % aller ambulanten Suchthilfeeinrichtungen (5-7), wobei die Anzahl und Zusammensetzung des Teilnehmerpools leicht schwankt („offene Kohorte“).
Die Datenerhebung erfolgt nach den bundesweit einheitlichen Standards des Deutschen Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchthilfe (KDS) und umfasst soziodemographische und klinische Daten sowie Informationen zum Versorgungsverlauf samt Ergebnis. Eine detaillierte Auflistung der im KDS erhobenen Variablen und ihrer Ausprägungen findet sich im jährlich aktualisierten zugehörigen Manual (8). Um nationalen und internationalen Bedarfen Rechnung zu tragen, wird der KDS regelmäßig weiterentwickelt, so dass die analysierten Daten auf unterschiedlichen (miteinander kompatiblen) KDS-Versionen beruhen: 2001 – 2006: KDS; 2007 – 2016: neuer KDS 2.0; 2017 – 2023: KDS 3.0.
Die DSHS nutzt keine personenbezogenen Daten, sondern Aggregatdaten: In jeder teilnehmenden Einrichtung werden die Daten fallweise gebündelt und in Form von Pivot-Tabellen aufbereitet. Die entsprechenden Tabellen werden anschließend über alle an der DSHS teilnehmenden Einrichtungen hinweg zu einem einzigen Gesamtdatensatz zusammengefasst. Somit stehen für jeden einzelnen Parameter geschlechts- und Hauptdiagnosebezogene Häufigkeitsverteilungen zu Verfügung (z. B. Anzahl Erstbetreuungen unter Männern mit CUD, Anzahl Betreuungen bei unter 30-jährigen Männern mit CUD), es ist aber nicht möglich, die einzelnen Informationen miteinander zu verknüpfen (z. B. Anzahl Erstbetreuungen bei unter 30-jährigen Männern mit CUD). Aufgrund der fallweisen Dokumentation können konkrete Personen mehrfach in den Datensatz eingehen. Eine ausführlichere Beschreibung der Prozesse innerhalb der DSHS wurde anderweitig publiziert (9). Die Ergebnisse aus den Routineläufen der DSHS sind in Form von Excel-Tabellenbänden öffentlich verfügbar (https://suchthilfestatistik-datendownload.de/Daten/download-CDS-2.html).
Statistische Analyse
Unsere Analysen schließen alle Betreuungszugänge aufgrund von Cannabinoidmissbrauch (ICD10-Diagnose: F12.1) und Cannabinoidabhängigkeit (ICD10-Diagnose F12.2) ein. Die Betreuungen wurden für die einzelnen Jahre getrennt nach (biologischem) Geschlecht aufbereitet und ausgewertet. Um die Relevanz von CUD in der ambulanten Suchthilfe zu spiegeln, haben wir zunächst
den Anteil an CUD-bedingten Betreuungen an allen Betreuungen im Zeitverlauf sowie
die durchschnittliche Anzahl an CUD-bedingten Betreuungen pro Einrichtung
abgebildet. Anschließend wurden Trends hinsichtlich
Alter bei Betreuungszugang (in Jahren),
ausgewählter soziodemographischer Parameter (zusammenlebend mit minderjährigen Kindern, Abitur, Arbeitslosigkeit),
Erstbetreuung (d. h. ohne Vorerfahrung mit der Suchthilfe; ja/nein) und
bei hilfesuchenden Männern und Frauen gegenübergestellt.
Hierfür wurden zunächst Anteilswerte bei Beginn (2001) und Ende (2023) des Beobachtungszeitraums erfasst und mögliche Unterschiede anhand nicht-überlappender 95 %-Konfidenzintervalle (KI) bewertet. Diese Intervalle geben eine Spannweite an, in der der wahre Parameterwert mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt. Sobald sich Konfidenzintervalle überlappen, lässt sich ein Unterschied nicht statistisch nachweisen. Anschließend wurde für alle Variablen der geschlechtsspezifische Gesamttrend über Joinpoint-Analysen (Joinpoint Trend Analysis Software Version 4.9.1.0 (10)) ermittelt. Im Rahmen von Joinpoint-Analysen lassen sich Bruchpunkte in Zeitreihen (sog. Joinpoints (JP)) identifizieren, an denen sich die Trendrichtung oder Trendstärke signifikant verändert (11-13). Für unsere Analysen wurde ein Signifikanzniveau von 5 % gewählt.
Ergebnisse
Relevanz von CUD in der ambulanten Suchthilfe in Deutschland
2001 erfolgten bei Männern 7,7 % [95 %-KI: 6,8 %; 8,6 %] der 40.288 Betreuungszugänge aufgrund von CUD, bei Frauen waren es 5,0 % [3,2 %; 6,8 %] der 11.554 Betreuungszugänge. Bis 2023 hatte sich der entsprechende Anteil bei beiden Geschlechtern in etwa verdreifacht, bei Männern auf 19,8 % [19,3 %; 23,3 %] (von 107.411 Betreuungszugängen) und bei Frauen auf 13,6 % [12,7 %; 14,5 %] (von 39.102 Betreuungszugängen). Damit wurden 2001 in jeder Einrichtung im Mittel 8,5 CUD-bedingte Betreuungen bei Männern durchgeführt, 2023 waren es 23,7. Für Frauen lagen die entsprechenden Werte bei 1,6 und 5,9 (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Relevanz von CUD in der ambulanten Suchthilfe, 2001 – 2023
Alter bei Betreuungsbeginn
2001 lag das Durchschnittsalter der wegen CUD betreuten Männer mit 21,8 Jahren ähnlich hoch wie das der wegen CUD betreuten Frauen mit 21,7 Jahren. Bis 2023 stieg das Durchschnittsalter bei Männern auf 25,9 Jahre und bei Frauen auf 26,4 Jahre. Hierbei wechselten bei beiden Geschlechtern stabile Phasen mit Phasen des Anstiegs (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Durchschnittsalter der wegen CUD betreuten Männer und Frauen, 2001 – 2023
Lebenssituation
2001 teilte einer von 20 wegen CUD betreuten Männern (4,8 %; [1,1 %; 8,4 %]) bzw. eine von 7 wegen CUD betreuten Frauen (14,6 %; [6,6%; 22,5 %]) den Haushalt mit minderjährigen Kindern. Während bei Männern bis 2023 ein beständiger Anstieg auf nahezu das Doppelte des Ausgangswertes zu beobachten war (8,1%; [6,7 %; 9,5 %]), blieb der Anteilswert bei Frauen auf einem im Vergleich dazu signifikant höheren Niveau stabil (16,6 %; [14,0 %; 19,3 %]) (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Mit minderjährigen Kindern zusammenlebende wegen CUD betreute Männer und Frauen, 2001 – 2023
Schulabschluss Abitur
Das (Fach-)Abitur hatte 2001 einer von 20 wegen CUD betreuten Männern (4,5 %; [0,8 %; 8,3 %]) bzw. eine von 14 wegen CUD betreuten Frauen (7,0 %; [0,0%; 15,6 %]). Diese Anteilswerte werden statistisch als vergleichbar eingestuft. 2023 hatten Männer in einem Siebtel der Fälle (13,6 %; [12,1 %; 15,2 %]) und damit häufiger das (Fach-)Abitur als 2001. Bei Frauen lag der entsprechende Anteil bei einem Sechstel (17,7 %; [7,0 %; 28;4 %])wobei statistisch kein Unterschied zu 2001 nachweisbar war. Auch 2023 bestand kein Geschlechtsunterschied hinsichtlich des Anteils mit (Fach)Abitur. Im Beobachtungszeitraum wechselten bei beiden Geschlechtern Anstiegsphasen und stabile Phasen (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: (Fach-)Abitur bei wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023
Erwerbsstatus
Der Anteil an Arbeitslosen unter wegen CUD betreuten Männern war 2001 mit einem Fünftel (20,4 %; [16,0 %; 24,8 %]) ähnlich hoch wie 2023 mit einem Viertel (24,8 % [23,6 %; 26,1 %]). Wegen CUD betreute Frauen waren 2023 in 3 von 10 Fällen arbeitslos (29,7 % [27,2 %; 32,2 %]) und damit signifikant häufiger als 2001, als ein Sechstel arbeitslos war (15,8 % [4,8 %; 26,9 %]). Somit war Arbeitslosigkeit unter Frauen und Männern 2001 ähnlich weit verbreitet, 2023 waren Frauen aber signifikant häufiger arbeitslos als Männer. Nach einem anfänglichen Anstieg ist bei beiden Geschlechtern der Anteil an Arbeitslosen in den letzten etwa 15 Jahren des Beobachtungszeitraums rückläufig (siehe Abbildung 5).
Abbildung 5: Arbeitslosigkeit bei wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023
Erstbetreute
Während 2001 jeweils etwa 4 von 5 wegen CUD betreuten Männern (79,2 %; [77,5 %; 80,9 %]) bzw. Frauen (82,2 % [78,5 %; 85,9 %]) mit der laufenden Betreuung erstmalig in Kontakt zum Suchthilfesystem traten, waren Erstbetreuungen 2023 mit jeweils 5 von 9 Fällen sowohl bei Männern (55,2 % [54,2 %; 56,2 %]) als auch Frauen (58,9 %; [57,0 %; 60,8 %]) signifikant seltener. Nach einem anfänglichen starken Rückgang hat sich der Anteil an Erstbetreuungen bei beiden Geschlechtern ab 2008 bzw. 2009 stabilisiert (siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Erstbetreute unter wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023
Ergebnis bei Betreuungsende
2001 hatte sich die CUD-Problematik bei Betreuungsende bei 4 von 9 Männern (55,2 % [51,0 %; 59,4 %]) verbessert. Bei Frauen lag der Anteil mit etwa der Hälfte der Fälle (51,8 %; [40,1 %; 63,6 %]) ähnlich hoch. 2023 war bei jeweils knapp 2 von 3 betreuten Männern (61,0 % [59,9 %; 62,0 %]) bzw. Frauen (60,6 % [58,5 %; 62,7 %]) eine Verbesserung zu verzeichnen. Bei Männern überstieg dieser Anteil den Ausgangswert signifikant, bei Frauen war er vergleichbar. Der Anteil an Betreuungen, die mit einer verbesserten Suchtproblematik enden, geht bei beiden Geschlechtern nach einem anfänglichen Anstieg seit 2007 leicht zurück (siehe Abbildung 7).
Abbildung 7: Anteil an mit verbesserter Suchtproblematik beendeten Betreuungen unter wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023
Diskussion
Die nach Geschlecht stratifizierten Analysen unterstreichen, dass sich der Anteil CUD-bedingter Betreuungen in der ambulanten Suchthilfe bei Männern wie Frauen von 2001 bis 2023 verdreifacht hat – bei Männern aber von einem deutlich höheren Ausgangsniveau aus. Das Durchschnittsalter der Hilfesuchenden hat sich von Anfang auf Mitte 20 erhöht. Der Anteil an Erstbetreuungen war, nach einem anfänglichen Rückgang, in den letzten 15 Jahren des Beobachtungszeitraums stabil. Zeitgleich sinkt der Anteil an Betreuungen, die mit einer verbesserten CUD-Symptomatik enden – wobei die entsprechenden Anteilswerte bei Männern noch über dem Ausgangsniveau bzw. bei Frauen auf dem Ausgangsniveau liegen. All diese Trendverläufe sind bei Männern und Frauen nahezu deckungsgleich, weswegen die in der Hauptpublikation (4) diskutierten Erklärungsansätze für beide Geschlechter greifen dürften.
Das steigende Durchschnittsalter der Hilfesuchenden könnte damit zusammenhängen, dass auch Cannabiskonsumierende im Mittel älter werden (14). Ein zweiter Erklärungsfaktor dürfte das erhebliche Rückfallrisiko (15) sein, das sich auch im gesunkenen Anteil an Erstbetreuungen spiegelt. Naturgemäß sind Hilfesuchende bei jeder neuen Betreuungsepisode älter als bei der vorhergehenden. Dass Betreuungen seltener mit einer verbesserten CUD-Problematik enden, sollte im Kontext der rückläufigen Erstbetreuungen gesehen werden und nicht als abnehmende Effektivität der Suchthilfe missinterpretiert werden. Menschen, die wiederholt wegen CUD Suchthilfe nachfragen, dürften eine höhere psycho-soziale und medizinische Problemlast haben als Erstbetreute. Die Chance für eine Verbesserung im Zuge der Betreuung dürfte bei komplexeren Fällen geringer sein (16-19).
Zugleich zeigen sich gewisse soziodemographische Unterschiede zwischen den wegen CUD betreuten Männern und Frauen. So leben Frauen durchwegs häufiger mit minderjährigen Kindern zusammen als Männer, obgleich bei Männern diesbezüglich ein gewisser „Aufholeffekt“ zu beobachten ist. Zudem haben hilfesuchende Frauen tendenziell häufiger das (Fach-)Abitur, wobei die „Abiturquote“ bei beiden Geschlechtern im Zeitverlauf steigt. Diese Entwicklungen dürften teilweise durch das steigende Durchschnittsalter miterklärbar sein. Zugleich scheinen ungünstige Arbeitsmarktentwicklungen Frauen eher zu treffen als Männer, da der Anstieg im Anteil an Arbeitslosen bei Frauen stärker bzw. der Rückgang dieses Anteils schwächer ausgeprägt ist als bei Männern.
Eine Einordnung dieser Beobachtungen erscheint aufgrund fehlender Vergleichsstudien herausfordernd: Der Mikrozensus 2019 geht davon aus, dass ein Fünftel der Erwachsenen mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt lebt (20). Unter wegen CUD hilfesuchenden Männern und Frauen ist diese Lebenssituation seltener zu finden. Allerdings ist zu bedenken, dass das Gros der Betreuten jünger als 35 Jahre ist, während der Mikrozensus alle Altersgruppen einschließt. Eventuell befindet sich die hilfesuchende Klientel überwiegend in einer Altersspanne vor der Familiengründung. Vor dem Hintergrund, dass elterliche CUD ein wichtiger Prädiktor für dysfunktionale Erziehungsstrategien und späteren Cannabiskonsum der eigenen Kinder ist (21), sollte der steigende Anteil an Männern, die mit minderjährigen Kindern zusammenleben, in der Betreuungsarbeit aktiv aufgegriffen werden.
Der steigende Anteil an Hilfesuchenden mit Abitur ist im Kontext der steigenden (Fach-)Abiturquote auf Bevölkerungsebene zu sehen. In der Altersgruppe der unter 35-Jährigen haben Frauen häufiger das (Fach-)Abitur als Männer (22), was sich mit der Beobachtung deckt, dass wegen CUD betreute Frauen tendenziell häufiger das (Fach-)Abitur haben als ihre männlichen Pendants. Auch der Trend bezüglich Arbeitslosigkeit in der hilfesuchenden Klientel spiegelt auf höherem Ausgangsniveau weitgehend Entwicklungen auf Bevölkerungsebene. Allerdings ist anders als auf Bevölkerungsebene (23) Arbeitslosigkeit unter betreuten Frauen weiter verbreitet als unter betreuten Männern. Daher sollte gerade in der Betreuung von Frauen die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt gezielt thematisiert werden.
Fazit
Zwar erlauben die Aggregatdaten der DSHS keine Rückschlüsse auf wechselseitige Einflüsse zwischen einzelnen Parametern, dennoch geben sie tragfähig Aufschluss, wie sich die Rolle von CUD in der ambulanten Suchthilfe und das soziodemographische Profil der Hilfesuchenden seit der Jahrtausendwende verändert hat. Hierbei zeigen sich bei Männern und Frauen zwar grundsätzlich ähnliche Entwicklungen, allerdings unterscheidet sich das Ausgangsniveau bzw. die Trendstärke zwischen beiden Geschlechtern. Bei der Interpretation ist zu beachten, dass die Punktschätzer in der weiblichen Klientel bedingt durch kleine Fallzahlen mit vergleichsweise großer Unsicherheit behaftet sind, was den statistischen Nachweis augenscheinlicher Unterschiede erschwert. Da 4 von 5 CUD-bedingten Betreuungen Männer betreffen, stellt sich die Frage, ob bestimmte Themen (z. B. Elternschaft, Arbeitslosigkeit), die für Frauen eine andere Relevanz haben, angemessen adressiert werden. Hier besteht nachgelagerter Forschungsbedarf.
Literatur
Rauschert C, Möckl J, Seitz N-N, Wilms N, Olderbak S, Kraus L. The Use of Psychoactive Substances in Germany: Findings from the Epidemiological Survey of Substance Abuse 2021. Dtsch Arztebl International. 2022;119(31-32):527-34.
Connor JP, Stjepanović D, Le Foll B, Hoch E, Budney AJ, Hall WD. Cannabis use and cannabis use disorder. Nat Rev Dis Primers. 2021;7(1):16.
IFT Institut für Therapieforschung Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. Deutsche Suchthilfestatistik 2023. Alle Bundesländer. Tabellenband für Typ 1: Ambulante Einrichtungen. Bezugsgruppe: Zugänge/Beender ohne Einmalkontakte. 33 %-Lauf. 2024 [Available from: https://www.suchthilfestatistik.de/.
Stampf A, Schwarzkopf L, Batalla A, Feingold D, Fischer B, Hoch E. Cannabis-related treatment demand at the eve of German cannabis legalization – a 20-years trend analysis. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2024.
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PD Dr. Larissa Schwarzkopf
Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
IFT Institut für Therapieforschung
Leopoldstraße 175
80804 München www.ift.de
schwarzkopf(at)ift.de
Angaben zu den Autorinnen:
PD Dr. Larissa Schwarzkopf, IFT Institut für Therapieforschung München, Leiterin der Forschungsgruppe Therapie und Versorgung Alisa Stampf, IFT Institut für Therapieforschung München, Forschungsgruppe Therapie und Versorgung Prof. Dr. Eva Hoch, IFT Institut für Therapieforschung München, Institutsleiterin
Bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung oder einer verhaltensbezogenen Störung findet sich häufig eine „Multiproblemlage“ (z. B. Giersberg et al. 2015). Diese Konstellation erfordert es, Hilfe in verschiedenen Hilfekontexten anzubieten. Dafür stehen in einem konkreten regionalen Sozialraum in der Regel verschiedene Angebote bereit, die in der Lage sind bzw. extra dafür eingerichtet wurden, Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht zu unterstützen (s. Abb. 1).
Abb. 1: Suchthilfebezogene Angebote im kommunalen Raum (eigene Darstellung)
Die in Abb. 1 genannten Unterstützungsangebote sind eine idealtypische Beschreibung. Sie agieren in Bezug auf die oben angesprochenen „Multiproblemlagen“ als (Sucht-)Hilfenetzwerk, zu dem auch die Angebote der Suchtselbsthilfe gehören. Die Fokussierung auf die Substanzkonsumstörung ist dabei mehr oder weniger explizit.
Häufig stellen Angebote mit verschiedenen sozialrechtlichen Kontexten in einem regionalen Suchthilfesystem eine Sonderform für Menschen mit Suchterfahrungen – gemeint sind Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und Beeinträchtigungen sowie ihr soziales Umfeld – dar. Zu den unterschiedlichen sozialrechtlichen Kontexten gehören z. B. der versicherungsrechtliche Leistungsanspruch, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe oder Jobcenter. Diese Vielfalt führt dazu, dass je nach sozialrechtlichem Hintergrund die Logiken und Ressourcen, mit denen Menschen mit Substanzkonsumstörung erreicht werden sollen, recht unterschiedlich sind und dass häufig erstmal ein gemeinsames Fallverständnis konstruiert werden muss, um Unterstützungsleistungen tatsächlich, und nicht nur prinzipiell, zu ermöglichen (vgl. Blankenburg und Hansjürgens 2022) (dies gilt auch für andere Personengruppen mit interprofessionellem Unterstützungsbedarf, z. B. Krebspatient:innen). So besteht z. B. im sozialversicherungsrechtlichen Kontext der medizinisch orientierten Suchthilfe seit 1968 ein Rechtsanspruch auf Behandlung explizit für Personen mit einer Substanzkonsumstörung. Dies gilt jedoch nicht in allen Bereichen. So ist z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe, insbesondere nach der Neuordnung durch das BTHG, der Status von suchterfahrenen Menschen noch nicht in allen Bereichen geklärt und bringt für die unterstützende Organisation, z. B. beim Stellen notwendiger Anträge für die Leistungsgewährung, Unsicherheiten. Der Leistungsanspruch muss hier über ein spezifisches Konstrukt, z. B. Behinderung, begründet werden (vgl. Tranel und Hansjürgens 2022).
Darüber hinaus gibt es weitere professionelle Hilfeangebote, für die zwar kein Antrag nötig ist, deren Mitarbeitende aber Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht nicht immer ohne Misstrauen begegnen (z. B. Jugendhilfe, komplementäre Hilfen, Jobcenter etc.). Nicht zu vergessen sind die Angebote der Selbsthilfe, die einer weiteren Logik folgen, nämlich der der Peer-Unterstützung und Genesungsbegleitung. Hier sind häufig informelle Zugänge und Logiken des Zugangs zu beachten.
Funktion Suchtberatung als zentrale Schnittstelle für Vermittlung
Um in dieser Komplexität eine passgenaue Hilfe für Betroffene und ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, fungiert die Suchtberatung als sektorenübergreifende Schnittstelle. Darin hat sie sich bis heute als unverzichtbar erwiesen (Hansjürgens und Schulte-Derne 2021). Eine ihrer in diesem Zusammenhang als zentral angesehenen Tätigkeiten ist die „Vermittlung“. Diese Vermittlung soll einerseits dazu dienen, passende Hilfeangebote für Personen zu finden bzw. Fehlallokationen (= falsche Zuordnungen) zu vermeiden (Gatekeeperfunktion), andererseits soll sie – bei einer grundsätzlich angenommenen Ambivalenz zur Annahme von Hilfen – die Motivation zur Annahme von Hilfen, insbesondere im medizinischen Kontext (Entzug und medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen), herstellen (Brückenfunktion und Motivierung) (Hansjürgens 2018).
Dass dieses Unterfangen nicht trivial zu sein scheint, zeigt sich in bisher gescheiterten Versuchen, diese „Vermittlung“ aus administrativer Sicht weniger aufwendig zu gestalten, indem sogenannte bürokratische Hürden gesenkt wurden. Konzipiert wurde ein Verfahren mit der Bezeichnung „Direkt- oder Nahtlosvermittlungen“ aus dem medizinischen Sektor (z. B. Arztpraxen oder Krankenhäuser) in die medizinische Rehabilitation. Empirisch untersucht wurde der Versuch, Hausärzt:innen mit Hilfe evidenzbasierter Screening- und Kurzinterventionsverfahren und der Möglichkeit einer Direktvermittlung in stationäre Rehabilitation zu ermutigen, hier aktiver vorzugehen und einen neuen Behandlungspfad zu etablieren (Fankhänel et al. 2014). Dieser Versuch wurde im Rahmen der Studie als grundlegend gescheitert beurteilt (ebd.).
Darüber hinaus zeigt die Deutsche Suchthilfestatistik, dass über alle Substanzen hinweg nur ein Prozent der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation aus ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, und 16,8 Prozent erfolgen aus psychiatrischen Krankenhäusern (möglicherweise aus dem Entzug) (IFT Institut für Therapieforschung 2022b, Tab. 2.11). Demgegenüber wurden aus Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung 54,3 Prozent der Personen, die eine Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen antraten, vermittelt (ebd.).
Diese Datenlage gibt Anlass zu fragen, welche Plausibilitäten die gute Funktionalität der Leistung „Vermittlung“ der Suchtberatung gegenüber anderen Instanzen erklären können. Da Vermittlung in diesem Kontext zu einem weit überwiegenden Teil innerhalb der Leistung „Sucht- und Drogenberatung“ (IFT Institut für Therapieforschung 2022a, Tab. E 6) durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit angeboten wird, soll für den nachfolgenden Plausibilisierungsversuch die handlungstheoretische Perspektive Sozialer Arbeit eingenommen werden.
Vermittlung als sozialarbeiterische Tätigkeit im Kontext von Suchtberatung
Aus der Perspektive von Leistungsträgern wird Vermittlung häufig als formaler administrativer Akt verstanden, bei dem Klient:innen sowohl über prinzipiell zur Verfügung stehende Hilfeangebote informiert werden als auch handlungspraktische Unterstützung beim Erstellen der dafür notwendigen Anträge erhalten. Aus dieser Perspektive ist Vermittlung eine Art „Clearing- und Durchgangsstation“ mit vorbereitendem bzw. zuarbeitendem Charakter auf dem Weg zu einer „eigentlichen Leistung“. Die oben dargestellte empirische Datenlage zeigt jedoch, dass sich die Performanz von Vermittlung in der Suchtberatung allein über diese Sichtweise nicht plausibilisieren lässt. Um etwas handlungstheoretisches Licht in diese Blackbox zu bringen, soll hier eine Perspektivenerweiterung aus sozialarbeiterischer Sicht vorgenommen werden.
Will man die oben beschriebene empirisch sichtbare Performanz von Suchtberatung in Bezug auf Vermittlung in stationäre Rehabilitation besser verstehen – was zu einer Erklärung des Erfolges durch die fachliche Leistung Sozialarbeitender führt –, kommen neben der administrativen Dimension mindestens noch drei weitere Dimensionen dazu (s. Abb. 2):
Abb. 2: Multiperspektivischer Blick auf Vermittlung (eigene Darstellung)
Suchtberatung zeichnet sich demnach durch folgende vier Dimensionen aus:
die administrative Perspektive: Information über bestehende Hilfeangebote, Unterstützung bei Antragstellung
die inhaltliche Perspektive: Themen, die zum Inhalt gemacht und verhandelt werden
die Beziehungsperspektive: das Geschehen zwischen den Akteur:innen (Klient:in und Sozialarbeiter:in)
die theoretische Perspektive: die Frage, wie sich das Geschehen im Rahmen der Vermittlung aus system- bzw. sozialarbeitstheoretischer Sicht erklären lässt
Weiter ist zu fragen, in welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven zueinanderstehen und was dies für die Handlungsebene (Inhalt und Interaktion) einer sozialarbeiterischen Fachkraft bedeuten kann.
Vermittlung als inhaltliches Geschehen
Betrachtet man Vermittlung aus einer inhaltlichen Perspektive, stellt sich die Frage, welche Themen mit welcher Priorisierung verhandelt werden. Zunächst einmal wäre hier – mit Blick auf empirische Rekonstruktionen in der Suchtberatung (Hansjürgens 2014, 2018) und eine darauf Bezug nehmende handlungstheoretische Konzeptionalisierung – die sozialarbeiterische Fallkonstruktion (Hansjürgens 2022) zu nennen. Kernelement dieser Konstruktion ist, dass Klient:innen Raum gegeben wird bzw. gegeben werden sollte, sich und ihre aktuelle Situation klarer wahrzunehmen, zu verstehen und darüber sprechen zu können. Dadurch soll Klient:innen die Erfahrung ermöglicht werden, dass sie sich verständlich machen können und gehört werden. Dies hat häufig den Effekt, dass Klient:innen in einer möglicherweise für sie unübersichtlich gewordenen Situation wieder selbstwirksam agieren und das Gefühl von Kontrolle über Geschehnisse zurückbekommen und sich für Reflexionen öffnen können.
Gleichzeitig werden in diesem erstmal primär auf die Darstellungen der Klient:innen ausgerichteten und manchmal wenig formal geordneten Verständigungsprozess häufig wichtige Detailinformationen gegeben (z. B. in Bezug auf die berufliche Situation, die familiäre Situation, die Wohnsituation). Diese Details mögen zwar in einem als administrativ verstandenen Vermittlungsprozess eine untergeordnete Rolle spielen, sind aber für die Klient:innen persönlich von hoher Bedeutung. Nicht selten geben diese Details wichtige Hinweise darauf, wie ein Angebot gestaltet sein müsste, damit es für den oder die spezifische:n Klient:in annehmbar ist. Darüber hinaus können diese Informationen Erklärungen für eine möglicherweise bisher ambivalente Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von Hilfen liefern. Eine ambivalente Haltung beruht nicht selten auf der oben erwähnten Multiproblemlage (existenzbedrohende materielle und soziale Umstände) und eher weniger darauf, dass der/die Klient:in die Hilfe nicht annehmen will.
Diese prekäre Multiproblemlage drückt sich auch dadurch aus, dass die Klient:innen häufig nur (noch) wenig Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre soziale Situation haben (z. B. Partner:in droht mit Verlassen; Jugendamt, Jobcenter oder Gericht haben eine Suchthilfemaßnahme zur Auflage gemacht; Vermieter:in droht mit Kündigung usw.). Diese sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die eigene soziale Situation deuten neuere Konzeptionen als Mangel an Teilhabe (Bartelheimer et al. 2022, S. 26). Der Konsum psychoaktiver Substanzen wirkt in dieser Situation (genau wie bei psychischen Komorbiditäten) als kurzfristige Entlastung. Mittel- bzw. langfristig jedoch verstärkt sich die mangelnde Teilhabe durch das Konsumverhalten und es entwickelt sich eine Sucht.
Diese Deutung und die Anerkennung, dass die soziale Situation als Belastung und akute Bedrohung erlebt wird, ermöglichen es, eine ambivalente oder ablehnende Haltung als Ausdruck der mangelnden Teilhabe zu verstehen, und nicht als Teil der Krankheit Sucht. Dies verändert die Perspektive auf den Fall insofern, als nicht die Substanzkonsumstörung oder Verhaltenssucht zuerst behandelt werden muss, um Teilhabe zu ermöglichen. Vielmehr kann durch die Erarbeitung von Wahloptionen im Rahmen des Vermittlungsprozesses, die sich auf verschiedene Bereiche und nicht nur auf ein Mitspracherecht bei der Einrichtungswahl beziehen können, erst ein Zugang zu subjektiv bedeutsamen Zielebenen in Bezug auf soziale Teilhabe geschaffen werden. Dies geht über eine Entwicklung von smarten Therapiezielen weit hinaus.
Der Fokus auf die Selbstwahrnehmungen und Priorisierungen der Klient:innen ermöglicht es, die Situation des/der Klient:in noch genauer zu verstehen und im Dialog zu verdeutlichen, welche professionelle Unterstützung (z. B. durch eine Rehabilitation oder eine andere Maßnahme) Teilhabe wieder ermöglichen kann (vgl. Abb. 3). Hier ist es besonders wichtig, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern eine realistische subjektiv bedeutsame Zukunftsvision zu entwickeln, die mit Hilfe professioneller Unterstützung realisiert werden könnte. Empirische Untersuchen zeigen, dass diese Zukunftsvision im Rahmen eines professionellen Prozessbogens Sozialer Arbeit eine zentrale Grundlage für „Motivation“ darstellt (Sommerfeld et al. 2018, S. 79).
Abb. 3: Perspektive auf den Fall aus Sicht Sozialer Arbeit in der Suchtberatung (eigene Darstellung)
Ein weiteres wichtiges Thema auf der inhaltlichen Ebene, das entscheidend ist für eine Passung von Bedarfen, Wünschen und Angebot, ist die Synchronisation von bisheriger Lebensführung und Veränderung. Die Lebensführung von Klient:innen zeigt sich aufgrund der Multiproblemlage und der daraus entstandenen mangelnden Teilhabe oft ressourcenarm und damit wenig flexibel. Klient:innen haben sich an diese häufig lang andauernde Situation gewöhnt und deshalb nicht selten eine wenig flexible, eigensinnig wirkende Haltung entwickelt, die als Widerstand gegen Veränderung oder auch als Überforderung gedeutet werden könnte. Durch die Erzählung des/der Klient:in können sich wichtige Hinweise auf eine für ihn/sie als angemessen erlebte Synchronisation (Timing) ergeben.
Synchronisation bedeutet hier, das richtige Zeitfenster für mögliche Veränderungen zu finden bzw. nicht zu verpassen – nicht nur in Bezug auf das Antrittsdatum einer weiterführenden Maßnahme, sondern auch in Bezug auf Veränderungen in der Lebensführung (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Auszug des/der Partner:in, andere bedeutsame Ereignisse im Leben des/der Klient:in). Synchronisation bedeutet, achtsam zu sein und jedes Mal im Vermittlungsprozess gemeinsam zu überlegen, was die mögliche Veränderung für die Annahme einer weiterführenden Hilfe bedeuten könnte. Grundsätzliche Optionen könnten sein, eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung anzuregen oder ein passives Zuwarten auszuhalten, aber den /die Klient:in im Prozess zu halten. Dies erfordert eine achtsame, verstehensorientierte und geduldige Haltung der beratenden Person und bietet gleichzeitig für Klient:innen die erforderliche Sicherheit, in einer unsicheren Situation nicht aus dem Kontakt zu gehen.
Aus der inhaltlichen Perspektive betrachtet entsteht die Motivierung bzw. die Ermutigung zum Wahrnehmen einer professionellen Unterstützung, z. B. einer Behandlung, dann, wenn für Klient:innen deutlich wird, dass sie in ihrer ganz persönlichen Situation gesehen werden, sich verständlich machen können, eine konkrete, für sie wahrnehmbare Unterstützung in der Bewältigung der aus ihrer Perspektive bedeutsamen Probleme erfahren und tatsächliche Wahlmöglichkeiten erhalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Diskussion einer gemeinsam getroffenen Auswahl von Handlungsoptionen, die aus der Perspektive der Klient:innen machbar erscheinen, wozu auch Bemühungen um ein gutes Timing (Synchronisation) gehören, eine (manchmal sehr langsam) wachsende Zuversicht stärken kann. Dieses Vorgehen sorgt zugleich dafür, dass Teilhabe ermöglicht und erfahren werden kann.
Ein solches partizipatives, dialogisches Vorgehen verlangsamt den Vorgang einer Vermittlung mit zwei Zielen. Das erste Ziel besteht in der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des/der Klient:in bezüglich einer häufig unter äußerem Druck getroffenen Entscheidung. Das zweite Ziel besteht darin, dass der/die Klient:in genug Zeit bekommt, um eine selbstverantwortete gute Wahl in Bezug auf Zeit und Ort einer weiterführenden Hilfe zu treffen. Letzteres erhöht die intrinsische Motivation, weil die eigene bewusst getroffene Entscheidung im Vordergrund steht, und nicht die Erfahrung des Getriebenseins. Zudem schränkt es die Gefahr einer Fehlallokation ein.
Vermittlung als beziehungsorientiertes Geschehen
Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet, geht es im Rahmen von Vermittlung neben inhaltlichen Aspekten auch um Beziehungsaspekte, denn diese lassen sich nur analytisch, aber nicht in der Realität voneinander trennen. Eine Beziehung entwickelt sich immer, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf Einfluss nehmen (wollen) oder nicht. Eine Erfahrung des Scheiterns oder des „Nicht-Funktionierens“ einer Beziehung ist verbunden mit der Entwicklung von Misstrauen. Dies gilt ebenso für Erfahrungen des Überprüft-Werdens (z. B. in der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Maßnahme geeignet scheint), denn Menschen mit einer Substanzkonsumstörung waren solchen Erfahrungen in der Vergangenheit häufig ausgesetzt. Ob dies seine Berechtigung hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn die Erfahrung und Bewertung einer Situation ist davon unabhängig.
Hinzu kommt, wie die Stigma-Forschung aus dem medizinischen und alltagsweltlichen Kontext zeigt, dass Menschen mit einer Substanzkonsumstörung mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird (Schmidt et al. 2022; Schomerus 2011; Schomerus et al. 2010). Auch im Kontext von Familien- und Jugendberatung konnte gezeigt werden, dass die Kommunikation im Zusammenhang mit einem als süchtig konnotierten Verhalten von Jugendlichen durch eine „Hermeneutik des Misstrauens“ (Cleppien 2012) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schilderungen von Personen mit substanzbezogenen Störungen nicht selten als nicht wahrheitsgemäß oder verlässlich gedeutet werden.
Für den Kontext von Vermittlung als beziehungsorientiertem Geschehen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass Klient:innen eher nicht mit einem generalisierten Vertrauen oder mit einer neutralen Einstellung in die vermittelnde Institution, z. B. die Suchtberatung, kommen, sondern eher mit der Erfahrung des Misstrauens – es sei denn, sie hätten z. B. im Rahmen der Organisation oder Institution von Suchthilfe schon einmal vertrauensfördernde Erfahrungen gemacht. Eine misstrauisch bewertete Beziehung hat jedoch die Tendenz, dass sich das Misstrauen der Beteiligten gegenseitig verstärkt, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Misstrauen in der Beziehung hat Auswirkungen auf die Qualität der inhaltlichen Aussagen. Dabei geht es nicht darum, dass Klient:innen bewusst falsche oder unzureichende Angaben machen, sondern darum, dass eine mit Vertrauen bewertete Beziehung sich darin zeigt, dass Klient:innen proaktiv mitarbeiten und benötigte Informationen auch geben (sich öffnen) und nicht zurückhalten oder sich gehemmt fühlen, sie zu geben, wie Arnold (2009, S. 182 f.) in einer Studie im Rahmen von stationärer Jugendhilfe herausgearbeitet hat. Vertrauen oder Misstrauen stellt sich nicht explizit, sondern eher subtil, als „interpersonelle Atmosphäre“ oder „wechselseitige leibliche Resonanz und Affektabstimmung“ her (Fuchs 2015, S. 104). Vertrauen kann also nicht erzwungen oder rationalisiert werden, sondern muss in der Interaktion erfahren werden, sozusagen als Gegenerfahrung zu bisher Erlebtem. Erschwerend kommt hinzu, dass Klient:innen mit einer Substanzkonsumstörung nicht selten unter zusätzlichen Störungen wie z. B. einer komplexen Traumatisierung, einer Borderlinestörung, einer Depression oder Angststörung leiden. Auch dieser Umstand wirkt sich aus, und es kann sich eine eher misstrauische als eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entwickeln.
So wird plausibel, dass der Akt der Vermittlung nicht nur ein rationaler Prozess, ausgehend von objektivierbaren Bedarfen und Hemmnissen, ist, sondern auch zentraler Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2019). Die Unterstützung der Entwicklung in Richtung Vertrauen vor dem Hintergrund einer eher misstrauischen Alltags- und medizinischen/sozialen Fachwelt sowie einer psychischen Beeinträchtigung, die sich ebenfalls auswirkt, kann daher als explizit fachliche Leistung von Sozialarbeitenden beschrieben werden.
Gelingt es den Fachkräften in den Beratungsstellen nicht, das bei den suchterfahrenen Personen in ihrer Vorgeschichte entstandene Misstrauen durch die sog. Beziehungsarbeit im Rahmen von Vermittlung zu wandeln, und entwickelt sich eine eher misstrauische Arbeitsbeziehung, führt dies zur gegenseitigen Ausübung von Macht. Klient:innen üben z. B. Macht aus, indem sie nicht die benötigten Informationen geben, sich nicht motiviert verhalten und letztlich nicht kooperieren, indem sie z. B. nicht zu Terminen erscheinen oder den Kontakt abbrechen. Dieses Verhalten wiederum bestärkt Fachkräfte in ihrer ebenfalls misstrauischen Einstellung gegenüber Klient:innen, sodass letztlich ein gegenseitiges Misstrauen entsteht.
Folglich ist die oben angesprochene Teilhabe (siehe „Vermittlung als inhaltliches Geschehen“) kein ausschließlich normativer Aspekt, der sich administrativ auf ein „Wunsch- und Wahlrecht“ reduzieren ließe, sondern ein funktionaler: Teilhabe (in Form von ermöglichten und reflektierten Wahloptionen) stärkt Vertrauen, Vertrauen fördert Vermittlung. Vertrauensfördernd wirkt, wenn sich Klient:innen und Berater:innen verständigen zu können, wenn sie realistische Möglichkeiten miteinander erarbeiten, wenn ein transparenter Umgang mit administrativen Herausforderungen herrscht, wenn Klient:innen konkrete Unterstützung, Zeit, emotionalen Rückhalt und Sicherheit in Krisenphasen erfahren, wenn ein „Ankommen“ zunächst in der vermittelnden Organisation und dann in der Organisation, in die vermittelt wurde, möglich wird. Misstrauen wird erzeugt durch für Klient:innen intransparente administrative Überprüfungen, personellen Wechsel, unklare Verständigungsprozesse, die Erwartung einer einseitigen Anpassung und durch Versprechungen, die (gefühlt) nicht eingehalten werden. Organisationsinterne Abläufe im Kontext von Vermittlung sollten diesbezüglich reflektiert werden.
Die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens vor dem Hintergrund der häufig durch Misstrauen geprägten Erfahrungen der Klient:innen ist eine wichtige Prämisse dafür, dass sich Klient:innen auf unbekanntes Terrain begeben, dass sie sich für professionelle Unterstützung entscheiden und der Übergang in eine andere oder erweiterte Hilfeform gelingen kann.
Vermittlung aus system- und sozialarbeitstheoretischer Perspektive
In einer empirischen Untersuchung beschreiben Sommerfeld et al. (2011) die Integration von Klient:innen in eine stationäre (psychiatrische) Einrichtung und auch das Heraustreten aus dieser zurück in das „normale“ Leben aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Phasenübergang“ zwischen zwei sozialen Ordnungen. Weiter konzipieren sie aus einer sozialarbeitstheoretischen Perspektive die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext als Begleitung und Unterstützung eines solchen Phasenübergangs. Sie konnten empirisch zeigen, dass in Fällen, in denen es gelingt, diese Übergänge gut durch eine Fachkraft zu begleiten, Veränderungsprozesse von Klient:innen stabilisiert werden und daher besser gelingen können. Dieser Effekt erklärt sich dadurch, dass Phasenübergänge viel Energie benötigen und die Menschen im Vorfeld und auch noch einige Zeit nach dem erfolgten Übergang besonders krisenanfällig sind. Die Krisenanfälligkeit nach dem Übergang kann dazu führen, dass Menschen in alte Verhaltensweisen „zurückfallen“, was gerade im Kontext einer Suchterkrankung ein bekanntes Phänomen nicht nur in Bezug auf den Konsum darstellt.
Weiter konnten die Forschenden beobachten, dass sich Krisen im Zusammenhang mit Phasenübergängen ankündigen und auch noch nach dem erfolgten Übergang, den sie als „Sprung“ bezeichnen, eine Weile beobachtbar sind, z. B. durch stärkere Unruhe und Erregungszustand der Patient:innen. Gerade in der Phase des Übergangs entscheidet sich, ob die anvisierten Veränderungen auch unter anderen Kontextbedingungen aufrechterhalten werden können. Dieses Phänomen des Phasenübergangs ist aus posttherapeutischen Kontexten bekannt und wird in Suchtberatungsstellen strukturell durch z. B. Nachsorge aufgefangen. Neu wäre, diese theoretischen Erkenntnisse auch für eine prätherapeutische oder sonst wie geartete Veränderung im Rahmen von Vermittlung zu nutzen und konzeptionell einzubinden.
Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive kann Vermittlung als Ermöglichung von Teilhabe an professionellen Hilfen betrachtet werden (Sommerfeld et al. 2016), die spezifische Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Erst dadurch, dass Klient:innen in einer für sie schwierigen Lage zunächst stabilisiert werden, um weitere Eskalationen zu verhindern, und dann auf eine Neujustierung ihrer psychosozialen und manchmal auch biologischen Situation (falls schon irreparable Schäden eingetreten sind) vorbereitet werden, können suchttherapeutische Hilfen wirken. Hierfür muss es gelingen, dass Klient:innen wieder Vertrauen in die Hilfe, aber auch in sich selbst, gewinnen und eine Idee davon entwickelt haben, was die Zukunft für sie bereithalten könnte, wenn sie sich auf das Angebot einlassen. Bei Menschen mit noch starken Ressourcen gelingt dies einfacher. Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben schon sehr eingeschränkt ist, brauchen dafür mehr und intensivere Unterstützung durch Sozialarbeitende in der Suchtberatung.
Konzeptionelle und praktische Implikationen
Phasenübergänge sind eine krisenanfällig Zeit und erfordern bei den Klient:innen viel Energie, um den „Sprung“ in eine neue soziale Ordnung zu vollziehen und diese auch aufrechtzuerhalten. Daher sollten diese Übergänge schon im Vorfeld engmaschig beobachtet und so lange begleitet werden, bis sich ein neues Ordnungsmuster (z. B. in einer suchtbezogenen Hilfe ankommen und diese nutzen) stabil etabliert hat. Vermittelt werden kann in verschiedenste professionelle Unterstützungsangebote und in Selbsthilfe. Damit Vermittlung erfolgreich ist, kann es notwendig werden, Klient:innen im Vorfeld der Nutzung weitergehender Unterstützungsmaßnahmen zu stabilisieren und auch ggf. Verhaltensänderungen zu erarbeiten, die notwendig sind, um dort „ankommen“ zu können (z. B. Termine verlässlich wahrnehmen, Konsum kontrollieren / Abstinenz einhalten). Die beidseitige Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung spielt dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus werden im Rahmen von Vermittlung zentrale inhaltliche Daten generiert, die es erst ermöglichen, dass eine weitergehende Maßnahme personenzentriert dialogisch mit dem / der Klient:in ausgewählt werden kann und somit Fehlallokationen mindestens eingeschränkt werden können.
Auf der inhaltlichen Verfahrensebene bieten Instrumente sozialer Diagnostik erste Möglichkeiten eines angeleiteten (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Situation (Hansjürgens 2020). Die in diesem Zusammenhang gemeinsam erhobenen Daten liefern wichtige Informationen für Therapieplanung und können auch in die administrativ vorgegebenen Formulare eingespeist werden. Mit diesen Informationen kann eine Übergangssituation so gestaltet werden, dass Klient:innen in weiterführenden Hilfen „ankommen“ können: Sie erfahren, dass dort inhaltlich an bereits Berichtetes angeknüpft wird und nicht „alles von vorn“ beginnt. Zentral ist auch hier, Klient:innen echte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Form und Ort der Behandlung zu lassen, ohne dass ihre Entscheidung von Leistungsträgern aufgrund ökonomischer Aspekte in Frage gestellt werden kann.
Sollten sich die äußeren Umstände so gestalten, dass tatsächlich Eile bei der Vermittlung in Rehabilitation geboten ist, z. B. aufgrund drohender Wohnungslosigkeit oder drohender Entlassung aus dem geschützten Setting eines Entzugs in eine unklare Situation, kann der Sozialbericht und die gezielte Nutzung seiner Kategorien eine Strukturhilfe für die Umsetzung der inhaltlichen Perspektive darstellen und den oben beschriebenen Prozess beschleunigen. Gleichzeitig werden so die formal-administrativen Anforderungen erfüllt, da der Bericht eine Voraussetzung für die Hilfegewährung ist.
Bedeutsam ist aber auch hier, dass der Sozialbericht nicht ausschließlich als Formular zu begreifen ist, sondern auch unter Druck versucht werden sollte, die Beziehungs- und Reflexionspotenziale der dort angegebenen Kategorien im Gespräch zu nutzen. In der Praxis hat es sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, im Rahmen fallübergreifender Netzwerkarbeit im sozialen Raum „kurze Wege“ zu schaffen, um im Krisenmodus agieren zu können und Klient:innen die (erneute) Erfahrung eines Scheiterns an strukturellen Barrieren zu ersparen.
Vermittlung sollte als fachliche, qualitativ aufwendige, beziehungsorientierte Tätigkeit Sozialarbeitender innerhalb der Funktion Suchtberatung betrachtet werden und nicht als vorrangig administratives Geschehen. Dies sollte in den Ressourcenplanungen und im Erfolgscontrolling mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte implizites Wissen der Fachkräfte zu der erfolgreichen Vermittlungsarbeit wissenschaftlich gebündelt und systematisiert werden. Dabei können für komplexe Vermittlungsprozesse auch bereits erprobte Mittel wie z. B. ein instrumentengesteuertes, digital unterstütztes Realtime Monitoring, wie es im benannten Forschungsprojekt (Sommerfeld et al. 2011), aber auch im Kontext sozialer Diagnostik, zum Einsatz gekommen ist (Calzaferri 2020), eingesetzt werden. Entsprechende Infrastruktur und ein entsprechendes fachliches Können im Kontext Sozialer Arbeit in der Suchtberatung wären aufzubauen.
Anmerkung der Autorin: Für wichtige inhaltliche Hinweise danke ich Katrin Blankenburg sehr herzlich.
Kontakt:
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Alice Salomon-Hochschule Berlin
hansjuergens(at)ash-berlin.eu
Angaben zur Autorin:
Prof. Dr. Rita Hansjürgens ist Inhaberin der Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon-Hochschule in Berlin.
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Hansjürgens, Rita; Schulte-Derne, Frank (2021): Suchtberatungsstellen heute. Gemischtwarenladen oder funktional differenzierte Hilfe aus einer Hand? Lengerich: Pabst Science Publishers (Jahrbuch Sucht, 2021).
IFT Institut für Therapieforschung (2022a): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für ambulante Beratungs- oder Behandlungsstellen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
IFT Institut für Therapieforschung (2022b): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
Schmidt, Hannah; Koschinowski, Julie; Bischof, Gallus; Schomerus, Georg; Borgwardt, Stefan; Rumpf, Hans-Jürgen (2022): Einstellungen von Medizinstudierenden gegenüber alkoholbezogenen Störungen: Abhängig von der angestrebten medizinischen Fachrichtung? In: Psychiatrische Praxis 49(08): S. 428-435. DOI: 10.1055/a-1690-5902.
Schomerus, Georg (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? In: Psychiatrische Praxis 38 (03), S. 109-110. DOI: 10.1055/s-0030-1266094.
Schomerus, Georg; Holzinger, Anita; Matschinger, Herbert; Lucht, Michael; Angermeyer, Matthias C. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. In: Psychiatrische Praxis 37 (3), S. 111–118. DOI: 10.1055/s-0029-1223438.
Sommerfeld, Peter; Dällenbach, Regula; Rüegger, Cornelia (2016): Klinische Soziale Arbeit und Psychiatrie. Entwicklungslinien einer handlungstheoretischen Wissensbasis. Wiesbaden: Springer.
Sommerfeld, Peter; Hollenstein, Lea; Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
Sommerfeld, Peter; Solèr, Maria; Süsstrunk, Simon (2018): Lebensverlauf, Kontext, Zeit und Wirkung sozialarbeiterischer Intervention. DOI: 10.5169/seals-855350.
Tranel, Martina; Hansjürgens, Rita (2022): Ermöglichungsraum für soziale Teilhabe und Gesundheit für Menschen mit chronischer Suchterkrankung. In: Sozialmagazin Heft 01-02, S. 33–40.
Der Beitrag von Daniel Zeis über die Zukunft der Suchtberatung, der auf KONTUREN online am 7. Februar 2023 publiziert wurde, greift ein sehr wichtiges Thema auf. Grundsätzlich kann man den Kernaussagen des Textes nicht widersprechen: Suchtberatung ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge und als solche muss diese Leistung angemessen finanziert werden. Dass die Wirklichkeit in vielen Städten und Landkreisen anders aussieht und dass die Lage nicht besser wird, braucht nicht diskutiert zu werden. Aus meiner Sicht hat das Vergabebrecht für die Suchtberatung aber nicht nur negative Auswirkungen bzw. eine Verschärfung der Probleme zur Folge. Es bedarf einer differenzierteren Analyse, um sinnvolle Handlungsoptionen für die Absicherung der Suchtberatung in den kommenden Jahren entwickeln zu können.
Leistungsanbieter haben meistens die schlechtere Verhandlungsposition
Im Netzwerk des Therapiehilfeverbundes arbeiten in vier norddeutschen Bundesländern rund 30 Suchtberatungsstellen, und wir haben im Hinblick auf die Finanzierung dieser Leistungsangebote in den letzten Jahren viele und teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vertragsverhandlungen und Ausschreibungsverfahren gemacht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die „Gesetzte des Quasi-Marktes“ im Bereich sozialer Dienstleistungen für uns als Leistungsanbieter meistens nicht einfach sind und wir einem Monopolisten oder einem „Nachfrage-Oligopol“ gegenüberstehen. Das ist aber nicht nur bei der Suchtberatung so, auch in der medizinischen Reha, in der Akutbehandlung, in der Eingliederungshilfe oder in der Kinder- und Jugendhilfe sind wir in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis. Dabei spielt es i. d. R. keine Rolle, ob der Leistungsanbieter frei-gemeinnützig oder privatwirtschaftlich organisiert ist, die Zuwendungsgeber bzw. Kosten- und Leistungsträger haben eigentlich immer die stärkere Verhandlungsposition. Es gibt zwar vereinzelt normative Rahmenbedingungen, die so etwas wie „Augenhöhe“ bei Verhandlungen schaffen sollen (bspw. die Möglichkeit der Einschaltung von Schiedsstellen), aber mit Blick auf die Machtverteilung und Abhängigkeiten muss es wohlüberlegt sein, ob man solche Möglichkeiten nutzen will.
Diesen Zustand kann man beklagen, und es ist auf jeden Fall sinnvoll, an Verbesserungen der Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die laufenden Verhandlungen der Reha-Verbände mit der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit der notwendigen Neuregelung des „Reha-Marktes“ zeigen, dass das sehr mühsam ist und viel Geduld erfordert. Aber wenn man in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft unternehmerisch verantwortlich ist, dann muss man sich über die Spielregeln im Klaren sein. Auch wenn unser Verhandlungsspielraum nicht sehr groß ist, so gibt es doch viele Möglichkeiten, ihn intelligent nutzen.
Rahmenbedingungen haben sich deutlich verändert
Im Bereich der Suchtberatung und niedrigschwelligen Suchtarbeit ist es in der Tat so, dass sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Langfristige oder gar unbefristete Verträge sind selten geworden und die Finanzmittel für die kommunale Förderung bzw. Zuwendung sind knapper geworden. Das führt zu Veränderungsdruck bei den Leistungserbringern, den spüren wir auch in den Suchtberatungsstellen des Therapiehilfeverbundes. Der Hintergrund für diese Entwicklungen ist auch allgemein bekannt:
Zum einen wird die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwieriger, wenn auch mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden. Dass Suchthilfe eher nach Kassenlage und nicht nach den Bedarfen organisiert und finanziert wird, ist ungeheuerlich, und wir bemühen uns über die Suchtverbände um Einflussnahme auf die entsprechenden sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen.
Zum anderen werden in nahezu allen öffentlichen Bereichen die staatlichen Auftraggeber dazu aufgefordert, wirtschaftlich mit Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen umzugehen. Das kann aus meiner Sicht nur begrüßt werden, denn Deutschland steht leider nicht ganz so gut da im Ranking von „Transparency International“ (2021 auf Platz 10). Öffentliche Vergabeverfahren sollen so transparent wie möglich sein, und dabei sind Ausschreibungen eine von mehreren Optionen.
Diskussion der Umfrageergebnisse
Ein Ergebnis der Umfrage von Daniel Zeis ist, dass 17,5 Prozent der Beratungsstellen, die geantwortet haben, sich bereits an Ausschreibungen beteiligt haben. Das ist eine interessante Zahl, ich hätte einen deutlich höheren Anteil erwartet, denn der o. g. Handlungsdruck im Hinblick auf Transparenz und Wirtschaftlichkeit ist nach meiner Erfahrung hoch. Ich finde nicht, dass man hier von einem quantitativ großen Problem sprechen kann. Im Übrigen würde mich interessieren, wie viele der über 1.000 Suchtberatungsstellen in Deutschland an der Umfrage teilgenommen haben.
Außerdem finde ich es schwierig, eine qualitative Bewertung zu diesem Thema vorzunehmen, indem man nur eine beteiligte Seite befragt. Ich fühle mich ein wenig an den Spruch erinnert „Wenn man den Sumpf austrocknen will, sollte man nicht die Frösche fragen“. Aber bleiben wir sachlich: Dass Ausschreibungsverfahren für alle Beteiligten aufwendig sind und nicht automatisch zu den besten Ergebnissen führen, kann als gesichert angesehen werden. Aber die von Daniel Zeis aufgeführten Gründe, warum Ausschreibungen grundsätzlich ungeeignet für den Bereich der Suchtberatung sein sollen, sind aus meiner Sicht nicht zwingend. Wie so oft ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern es gibt Graubereich, die man sich genauer anschauen sollte, wenn man gute Lösungen finden will.
Dazu möchte ich nur einige Aspekte exemplarisch aufführen:
In den mir bekannten Ausschreibungen waren Merkmale wie „bestehende regionale Vernetzung“ oder „nachgewiesene Erfahrungen mit den Zielgruppen“ wesentliche Bewertungskriterien, d. h., neue Bewerber ohne diese qualitativen Merkmale haben weniger Erfolgschancen als etablierte Leistungsanbieter.
Für diese etablierten Leistungsanbieter entsteht aber die Notwendigkeit, das eigene Leistungsspektrum und die Finanzstruktur im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zu hinterfragen. Das kann durchaus zu positiven konzeptionellen Entwicklungen, der Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Veränderung von ineffizienten Organisationsstrukturen führen.
Eingespielte Kooperationsstrukturen bei der Erbringung von Leistungen der Suchthilfe in einer Region könnten sicherlich Vorteile haben. Institutionen und Personen sind einander bekannt, Vertrauen und Verlässlichkeit können über Jahre wachsen, und das erleichtert i. d. R. die Zusammenarbeit. Doch gleichzeitig kann dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit entstehen, die die Innovationsfähigkeit im Hinblick auf fachliche Entwicklungen oder Strukturen und Prozesse behindert.
Man wird im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens versuchen, Kontakt zu potenziellen Mitbewerbern aufzunehmen. Ich finde es eher förderlich, sich mal anzuschauen, „wie es andere machen würden“, das kann man auch als sportliche Herausforderung sehen. Ich glaube fest daran, dass Wettbewerb jedes Geschäft belebt, auch das soziale!
Auch wenn es eigentlich nicht sein soll: Man wird auch versuchen, beim Auftraggeber mehr über Hintergründe zu erfahren, die nicht in den Ausschreibungsunterlagen zu finden sind. Dadurch kann eine sinnvolle Neuausrichtung und Klärung von Kooperationsbeziehungen erfolgen.
Die Ausschreibungen, an denen wir uns bisher beteiligt haben, führten nicht zu „Preisdumping“. Im Gegenteil wurde von uns i. d. R. gefordert, dass wir Tarifgehälter zahlen oder angelehnte Vergütungssysteme nachweisen können, und es waren seriöse Sachkostenkalkulationen vorzulegen. Den Zuschlag soll ja das wirtschaftlichste und nicht das billigste Angebot bekommen.
Entscheidender Faktor ist die Laufzeit der Leistungsvereinbarung
Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei vielen anderen auch: Es geht nicht nur um das „ob“, sondern vor allem um das „wie“! Wenn Ausschreibungen sachgerecht durchgeführt werden, dann können sie ein sinnvolles Instrument sein, die Leistungserbringung in der Suchtberatung innovativ und leistungsorientiert zu gestalten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Laufzeit der ausgeschriebenen Leistung, denn die Arbeitsverträge mit dem erforderlichen Fachpersonal hängen natürlich eng mit den Zuwendungsverträgen zusammen. Es ist kaum noch möglich, Stellen für zwei oder drei Jahre befristet zu besetzen, und es ist den Trägern der Suchtberatung nicht zuzumuten, unbefristete Arbeitsverträge auf eigenes Risiko abzuschließen. Aus meiner Sicht sollte die Laufzeit von Zuwendungsverträgen mindestens fünf Jahre umfassen, um die Personalstruktur und den Leistungsumfang einigermaßen seriös planen zu können. Sinnvoll wären auch transparente Kriterien und Regelungen für die Verlängerung der Vereinbarungen. Um die möglichen positiven Effekte von Ausschreibungen wirksam werden zu lassen, ist es aus meiner Sicht ausreichend, erst nach acht bis zehn Jahren ein neues Verfahren einzuleiten.
Nachweis für Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Leistungen
Wir werden uns in der Suchtberatung wie in nahezu allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr mit der Forderung auseinandersetzen müssen, einen Nachweis für die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Leistungen erbringen zu müssen. Ich halte es für nicht zielführend, solche Anforderungen abzulehnen und auf die Besonderheiten unserer Arbeit und unserer Zielgruppen zu verweisen. Das ist der üblicherweise nicht fachkundigen Öffentlichkeit bzw. Politik kaum vermittelbar. Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass wir offensiv darstellen sollten, welchen ethischen und ökonomischen Nutzen unsere Arbeit bringt. Die aktuell diskutierten Überlegungen und Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) sind eine ausgezeichnete Basis dafür.
Abschließend und um der Transparenz willen noch einige Angaben zu meinen möglichen Interessenkonflikten: Dieser Beitrag wurde weder in Abstimmung noch im Auftrag oder gar mit finanzieller Förderung der öffentlichen Vertragspartner verfasst, mit denen der Therapiehilfeverbund im Bereich der Suchtberatung zusammenarbeitet. Natürlich verhandeln wir mit Zuwendungsgebern so hart wie möglich, letztlich muss auch bei uns als gemeinnützigem Unternehmen eine schwarze Null im Jahresabschluss stehen. Wir bemühen uns dabei einerseits um Fairness und Offenheit und versuchen andererseits, unsere Spielräume bei Verhandlungen und bei der Ausgestaltung der Leistungserbringung konsequent zu nutzen.
Angaben zum Autor:
Prof. Dr. Andreas Koch ist seit rund 20 Jahren in der Suchthilfe tätig. Er ist Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes Hamburg/Bremen und Vorsitzender der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef, hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung.
Neben der aktuell größten Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise mit all ihren Folgen, ist die Situation der Suchtberatungsstellen in Deutschland sicher ein marginales Problem. Dennoch müssen wir auch die Themen im Blick behalten, die mit einem kleineren Wirkungskreis für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Dazu gehört eine ausreichende Ausstattung der kommunalen Daseinsvorsorge.
Die Ausgangslage
Suchtberatungsstellen sind unzureichend ausgestattet. Es mangelt an langfristigen Verträgen, dynamisierter Finanzierung und einer grundsätzlich verlässlichen, durch Gesetze abgesicherten Grundstruktur (DHS, 2019). Der seit 2020 jährlich stattfindende „Aktionstag Suchtberatung“, organisiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), dient dazu, auf den Stellenwert der Suchtberatungsstellen und Defizite in der Ausstattung aufmerksam zu machen. Ein Aspekt, der stark zur unsicheren Situation der Suchtberatungsstellen beiträgt, ist die mögliche Anwendung von Vergaberecht. Suchtberatungsstellen in Deutschland können aktuell von öffentlichen – teilweise europaweiten – Ausschreibungen betroffen sein, was die Erbringung der Leistung für alle Beteiligten erschwert.
Als Leiter einer Suchtberatungsstelle der AWO und Sprecher der AG Suchtberatungsstellen beim AWO Bundesverband hat der Autor mit diesen Verfahren umfassende Erfahrungen gemacht und diese in seiner Masterarbeit „Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme“ (Zeis, 2022) beschrieben und ausgewertet. Die folgenden Ausführungen basieren auf dieser Masterarbeit.
Öffentliche Ausschreibungen gehen an Wesen und Aufgabe der Suchtberatung vorbei
Im Zuge der EU-Vergaberechtsreform von 2016 kam es zu zahlreichen Veränderungen (vgl. Rock et al., 2019). Rechtsunsicherheiten entstanden, diese mussten und müssen neu ausgefochten werden. So gilt beispielsweise für die Rettungsdienste in der Notfallrettung mittlerweile eine sogenannte Bereichsausnahme. Leistungen können also unter bestimmten Bedingungen auch ohne europaweite Ausschreibungen an gemeinnützige Träger vergeben werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof am 21.03.2019 geschaffene Rechtssicherheit gibt es für den Bereich der Suchtberatung oder anderer Beratungsdienste nicht. Es liegen zwar mittlerweile zahlreiche Zivilgerichtsurteile vor, die Ausnahmen im Vergaberecht zulassen, z. B. entschied das OLG Düsseldorf 2018, dass öffentlich geförderte Dienstleistungen nicht ausschreibungspflichtig sind (11.07.2018, VII-Verg 1/18). Von Sozial- und Verwaltungsgerichten stehen solche Urteile leider noch aus.
Schnell wurde allen Sozialverbänden klar, dass öffentliche Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen der benötigten und gewünschten Leistung nicht gerecht werden (vgl. Positionspapiere der DHS, der BAGFW, der LIGA der freien Wohlfahrtspflege und viele weitere), und zwar aus mindestens drei triftigen Gründen, die als Grundprämissen angenommen werden können:
Soziale Dienstleistungen haben besondere Merkmale, die sie von anderen Produkten am Markt unterscheiden. Hier sind u. a. die grundsätzliche Immaterialität, das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsum der Leistung fallen zeitlich zusammen), die Ko-Produktion durch und mit der jeweiligen Nutzer:innengruppe, eine hohe Individualität und eine eingeschränkte Möglichkeit der Rationalisierung zu nennen (vgl. Dahme & Wohlfahrt, 2013; Arnold, 2014).
Soziale Dienstleistungen werden auf einem „Quasi-Markt“ angeboten. Auf diesem Quasi-Markt tritt der jeweilige Leistungsträger – im Falle von Suchtberatungsstellen meist die Kommune – als Monopolist auf. Er allein vergibt die Leistung, er allein nimmt die Leistung letztlich ab. Die Leistungserbringer befinden sich daher in voller Abhängigkeit zum Leistungsträger (vgl. Seithe, 2010; Wohlfahrt, 2012; Hagn, 2012).
Suchtberatungsstellen gehören mit ihren Funktionen zur kommunalen Daseinsvorsorge. Dies wird oft bestritten, lässt sich aber belegen. Der vom Staatsrechtler Ernst Forsthoff beschriebene Begriff der Daseinsvorsorge wird bis heute immer dann genutzt, wenn es um öffentliche Leistungen und Güter geht, ohne die ein vernünftiges Zusammenleben einer Gemeinschaft nur schwer möglich ist (vgl. Neu, 2009). Leistungen der Daseinsvorsorge sind elementare, sinnvolle, sogenannte meritorische und neuerdings sicherlich auch „systemrelevante“ Güter, die der einzelnen Person und der Allgemeinheit zugutekommen (vgl. Bachert, 2018). Dass Suchtberatungsstellen zur kommunalen Daseinsvorsorge gehören, davon zeugen die Ergebnisse der jährlichen Suchthilfestatistik oder aktuelle Studien zum Social Return on Investment (SROI). Menschen, die ihre Konsum- und Verhaltensweisen verändern, reduzieren gesellschaftliche Kosten, verringern die Risiken für Folgeerkrankungen aller Art und stabilisieren sich und ihr soziales Umfeld (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022).
Als weiteres Merkmal kommt hinzu: Suchtberatungsstellen sind nicht, wie viele andere öffentliche Dienstleistungen, durch ein sogenanntes sozialstaatliches Dreiecksverhältnis abgesichert (Anspruch des Hilfeberechtigten auf Leistung gegenüber dem Leistungsträger, Erbringung der Leistung durch den Leistungserbringer unter vertraglicher Vereinbarung mit dem Leistungsträger). Sie sind allein vom politischen Willen bzw. vom Handeln der kommunalen Verwaltung (= Leistungsträger) abhängig. Die Gesundheitsdienstgesetze als gesetzliche Grundlage schaffen hier keine verlässliche Struktur, da sie lediglich den Kommunen auftragen, sich um die jeweiligen Bereiche, also beispielsweise auch um suchtgefährdete oder suchtkranke Menschen, im Rahmen von Fürsorge zu kümmern. Wie sie das tun, ist regional höchst unterschiedlich (vgl. Deutscher Bundestag, 2015).
Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere sind seit der EU-Vergaberechtsreform geschrieben worden. Alle sprechen sich ausnahmslos gegen öffentliche, also wettbewerbsorientierte, Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen aus. Hauptargument ist u. a. der enge regionale Bezug dieser Leistungen. Dies trifft auch auf Suchtberatungsstellen zu. Diese werden zum größten Teil von gemeinnützigen Sozialverbänden betrieben, sind zumeist in einer Stadt oder in einem Landkreis aktiv und dort über Jahrzehnte gewachsen, sie sind gut vernetzt und an der Gestaltung des regionalen Sozialraums beteiligt. Sie leisten essenzielle (Überlebens-)Hilfen und entfalten neben einem enormen Output auch eine messbare Wirkung (Outcome, Impact), beispielsweise in der Reduzierung von Folgekosten (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022). Im Bundestagswahlkampf 2021 hatten sich auch die politischen Parteien in ihren Wahlprogrammen des Vergaberechts angenommen. Bündnis 90/Die Grünen waren hier am deutlichsten und wollten eine Ausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Leider hat es diese Forderung nicht in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft.
Trotz dieser Voraussetzungen werden wettbewerbsorientierte Vergabeverfahren für soziale Dienstleistungen bis heute immer wieder vereinzelt angewendet, nicht nur im Bereich der Suchtberatung, sondern auch in anderen Feldern der Beratung, so beispielsweise bei der Schuldnerberatung, bei Kontaktstellen für psychisch erkrankte Menschen, in der Migrationsberatung oder bei Integrationsfachdiensten.
Das Vergaberecht missachtet dabei
die wesentlichen und historisch gewachsenen Prinzipien der Subsidiarität,
Es verkennt die Bedeutung der zu Beginn des Artikels genannten Grundprämissen wie
die besonderen Merkmale von sozialen Dienstleistungen auf einem Quasi-Markt,
die Grundsätze der kommunalen Daseinsvorsorge und der Regionalität sowie
die jeweiligen Pfadabhängigkeiten.
Umfrage zur aktuellen Relevanz von Ausschreibungen
Die Ergebnisse einer im Rahmen der vorne genannten Masterarbeit durchgeführten Online-Umfrage unter Suchtberatungsstellen in Deutschland zeigen, dass bei einem Anteil von 17,5 Prozent die Leistung bereits einmal oder mehrfach öffentlich ausgeschrieben wurde (Zeis, 2022).
Öffentliche Ausschreibungen sind Vergabeverfahren, die einen klaren Wettbewerbscharakter haben. Das heißt, jede Institution, jeder Verein, jede Gesellschaft, ob gewinnorientiert oder nicht, kann sich bewerben. Liegt der zu vergebende Auftrag über dem EU-Schwellenwert von 750.000 Euro für soziale Dienstleistungen, muss sogar europaweit ausgeschrieben werden. Dies sieht das EU-Vergaberecht so vor. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) forciert den Wettbewerbsgedanken auf Bundesebene, und nach zahlreichen Gesprächen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist die Forderung nach Wettbewerb in den Haushaltsressorts der Länder die eindeutige, verabredete Maßgabe, egal in welchem Bereich. Die Rechnungshöfe oder Innenrevisionen machen hier zusätzlich Druck auf die beteiligten Leistungsträger, indem sie Vergabeverfahren anmahnen und auch einfordern.
Die Umfrage ergab auch, dass sich zum Zeitpunkt der Befragung rund ein Fünftel der Suchtberatungsstellen in Neuverhandlungen befand (Zeis, 2022). Zum größten Teil lag das darin begründet, dass der alte Vertrag auslief. In vielen Fällen wurden die Neuverhandlungen aber auch direkt durch Politik oder Verwaltung ausgelöst und die Leistung öffentlich ausgeschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch in Zukunft Aufträge im Bereich der ambulanten Suchtberatung öffentlich ausgeschrieben werden.
Die Umfrage zeigt deutlich die Nachteile von öffentlichen Vergaben (Zeis, 2022). Neben der Feststellung des hohen Aufwands an Zeit und Kosten werden vor allem Preisdumping und die Auflösung von gewachsenen Netzwerken befürchtet. Weitere in der Umfrage genannte negative Aspekte zu den Auswirkungen von Ausschreibungen sind:
hoher Ökonomisierungsdruck
Unsicherheit darüber, ob man die Vergabe „gewinnt“
Externalisierung von Risiken an die Träger
hohe Komplexität der Vergabeverfahren und damit hoher Zeitaufwand für alle Beteiligten (und damit weniger Zeit für Innovation)
Missachtung des Subsidiaritätsprinzips
Mehrarbeit durch die Unerfahrenheit der Vergabestellen
kaum und schwierig zu erfassende Berücksichtigung regionaler gewachsener Strukturen und die Beschädigung dieser Netzwerke (samt Betriebskultur)
Misstrauen
(Wett-)Streit und Vertrauensverlust durch die Konkurrenzsituation
Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsaspekten
befristete und am Lohnminimum angesetzte Arbeitsverträge und damit in der Folge auch Fachkräftemangel
Verunsicherung von Nutzer:innen und Abbrüche von Beratungsprozessen
Weitere negative Auswirkungen liegen auf der Hand: Vergabeverfahren sind kostspielig, es gibt, wenn überhaupt, nur wenige weitere Wettbewerber (es findet also kein Wettbewerb statt), seitens der Kommune sind Überforderung und fehlende Kundennähe derzeit die Regel, die Verfahren unterliegen einer Rechtsunsicherheit und sind unflexibel und praxisfern, es entsteht keine Korrelation von Liberalisierungsgrad und der erwarteten Qualität, langfristige Planung wird reduziert, es kommt zu Sozialdumping, ein Aufbau von Kooperation und Beziehung ist kaum möglich, da regelmäßig erneut (europaweit) ausgeschrieben wird, sämtliche Risiken liegen beim Leistungserbringer, und etablierte Beziehungen werden aufgelöst (vgl. Zeis, 2022).
In Summe kann man also sagen: Öffentliche Ausschreibungen sind in höchstem Maße ineffizient und letztlich überflüssig! Ein Zitat von Moldaschl & Högelsberger (2016) bringt dies deutlich auf den Punkt:
„Es mag kurios klingen, aber: Je besser, fairer und sozialer eine Ausschreibung gestaltet ist, desto unnötiger wird sie. Dadurch werden nämlich immer mehr Parameter fixiert, die dann bei Ausschreibungen nicht mehr variabel sein können. Es bleiben dadurch kaum Aspekte übrig, bei denen es zu einem Wettbewerb kommen kann.“
Was muss geschehen?
Glücklicherweise mehren sich mittlerweile die Stimmen, die sich gegen öffentliche Ausschreibungen richten. Die Kommunen haben ebenfalls Erfahrungen gesammelt und entscheiden sich teilweise bewusst gegen diese Art der Vergabe. Dennoch sind die Rahmenbedingungen (EU-Vergaberecht, GWB, Druck zum Wettbewerb) unverändert, und es ist nur eine Frage des Zufalls, in welcher Kommune, in welchem Landkreis demnächst ein Vergabeverfahren mit Wettbewerbscharakter ausgelöst wird. Wurde einmal ein Vergabeverfahren durchgeführt, ist die Kommune im Übrigen mehr oder weniger gezwungen, das Vergabeverfahren immer wieder durchzuführen. Dieser Automatismus ist nur schwer zu durchbrechen und erfordert Mut und Überzeugungskraft bei den kommunal Handelnden gegenüber Innenrevisionen, Haushaltsressorts oder Rechnungshöfen.
Es braucht daher zum einen eine bundesweite Aufklärungskampagne über die Nachteile solcher Vergabeverfahren, zum anderen sollte sich der Bundesgesetzgeber mit diesem Thema befassen und eine Bereichsausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Das EU-Vergaberecht lässt, gut begründet, Ausnahmen zu. Soziale Dienstleistungen haben eben besondere Merkmale, die sie auf einem Quasi-Markt anbieten. Es geht hier nicht um Produkte, die produziert werden und skalierbar sind. Es geht um die Beratung und Begleitung von Menschen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, es geht um Menschen, die aus vielfältigen Gründen Hilfe und Unterstützung benötigen, sei es aufgrund von problematischen Konsum- und Verhaltensweisen, Überschuldung, psychischen Erkrankungen, Flucht oder anderen Belastungen.
Weitere Maßnahmen, die eine Alternative zu Vergabeverfahren darstellen und insgesamt zu einer Verbesserung der Situation von Suchtberatungsstellen führen können, sind:
eine gesicherte Finanzierung und solide Vertragsgrundlagen für Suchtberatungsstellen schaffen, z. B. im Rahmen der Gesundheitsdienstgesetze der Länder
Interessenbekundungsverfahren oder ähnliche Alternativen nutzen, die Träger in die Gestaltung des regionalen Sozialraums mit einbeziehen
sachliche Begründungen für den Ausstieg aus Vergabespiralen liefern
Subsidiaritätsprinzip stärken
regionalen Bezug der Dienstleistung stärker beachten
Landesstellen für Suchtfragen stärken
Wirkungsforschung (Outcome, Impact, Public Value, SROI etc.) stärker nutzen und die Ergebnisse in Bewertungen mit aufnehmen
Expertise zu all den hier genannten Themen in den Kommunen und bei den Trägern erhöhen
Anerkennung gestiegener Anforderungen durch Reduktion bzw. Streichung von Eigenanteilen
eine gemeinsame Sprache finden, um damit Vertrauen zwischen Beratungsstellen und Kommunen wiederherzustellen und zu verfestigen
Unabhängig von diesen Maßnahmen gilt es, die hier beschriebenen Vergabeverfahren zu vermeiden. Sonst gehen eingespielte Strukturen vor Ort, Kontinuität in der Betreuungsqualität und somit das Vertrauen der Nutzer:innen unnötig verloren (vgl. Wintermann, 2021).
In der Klimapolitik werden wissenschaftliche Erkenntnisse nur mühsam in politische Kompromisse gegossen, obwohl wir genau wissen, dass wir besser früher als später aus den fossilen Energieträgern aussteigen müssen, um eine weitere Erderwärmung mit all ihren Folgen zu stoppen.
Im Bereich der öffentlichen Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen ist ebenfalls klar, was zu tun wäre, und dieses Wissen ließe sich sicherlich um ein Vielfaches einfacher, schneller und reibungsloser umsetzen. Wieso noch einen Tag länger diese ineffizienten und überflüssigen Verfahren im Bereich der Suchtberatung (und ähnlicher Beratungs- und Fachdienste) anwenden? Haben wir den Mut, sagen wir Nein, steigen wir aus, bleiben wir kreativ, suchen wir nach neuen Lösungen und bleiben wir vor allem im Gespräch miteinander! Hierzu braucht es alle Beteiligte in den Kommunen und der Sozialwirtschaft mit Unterstützung des Bundes und der Länder und eine Rechtsprechung, die die genannten Aspekte berücksichtigt.
Kontakt:
Daniel Zeis
Ambulante Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete
Großbeerenstr. 187
14482 Potsdam
daniel.zeis(at)awo-potsdam.de
Tel. 0331 73040740 www.awo-potsdam.de
Angaben zum Autor:
Daniel Zeis ist Einrichtungsleiter der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchgefährdete des AWO Bezirksverbandes Potsdam. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit (Diplom) absolvierte er die Weiterbildung zum Sozialtherapeut Sucht (DRV/GKV-anerkannt) und schloss 2022 sein Masterstudium (Sozialmanagement) erfolgreich ab. Er ist seit 16 Jahren in der Suchthilfe tätig.
Literatur:
Arnold, Ulli; Grunwald, Klaus; Maelicke, Bernd (Hg.) (2014): Lehrbuch der Sozialwirtschaft. Unter Mitarbeit von Holger Backhaus-Maul, Benjamin Benz und Karl-Heinz Boeßenecker. 4. erweiterte Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Bachert, Robert; Dreizler, Andrea (Hg.) (2018): Finanzierung von Sozialunternehmen. Theorie, Praxis, Anwendung. 2., aktualisierte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus (Sozialmanagement).
Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert (2013): Lehrbuch Kommunale Sozialverwaltung und Soziale Dienste. Grundlagen, aktuelle Praxis und Entwicklungsperspektiven. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
Deutscher Bundestag (2015): Ausarbeitung – Die Gesundheitsdienstgesetze der Länder. Wissenschaftliche Dienste. Aktenzeichen: WD 9 – 3000 – 027/14. Fachbereich: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Hagn, Julia (2012): Ergebnisse und (Neben-) Wirkungen des Neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
Moldaschl, Thomas; Högelsberger, Heinz (2016): Die vielen Nachteile von Ausschreibungen. A&W Blog, Blog zum Magazin Arbeit & Wirtschaft, 07.03.2016. https://awblog.at/die-vielen-nachteile-von-ausschreibungen/, letzter Zugriff 30.01.2023.
Neu, Claudia (2009): Daseinsvorsorge: Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Rock, Joachim; Steinke, Roß (2019): Die Zukunft des Sozialen – in Europa? Soziale Dienste und die europäische Herausforderung. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Seithe, Mechthild (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
Wohlfahrt, Norbert (2012): Auswirkungen der Neuen Steuerungsmodelle auf die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der Sozialen Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
Zeis, Daniel (2022): Von der Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme. Alice-Salomon-Hochschule. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:b1533-opus-4994; letzter Zugriff 30.01.2023.
Dr. Simone PenkaPanagiotis StylianopoulosLaura Hertner
Dass geflüchtete Menschen Suchtmittel konsumieren, ist anzunehmen. Dennoch wissen wir wenig über die Art der konsumierten Substanzen, über Konsummuster oder -motivationen. Insgesamt gibt es international wenig Daten zum Substanzkonsum von geflüchteten Menschen. Studien, wie beispielsweise zusammengefasst in dem systematischen Review von Horyniak et al. (2016) oder Lo et al. (2017), weisen jedoch auf eine erhebliche Heterogenität in den Mustern sowie Prävalenzraten des Suchtmittelkonsums hin.
Eine bisher häufige Annahme ist, dass geflüchtete Menschen aus Abstinenz-orientierten Herkunftsregionen aufgrund kultureller und religiöser Faktoren weniger Substanzen konsumieren als die europäische Bevölkerung, die u. a. einen sehr liberalen Umgang mit Alkohol pflegt (z. B. Salas-Wright & Schwartz, 2019). Im Kontrast hierzu steht die Annahme, dass eine – durch zahlreiche Studien erwiesene – erhöhte Prävalenz von Traumafolgestörungen bei geflüchteten Menschen auch eine erhöhte Prävalenz von Suchterkrankungen als komorbide psychische Erkrankung bedingt (Horyniak et al., 2016; Vaughn et al., 2015; Weaver & Roberts, 2010; Lindert et al., 2021). Letztere Annahme bildet sich allerdings in der Praxis nicht in der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Suchthilfe ab. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass geflüchtete Menschen, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund, aufgrund kultureller, ökonomischer und rechtlicher Gründe als schwer erreichbar für suchtspezifische Versorgungsangebote zu betrachten sind (Penka et al., 2008). Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund deshalb in Einrichtungen der Suchthilfe unterrepräsentiert sind (Kimil, 2016; Rommel & Köppen, 2014; Schwarzkopf et al., 2021). Für geflüchtete Menschen im Spezifischen liegen hierzu bislang keine Daten vor.
Um Suchthilfeangebote und Prävention für geflüchtete Menschen zu gestalten und bedarfsadäquat auszurichten, scheint vor allem ein tiefgreifendes Verständnis für Konsummotive und Faktoren, die den Substanzkonsum beeinflussen, notwendig. Das Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PREPARE (Prevention and Treatment of Substance Use Disorders in Refugees)* liefert nach drei Jahren Laufzeit hierzu Anknüpfungspunkte. Dieser Artikel präsentiert aus dem Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ gewonnene Erkenntnisse zum Substanzkonsum geflüchteter Menschen und zu einer passgenaueren Versorgung durch das Suchthilfesystem. Die Ergebnisse geben Aufschluss über die von geflüchteten Menschen konsumierten Substanzen, über Konsummuster sowie Substanzkonsum fördernde Faktoren. Darüber hinaus werden 39 Strategien „Guter Praxis“ skizziert, mit deren Hilfe Einrichtungen der Suchthilfe für geflüchtete Menschen zugänglicher werden können und eine gute Versorgung gewährleistet werden kann.
Wer konsumiert welche Substanzen?
Im Rahmen von PREPARE wurden zwischen 2019 und 2021 an acht Standorten – Berlin, Bremen, Frankfurt (Main), Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig und München – 108 semistrukturierte Interviews sowie 218 strukturierte Befragungen mit Schlüsselpersonen der lokalen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie weiteren Personen durchgeführt. Die gesammelten Erkenntnisse wurden anschließend in zehn Fokusgruppen diskutiert. Leitfragen der Interviews und Befragungen waren: Wer konsumiert Substanzen in besonders auffälliger Art und Weise? Welche Substanzen werden konsumiert? Welche Probleme treten im Zusammenhang bzw. in Folge von Substanzgebrauch auf? Welche Faktoren beeinflussen den Substanzgebrauch? Die Schlüsselpersonen waren aufgefordert, sich vor allem auf geflüchtete Menschen zu beziehen, die seit 2015 in Deutschland angekommen waren. Im entsprechenden Zeitraum waren in Summe Syrien, Afghanistan und Irak die Hauptherkunftsländer von Menschen, die einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt hatten (bpb, 2022).
Es zeigte sich deutlich, dass es vor allem geflüchtete junge Männer sind, die in puncto Substanzkonsum auffallen. Dies muss vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass junge Männer gemäß den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den Jahren 2015 bis 2020 die größte Gruppe unter den Asylantragstellenden in Deutschland ausmachten (bpb, 2022). Über den Substanzkonsum von Frauen wurde vergleichsweise wenig berichtet. Es bleibt unklar, ob und in welchem Ausmaß der Suchtmittelkonsum von geflüchteten Frauen ungesehen bleibt, z. B. aufgrund der konsumierten Substanzen oder der gesellschaftlichen Rollenbilder. Schlüsselpersonen betonen in ihren Berichten häufig, dass der Konsum geflüchteter Frauen landläufig weit unterschätzt wird.
Interessanterweise zeigen unsere Daten, dass geflüchtete Menschen nicht auf einzelne bestimmte Substanzen zurückgreifen, die ihnen beispielsweise aus den Herkunftsländern vertraut sind, sondern dass die lokale Verfügbarkeit bzw. die Verfügbarkeit innerhalb der eigenen Peergroup die Art der konsumierten Substanz(en) bzw. die Konsummuster bedingt. Somit sind Alkohol und Cannabis den Befragungen zufolge die am häufigsten konsumierten Substanzen. Aber auch Medikamente, Heroin und – v. a. in Leipzig und dem Umland – Amphetamine werden konsumiert.
Häufig wird die Frage gestellt, ob geflüchtete Menschen bereits in den Herkunftsländern Suchtmittel konsumiert haben und der aktuelle Substanzkonsum eine Kontinuität bereits bestehender Abhängigkeiten darstellt. Viele Fachkräfte konnten hierzu keine Angaben machen. Da viele geflüchtete Menschen sehr jung in Europa ankommen, ist neben der Betrachtung der individuellen Konsumbiografie die Betrachtung der substanz- bzw. konsumbezogenen Normen im Herkunftskontext überaus zentral. Selbst wenn, z. B. aufgrund des jungen Alters, in den Herkunftsländern noch nicht selbst konsumiert wurde, sind die dortigen gesellschaftlichen Haltungen rund um Suchterkrankungen, Substanzkonsum und Suchtmittel prägend. Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Haltungen im hiesigen und dem Herkunftskontext bedingen Konsequenzen, beispielsweise für die individuelle Konsumkompetenz.
So verdient gerade der Alkoholkonsum geflüchteter Menschen als ein Beispiel dieses Zusammenspiels eine intensivere Betrachtung: Die hohe Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit und die ausgeprägte gesellschaftlicher Akzeptanz von Alkohol in Deutschland kann bei Menschen, die in Bezug auf Alkohol in restriktiven Kontexten sozialisiert wurden, den Anschein von Harmlosigkeit erwecken. Extrem riskanter Alkoholkonsum ist die Folge.
Welche Faktoren fördern den Substanzkonsum geflüchteter Menschen?
Das mit Abstand am häufigste benannte Konsummotiv geflüchteter Menschen ist Selbstregulierung bei psychischen Belastungen – sich zu betäuben, zu vergessen, sich davon abzulenken, einfach mal abzuschalten. Diese psychischen Belastungen sind häufig bedingt durch migrationsbezogene Faktoren. Auf einige besonders relevante Faktoren, die den Substanzkonsum geflüchteter Menschen fördern, werden wir im Folgenden eingehen.
Es zeichnet sich in unseren Daten deutlich ab, dass ein Leben in Deutschland ohne Familie, Partner:in und/oder Kinder konsumfördernd wirkt. Dabei ist ein zweiteiliger Mechanismus zu beobachten: Erstens stellen die Einsamkeit und das Vermissen der zurückgelassenen geliebten Menschen sowie die Sorge um deren (Über)Leben eine besondere psychische Belastung dar, die durch Substanzkonsum vermeintlich aushaltbarer wird. Zweitens bietet das Fehlen „sozialer Kontrolle“, von Struktur und Verantwortung innerhalb von Familienverbünden ein Einfallstor dafür, Verhaltensweisen, die im Herkunftsland nicht zu rechtfertigen gewesen wären, auszuprobieren bzw. im schlimmsten Fall die Kontrolle darüber zu verlieren. Gerade bei geflüchteten Frauen scheint sich dieser Effekt stark auf die Art der konsumierten Substanz und die Maßlosigkeit des Konsums auszuwirken: Frauen mit Kindern konsumieren den befragten Schlüsselpersonen zufolge in der Regel ausschließlich und oftmals unauffällig Medikamente, wohingegen Frauen (inklusive Transfrauen) ohne Familien bzw. Kinder durch exzessiven Alkohol-, Cannabis- und Kokainkonsum auffallen.
Ähnlich wie bei anderen Personengruppen bietet Substanzkonsum auch geflüchteten Menschen eine Möglichkeit, sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren und ein Gefühl erlebter Zugehörigkeit zu schaffen. Den Berichten der Schlüsselpersonen zufolge scheint bei geflüchteten Menschen dieser Aspekt von besonderer Relevanz zu sein, da zum einen soziale Beziehungen durch die Fluchtmigration erschüttert werden, zum anderen das Leben in Deutschland allzu häufig ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, des sozialen Ausschlusses und diskriminierender Erfahrungen mit sich bringt. Somit ist es wenig überraschend, dass sich beispielsweise geflüchtete Jugendliche den alterstypischen Konsummustern anschließen und Alkohol und Cannabis konsumieren.
Auch die Wohnsituation bzw. das sozial-räumliche Wohnumfeld geflüchteter Menschen scheint ein Suchmittelkonsum fördernder Faktor zu sein. Neben allseits bekannten Stressoren des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften – in erster Linie wenig Privatsphäre sowie Autonomie –, die vermeintlich über Substanzkonsum reguliert werden können, ist von einer hohen Verfügbarkeit von Suchtmitteln innerhalb dieser Unterkünfte auszugehen. Vielfach wurde von befragten Schlüsselpersonen berichtet, dass gerade unter Mitbewohner:innen Konsumempfehlungen im Sinne von Erfahrungsberichten ausgesprochen werden: „Du bist ja so traurig, du hast ja so Stress. Komm rauch mal!“ (Originalzitat)
Weitere zentrale Faktoren, die sich fördernd auf den Substanzkonsum auswirken, scheinen fehlende Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu sein. Für viele bedeutet die Ankunft in Deutschland weniger ein Ankommen als ein Warten, ein Bangen um den Aufenthaltsstatus und letztlich oftmals eine erlebte Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Die hieraus resultierende induzierte psychische Belastung, Überforderung und Enttäuschung über die Situation in Deutschland scheinen maßgeblich Substanzkonsum zu fördern.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Perspektiven und Möglichkeiten geflüchteter Menschen in Deutschland je nach Herkunftsland unterscheiden. Der Effekt von herkunftsabhängigen Perspektiven in Deutschland führt scheinbar zu einem schädlicheren Konsum von Suchtmitteln in manchen Subgruppen im Vergleich zu anderen. Eine mangelnde Arbeitserlaubnis bzw. etwaige Barrieren des Arbeitsmarktes resultieren in nur wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschäftigung. Mögliche Folgen sind Langeweile und – da Substanzkonsum u. a. das Erleben von Zeit verändert – in der Konsequenz der Konsum von Suchtmitteln. Hierzu ein zusammenfassendes Zitat: „Also die wissen, das [Substanzkonsum] ist dreckig, aber dreckiger als die Situation, in der sie sich befinden, ist das gar nicht.“
Strategien „Guter Praxis“ zum Erreichen und Versorgen geflüchteter Menschen
Im Rahmen unserer Erhebungen wurde deutlich, dass Einrichtungen der Suchthilfe selten, und insbesondere in ländlichen Regionen kaum Kontakt zu geflüchteten Menschen haben. Mitarbeitende von Suchthilfeeinrichtungen lehnten Interviewanfragen sehr häufig ab, da sie über zu wenig Kontakt und Wissen zu der Zielgruppe verfügten. In der Folge gab der Großteil der interviewten Schlüsselpersonen an, im Bereich der Geflüchtetenhilfe zu arbeiten. Diese berichteten von gescheiterten Bemühungen, Konsument:innen in die lokalen Suchthilfeeinrichtungen zu vermitteln. Hierbei wurden Barrieren benannt, die aus der Literatur über Zugangsbarrieren in Bezug auf verschiedene psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen bereits bekannt sind, wie beispielsweise Sprachbarrieren oder die Angst vor Stigmatisierung (z. B. Byrow et al., 2020; Straßmayr et al., 2012). Beim Konsums illegalisierter Substanzen kommen Ängste vor rechtlichen und im schlimmsten Fall aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen hinzu (Greene et al., 2021). Um die suchtspezifische Versorgungssituation von geflüchteten Menschen systematisch zu verbessern, wurden im Rahmen der Studie Lösungsansätze identifiziert. Ein Delphi-Prozess mit 22 Expert:innen resultierte in 39 Strategien „Guter Praxis“. Eine Handreichung, die alle Strategien umfasst, aufgeteilt auf neun Themenfelder, steht online zur Verfügung (Hertner, Panagiotis & Penka, 2022).
Die Handreichung enthält Strategien, die auf die benannten strukturellen Aspekte und migrationsbezogenen Stressoren sowie auf Rechte zur Inanspruchnahme verschiedener Gesundheitsdienste Bezug nehmen (z. B. Reduktion strukturell suchtfördernder bzw. aufrechterhaltender Faktoren). Daneben werden einige grundlegende Ansprüche an das Versorgungssystem der Suchthilfe adressiert, wie z. B. die Gewährleistung einer Beständigkeit von Angeboten vor allem durch dauerhafte Finanzierung. Diese Strategien sind im Sinne der strukturorientierten Verhältnisprävention zwar wichtig, liegen aber außerhalb des direkten Einflussbereiches der Einrichtungen. Politische Schritte hierfür sind gefragt. 33 der 39 Strategien bieten hingegen konkrete Anknüpfungspunkte für Einrichtungen der Suchthilfe. Exemplarisch werden einige Strategien an dieser Stelle angeführt.
Eine Vielzahl an Strategien fokussiert auf Ansätze zur Überwindung von Sprachbarrieren. Die hohe Sprachenvielfalt unter geflüchteten Menschen lässt sich nicht über muttersprachliches Personal alleine abdecken. Daher bietet sich der Einsatz von Sprachmittler:innen an. Damit die Versorgung mit Sprachmittler:innen gelingt, sollten folgende Faktoren erfüllt sein:
a) Gewährleistung der Finanzierung, z. B. durch Berücksichtigung etwaiger Kosten in Förderungsanträgen und Budgets,
b) niedrigschwellige und schnelle Verfügbarkeit, z. B. auch durch sprachmittelnde Telefon- oder Videodienstleistende, sowie
c) Professionalität, die gerade im Suchtbereich gewährleistet, dass korrekt und ohne persönliche Wertung übersetzt wird.
Leicht umzusetzen ist die mehrsprachige Übersetzung von schriftlichen Dokumenten in den Einrichtungen, z. B. Datenschutzerklärungen, Behandlungsvereinbarungen.
Als Grundvoraussetzung für eine bedarfsadäquate Versorgung geflüchteter Menschen zeichnet sich in den Strategien das gemeinsame Handeln von Sucht- und Geflüchtetenhilfe ab. Es finden sich in der Handreichung einige Strategien „Guter Praxis“ zur zielgerichteten Netzwerkarbeit dieser beiden Arbeitsbereiche.
Darüber hinaus ist auch ein Wissensaustausch zwischen den beiden Bereichen zu implementieren. Einerseits gilt es, Akteure der Geflüchtetenhilfe für Suchtthemen zu sensibilisieren, Unsicherheiten im Umgang mit Substanzen und Sucht abzubauen und eine eigene reflektierte Haltung gegenüber Konsum und Konsumierenden zu entwickeln. Dadurch können Mitarbeitende der Geflüchtetenhilfe frühzeitig problematischen Suchtmittelkonsum erkennen und mit dem Wissen über verfügbare Angebote der Suchthilfe dorthin vermitteln. Vice versa sollten auch Fachkräfte der Suchthilfe zur Lebenssituation geflüchteter Menschen und deren sozio-politischen Rahmenbedingungen informiert und regelmäßig geschult werden, z. B. in Bezug auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Aspekte, Familiennachzug, Regelungen zu Kostenübernahmen und Zuständigkeiten von Kostenträgern. Keinesfalls geht es dabei darum, dass Fachkräfte die Aufgaben des jeweils anderen Arbeitsbereichs übernehmen sollen, sondern lediglich um eine Sensibilisierung für eine spezielle Lebenssituation und die Kenntnis von adäquaten Unterstützungsangeboten. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde mehr als deutlich, dass der Grad der Vernetzung zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe ausschlaggebend ist für die Versorgungssituation geflüchteter Menschen vor Ort.
Neben der sprachlichen Verständigung und der Netzwerkarbeit kommt auch der Haltung von Suchthilfe-Mitarbeitenden eine große Bedeutung zu. Ideal ist eine transkulturelle Kompetenz im Sinne von diskriminierungsfreier Haltung und Selbstreflexion im Umgang mit geflüchteten Klient:innen. Wichtig ist es, geflüchteten Menschen mit einer offenen, neugierigen und fragenden Haltung auf Augenhöhe, anstatt mit Vorurteilen und Wertung, zu begegnen.
Darüber hinaus sollten geflüchtete Menschen für Themen rund um Substanzkonsum und Suchterkrankungen sensibilisiert und über die ausdifferenzierten Unterstützungsangebote in ihrer Region informiert werden. Die Strategien „Guter Praxis“ schlagen diesbezüglich vor, Präventions- und Aufklärungsangebote an Orten durchzuführen, an denen sich geflüchtete Menschen aufhalten. Damit sind nicht nur interaktive, mehrsprachige Infoveranstaltungen in Gemeinschaftsunterkünften gemeint, sondern auch das Einbringen von Themen rund um Substanzen und Suchterkrankungen in z. B. Deutsch- und Integrationskursen, Selbsthilfegruppen oder sozialen Medien. Zum Informieren und Aufklären über Substanzen und deren Risiken liegen bereits viele Materialien in diversen Sprachen vor, die hierfür genutzt werden können (z. B. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen).
Beispielhaft haben wir einige Einrichtungen der Suchthilfe zusammengestellt, die verschiedene Strategien „Guter Praxis“ bereits umsetzen und geflüchtete Menschen gut erreichen und versorgen. Die Kollektion der Projektsteckbriefe, die als Inspiration für andere Einrichtungen dienen kann, kann hier heruntergeladen werden.
Ausblick
Die dargestellten Ergebnisse unseres Teilprojektes des PREPARE-Forschungsverbundes zeigen deutlich, dass bisherige Ansätze der Suchtprävention, die im Sinne einer Verhaltensprävention auf Individuen, deren Wissen rund um die Themen Konsum und Sucht sowie auf Versorgungsstrukturen der Suchhilfe fokussieren, unzulänglich sind. Eine Erweiterung um Ansätze strukturorientierter Verhältnisprävention ist wichtig, um den Einfluss von Faktoren, die die Vulnerabilität strukturell erhöhen, einzudämmen. Dabei sind insbesondere die Themenfelder Unterbringung, Ungewissheit über Bleibeperspektiven, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit sowie Nutzungsrechte von Gesundheitsdiensten von Relevanz.
Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Angebote der Suchthilfe vielerorts nicht genügend auf die speziellen Bedürfnisse geflüchteter Menschen (z. B. Sprachmittlung, Niedrigschwelligkeit) zugeschnitten sind und geflüchtete Konsument:innen häufig nicht in Einrichtungen der Suchthilfe ankommen bzw. dort nicht dauerhaft angebunden werden. Oftmals sind die Mitarbeitenden der Unterkünfte somit die einzigen Fachkräfte, zu denen längerfristiger Kontakt besteht.
Das Thema Substanzkonsum unter geflüchteten Menschen sollte bundesweit Berücksichtigung finden. Unter anderem deshalb bewerten wir es als vorbildlich, wie im Rahmen aktueller Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine für bestimmte Personenkreise von aus der Ukraine geflüchteten Menschen unbürokratisch aufenthaltsrechtliche und auch arbeitsrechtliche Ausnahmeregelungen geschaffen wurden (vgl. BAMF, 2022). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Rahmenbedingungen auch auf die psychische Gesundheit positiv auswirken und damit eine Anfälligkeit für problematischen Substanzkonsum geringer ausfallen könnte als bei geflüchteten Menschen aus anderen Herkunftsländern wie beispielsweise Afghanistan, Irak oder auch Syrien.
Ebenfalls zeigt das dynamische Migrationsgeschehen, wie wichtig es ist, bestehende Angebote der Suchthilfe für alle Menschen zu öffnen. Insbesondere der Einsatz von Sprachmittler:innen ermöglicht es, flexibel mit Menschen unterschiedlichster Sprachkompetenzen umzugehen. Auch der Ansatz von transkultureller Kompetenz als selbstreflexive und fragende Haltung trägt zu einer Offenheit für alle zugewanderten Menschen bei – mehr als das Erlernen vermeintlichen Wissens über Herkunftsregionen und deren „Kultur“ (Steinhäuser et al., 2021).
Darüber hinaus sind Vernetzungen zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie ein stetiger Wissensaustausch zwischen diesen Arbeitsbereichen unabdingbar, um für geflüchtete Konsument:innen einen Zugang zu Hilfen und eine bedarfsadäquate Versorgung zu gewährleisten. Die Strategien „Guter Praxis“ sowie die Kollektion „Praxisbeispiele“ bieten Fachkräften der Suchthilfe sowie Einrichtungsleitungen Inspiration, wie eine gute Vernetzung und interdisziplinäres Arbeiten mit dieser Zielgruppe gut gelingen können.
*) Der Forschungsverbund PREPARE besteht insgesamt aus vier Teilprojekten. So wurde in einem Teilprojekt eine App (BePrepared) entwickelt, die im Rahmen einer Kurzintervention problematischen Alkohol- und Cannabiskonsum reduzieren soll. Ein anderes Teilprojekt bietet an verschiedenen Standorten auch derzeit weiterlaufend Affektregulations-Trainings in Gruppen für geflüchtete Menschen mit riskantem Suchtmittelkonsum oder einer Suchterkrankung an. Weitere Informationen:
Laura Hertner
AG transkulturelle Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin
laura.hertner(at)charite.de
Angaben zu den Autor:innen:
Laura Hertner ist Psychologin und promoviert an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Thema Substanzkonsum geflüchteter Menschen. Panagiotis Stylianopoulos befindet sich in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten und promoviert ebenfalls an der Charité. Dr. Simone Penka leitet als Ethnologin und Erziehungswissenschaftlerin in Berlin TransVer –Ressourcen-Netzwerk zur interkulturellen Öffnung (www.transver-berlin.de).
Byrow, Y., Pajak, R., Specker, P. & Nickerson, A. (2020). Perceptions of mental health and perceived barriers to mental health help-seeking amongst refugees: A systematic review. Clinical Psychology Review, 75, 101812.
Greene, M.C., Haddad, S., Busse, A., Ezard, N., Ventevogel, P., Demis, L., et al. (2021). Priorities for addressing substance use disorder in humanitarian settings. Conflict and Health, 15(1), 1-10.
Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Kollektion „Praxisbeispiele“ der Versorgung geflüchteter Menschen in der Suchthilfe. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Handreichung Strategien „guter Praxis“ in der Suchthilfe – Erreichen und Versorgen Geflüchteter Menschen. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
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Die Digitalisierung der Suchtberatung wird derzeit durch den parallelen Aufbau von zwei Beratungsplattformen vorangetrieben, die bundesweit und trägerübergreifend genutzt werden können. Dabei handelt es sich um die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht, das die delphi GmbH entwickelt hat, und den Aufbau der Sozialplattform durch das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind, hat den Entwicklungsprozess der beiden Projekte verfolgt und in Teilbereichen aktiv mitgestaltet. Dr. Peter Raiser, Geschäftsführer der DHS, stellt den aktuellen Umsetzungsstand der beiden Plattformen dar und erläutert Ziele und Hintergründe.
Weiterentwicklung, Sicherung der Qualität und flächendeckendes Angebot
Dr. Peter Raiser
Die zentrale Frage bei der Digitalisierung der Suchtberatung ist, wie die inhaltliche Arbeit durch Anwendung digitaler Instrumente und computergestützter Prozesse begleitet, unterstützt, vereinfacht und verbessert werden kann und dabei die fachlichen Standards und die Qualität der Leistung gesichert bleiben. Neben dieser fachlichen Weiterentwicklung muss geklärt werden, wie Angebote digitalisierter Suchtberatung flächendeckend zur Verfügung gestellt werden können.
Nun ist die Inanspruchnahme digitaler Angebote erst einmal nicht örtlich beschränkt. Der Sitz des Angebotes und der Standort des Servers sind für Hilfesuchende quer durch Deutschland unerheblich – sofern man von einem rein digitalen Angebot ausgeht. Dann wäre ein zentralisiertes Angebot flächendeckend ausreichend, wenn es alle Qualitätskriterien erfüllen und alle Hilfebedarfe abdecken kann und die entsprechende Kapazität hat. Gegen ein zentralisiertes Angebot rein digitaler Suchtberatung sprechen aber inhaltliche und strukturelle Gründe, die in der Angebotslandschaft der nicht digitalen Suchtberatung liegen.
Verknüpfung von digitalem und Face-to-Face-Kontakt
Das so genannte blended counselling zeigt sich gegenüber rein digitalen Angeboten in Beratungsprozessen überlegen (vgl. z. B. Hörrmann et al. 2019). Blended counselling bedeutet, dass Anteile der zu erbringenden Beratungsleistung und Kontakte zwischen Hilfesuchenden und Beratenden auch in nicht digitaler Umgebung stattfinden. Der Face-to-Face-Kontakt wird meist sowohl von Hilfesuchenden wie auch Beratenden gewünscht. Idealerweise werden die Vorteile der Begegnung in realen Beratungssituationen mit den Möglichkeiten digitaler Instrumente ergänzend miteinander verbunden. Das bedingt nun aber auch, dass neben der Inanspruchnahme einer digitalen Beratung die Möglichkeit gegeben sein muss, eine physische Einrichtung aufzusuchen. Neben der digitalen Infrastruktur benötigt blended councelling also auch eine physische Einrichtungsstruktur, die ebenfalls flächendeckend vorhanden ist.
Blended councelling nicht als Einzellösungen umsetzbar
Die Angebotsstruktur der Suchtberatung erfüllt dieses Kriterium mit ihren über 1.200 Einrichtungen bundesweit. Doch angesichts der prekären bis höchst gefährdeten finanziellen Ausstattung von Einrichtungen, Vereinen und sogar Verbänden ist es unrealistisch, dass Angebote des blended councelling jeweils als Einzellösungen unabhängig voneinander entwickelt werden. Aufgrund dieser Ausgangslage bietet sich eine Plattformlösung an. Dabei wird die digitale Infrastruktur von zentraler Stelle entwickelt und bereitgestellt. Einrichtungen können sich als Anbieter registrieren und ihr Angebot vor Ort und im digitalen Raum zur Verfügung stellen.
Entwicklung bundesweiter Plattformen
Es besteht also ein großer Wunsch, in der Digitalisierung auch jene mitzunehmen, die nicht in der Lage sind, eigene Angebote zu entwickeln, die nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, eigene Innovationen umzusetzen, auch wenn es nicht an Ideen mangelt. Naheliegend ist daher, Strukturen und Zugänge übergeordnet bereitzustellen und über Plattformen auch diesen Einrichtungen ein digitales Beratungsangebot zu ermöglichen.
Qualitative und fachliche Standards sowie wirtschaftliche Vorteile
Plattformlösungen haben Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählt neben der genannten Bereitstellung der technischen Infrastruktur eine Einheitlichkeit der Angebote, was z. B. die Qualitätssicherung und Anwendung fachlicher Standards betrifft. Diese Zentralisierung ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten relevant, weil Entwicklungsprozesse nicht in jedem einzelnen Angebot durchgeführt werden müssen. Dasselbe gilt für die Errichtung der technischen Infrastruktur. Einheitlichkeit und gesicherte Qualität sind auch für Hilfesuchende allerorts ein Vorteil bei Plattformlösungen. Menschen, die eine digitale Beratung aufsuchen, müssen sich nicht mit einem möglicherweise frustrierenden Vergleich unterschiedlicher Angebote befassen, sondern können schnell und verlässlich Hilfe finden, die nachweislich wirksam ist.
„One size fits all“-Lösung wird nicht allen gerecht
Sicherlich gehört es zu den Nachteilen, dass Plattformen all jene Projekte und Innovationen etwas zurückhalten, die besser sind als eine „one size fits all“-Lösung. Und gerade all jene Verbände, Vereine, Träger und Einrichtungen, die mit viel Aufwand und Einsatz bereits eigene Angebote und Strukturen entwickelt haben, dürften nicht begeistert von der Idee sein, diese zugunsten eines Plattform-Angebotes zurückzustellen. Es ist also eine Herausforderung bei der Entwicklung von Plattformen, zu berücksichtigen, dass bestehende Angebote parallel genutzt oder noch besser integriert werden können.
Ende des Jahres 2020 begannen zwei größere und bundesweite Vorhaben, Plattformen für die digitale Suchtberatung zu entwickeln und aufzubauen, auf denen Beratungsstellen mit vergleichsweise wenig eigenem Aufwand ein digitales Angebot der Suchtberatung bereitstellen können. Im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) wird der Aufbau einer Sozialplattform vorgenommen, die auch das Angebot der Suchtberatung umfassen soll. Parallel wurde das Konzept DigiSucht von der delphi GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) entwickelt und veröffentlicht, welches als Projekt zunächst die konzeptionelle Vorlage für eine Plattform, nicht aber die Errichtung derselben, beinhaltete.
Die folgenden Abschnitte sollen nun die parallele Entwicklung beider Vorhaben nachzeichnen und über den aktuellen Stand im August 2022 informieren.
Hintergrund des OZG – Auftrag und Beginn der Umsetzung der Sozialplattform
Das Onlinezugangsgesetz trat im Jahr 2017 in Kraft und sieht in gemeinschaftlicher Arbeit von Bund und Ländern die Digitalisierung von bzw. den digitalen Zugang zu über 500 Verwaltungsleistungen vor. Diese Verwaltungsleistungen wurden in Themenfelder gegliedert, und einzelne Länder bzw. Landesministerien wurden beauftragt, für bestimmte Themenfelder nach dem „Einer für Alle“-Prinzip eine Umsetzung zu erarbeiten und allen Ländern zur Verfügung zu stellen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) übernahm die Federführung für den Bereich Arbeit und Ruhestand. In den dort verorteten Sozialleistungen finden sich neben zahlreichen Antragsleistungen der Verwaltung auch Beratungsleistungen wie die Schuldner- und die Suchtberatung. Mit der Errichtung einer Sozialplattform (https://sozialplattform.de/) sollen diese Leistungen gebündelt zur Verfügung gestellt werden.
Spezifik der Beratungsangebote
Die Leistungen im Bereich der Beratungsangebote unterscheiden sich von den Antragsleistungen nicht nur in ihrer Art der Durchführung, sondern auch wesentlich durch die Leistungserbringer, die in der Regel keine kommunalen Verwaltungsstellen sind. Im Bereich der Suchtberatung sind es zumeist Beratungsstellen aus dem Spektrum der Suchthilfe in Deutschland, z. B. in Trägerschaft von Vereinen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, kirchlicher und unabhängiger Träger. Insofern entstanden Ende 2020 Kontakte zwischen dem MAGS NRW und u. a. der DHS, in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind. Zudem wurde zwischen dem MAGS NRW und dem BMG ein Kontakt aufgebaut, um zu erörtern, ob und wie das im Projekt DigiSucht erarbeitete Konzept der digitalen Suchtberatung in die Sozialplattform des OZG eingefügt werden kann.
Keine Integration von DigiSucht
Da sich im Jahr 2021 herausstellte, dass die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht nicht über die Sozialplattform realisiert werden kann, begann die parallele Entwicklung dieser beiden bundesweiten Plattformen. Die Sozialplattform hat grundsätzlich einen sehr viel breiter angelegten Auftrag zu erfüllen und, wie beschrieben, den digitalen Zugang zu etlichen Verwaltungsleistungen umzusetzen. In den Beratungsleistungen der Sozialplattform konnte den Forderungen der einbezogenen Vertreter:innen aus Einrichtungen, Forschung, Verbänden, Landessstellen und, unter weiteren Institutionen, auch der DHS nicht entsprochen werden, und die Funktionalität der digitalisierten Beratung wird auf wenige Anwendungen beschränkt bleiben. Registrierten Einrichtungen werden über die Plattform eine Terminmanagementfunktion sowie Möglichkeiten der text- und videobasierten Kommunikation zur Verfügung stehen. Ein Beratungsstellenfinder hilft bei der Suche nach einem passenden Angebot – sowohl digital als auch vor Ort. Die Beratungsstellensuche soll dabei die tatsächliche Angebotslandschaft abbilden und nicht nur auf registrierte Einrichtungen beschränkt sein. Hilfesuchende sollen die Möglichkeit erhalten, auch solche Einrichtungen zu kontaktieren, die die Kommunikationstools der Sozialplattform nicht nutzen.
Im Sommer des Jahres 2022 befindet sich die Sozialplattform noch im Aufbau, eine Beta-Version ist bereits online nutzbar. Die Funktionalitäten der Suchtberatung sollen bis zum Jahresende umgesetzt werden.
DigiSucht – vom Konzept zum Aufbau einer digitalen Suchtberatungsplattform
In der zweiten Jahreshälfte 2020 erarbeitete die delphi GmbH im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums das Konzept für eine trägerübergreifende Plattform der digitalen Suchtberatung. Die Projektnehmerin entwickelte das Konzept DigiSucht in Kooperation mit Landesstellen und Einrichtungen der Suchtberatung. Neben einer Bestandsaufnahme wurden Bedarfe ermittelt und Instrumente für die Durchführung eines blended counselling beschrieben (z. B. zur individuellen Bedarfserfassung und Zieldefinition, zu Risikominderung und Motivierung und zur Kommunikation zwischen Einrichtung und Klient:in). Zudem erfolgten Überlegungen zur Integration der Plattform in die komplexe Versorgungsstruktur.
Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft
Im Zuge der Verhandlungen über eine Integration des Konzeptes in die Sozialplattform des OZG wurde die Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft ausgeweitet, und weitere Verbände wurden über die DHS in Beratungen einbezogen. Die so erweiterte Arbeitsgruppe DigiSucht formulierte Mindestanforderungen, die bei der Implementierung zu berücksichtigen seien. Neben fachlichen Standards wurden auch Forderungen nach einer Klärung der Finanzierungsfragen aufgestellt. Einrichtungen, die sich an einer digitalen Beratungsplattform beteiligen, müssten sowohl über technische Sachmittel als auch über qualifiziertes Beratungspersonal verfügen, um die Leistungen auch anbieten zu können.
Finanzierungsfragen
Die Finanzierung der Suchtberatung erfolgt überwiegend über kommunale Mittel sowie Zuwendungen der Bundesländer. Dadurch ergibt sich ein enorm heterogenes Feld bezüglich der Ausstattung und Ressourcen der Einrichtungen mit großen Unterschieden in den Bundesländern und Kommunen. Nur wenige Einrichtungen können über eine komfortable Ausstattung verfügen. Die Bewältigung zusätzlicher Aufgaben, der Personaleinsatz und Investitionen sind für die allermeisten Beratungsstellen schlicht nicht leistbar. Auf die finanzielle Notlage von Beratungsstellen machten die DHS und ihre Mitgliedsverbände im Jahr 2019 in zwei Veröffentlichungen aufmerksam: „Notruf Suchtberatung“ und „DHS Forderungen zur Suchtberatung“.
Trotzdem mangelt es in den Einrichtungen und Verbänden der Suchthilfe nicht am Willen und der Bereitschaft, sich den Herausforderungen der Digitalisierung und Weiterentwicklung der Suchtberatung zu stellen, sodass es dringend erforderlich war und ist, neben Landesstellen auch Vertreter:innen der Landesbehörden in die Planungen bundesweiter Lösungen einzubinden. Die Einrichtung von Landeskoordinierungsstellen ermöglicht die Begleitung der Umsetzung unter Gesichtspunkten der Finanzierung, aber auch der Organisation und der Koordinierung sich beteiligender Einrichtungen in den Ländern.
Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes
Da im Rahmen der Umsetzung der Sozialplattform eine Integration des DigiSucht-Konzeptes nicht möglich war (siehe Abschnitt zum OZG weiter oben), entschied sich das BMG, den Aufbau einer trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung zu fördern. Das ebenfalls von delphi koordinierte Projekt mit dem Ziel der Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes konnte daher an die Vorarbeiten anknüpfen und auch bestehende Strukturen der Arbeitsgruppen (Beteiligung von vielfältigen Akteur:innen der Länder, Landesstellen, Verbände und Einrichtungen) fortsetzen. Die Implementierung begann in der zweiten Jahreshälfte 2021 mit der Ausschreibung des technischen Aufbaus einer Plattform unter Berücksichtigung der Vorgaben des Konzeptes. Ein Beispiel für eine zentrale Vorgabe ist, dass bestehende open-source-Lösungen, die in Verbänden bereits großflächig angewandt werden, in die technische Struktur der Plattform integriert werden.
Die im Sommer 2022 laufende technische Umsetzung der Funktionalitäten wird von einer frühzeitig begonnenen Testphase mit Pilot-Beratungsstellen begleitet. Die Einbindung von Beratungsstellen soll die Anwendbarkeit und Praktikabilität der Funktionen sichern und noch im Aufbauprozess mögliche Schwachstellen identifizieren und eine Ausbesserung ermöglichen.
Ausblick: Nachhaltiger Betrieb der Plattform statt Modellprojekt mit befristeter Laufzeit
Aus Sicht der Hilfesuchenden besteht sicherlich ein großer Mehrwert darin, neben den vorhandenen Strukturen der Hilfen auch digitale Angebote nutzen zu können. Insbesondere bei einem ersten Schritt der Kontaktaufnahme kann dieser zusätzliche Weg beim Abbau von Hürden und Hemmnissen helfen.
Im weiteren Verlauf ist ein hybrides Angebot und blended councelling vorgesehen. Dies erfordert die Anbindung an eine ortsnahe Einrichtung und ist nicht unerheblich für die Strukturen der Versorgung. Denn im System müssen neben einem nur in der Theorie zentralen Angebot digitaler Beratung flächendeckende physische Strukturen vorgehalten werden, und die digitalen Erstkontakte müssen einen Prozess der Zuordnung zu den ortsnahen Einrichtungen durchlaufen, sodass spätere physische Kontakte mit einer Kontinuität im Beratungsprozess möglich sind.
Das ist nicht nur eine koordinatorische Herausforderung in der Phase der Plattformerrichtung. Der Personal- und Finanzbedarf für den kontinuierlichen Betrieb der Plattform sowie der Bedarf an technischer und inhaltlicher Weiterentwicklung machen deutlich, dass die Umsetzung nicht als Projekt mit Modellcharakter nach befristeter Laufzeit beendet sein kann. Neben den fortlaufenden Kosten eines digitalen Beratungsangebotes in Einrichtungen verursacht auch der Betrieb einer bundesweiten und trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung nach dem Aufbau fortwährend Kosten. Um die Funktionalität der Beratungsplattform nachhaltig abzusichern, ist ein entsprechendes Commitment der Länder und des Bundes erforderlich.
Kontakt und Angaben zum Autor:
Dr. Peter Raiser
Geschäftsführung und Referat Grundsatzfragen
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
Westenwall 4, 59065 Hamm
Tel. 02381 / 9015-0
Raiser(at)dhs.de www.dhs.de
Tossmann, P., Leuschner, F., delphi Gesellschaft für Forschung, Beratung und Projektentwicklung mbH (2021): Digitale Suchtberatung. Konzeption einer trägerübergreifenden digitalen Beratungsplattform für die kommunale Suchtberatung; online verfügbar: https://delphi.de/wp-content/uploads/2021/01/Konzept-DigiSucht_2021_BMG.pdf. Abgerufen am 19.08.2022
Die Notwendigkeit, digitale Angebote für suchtkranke Menschen zu entwickeln, wurde bereits vor einigen Jahren erkannt. Beratungsangebote per Mail und per Chat wurden von einzelnen Verbänden und Trägern der Suchthilfe konzipiert und umgesetzt. Im Januar 2020 verabschiedeten Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe (Verwaltung, Träger, Verbände, Fachverbände) gemeinsam die Essener Leitgedanken zur digitalen Transformation in der Suchthilfe.
Nur wenige Wochen später hat die Corona-Pandemie die Herstellung eines Bewusstseins für einen Bedarf an digitalen Angeboten ungeahnt beschleunigt. Der Lockdown sorgte dafür, dass in Suchtberatungsstellen großer Träger zunehmend digitale Beratungsangebote per Mail oder Chat eingerichtet und erprobt wurden, während kleine Träger weder auf Ressourcen noch auf Know-how zur Einführung von Onlineangeboten zurückgreifen konnten.
Ambulante Suchtberatung – das Verhältnis von regional und digital
Ist Suchtberatung entweder regional oder digital? Bisher ist beides zusammen nur in wenigen Regionen Deutschlands möglich. Ratsuchende finden gerade im ländlichen Raum keine Suchtberatungsstellen in der Nähe, die sowohl Online- als auch persönliche Gespräche anbieten. Stattdessen sind – neben einigen bundesweiten digitalen Suchtberatungsangeboten großer Verbände – immer noch kostenpflichtige Beratungsangebote im Ergebnis der Suchmaschinenrecherche sehr prominent sichtbar. Engagierte selbständige Berater:innen, entweder ausgebildete Fachkräfte mit einem einschlägigen Studium oder Betroffene mit eigenen Erfahrungen, bieten auf ansprechend programmierten Webseiten kostenpflichtige Beratung an. Die Terminvereinbarung für telefonische oder Videoberatung kann z. T. gleich digital erfolgen, ebenso die Online-Bezahlung der Beratungsleistung.
Damit bieten die privaten Dienstleister in der Regel sehr viel einfacher eine Onlineberatung (als Dienstleistung) an, als das bei den gemeinnützigen Trägern zu finden ist. Private Dienstleister werben damit, ohne Wartezeit, sicher und anonym Beratung durchführen zu können. Attraktiv gestaltete Webseiten präsentieren, zum Teil mit schönen Bildern, wer berät und welche Leistungen buchbar sind.
Die Webseiten gemeinnütziger Träger der Suchthilfe bieten in der Regel keine sofortige Terminvereinbarung an, eine Onlineberatung, die wohnortnah mit der regionalen Suchtberatungsstelle verknüpft ist, wird in der Regel nicht in der einfachen Suchtmaschinenrecherche angezeigt.
DigiSucht – bundesweit, digital und regional
Mit Start des Bundesmodellprojektes DigiSucht wurde von der delphi GmbH ab August 2020 mit Finanzierung durch das Bundesgesundheitsministerium die Konzeption einer trägerübergreifenden digitalen Beratungsplattform für die kommunale Suchtberatung entwickelt. Die Konzeptentwicklung wurde von Verbänden, Landesstellen und regionalen Suchtberatungsstellen unterstützt und begleitet.
Ab September 2022 werden erste Beratungsstellen die neu entwickelte Plattform im Modellbetrieb testen, bevor sie im ersten Quartal 2023 für alle Bürger:innen zugänglich gemacht wird. Ziel ist es, Ratsuchenden damit bundesweit Online-Suchtberatung anbieten zu können – verbunden mit der Möglichkeit des blended counceling, d. h., die Onlineberatung wird mit persönlichen Gesprächen in der Suchtberatungsstelle vor Ort und weiteren Onlinetools (wie z. B. Konsumtagebuch) kombiniert.
Gleichzeitig soll die Plattform bundesweit alle gemeinnützigen Suchtberatungsstellen in die Lage versetzen, datenschutzkonform, qualitätsgestützt und vernetzt mit den vorhandenen Klienten-Dokumentationssystemen Onlineberatung anbieten zu können. Gerade kleine Träger im ländlichen Raum waren bisher nicht in der Lage, eigene Onlineangebote zu entwickeln.
Mit der Inbetriebnahme der Plattform wäre dann ein großer Schritt in Richtung einer sozialraumorientierten digitalen Beratung getan. Gerade im ländlichen Raum kann dieses Onlineangebot die Möglichkeit bieten, wesentlich einfacher eine Suchtberatung zu erhalten. Weite Wege zur nächsten Beratungsstelle, fehlender ÖPNV und steigende Spritkosten sind dann keine Hürden mehr, die eine frühzeitige Beratung verhindern würden.
Doch digitale Transformation bedeutet mehr als das Zur-Verfügung-Stellen von Plattformen. Digitalisierung gerade in kleinen sozialen, gemeinnützigen Organisationen geht einher mit einem kulturellen Wandel. Wo Ratsuchende mittels digitaler Angebote niedrigschwelliger als bisher erreicht werden sollen, sind besondere Herausforderungen für die Einrichtungen und die Mitarbeitenden der Suchthilfeträger zu bewältigen.
Kaum ein Träger der Suchthilfe hat in den letzten Jahren eine Digitalisierungsstrategie entwickelt. Themen wie Datenschutz und IT-Sicherheit sind in der Regel unbeliebt und die Möglichkeiten, die jeweils aktuelle technische Ausstattung (finanziell) zu gewährleisten, gering. Der digitale Wandel geht im besten Fall einher mit Organisationsentwicklungsprozessen und Personalentwicklung. Die Digitalisierung wesentlicher Prozesse in Organisationen bedeutet zunächst eine Veränderung bekannter Prozesse und Abläufe – das bedeutet sowohl Unsicherheiten bei Mitarbeitenden als auch ein Infragestellen der bisherigen Gewissheiten. Serverbasiertes Arbeiten, digitale Terminvereinbarung und digitale Klientendokumentation wurden in den letzten Jahren in vielen Eirichtungen eingeführt.
Während der coronabedingten Lockdowns mussten neue Regelungen zu Themen wie Homeoffice und der Abrechenbarkeit digitaler Leistungen getroffen werden. Gleichzeitig wurden, zum Teil sehr innovativ und trotzdem im Sinne der Klient:innen, bekannte Wege verlassen und neue Erfahrungen in der digitalen Kommunikation mit Ratsuchenden gemacht. Was in der Krise sehr kreativ (und manchmal noch provisorisch) entwickelt wurde, gilt es nun zu professionalisieren und weiterzuentwickeln. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, einen Changemanagement-Prozess zu gestalten, der die Organisationen und die Mitarbeitenden in die Lage versetzt, die Anforderungen der Digitalisierung und den damit einhergehenden kulturellen Wandel zu bewältigen.
Gleichzeitig ist es dringend notwendig, die Finanzierungsstruktur der digitalen Angebote abzusichern. Anders als in vielen anderen Arbeitsfeldern bedeutet die Digitalisierung in der Suchthilfe nicht, dass Fachkräfte eingespart werden können und die Leistungen dadurch preiswerter werden. Um mittels digitaler Angebote mehr Menschen möglichst früh und niedrigschwellig zu erreichen, wie es der originäre Auftrag der Suchtberatungsstellen ist, werden sowohl die finanzielle als auch die fachliche und politische Unterstützung der Kostenträger sowie der kommunalen Auftraggeber benötigt. Der in der Pandemie begonnene erfolgreiche Weg, Menschen digital zu erreichen, sollte auch nach der Krisensituation fortgesetzt werden. Damit würden die in der Suchthilfe altbekannten Prinzipien der Niedrigschwelligkeit bzw. der aufsuchenden Arbeit im digitalen Raum durch nutzerfreundliche digitale Angebote weiterentwickelt.
New Work in der Suchthilfe – Neue Methoden erfordern neue Kompetenzen und bieten neue Chancen
Der Wunsch nach direkter Arbeit mit Menschen ist in der Regel eine wesentliche Motivation, um in der Suchthilfe zu arbeiten. Digitale Kompetenzen waren bisher kein Bestandteil der Ausbildung von Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen. Mit der Einführung von digitalen Tools werden von den Fachkräften in der Suchthilfe zusätzliche Qualifikationen gefordert, die bisher keine Rolle spielten. Der für einige Fachkräfte ungewohnte digitale Raum stellt bisher bekannte und eingeübte Methoden in Frage. Beratung im Chat und per Video erfordert andere Kommunikationsstrategien als die gewohnte (und erlernte) Gesprächsführung „in Präsenz“. Auch die Fähigkeit, digitale Anwendungen sicher zu bedienen, war bisher nicht grundlegender Bestandteil des Anforderungsprofils von Fachkräften in der Suchthilfe. Dieses methodische „Neuland“ muss erarbeitet werden. Dafür benötigen sowohl die Fachkräfte als auch die Träger qualitätsgesicherte Fortbildungsangebote. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, diesen grundlegenden kulturellen Wandel zu gestalten.
Die Hochschulen befinden sich aktuell in einem Prozess der Weiterentwicklung in diese Richtung. Erste Studiengänge im Themenfeld Digitalisierung sozialer Arbeit sind gestartet und beabsichtigen, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen als Grundlage in die Fachkräfteausbildung aufgenommen wird.
Der Fachkräftemangel führt schon jetzt dazu, dass ausgeschriebene Stellen in der Suchthilfe über längere Zeit nicht besetzt werden können. Während die erste Generation der Suchtberater:innen sich in den Ruhestand verbschiedet, kann die jetzt nachfolgende Generation der Fachkräfte sich ihren Arbeitsplatz danach auswählen, welcher Arbeitgeber die besten Rahmenbedingungen bietet. Hier stehen die Träger vor der Herausforderung, das Arbeitsfeld Suchthilfe so attraktiv wie möglich zu gestalten. Durch Online-Beratung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver gestaltet werden. Mobiles Arbeiten/Homeoffice und flexiblere Arbeitszeiten werden möglich – gute Angebote, um damit Fachkräfte zu gewinnen. Außerdem könnte das verstärkte Agieren mit digitalen Mitteln den Bereich der Suchthilfe zusätzlich für eine neue Gruppe an Fachkräften interessant machen.
Was nützt die Digitalisierung in der Suchthilfe den Ratsuchenden / Klient:innen?
Digitale Teilhabe heißt, dass jede Bürgerin/ jeder Bürger Zugang zu digitalen Entwicklungen hat, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Suchtberatung als Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge sollte diesen Auftrag annehmen und suchterkrankten Menschen einen digitalen Zugang zu Beratung schwellenarm und qualitätsgestützt zu bieten.
Die Attraktivität des Angebotes hängt auch davon ab, wie einfach der Zugang ist. Wenn das Ziel der ambulanten Suchthilfe heißt, Ratsuchende so früh wie möglich zu erreichen, sollten die Onlineangebote gesellschaftlich sehr breit und über entsprechende (Online-)Kanäle beworben werden. Gleichzeitig sollten die Onlineangebote attraktiv gestaltet und einfach zu bedienen sein.
Ausblick: Herausforderung und Chance
Digitalisierung in der Suchthilfe stellt ein großes Potenzial an Verbesserungsmöglichkeiten dar. Onlineangebote sollten dazu führen, dass Ratsuchende früher erreicht werden. Ideal ist die Verknüpfung von digitaler und regionaler Verfügbarkeit: Suchtberatung als Teil der Daseinsvorsorge muss wohnortnah und digital zugänglich sein. Onlineberatung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver machen und ein Vorteil bei der Gewinnung von Mitarbeitenden sein. Durch digitale Angebote werden keine Fachkräfte eingespart, sondern im besten Fall werden Menschen früher erreicht und es können größere gesundheitliche und soziale Schäden vermieden werden. Für eine erfolgreiche digitale Transformation benötigen die Träger der Suchthilfe fachliche, politische und finanzielle Unterstützung, um notwendige Organisationsentwicklungsprozesse zu implementieren.
Kontakt:
Andrea Hardeling
Geschäftsführerin
Brandenburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
Behlertstr. 3A, Haus H1
14467 Potsdam
andrea.hardeling(at)blsev.de www.blsev.de
Angaben zur Autorin:
Andrea Hardeling ist seit 2010 Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landestelle für Suchtfragen e.V. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin mit Weiterbildungen in Systemischer Beratung, Sozialmanagement und Organisationsentwicklung.
Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.
Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.
Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.
Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren
Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.
Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:
Wenn
Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,
dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.
Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).
Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.
SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.
Was ist das Besondere? SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.
Dauerhafte Finanzierung Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.
Die Leistung an Mann* und Frau* bringen Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.
Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.
Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.
Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.
Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.
Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.
Große Träger sind im Vorteil
Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.
In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.
Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.
Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen
In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.
Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.
Kontakt:
Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de
Angaben zum Autor:
Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.
Transgeschlechtliche Menschen gehören einer gesellschaftlichen Minderheit an, also einer Gruppe mit einer erhöhten Anfälligkeit für eine mögliche Suchtentwicklung und problematische Substanzkonsummuster. Sie sind von Risikofaktoren und suchtfördernden Umständen betroffen. Die Gründe für ihre gesellschaftliche Benachteiligung liegen in sozio-ökonomischen, kulturellen und psychosozialen Faktoren. Die für die Bewältigung der vielfältigen Belastungen unzureichenden Ressourcen werden in ihrer Gesamtheit Minderheitenstress genannt (vgl. auch „Minoritätenstressmodell“, Brewster et al. 2013).
Besondere Stresserfahrungen von transgeschlechtlichen Menschen sind familiäre Ablehnung, Diskriminierungserfahrungen und mangelnder Zugang zu einer geschlechtsbejahenden Gesundheitsversorgung. Die kumulative Wirkung von Minderheitenstress ist mit einer erhöhten Komorbidität verbunden. Zu diesen Komorbiditäten gehören schwerwiegende psychische Erkrankungen und Suchtmittelabhängigkeit. Transgeschlechtliche Menschen sind neben dem Risiko für eine Suchterkrankung mit weiteren erheblichen gesundheitlichen Risiken wie HIV und sexualisierter Gewalt belastet (vgl. James et al. 2016, S. 10). Das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, ist für trans Personen deutlich erhöht (Clark et al. 2017). In den USA beträgt die HIV-Rate bei trans Menschen 1,4 % zu 0,3 % bei der Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus ist das Erleben mehrerer Minderheitsstressoren mit einer dramatisch höheren Prävalenz von Suiziden und Suizidversuchen und einer erhöhten Prävalenz von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) verbunden.
Trans Menschen profitieren von herkömmlichen Angeboten der Suchthilfe zu wenig und werden ungenügend erreicht. Sie erleben häufig Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von mangelnder Fachkenntnis (European Union Agency for Fundamental Rights 2014).
Deshalb hat der Träger Therapiehilfeverbund in Hamburg die Beratungsstelle 4Be (gesprochen „for be“ im Sinne von „Für das Sein“, „Weil es dich gibt, sind wir für dich da“) gegründet und bietet seit April 2019 Beratungen für geschlechtsdiverse Menschen an. 4Be praktiziert einen nicht pathologisierenden und in der Behandlung nicht diskriminierenden Ansatz (Austin et al 2015) und unternimmt verstärkte Anstrengungen, der gesundheitlichen Ungleichheit entgegenzuwirken (Austin & Craig 2015).
Damit soll das umfassende Konzept von Gesundheitsförderung der WHO berücksichtigt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Setting-Ansatz, der neben der Stärkung der individuellen Ressourcen auch auf die aktive Gestaltung gesundheitsfördernder Lebenswelten abzielt (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2017).
Suchthilfe
Transgeschlechtliche Menschen haben nur beschränkt Zugang zu Angeboten der Suchthilfe, sie gelten als „schwer erreichbar“. Für die eingeschränkte Erreichbarkeit sind beeinträchtigende Faktoren auf Seiten der Suchthilfe, sozial-strukturelle Hindernisse sowie Unzulänglichkeiten der jeweiligen Settings verantwortlich.
Geschlechtsdiverse Menschen werden im Hilfesystem regelhaft mit starren Vorstellungen von Geschlecht konfrontiert, die sich an binären Biologismen orientieren (Renner et al. 2020). Diese werden von den Genitalien abgeleitet, die gleichsam eine eindeutige geschlechtliche Identifizierung erzeugen sollen, entweder weiblich oder männlich. Menschen werden damit von der Geburt an identifiziert und lebenslang unterscheidbar angesprochen. Diese binäre Klassifizierung als Mann oder Frau erscheint als natürlich und nicht diskutierbar. Deshalb müssen trans Menschen nicht nur erleben, dass sie dem falschen Geschlecht zugeordnet werden und/oder von ihnen mit dem falschen Pronomen gesprochen wird (misgendern), sondern v. a. dass ihre geschlechtliche Wahrnehmung grundsätzlich in Frage gestellt und negiert wird.
Zu den erschwerenden sozial-strukturellen Hindernissen gehört ein geringerer sozioökonomischer Status, der einhergeht mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz wie Mobbing oder Aufstiegshindernisse oder gleich ganz dem Verlust des Arbeitsplatzes. Dazu kommen Fehlzeiten aufgrund von Behandlungsterminen und wiederholte Krankenhausaufenthalte mit zum Teil längeren Erholungsphasen z. B. nach einer Operation. Die Versorgungssituation ist beschränkt auf wenige Anlaufstellen in Ballungsräumen. Für diese wenigen Plätze bestehen in der Regel lange Wartezeiten. In der Fläche gibt es selten therapeutische oder endokrinologische Hilfsangebote. Dabei ist die Situation für die unter 18-Jährigen noch schlechter.
Für die Arbeit mit Transsexuellen sind die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit (AWMF 2018) und darüber hinaus die Richtlinie des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen 2020) bindend. Sie schreiben Mindestqualifikationen der Mitarbeiter_innen vor, die in den meisten Beratungssettings nicht erbracht werden können.
Grundsätzlich ist es heikel, transgeschlechtliche Menschen auf ihre Sucht-Gefährdung anzusprechen und zu versuchen, sie für spezifisch auf sie ausgerichtete Maßnahmen zu gewinnen. Es besteht das Risiko der Stigmatisierung und Schuldzuweisung („Blaming the victim“), und es besteht die Gefahr, eine vorhandene Vulnerabilität zusätzlich zu verstärken (Montada et al. 1988). Das Angebot von 4Be ist deshalb in der Ansprache der Menschen und der Umsetzung zeit- und ressourcenintensiver als andere Angebote. Der Fokus darf ja nicht nur auf konkrete, bereits vorhandene riskante Konsummuster ausgerichtet sein, denn die anzugehenden Risiken und vor allem die Komorbiditäten sind vielfältiger und komplexer.
Die Ansprache dieser Zielgruppe durch 4Be hat deshalb drei Ziele:
Zugang zu den Menschen schaffen, die Menschen erreichen;
Akzeptanz gewinnen, die Menschen lassen sich auf das Angebot ein;
Wirkung erzielen, es kommt zu Veränderungen und Verbesserungen beim Suchtmittelkonsum und den Komorbiditäten.
Peerkonzept
Das Angebot im Bereich Genderdiversität von 4Be integriert alle relevanten Inhalte rund um das Thema. Dazu ist eine spezifische Fachkompetenz notwendig, durch die ein Suchtproblem identifiziert werden kann, und die handlungsfähig macht. Dafür bietet sich ein Peer-Angebot an, das auf die ressourcenstärkende Beziehung zu einer Bezugsperson aus der Community setzt.
Für die Suchtarbeit bedeutet dieser Ansatz allerdings Neuland, und die Suchtberatung verlässt die gewohnten Pfade. So müssen Kommunikationsmittel und -wege speziell auf diese Zielgruppen ausgerichtet werden. Hier spielen das Internet und die sozialen Medien eine besondere Rolle. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen Anforderungen des Datenschutzes und gruppenorientierter Kommunikation. Auch in diesem Kontext bietet das Peer-Angebot Entwicklungsmöglichkeiten, da sich die Peers unmittelbar in der Community aufhalten.
Unter dem Wort „Peer“ versteht man einen „Gleichrangigen“, es geht also um ein Angebot auf Augenhöhe. Dieses Angebot eignet sich besonders für Menschen, die sich mit jemandem austauschen möchte, die_der ähnliche Erfahrungen gemacht hat und die eigenen Erfahrungen dadurch auf besondere Art nachvollziehen kann. In der Peer-Beratung unterstützen und beraten Menschen, die eigene seelische Krisen erfahren haben, nach einer Beratungsausbildung andere Betroffene. Peer-Berater_innen hören vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung zu und bieten Beistand in Krisensituationen.
Sucht
Es gibt nur wenige valide Zahlen zur Suchtmittelabhängigkeit genderdiverser Menschen. Zahlen aus der Allgemeinbevölkerung zur Prävalenz von Suchtmittelabhängigkeit heranzuziehen, bildet den Minderheitenstress nicht hinreichend ab. In einer Studie in den USA berichteten 26,3 % der teilnehmenden trans Personen, in der Vergangenheit Drogen oder Alkohol in schädlicher Weise konsumiert zu haben, um mit transbezogener Diskriminierung umzugehen (Klein & Golub 2016).
In einer weiteren, internetbasierten Studie aus den USA zum Substanzkonsum bei erwachsenen trans Personen in den letzten drei Monaten machten 21,5 % der Teilnehmenden Angaben über exzessiven Alkoholkonsum, 24,4 % über Cannabiskonsum und 11,6 % über den Konsum anderer Drogen (Gonzalez et al. 2017). Ergebnisse aus der Hamburger ENIGI-Studie zeigen, dass der Alkoholkonsum von trans Personen nicht als grundsätzlich auffällig oder klinisch relevant eingestuft werden kann. Bei insgesamt 6,9 % der befragten Stichprobe wurde der Alkohol- oder Drogenkonsum als schädlich oder abhängig eingestuft (Kürbitz et al. 2018).
Abb. 1: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Suchtverteilung
Die Daten der Jahresauswertung 2020 von 4Be beruhen auf den Selbsteinschätzungen der Klient_innen, die über einen Fragebogen erhoben wurden, und den Feststellungen der Peers (N=186). Im Wesentlichen dürften Menschen mit Suchtthematik eine entsprechende Beratung aufsuchen. Allerdings konnten bei 34 % (2019: 39 %) keine Feststellungen zu Suchtmitteln gemacht werden. Das liegt vor allem an den Einmalberatungen, bei denen kein Fragebogenrücklauf erfolgen konnte. Die Quote der Menschen mit einer Suchtthematik ist im Jahr 2020 leicht auf 66 % gestiegen (2019: 61 %).
Die Verhaltenssüchte und vor allem nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) stehen an erster Stelle der Befunde in der Beratung. Zusammen mit Internet-basierten Süchten und Kaufsucht machen sie 28 % (2019: 21 %) der Nennungen von süchtigem Verhalten aus.
Problematischer Alkoholkonsum konnte bei 14 % der Klient_innen festgestellt werden und verzeichnet damit einen spürbaren Rückgang im Vergleich zu 2019 (36 %). Die Zahlen bewegen sich damit in Richtung der Ergebnisse der ENIGI-Studie (Köhler et al. 2019).
An dritter Stelle der Suchterkrankungen stehen die Essstörungen mit 10 % in der Reihung Anorexie (5 %), Binge Eating (3 %) und Bulimie (2 %). Beim Cannabiskonsum liegt mit 9 % eine Steigerung der Feststellungen im Vergleich zu 2019 (7 %) vor. Alle anderen Suchtformen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Nikotin und Medikamentenabhängigkeit haben als Thematik mit jeweils 1 % gegenüber den Zahlen aus 2019 (7 % und 6 %) keine Relevanz mehr.
Abb. 2: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Alters- und Geschlechterverteilung
Für eine Suchtberatungsstelle ist ein Durchschnittsalter von 26,5 Jahren niedrig. Die trans Männer (bei der Geburt weiblich zugewiesen) haben einen Anteil von 44 % und ein Durchschnittsalter von 23,4 Jahren. Sie stellen damit die jüngste Gruppe. Die trans Frauen (bei der Geburt männlich zugewiesen) haben einen Anteil von 40 % und sind im Durchschnitt 29,2 Jahre alt. Die kleinste Gruppe bilden Menschen, die sich nicht binär verorten. Zu dieser Gruppe zählten sich 16 % mit einem Durchschnittsalter von 28,7 Jahren. Mit dieser Altersverteilung haben wir bezogen auf das Suchtmittel ungefähr eine Drittelung: 38 % haben nicht stoffgebundene Süchte, 28 % haben stoffgebundene Süchte und 34 % sind ohne Befund in der Beratung. Die Bedeutung von Verhaltenssüchten steigt, seitdem wir diese spezielle Arbeit machen.
Suizidalität
Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist in der Suchtberatung für genderdiverse Menschen eine besondere Herausforderung. Bei trans Suchterkrankten zählen zu den häufigsten Belastungsfaktoren Diskriminierung und vor allem sexuelle Gewalt. Suizidprophylaxe gehört zu den Standardinterventionen in der Beratungsarbeit.
Im Jahr 2017 starben in Deutschland 9.241 Menschen durch einen Suizid (Statista 2019), das sind 0,0114 % der Bevölkerung (Wagner & Hofmann 2020). In der Lebenszeitprävalenz hatten 8 % der Bevölkerung Suizidgedanken und 1,5 % versuchten sich das Leben zu nehmen.
Die umfangreichste Studie zur Suizidalität bei Transsexuellen stammt aus den USA (Herman et al. 2019). Diese Studie zeigt, dass die Prävalenz von Suizidgedanken und -versuchen bei trans Erwachsenen signifikant höher ist als in der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung. So hatten die trans Erwachsenen bezogen auf die letzten zwölf Monate eine fast zwölfmal höhere Prävalenz von Suizidgedanken und eine etwa 18-mal höhere Prävalenz von Suizidversuchen.
Die US-amerikanische Transgender-Umfrage (USTS) von 2015, die bislang größte Umfrage unter Transgender-Personen in den USA, ergab, dass 81,7 Prozent der Befragten in ihrem Leben jemals ernsthaft über Selbstmord nachgedacht hatten, während 48,3 Prozent dies im vergangenen Jahr getan hatten. 40,4 Prozent gaben an, irgendwann in ihrem Leben Suizidversuche unternommen zu haben, und 7,3 Prozent gaben an, im vergangenen Jahr Suizidversuche unternommen zu haben (James et al. 2016).
Der Hauptrisikofaktor ist die kumulative Wirkung von Minderheitenstress. 97,7 Prozent derjenigen, die im vergangenen Jahr mindestens vier unterschiedliche diskriminierende oder gewalttätige Erfahrungen gemacht hatten, gaben an, ernsthaft über Suizid nachgedacht zu haben, und 51,2 Prozent haben einen Suizidversuch unternommen.
Diese Raten sinken übrigens schnell, wenn die Betroffenen im sozialen Umfeld und in den Familien Unterstützung bekommen, wenn sie eine Hormontherapie und/oder chirurgische Versorgung wünschten und anschließend auch erhielten und wenn sie in einem Staat mit einem Nichtdiskriminierungsgesetz zur Geschlechtsidentität leben.
Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wurde als Forschungsdiagnose im DSM-5 (American Psychological Association 2013) aufgenommen. Die Forschungen sollen überprüfen, ob NSSV eine eigenständige psychische Störung oder ein transdiagnostisches Phänomen darstellt, welches mit vielen psychischen Störungen einhergehen kann. In der ICD-10 ist das selbstverletzende Verhalten eines der Diagnosekriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus. Zudem besteht die Möglichkeit, auf der 4. Achse eine „vorsätzliche Selbstschädigung“ zu kodieren. Mit der derzeitigen Veröffentlichung der ICD-11 ist die nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E) unter den Symptomen oder Merkmalen, welche das Erscheinungsbild oder Verhalten umfassen (MB23), in der Kategorie „Mortality and Morbidity Statistics“ aufgeführt.
Die Arbeit im ersten Jahr in der Beratungsstelle hat gezeigt, dass in der Gruppe der Jungerwachsenen Zwänge in Form von selbstverletzendem Verhalten (NSSV) mit dem Störungsbild einer Verhaltenssucht häufig sind. NSSV steht mit Suizidalität und vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum im Sinne einer Symptomverschiebung im Zusammenhang (In-Albon et al. 2015). Dem wird in der weiteren Arbeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein.
Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wird im DSM-5 definiert als direkte, sich wiederholende, sozial nicht akzeptierte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht. Die häufigsten Methoden sind Schneiden, Ritzen und Sich-selbst-Schlagen. Bei der Geburt weiblich einsortierte Jugendliche schneiden sich häufiger (Cutting-Type), und bei der Geburt männlich einsortierte Jugendliche schlagen sich häufiger (Hitting-Type) (In-Albon et al. 2020). NSSV wird häufig zur Selbst- und Emotionsregulation genutzt, z. B. dient das Fühlen von Schmerz dazu, unangenehme Gefühle zu beenden.
NSSV tritt insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig auf. Zwischen 25 und 35 % der Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung haben sich bereits mindestens einmal selbst verletzt, wiederholend und damit mit suchtartigem Charakter verletzen sich circa 4 % (In-Albon et al. 2020). Für die Arbeit von 4Be ist bedeutsam, dass die Prävalenzraten bei Angehörigen sexueller Minderheiten mit durchschnittlich 40,5 % (In-Albon et al. 2020) deutlich erhöht sind. Man kann sagen, dass NSSV neben Suizidalität und Sucht eine der wesentlichen begleitenden psychischen Störungen bei jugendlichen trans ist.
Corona
Die beiden Lockdowns im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Corona-Pandemie) von März bis Mai und seit Oktober 2020 führten zu vermehrten Aufnahmen im Vergleich zu den durchschnittlichen Aufnahmen. Im März gab es eine Steigerungsrate von 14 % und im Oktober eine Steigerung um 21 %. Die Krise hat dazu geführt, dass spürbar mehr Menschen sich Hilfe gesucht haben.
Vor allem bei den unter 18-Jährigen in der Beratung bei 4Be gab es Auswirkungen. Ihr Anteil liegt bei 12 % mit 31 laufenden Betreuungen. 77 % (24) sind trans männlich, 16 % (5) sind trans weiblich und 3 sind geschlechtsdivers. Die Bedürfnisse geschlechtsdiverser Kinder werden in der Pandemie kaum berücksichtigt. Viele sind durch die Kontaktbeschränkungen sehr belastet, sie fühlen sich einsam und haben wenig Struktur im Alltag. Kinder und Jugendliche verbringen während der Pandemie viel mehr Zeit zu Hause. Plötzlich spielen familiäre Konflikte im Kontext Transgeschlechtlichkeit eine viel wichtigere Rolle, weil das Thema zu Hause immer greifbar ist. In Hamburg warten viele Kinder und Jugendliche vergeblich auf einen Therapieplatz, um ihre Transgeschlechtlichkeit zu behandeln.
Kinder, die vor der Corona-Pandemie ihre Transgeschlechtlichkeit irgendwie im Griff zu haben glaubten – durch die Struktur im Alltag mit Schulbesuch, Hausaufgaben, Freunden und diversen Hobbies –, hatten bzw. haben nun viel mehr Zeit übrig und fühlen sich einsam, und ihre Gedanken kreisen nur noch um ihr Geschlecht. Der entstehende Druck äußert sich in einer erheblichen Zunahme der Nutzung sozialer Medien, Internetkonsum, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und einer Steigerung der Suizidalität.
Vor allem bei Jugendlichen, die in einem nicht supportiven Umfeld leben, in dem von den Eltern oder im Rahmen einer öffentlichen Betreuung nicht anerkannt wird, dass Transgeschlechtlichkeit ernst zu nehmen ist und behandelt werden muss, eskaliert die Situation. Hinzu kam im ersten Lockdown ein Aufnahmestopp in den Jugendhilfeeinrichtungen, der die Jugendlichen und unsere Einrichtung vor große Probleme stellte.
Fazit und Ausblick
Beratungsarbeit im Kontext von Transgeschlechtlichkeit und Komorbiditäten wie Sucht steht in mehreren Spannungsfeldern.
Für die Konzepte von „Diagnostik“ und „Komorbidität“ ist das Verständnis von Transgeschlechtlichkeit als Krankheit Bedingung. Die seit dem 09.10.2018 in Kraft getretene S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit räumt dem diagnostischem Prozess großen Raum ein.
So sagt sie zwar einerseits, dass es weder aus klinischer noch aus wissenschaftlicher Sicht Kriterien oder Differentialdiagnosen gibt, die eine Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie (GIK/GD) von vornherein ausschließen. Bei begleitenden psychischen Störungen wie beispielsweise einer affektiven Störung, einer sozialen Phobie oder Selbstverletzungsverhalten ist eine Verzögerung der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen nicht zielführend, da es durch die Einleitung entsprechender Maßnahmen (z. B. Hormon- und/oder Epilationsbehandlung) in vielen Fällen zu einer Remission sowohl der GIK/GD-Symptomatik als auch der psychischen Störung kommen kann. Erst im Behandlungsverlauf lässt sich unterscheiden, ob die Symptomatik reaktiv ist oder unabhängig von der GIK/GD besteht (vgl. AWMF 2018, S. 22).
Allerdings sei ein längerer diagnostischer Prozess vor der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen gerechtfertigt, wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass die begleitende psychische Störung die GIK/GD wesentlich mitbeeinflusst. Das gilt insbesondere bei vorliegender aktueller psychotischer Symptomatik, Sonderformen der Dissoziativen Störung mit verschiedengeschlechtlichen Ego-States oder einer umfassenden Identitätsunsicherheit und bei einem akuten, klinisch relevanten Substanzmissbrauch (vgl. AWMF 2018, S. 22).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass vorhandene Komorbiditäten zum Anlass genommen werden, die transsexuellen Menschen in Behandlungen zu zwingen. Es wird unterstellt, dass die Komorbiditäten in einem Zusammenhang mit der GIK/GD stehen oder stehen könnten. Die medizinisch notwendigen Modifikationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale werden den Menschen verwehrt und damit die Chancen, sie irgendwie doch zu erreichen, ungünstig beeinflusst.
Diagnostik ist vor allem durch die Vorgaben der MDS-Richtlinie an ein binäres Paradigma der Transgeschlechtlichkeit (Mann zu Frau, Frau zu Mann) gekoppelt. Auch die Vorstellung von einer Transition als linearem Behandlungsverlauf der körperlichen und sozialen Anpassung von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann fördert eine starke Erwartungshaltung bei den Behandler_innen und Klient_innen gleichermaßen (vgl. Renner et al. 2020). Es gibt das Ideal eines Prozesses, an dessen Anfang ein komorbiditätsfreier transgeschlechtlicher Mensch steht, der am Ende den gesellschaftlichen Identitätsvorgaben des Zielgeschlechtes körperlich und seelisch soweit wie möglich entsprechen soll.
Die diagnostischen Kriterien verwischen die Diversität von trans Personen hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und ihren Behandlungsanliegen. Nicht alle trans Personen halten körpermodifizierende Behandlungen für notwendig. Wenn sie sich als non-binär oder genderqueer verstehen, verfolgen sie teilweise ausgewählte Modifikationen. Dogmatismus und cis heteronormative Vorstellungen bringen Menschen dazu, vorgezeichnete Wege zu gehen. Biografien werden entsprechend modifiziert, um in ein schwarz/weiß-Schema zu passen.
Diagnostik von Transgeschlechtlichkeit erfährt international einen Paradigmenwechsel, denn die Begriffe und die diagnostischen Kriterien verändern sich in Richtung einer Entpathologisierung. Gegenüber der ICD-10-Diagnose Transsexualismus, die für das deutsche Gesundheitssystem weiterhin sozialrechtlich verbindlich ist, ist die Geschlechtsinkongruenz in der ICD-11 nicht mehr als psychische Störung, sondern in einem neuen Kapitel „Conditions related to sexual health“ (World Health Organization 2018) aufgenommen. Nach DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) liegt eine Geschlechtsdysphorie vor, wenn die Geschlechtsinkongruenz zu einem klinisch bedeutsamen Leidensdruck führt. Grundlage einer Behandlung ist nicht mehr die Trans-Identität, sondern die Geschlechtsdysphorie, also das Leiden unter der Geschlechtsinkongruenz. Genauso wie die ICD-11-Diagnose Geschlechtsinkongruenz beschränkt sich die DSM-5-Diagnose Geschlechtsdysphorie nicht auf binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und schließt non-binäre Geschlechter ein.
Weltweit besteht fachlicher Konsens darüber, dass trans Menschen eine ganzheitliche Gesundheitsförderung mit dem Zugang zu einer multimodalen, trans-informierten Gesundheitsversorgung erhalten sollen (Coleman et al. 2012; T’Sjoen et al. 2020; World Medical Association 2015). Transitionsunterstützende Behandlungen umfassen damit ein weites Spektrum möglicher Maßnahmen. Nicht zuletzt erreichen wir bei 4Be Menschen in einem sehr frühen Stadium von Suchterkrankung. Es bleibt damit Zielsetzung und Hoffnung zugleich, dass wir mit unseren Ansätzen progrediente Verläufe wirksam verhindern oder abmildern können.
Cornelia Kost ist Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Suchtfortbildungsinstitute, Vorstandsmitglied der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen, Gerichtsgutachterin im TSG-Verfahren, Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. und dem Bundesverband Trans* e.V. Sie leitet seit 2019 „4Be TransSuchtHilfe“ in Hamburg.
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