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  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Robert Meyer-Steinkamp

    Wie hoch sind die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in der Suchthilfe? Die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) ermittelte mithilfe einer „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ die Situation der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In Teil I dieses Artikels (erschienen am 15. April 2019) berichtete Robert Meyer-Steinkamp über den Anstoß dazu und die Durchführung der ersten Phase, einer Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen. In Teil II stellt er die zweite Durchführungsphase dar, in der aufbauend auf den Befragungsergebnissen in Workshops Maßnahmepläne erarbeitet wurden.

    Psychische Belastung und psychische Beanspruchung

    Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua) bemängelt in ihrer Broschüre „Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben: Erkennen – Gestalten“ (2010) begriffliche Unklarheiten und gibt eine Definition für „psychische Belastung“ und „psychische Beanspruchung“ an. In Anlehnung daran lässt sich zusammenfassen:

    „Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.“ (DIN EN ISO 10075-1 (1a); baua 2010, S. 9)

    Psychische Belastung, ob beruflicher oder außerberuflicher Natur, wird dabei zunächst als wertneutral und nicht zwangsläufig als negativ betrachtet. Grundsätzlich ist psychische Belastung Teil aller Tätigkeiten und betrifft alle Menschen. Darüber hinaus ist sie notwendig, um die psychischen Funktionen aufrechtzuerhalten, analog den körperlichen Funktionen, die schwinden, wenn z. B. nach einem Beinbruch eine längere Ruhigstellung erfolgt und anschließend die Muskulatur erst wieder trainiert werden muss, bevor der Betroffene wieder regulär gehen oder womöglich sportlich aktiv sein kann.

    „Psychische Beanspruchung ist die unmittelbare (nicht langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.“ (DIN EN ISO 10075-1; baua 2010, S. 10)

    Die psychische Belastung durch einen aufregenden Film kann als beängstigend oder anregend erlebt werden und damit eine unterschiedliche Beanspruchung erzeugen. Zwei Teammitglieder in gleicher Funktion können auf die gleiche Belastung durch die Arbeitsumgebung sehr unterschiedlich reagieren und sich unterschiedlich beansprucht fühlen. Der eine fühlt sich im positiven Sinne herausgefordert und angespornt, führt Auseinandersetzungen, sucht Lösungen und bezieht Kollegen ein. Der andere fühlt sich überfordert, unter Druck, entwickelt Stresssymptome und zieht sich zurück. Zu einem anderen Zeitpunkt, ein Jahr später, könnte die Reaktion aufgrund veränderter individueller Voraussetzungen jeweils ganz anders ausfallen.

    Auswirkungen psychischer Beanspruchung

    Positive psychische Beanspruchung im Sinne von Anreiz und adäquater Herausforderung wird als ein Motor für die menschliche Entwicklung allgemein und auch im Hinblick auf arbeitsbezogene Kompetenzen gesehen. Gleichzeitig kann psychische Belastung die mit diesem Begriff eher assoziierten negativen Folgen wie Erschöpfung, somatoforme Erkrankungen, Burnout-Symptome oder weiterreichende psychische Erkrankungen auslösen. In diesem Fall spricht  man von Fehlbeanspruchung. Positive Beanspruchung führt tendenziell zu individueller Weiterentwicklung und Zufriedenheit sowie betrieblich zu höherer Produktivität und Geschäftserfolg. Fehlbeanspruchung führt tendenziell zu Stress und Krankheit  sowie auf betrieblicher Ebene zu Fehlern, Mehrkosten und geschäftlichem Misserfolg (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Modell für Zusammenhänge hinsichtlich psychischer Belastung und Beanspruchung

    Die Belastungen am Arbeitsplatz, das wird bei dieser Betrachtung deutlich, sind eine wesentliche, aber durchaus nicht die einzige Quelle möglicher psychischer Fehlbeanspruchung. Lebensgeschichtlich erworbene persönliche Stärken und Schwächen und aktuelle außerbetriebliche Belastungen können dazu führen, dass die ‚normale‘ Arbeitssituation bei einzelnen Mitarbeiter/innen in psychischer Fehlbeanspruchung mit all ihren Auswirkungen mündet, obwohl diese Situation bei 95 Prozent der Kolleg/innen keine negativen Auswirkungen hat. Außerbetriebliche oder in der Persönlichkeit liegende Quellen für Fehlbeanspruchung lassen sich durch eine Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen nicht erfassen und sind mit betrieblichen Mitteln auch nicht zu steuern. Somit ist es unwahrscheinlich, eine betriebliche Situation herstellen zu können, in der die psychische Fehlbeanspruchung und deren negative Auswirkungen bei null liegen. 

    Betriebliche Quellen psychischer Belastung

    Dennoch füllt Arbeit einen erheblichen Teil des Alltags  aus und stellt somit eine bedeutsame Quelle psychischer Belastung dar. Die baua (2010) differenziert diese Quelle in die Bereiche:

    • Arbeitsaufgabe (z. B. viel Verantwortung, schwierige Klientel, Monotonie)
    • Arbeitsumgebung (z. B. physikalisch: Lärm, Temperatur; oder sozial: Betriebsklima, Führungsverhalten)
    • Arbeitsorganisation/Arbeitsablauf (z. B. Informationsfluss, Dienstplanung)
    • Arbeitsmittel (z. B. allgemeine technische Ausstattung, Computersysteme)
    • Arbeitsplatz (z. B. direkte Arbeitsumgebung des Einzelnen)

    Alle Bereiche werden durch den in Teil I des Artikels beschriebenen Mitarbeiterfragebogen angesprochen und in den 13 Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit abgebildet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Phase 1: Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung

    Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung stehen in der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse, der Leitung und dem Betriebsrat in allen Details zur Verfügung. Außerdem erhalten die externen Moderatorinnen der Workshops – die Betriebsärztin (Hanseatisches Zentrum für Arbeitsmedizin hanza) sowie eine auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin (hanza ressources) – die Ergebnisse, um die Workshops vorzubereiten.

    Eine erste genauere Betrachtung der Befragungsergebnisse obliegt der Leitung und dem Betriebsrat mit dem Ziel, die zentralen Punkte auf einer Betriebsversammlung zu präsentieren und so den Kolleg/innen eine zeitnahe Rückmeldung zu ihrer Teilnahme an der Befragung zu geben. Dabei werden sowohl Stärken als auch Problemfelder, die sich abzeichnen, benannt.

    Hinsichtlich der allgemeinen Arbeitszufriedenheit ergab sich für die TGJ gesamt, auch im Benchmark mit sieben anderen Einrichtungen der Suchthilfe, ein sehr erfreuliches Bild. Unzufrieden waren nur ca. drei Prozent (s. Abb. 2).

    Abb. 2: „Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit Ihrem Arbeitsplatz?“

    Wir gehen davon aus, dass die Mitteilung dieses Stimmungsbildes im Rahmen der Ergebnispräsentation das Bewusstsein für die positiven Aspekte des Arbeitsplatzes weiter steigert und sich daraus wiederum positive Einflüsse auf das betriebliche Geschehen entwickeln.

    Auf der Ebene der Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit zeichnete sich dagegen beim Faktor PC-Arbeitsplätze eine deutliche Verschlechterung gegenüber der Befragung von 2014 ab. 2014 betrug die Problemhäufigkeit drei Prozent, 2017 waren es 16 Prozent (s. Abb. 3).

    Mit 16 Prozent Problemhäufigkeit steht die TGJ im Vergleich zu anderen Einrichtungen zwar gut da – eine deutliche Verschlechterung des eigenen Wertes, so hatten wir es in der AG Gefährdungsanalyse festgelegt, sollte aber immer ein Anlass zu Diskussionen und möglichst Verbesserungen sein. Letzteres wurde für die Jahre 2018/19 dann auch als Zielsetzung formuliert und im weiteren Verlauf mit konkreten Maßnahmen unterlegt.

    Abb. 3: Problemhäufigkeiten der Faktoren PC-Arbeitsplätze und Beschäftigungsbedingungen im Vergleich

    Der Faktor Beschäftigungsbedingungen wiederum verzeichnete eine deutliche Verbesserung von 25 auf 13 Prozent Problemhäufigkeit (s. Abb 3). Hintergrund dafür war vor allem die Umwandlung von Nebenabreden in nunmehr feste Stellen. Bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern waren ergänzend zu einer fest vereinbarten Teilzeitstelle weitere wöchentliche Arbeitsstunden durch jährlich zu erneuernde Nebenabreden geregelt. Für die Kollegen war damit ein nicht unerhebliches Maß an längerfristiger Einkommensunsicherheit verbunden. Die Mitarbeiterbefragung von 2014 war ein Anlass gewesen, diese Nebenabreden zu diskutieren. Die erfolgreiche Veränderung ist ein Beispiel dafür, dass eine Einflussnahme durch die Mitarbeitenden möglich ist.

    Phase 2: Workshops und die Entwicklung von Maßnahmeplänen

    Die Betriebsärztin und die auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin moderieren die Workshops. Sie nehmen an der Präsentation der Befragungsergebnisse teil und notieren dabei auftauchende Fragen und Anmerkungen aus der Kollegenschaft. Diese Notizen und eine eigene Sichtung der Befragungsergebnisse dienen zur thematischen Vorbereitung der Workshops. Die Workshop-Teilnehmer werden von den Berufsgruppen nach eigener Wahl entsandt. Die Workshops finden ohne die jeweilige Bereichsleitung statt. Die Bereichsleitungen besuchen einen eigenen Workshop, um Themen im Kontext ihrer Leitungsaufgabe ansprechen zu können (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Teilnehmerzahl und Dauer der Workshops

    Gut konstruierte Fragebögen sprechen möglichst alle Aspekte an, die für die zu untersuchende Thematik wesentlich sind. Bei den 102 Fragen des verwendeten Picker-Fragebogens geschieht das relativ detailliert. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist in beiden Teilen des Artikels durchgängig von Picker die Rede.) Dennoch werden weitere möglicherweise wichtige Aspekte nicht wahrgenommen. Diese anderen Aspekte können z. B. arbeitsbereichsspezifisch sein oder in Besonderheiten der Einrichtung liegen. Zwei im Picker-Fragebogen enthaltene offene Fragestellungen gehen auf dieses Problem ansatzweise ein, können es aber nicht lösen.

    Die moderierten Workshops dagegen bieten die Möglichkeit, sich jenseits der feststehenden Fragestellungen zu bewegen und, ausgehend von den Befragungsergebnissen, weitere Themen zu diskutieren. Außerdem wird in den Workshops geprüft, welche Maßnahmen, die aus der letzten Mitarbeiterbefragung bzw. den damaligen Workshops hervorgegangen sind, mit welchem Erfolg umgesetzt wurden. Dazu beziehen die Teilnehmer Stellung.

    Die Moderatorinnen verfassen über den Verlauf der Veranstaltung einen Abschlussbericht, der die diskutierten Punkte wiedergibt und einen Maßnahmeplan zu den als problematisch erachteten Punkten enthält. Der Abschlussbericht wird nach Erstellung zunächst von den Teilnehmern gegengelesen und freigegeben. Danach erhält der Bereichsleiter für die jeweilige Gruppe die Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Diese wird ggf. auch aufgenommen, und erst dann wird der fertige Bericht an die AG Gefährdungsanalyse übergeben.

    Maßnahmepläne

    Die Maßnahmepläne sind lange Vorschlagslisten, die an die AG Gefährdungsanalyse gerichtet sind. In der AG Gefährdungsanalyse werden alle Vorschläge sorgsam diskutiert und abgewogen, und es wird letztlich entschieden, was umsetzbar ist bzw. was versucht werden soll. Soweit es sich nicht um gesetzlich geregelte Sachverhalte handelt, bleibt die letzte Entscheidung bei der Leitung, die Kolleg/innen besitzen aber einen starken Einfluss. Als Beispiel für einen Maßnahmeplan ist in Abb. 5 der anonymisierte Vorschlag zum bereits erwähnten Thema Nebenabreden abgebildet.

    Abb. 5: Maßnahmevorschlag zum Thema Nebenabreden

    Die Gefährdungsanalysen finden in drei- bis vierjährigen Abständen statt. 2014 wurde vorgeschlagen, die Belastung durch interne Fortbildungen und Veranstaltungen zu reduzieren. Abb. 6 zeigt ein Beispiel für die Überprüfung der Umsetzung durch den Workshop im Jahr 2018:

    Abb. 6: Überprüfung der Umsetzung von Maßnahmevorschlägen

    Die AG Gefährdungsanalyse

    Die Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse der TGJ setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die nach Bedarf tagende AG ist im weiteren Verlauf das zentrale Organ zur prozessualen Umsetzung der Gefährdungsanalyse. Alle in den Workshops vorgeschlagenen Maßnahmen, alle negativen Unterschiede zu anderen Suchteinrichtungen (Benchmark) oder zu vorherigen Befragungen im eigenen Haus und alle Problemhäufigkeiten über zehn Prozent werden diskutiert. Bei einigen Fragen ist es notwendig, zusätzliche Informationen einzuholen oder mit einzelnen Bereichen oder Mitarbeitern zu sprechen, um das Problem richtig zu verstehen. Manche Vorschläge müssen abgelehnt werden, nicht nur aus Leitungssicht, sondern häufiger auch, weil Argumente aus anderen Bereichen des Hauses gegen eine Umsetzung sprechen. In der Regel geschieht dies im Konsens oder zumindest mit Verständnis für die gegenläufigen Argumente.

    Im ersten Durchlauf 2014 waren diese Diskussionen teilweise sehr emotional, haben sich aber mit einkehrender Routine zunehmend versachlicht. Die gegenseitigen Perspektiven und Positionen werden verständlicher. Im zweiten Durchlauf 2017/2018 gelingt die Abarbeitung der Aufgabenstellung sehr viel schneller als in der ersten Runde. Es ergibt sich trotz allem eine Vielzahl von Maßnahmen, deren Umsetzung teilweise auch andere Akteure im Haus einbezieht. Die Überprüfung der Ergebnisse erfolgt in zeitlicher Hinsicht nach Festlegung durch die AG, spätestens allerdings mit der nächsten Durchführung der Gefährdungsanalyse.

    Mit Blick auf das in Teil I des Artikels eingeführte Prozessmodell lässt sich zusammenfassen, dass die AG die Belastungen, die sich in den Befragungsergebnissen und den Workshop-Protokollen zeigen, beurteilt. Sie prüft die Maßnahmenvorschläge und entscheidet, ob sie umgesetzt werden sollen oder nicht. Bei Bedarf werden zusätzliche Maßnahmen geplant. Je nach Sachlage erfolgt die Umsetzung durch die Teilnehmer der AG oder es werden weitere Kolleg/innen einbezogen. Die Wirksamkeit wird, soweit sinnvoll, im Verlauf geprüft. Den Schlusspunkt und gleichzeitig Neustart des Prozesses bildet dann die erneute Gefährdungsanalyse nach ca. drei Jahren.

    Kosten

    Die Workshops und deren Vor- und Nachbereitung kosteten  3.600 Euro. Zusammen mit der Summe für die schriftliche Befragung ergeben sich Gesamtkosten von 4.800 Euro. Die Summe verteilt auf drei Jahre ergibt 1.600 Euro im Jahr. Hinzurechnen muss man sicherlich auch die Arbeitszeit, die für den geschilderten Prozess aufgewendet wird. Diese Investition erscheint aus unserer Perspektive angesichts der vielen positiven Effekte für die betriebliche Situation gut vertretbar.

    Fazit

    Der ursprüngliche Gedanke, dass eine eingehende Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen für eine so kleine Einrichtung wie die TGJ (50 Mitarbeiter) eine übertriebene Maßnahme darstellt, hat sich als falsch erwiesen. Nicht, weil wir auf ungeahnte Problematiken gestoßen wären, im Gegenteil: Unsere Gefährdungsanalyse zeichnete insgesamt ein sehr positives Bild vom Arbeitsplatzerleben der Kolleg/innen. Diese Rückmeldung, wiederholt diskutiert, kann dazu beitragen, die positiven Seiten des Arbeitsplatzes bewusster zu machen und die Zufriedenheit weiter zu steigern.

    Gleichzeitig bleiben wichtige Hinweise auf ‚Baustellen‘, die es zu bearbeiten gilt. Übermäßige Belastungen durch die Arbeitssituation lassen sich mit der beschriebenen Methodik lokalisieren. Die systematische Befragung und Diskussion garantieren eine Gründlichkeit, die sich durch die, wenn auch häufigen, alltäglichen Kontakte nicht erreichen lässt. So gefundene Quellen übermäßiger psychischer Belastung im Betrieb lassen sich häufig abstellen. Präventiv können Ressourcen z. B. in Form von Rückzugsräumen, phasenweiser Minderbelastung, Supervision, Coaching, flexibler Arbeitszeit usw. im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. In Reaktion auf belastende Ereignisse können Maßnahmen entwickelt werden. So rückte im Rahmen der Gefährdungsanalyse ein bisher nicht deutlich wahrgenommenes grenzüberschreitendes Verhalten von Klienten gegenüber Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft und Haustechnik in den Vordergrund. Zum Abbau übermäßiger Belastungen in diesem Kontext sollen u. a. Fortbildungen stattfinden, die den Kolleg/innen die Hintergründe solcher Verhaltensweisen verständlicher machen, damit Orientierung bieten und darauf fußend geeignete praktische Handlungsstrategien vermitteln.

    Neben den praktischen Verbesserungen erscheint insbesondere das kontinuierliche Gespräch über die erlebte Belastung wesentlich. Die Kolleg/innen nehmen wahr, dass es eine Auseinandersetzung mit den Beschwerden gibt und, soweit möglich, auch mit dem Ziel der Verbesserung gehandelt wird. Gründe, nicht zu handeln, lassen sich ggf. durch die Diskussion nachvollziehen und werden nicht als Mangel an Interesse und Fürsorge erlebt.

    Positiv gewendet erlebt der Einzelne sich handlungsfähiger in Bezug auf psychisch belastende Aspekte der Arbeit. Wenn Rahmenbedingungen wie z. B. Kostenträgervorgaben oder tarifliche und gesetzliche Regelungen psychische Belastungen mit verursachen, werden sie im Zuge der fortlaufenden Gespräche leichter als Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten für alle Beteiligten im Betrieb verstanden. Man erschöpft sich nicht unnötig in Auseinandersetzungen über Bedingungen, die auf dieser Ebene nicht zu beeinflussen sind.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Robert Meyer-Steinkamp

    Mit circa 50 Beschäftigten ist die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) eine relativ kleine Einrichtung, in der sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr regelmäßig begegnen und miteinander sprechen. Das Gespräch beinhaltet auch aktuelle Probleme und Belastungen aus dem Arbeitsalltag, für die wir, das Leitungsteam, versuchen, befriedigende Lösungen zu finden. Unabhängig von aktuellen Problemen sind wir bemüht, die Arbeitszusammenhänge für alle so zu gestalten, dass Belastung und Entlastung sich die Waage halten (z. B. durch Entscheidungsfreiräume, möglichst flexible Arbeitszeiten, Supervision, Entspannungsangebote usw.). Die Notwendigkeit einer Mitarbeiterbefragung war uns bis zum Auftauchen des Themas „Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen“ nicht in den Sinn gekommen. 

    Der Anstoß

    Im Rahmen einer Betriebsversammlung im Jahr 2012 startete der damalige Betriebsrat der TGJ unter den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unerwartet eine auf wenige Fragen begrenzte, anonyme Umfrage zur erlebten psychischen Belastung im Arbeitsalltag. Die Ergebnisse der noch während der Versammlung erfolgenden Auswertung waren nicht spektakulär, die Aktion brachte aber Bewegung in das bis dahin in der TGJ eher am Rande behandelte Thema.

    Historischer und theoretischer Hintergrund

    Das 1996 von der Bundesregierung verabschiedete Arbeitsschutzgesetz gab Impulse für einen systematischen Arbeitsschutz und trug den Arbeitgebern auf, regelhaft eine Gefährdungsbeurteilung bezüglich gesundheitlicher Risiken und Belastungen durch betriebliche Arbeitsbedingungen vorzunehmen. Wenn es aufgrund der Bewertung der so ermittelten Belastungen erforderlich erscheint, müssen geeignete Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Gesundheitsgefahren entwickelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

    Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist eine im Arbeitsschutzgesetz und im SGB VII verankerte Plattform von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern unter Einbezug der Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in beratender Funktion) zur Umsetzung des Arbeitsschutzes. Sie schlägt in ihren „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (2017a) ein wiederholt zu durchlaufendes prozesshaftes Vorgehen vor, das im Prinzip auch aus anderen Themenfeldern des Qualitätsmanagements bekannt ist. Angelehnt daran lässt sich folgendes Prozessmodell darstellen:

    Abb. 1: Prozessmodell zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

    Praxis in der TGJ

    In der TGJ wird die Aufgabe einer regelhaften Gefährdungsbeurteilung in Form einer jährlichen Arbeitsplatzbegehung durch das Zentrum für Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz (ZAG) erfüllt. Das ZAG übernimmt dabei die Rolle einer externen Fachkraft für Arbeitsschutz. Im Zuge der Begehung und der Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses (AsA) werden Belastungen ermittelt und beurteilt und daraus Maßnahmepläne entwickelt. Für deren Realisierung sind die Einrichtungsleitung und die intern für die Arbeitssicherheit verantwortlichen Mitarbeiter/innen zuständig. Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird während der Implementierung und spätestens mit der nächsten Begehung geprüft. Die nächste Begehung stellt auch die Fortschreibung des Prozesses dar, und es werden gegebenenfalls neue Belastungen ermittelt (usw.).

    Die psychischen Belastungen spielten bei diesem Vorgehen allerdings keine Rolle, da im Arbeitsschutzgesetz explizit als möglicherweise gefährdend nur ‚klassische‘ Belastungsfaktoren wie schwere körperliche Arbeit oder ungünstige Umgebungsbedingungen aufgelistet wurden. Diese haben allerdings zunehmend an Bedeutung gegenüber den psychischen Belastungen verloren. Für die Suchtkrankenhilfe darf man aus Sicht des Verfassers ohnehin von einer überproportionalen psychischen Belastung im Vergleich zu vielen anderen Tätigkeitsfeldern ausgehen. Der DAK-Gesundheitsreport 2018 nennt die psychischen Erkrankungen als zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und beschreibt einen rasanten Anstieg der Fehlzeiten aufgrund dieser Erkrankungen in der Zeit nach der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes.

    Abb. 2: Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den Arbeitsunfähigkeitstagen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018
    Abb. 3: Arbeitsunfähigkeitstage und Arbeitsunfähigkeitsfälle pro 100 Versichertenjahre aufgrund psychischer Erkrankungen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018

    Konsequenterweise hat der Gesetzgeber im Jahr 2013 die psychischen Belastungen in der Auflistung möglicher Risiken ausdrücklich ergänzt (§ 5, Abs. 3, Pkt. 6 ArbSchG). In vielen, vor allem kleineren und mittleren Betrieben, ähnlich wie in der TGJ, waren die psychischen Belastungen bis dahin kein Feld der systematischen Überprüfung.

    Zuständigkeiten

    Dem „Ratgeber zur Gefährdungsbeurteilung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA; 2016) folgend hat der Arbeitgeber die Verantwortung für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung und die Umsetzung der Ergebnisse. Die Vertretungen der Beschäftigten bzw. wenn solche Vertretungen nicht vorhanden sind, die Beschäftigten selbst, sind vom Arbeitgeber zu allen Maßnahmen, die Auswirkungen auf ihre Sicherheit und Gesundheit haben können (§§ 81, 82, 89 Betriebsverfassungsgesetz, §§14, 17 ArbSchG) zu hören, und sie sind berechtigt, Vorschläge zu diesen Themen zu machen.

    Drei gute Gründe für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die explizite Aufnahme der psychischen Belastungen in das Arbeitsschutzgesetz war im Weiteren förderlich, die Betriebsratsinitiative in der TGJ in Richtung einer eingehenderen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen voranzutreiben.

    Eichhorn und K. Schuller (2017) von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ordnen diese Pflichterfüllung des Arbeitgebers unter dem „normativ-gesetzlichen Motiv“ ein. Ein zweites, „humanistisch-mitarbeiterorientiertes“ Motiv war in der TGJ die grundsätzliche Haltung des Leitungsteams, dass die Arbeit im Hause bei allen Belastungen und Herausforderungen, die die Arbeit mit Suchtkranken mit sich bringt, auch erfüllend und befriedigend, nicht gesundheitsgefährdend und im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes menschengerecht sein soll. Das dritte, von Eichhorn und Schuller als „ökonomisch-instrumentell“ bezeichnete Motiv liegt in dem Wissen und der Erfahrung, dass zufriedene und gesunde Kolleg/innen nachhaltig die Leistungsfähigkeit der Einrichtung stärken.

    Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die Unfallversicherungsträger, d. h. die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, übernehmen im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) die Aufgabe, für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in den Betrieben zu sorgen, dies zu überwachen und die Unternehmer und Beschäftigten zu beraten. Sie bieten zur Orientierung unter anderem Seminare zum Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen an sowie Workshops zum Austausch mit anderen Einrichtungen, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigen. Die Teilnahme ist für Mitglieder der Unfallkasse in der Regel kostenfrei.

    Die Unfallkasse Nord war der für die TGJ zuständige Ansprechpartner zur ersten Orientierung für die praktische Umsetzung. Neben der Vermittlung des oben beschriebenen prozesshaften Vorgehens wurden folgende wesentliche Fragen aufgeworfen und später in der internen Diskussion beantwortet:

    Wie werden möglichst alle Kolleginnen und Kollegen beteiligt?

    Wir entschieden uns für die Gründung einer auf Dauer angelegten Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse, die je nach Bedarf tagt und alle Planungsschritte, Befragungsergebnisse und Maßnahmepläne diskutiert. Die AG setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die Vertreter der Arbeitsbereiche transportieren bei Bedarf Informationen aus der AG in ihr Team oder aus dem jeweiligen Team in die AG. Im Rahmen einer Betriebsversammlung kündigen Betriebsrat und Leitung gemeinsam die bevorstehende Mitarbeiterbefragung an. Das Procedere wird erläutert und die Anonymität der Befragung wiederholt zugesichert. Im Zuge dessen wird auch die praktische Umsetzung organisiert. Wenn nach der Befragung die Ergebnisse vorliegen, werden die Kolleginnen und Kollegen in einer weiteren Betriebsversammlung von Leitung und Betriebsrat über eine Auswahl der wesentlichen Ergebnisse informiert.

    Mit welcher Methode werden die Belastungen ermittelt?

    Im Wesentlichen lassen sich drei  Methoden anwenden:

    • Workshops mit externer Moderation zur Feststellung von Problemfeldern und zur Entwicklung diesbezüglicher Maßnahmepläne,
    • Beobachtung konkreter Arbeitsprozesse und damit verbundener Belastungen vor Ort durch externe Fachleute und Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen,
    • Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen und Ableitung von Maßnahmen aus den Befragungsergebnissen.

    Auch eine Kombination dieser Methoden ist möglich. Wir entschieden uns für die Fragebogenvariante und anschließende, auf den Befragungsergebnissen aufbauende Workshops. Fragebögen sahen wir als beste Möglichkeit, jedem Mitarbeiter die Möglichkeit der Teilnahme zu geben und relativ ökonomisch viele Informationen aus vielen Themenfeldern zu sammeln. Standardisierte Fragebögen mit Bewertungsskalen machen außerdem den Vergleich zwischen wiederholten Befragungen möglich, so dass man die Entwicklung von Problemfeldern im Vergleich zur letzten Befragung auch quantitativ darstellen kann. Beobachtungen und Workshops erscheinen in dieser Hinsicht schwierig.

    Bei der Auswahl des Fragebogens kam uns entgegen, dass ein befreundeter Träger bereits gute Erfahrungen mit dem Fragebogen zur Mitarbeiterzufriedenheit des Picker Instituts gesammelt hatte. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS (https://www.bqs.de/leistungen/picker-befragungen) übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist hier im Weiteren durchgängig von Picker die Rede.) Der Fragebogen war wissenschaftlich evaluiert, im Einsatz in Krankenhäusern erprobt und konnte auf die Bedarfe der Suchthilfe noch in begrenztem Maß zugeschnitten werden. Eine Reihe anderer Instrumente (z. B. Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse KFZA oder „Instrumente und Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (GDA 2017b)) entsprach nicht unseren Vorstellungen.

    Die Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie e.V. (deQus) und das Picker Institut trafen eine Rahmenvereinbarung zur Durchführung von Mitarbeiterbefragungen für Mitglieder der deQus, da das Interesse an dem Fragebogen vermehrt auftauchte. Inzwischen nutzen acht Träger unter dem Dach der deQus den Fragebogen und die Rahmenvereinbarung, so dass, ergänzend zu einrichtungsinternen Ergebnisvergleichen von Befragung zu Befragung, ein Benchmark mit anderen Einrichtungen im Suchthilfesystem möglich ist.

    Die GDA (2017a) benennt Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielraum und soziale Beziehungen, insbesondere zu Vorgesetzten, sowie die Gestaltung der Arbeitsumgebungsbedingungen als branchen- und tätigkeitsübergreifend relevante Schlüsselfaktoren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Diese und andere Themen werden von den 102 Fragen des Picker-Bogens abgedeckt. Aus den Gesamtdaten aller bei Picker durchgeführten Mitarbeiterbefragungen in einem Zeitfenster von drei Jahren werden faktoranalytisch, jährlich aktualisiert, Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit errechnet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Wie werden die ermittelten Belastungen beurteilt?

    Die Prioritätenmatrix (aus dem Ergebnisbericht 2017 des Picker Instituts für die TGJ) veranschaulicht die Ergebnisse der Befragung auf der Ebene der Faktoren im groben Überblick (Abbildung 6). Auf der y-Achse ist die Einflussstärke der einzelnen Faktoren auf die Gesamtzufriedenheit abgetragen. Die Arbeitsbelastung hat den stärksten Einfluss, es folgt der direkte Vorgesetzte usw.

    Auf der x-Achse wird die Problemhäufigkeit in der eigenen Einrichtung als Prozentrang im Vergleich zu allen von Picker befragten Einrichtungen der Jahrgänge 2014 bis 2016 betrachtet. Der Faktor Arbeitsbelastung z. B. hat einen Prozentrang von ca. 5. Das bedeutet, dass 95 Prozent der anderen am Benchmark beteiligten Einrichtungen eine stärkere Problembelastung in diesem Faktor haben als die TGJ. Je weiter links der Prozentrang liegt, desto unproblematischer ist der jeweilige Faktor.

    Abb. 6: Prioritätenmatrix

    Bei 13 möglichen Faktoren werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der TGJ überhaupt nur sieben als in geringem Umfang problematisch benannt. Allerdings sind die anderen von Picker befragten Einrichtungen, mit denen der Vergleich stattfindet, in der Regel Krankenhäuser, die außerhalb des Suchthilfesystems tätig sind. Die Vergleichsberichte zeigen in allen Faktoren eine deutlich stärkere Problembelastung in den Einrichtungen außerhalb der Suchthilfe. Beispielhaft lässt sich das am Faktor Arbeitsbelastung zeigen (Abbildung 7).

    Abb. 7: Faktor Arbeitsbelastung: Vergleich der TGJ mit anderen von Picker befragten Einrichtungen

    Im Jahr 2017 haben insgesamt 15 Prozent der Kolleg/innen in der TGJ die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. Das war eine Reduktion um drei Prozent im Vergleich zu 2014. In den Suchthilfeeinrichtungen unter dem Dach der deQus haben im Mittel 32 Prozent der Mitarbeiter/innen die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. In allen anderen von Picker befragten Häusern waren es im Mittel 43 Prozent Problemhäufigkeit in diesem Faktor. Diese Vergleichsdarstellung gibt es für alle Faktoren und Einzelfragen. Auch Arbeitsbereiche bzw. Berufsgruppen innerhalb der eigenen Institution können hinsichtlich der Problemhäufigkeit miteinander verglichen werden.

    15 Prozent Problemhäufigkeit in der Arbeitsbelastung bleibt auch bei dieser Betrachtung ein vergleichsweise gutes Ergebnis. Bei der Diskussion in der AG Gefährdungsanalyse der TGJ wendet der Betriebsrat, seiner Aufgabe entsprechend, jedoch ein, dass der Vergleich mit anderen nicht so entscheidend sei. Eine Verbesserung um drei Prozent zur vorherigen Befragung sei schön, aber auch nicht wirklich bemerkenswert, und eine 15-prozentige Problemhäufigkeit sei auf jeden Fall ein Anlass, genauer zu prüfen. Dem können wir auch aus Leitungssicht zustimmen.

    Hinter den genannten Faktoren, so auch bei der Arbeitsbelastung, stehen thematisch passende Einzelfragen (Abbildung 8), deren Einzelergebnisse im Wert des Faktors verrechnet sind. Ein Beispiel aus dem Picker Ergebnisbericht 2017 für die TGJ:

    Abb. 8: Einzelfrage zum Faktor Arbeitsbelastung

    Zum Faktor Arbeitsbelastung gehören sechs weitere Einzelfragen, deren Betrachtung genauer verstehen lässt, was die Arbeitsbelastung ausmacht. Hier spielen vor allem längerfristige Personalausfälle und entsprechende Vertretungen sowie häufige Störungen in Arbeitsprozessen eine Rolle. Die Diskussion in der AG ergab, dass die Personalausfälle kaum besser hätten kompensiert werden können als bereits geschehen. Hinsichtlich der Arbeitsunterbrechungen können aber Verbesserungsmaßnahmen entwickelt werden.

    In der Gesamtbetrachtung einigten wir uns in der AG Gefährdungsanalyse auf die Einschätzung, dass

    • stark negative Unterschiede zu Vergleichseinrichtungen der Suchthilfe,
    • stark negative Veränderungen zu vorhergehenden hauseigenen Befragungen,
    • Problemhäufigkeiten von über zehn Prozent auf Faktoren-, Arbeitsbereich- oder Einzelfragenebene

    Anlass zu genauerer Betrachtung und das Gegenteil davon Anlass zu – mindestens stiller – Freude sein sollen.

    Die gesamten Ergebnisse der Befragung werden der Leitung, dem Betriebsrat und den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse als vertrauliche Unterlagen zur Verfügung gestellt. Auch die externen Moderatorinnen der im weiteren Verlauf vorgesehenen Workshops erhalten die Daten als Hintergrundinformation und sind bei der Präsentation ausgewählter Ergebnisse für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwesend.

    Die 102 Fragen des Bogens mit vorgegebenen Antwortkategorien lassen nur den Blick auf einen – wenn auch mit wissenschaftlicher Methodik gewählten – Teil des Erlebens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu. Die ebenfalls im Bogen enthaltenen offenen Fragen sind eine gute Ergänzung:

    • Wenn Sie in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz etwas verändern oder sich etwas wünschen könnten, was wäre es?
    • Was gefällt Ihnen in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz besonders gut?

    Positive und negative Kritiken halten sich in den Freitexteingaben die Waage. Auch die Freitexte gehen an den schon genannten Personenkreis und werden in der AG Gefährdungsanalyse diskutiert.

    Kosten

    Die Kosten für die Mitarbeiterbefragung per Fragebogen beliefen sich für die TGJ im Jahr 2017 auf ca. 1.200 Euro. Für diesen Betrag wurden die Fragebögen gedruckt, die an das Institut zurückgesandten Fragebögen statistisch ausgewertet und die Ergebnisse als PDF-Datei und in Excel der TGJ zugesandt. Man kann wahlweise noch mehr Leistungen des Anbieters in Anspruch nehmen. Die Kosten für die weiteren, im Folgenden noch zu beschreibenden Schritte der Gefährdungsanalyse kommen am Ende hinzu.

    Zwischenbilanz

    Damit ist die erste Phase der Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen in der TGJ, mit weitestgehend quantitativer Methodik, abgeschlossen. Die Gründung der AG Gefährdungsanalyse, die intensive Auseinandersetzung und das gelegentlich etwas zähe Ringen um die richtigen Vorgehensweisen und Instrumente haben sich bis hierhin deutlich bezahlt gemacht. Wir konnten ein gemeinsames Interesse an der Befragung vermitteln und zu einer ausgesprochen hohen Teilnahme motivieren. Die Rücklaufquote der Fragebögen lag 2014 bei ungewöhnlichen 90,2 Prozent, 2017 bei immer noch guten 70 Prozent. Die Ergebnisse waren insgesamt sehr gut, boten aber auch Ansatzpunkte für eine über die reinen Zahlen hinausgehende Analyse in den sich trotzdem abzeichnenden Problemfeldern. Die Betriebsversammlung zur Vermittlung der Befragungsergebnisse in die Mitarbeiterschaft diente gleichzeitig auch der Motivation zur Teilnahme an den nachfolgend geplanten Workshops. Diese sollten die Möglichkeit eröffnen, die durch die Befragung nicht abgebildeten Problematiken zu ergänzen, eine Beurteilung der gesamten bisherigen Ergebnisse vorzunehmen und Maßnahmevorschläge zu erarbeiten. Über den weiteren Verlauf berichtet Teil 2 des Artikels.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • BISS – Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation

    BISS – Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation

    Wolfgang Indlekofer

    Zahlreiche Katamnesen belegen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit im ersten Jahr nach der Rehabilitation – auch nach erfolgreichem Abschluss – für viele Drogenabhängige am größten ist und dass eine gelungene berufliche Reintegration die beste Voraussetzung für eine suchtmittelfreie Zukunft darstellt. Dennoch können auch dann, wenn ein festes Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis vorliegt, Krisen und Rückfälle auftreten. Diese Erfahrung wurde auch in der Rehaklinik Freiolsheim und in der dazugehörenden Adaptionseinrichtung im Integrationszentrum Lahr gemacht.

    Im Integrationszentrum Lahr mit 20 Adaptionsplätzen absolvieren die Rehabilitand/innen in ihrer letzten Behandlungsphase ein Praktikum in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes. Die Praktikumsdauer beträgt acht bis zehn Wochen. Zwischenzeitlich sind es über 400 Betriebe in der Ortenau, die Praktikant/innen aus dem Integrationszentrum Lahr aufnehmen, da bereits viele sehr gute Erfahrungen mit den Rehabilitand/innen des Integrationszentrums gemacht wurden. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt in der Ortenau nahezu leergefegt ist und die Praktikumsgeber so die Möglichkeit haben, junge potenzielle Nachwuchskräfte unverbindlich kennenzulernen, ohne gleich mit einem Arbeitsvertrag einsteigen zu müssen. Für die Rehabilitand/innen stellt dieses Praktikum einen wichtigen ersten Schritt in die berufliche Reintegration dar und häufig auch die Chance auf einen festen Arbeitsplatz. Zwischen 50 und 65 Prozent aller Praktikant/innen des Integrationszentrums Lahr erhalten ein Angebot zur direkten Übernahme nach Beendigung der Adaptionsbehandlung. Zahlreichen Rehabilitand/innen wird auch ein Ausbildungsvertrag in Aussicht gestellt.

    Krise trotz Arbeit

    In der Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, dass viele Klient/innen zwar gerne das Arbeitsplatzangebot annehmen, dies aber zu Lasten der suchttherapeutischen Nachbetreuung geht. Im Fokus steht der Arbeitsplatz, die Drogenabhängigkeit wird als überwunden angesehen. Die Klient/innen sind überzeugt, den Ausstieg aus der Drogenabhängigkeit bewältigt zu haben. Doch hier begannen die Probleme:

    Manchmal bereits nach Wochen, in anderen Fällen nach einigen Monaten, kam es zu persönlichen Krisensituationen, Rückfälligkeit und Problemen am Arbeitsplatz. Gerade bei Rückfälligkeit wurde dies von den Betroffenen so lange wie möglich verheimlicht, bis dann letztlich nach Fehlzeiten, Abmahnungen etc. der Arbeitsplatz weg und der Wiedereinstieg in den Drogenkreislauf nahezu unvermeidlich war. In seltenen Fällen wandten sich die ehemaligen Rehabilitand/innen oder auch die Arbeitsgeber frühzeitig hilfesuchend an das Integrationszentrum Lahr. Im einen oder anderen Fall gelang es so, durch Kriseninterventionen, Entgiftungen, Auffangbehandlungen oder durch andere Maßnahmen den Wiedereinstieg in die Abhängigkeit zu vermeiden und den Arbeitsplatz zu erhalten. Viel zu häufig kam jedoch jede Unterstützung zu spät, und der Arbeitsplatz war verloren.

    Die Entwicklung von BISS

    Auf der Basis dieser Erfahrungen stellten die Leitungen der Rehaklinik Freiolsheim und des Integrationszentrums Lahr den Kontakt zur Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg – dem Hauptkostenträger der Rehabilitationsmaßnahmen – her, und ein Modellprojekt zur Unterstützung der beruflichen Reintegration im ersten Jahr nach Therapieabschluss wurde entwickelt. Es entstand das Modellprojekt „BISS“ (Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation), das in einer dreijährigen Modellphase von 2010 bis 2012 vom Rehabilitationswissenschaftlichen Lehrstuhl der Universität Freiburg evaluiert wurde.

    Allen regulär entlassenen Rehabilitand/innen, die sich nach der Therapie in der Ortenau niederließen, wurde angeboten, am BISS-Modell teilzunehmen. Allen Betrieben, die ehemaligen Rehabilitand/innen einen Arbeitsplatz anboten, wurde ebenfalls eine Teilnahme offeriert.

    Zielsetzungen des Projektes

    Die Zielsetzungen des Projektes lassen sich wie folgt zusammenfassen:

    • Förderung der langfristigen Integration in den ersten Arbeitsmarkt von ehemals Suchtmittelabhängigen nach regulärem Abschluss einer Rehabilitationsbehandlung
    • Unterstützung und Begleitung ehemaliger Rehabilitand/innen während des ersten Arbeitsjahres nach der Therapie (im Falle einer begonnenen Berufsausbildung bis zum Abschluss der Ausbildung)
    • Unterstützung der Arbeitgeber, die bereit sind, ehemalige Suchtmittelabhängige in ein reguläres Arbeitsverhältnis einzustellen

    Von Beginn an war das Interesse der Rehabilitand/innen sehr groß, an diesem Modellprojekt teilzunehmen. Viele sahen darin die Chance, noch über die Therapie hinaus Unterstützung zu erfahren und während der beruflichen Reintegration begleitet zu werden. Die mit dem Modellprojekt verbundenen regelmäßigen Alkohol- und Drogenscreenings wurden nicht als Kontrolle oder Lebenseinschränkung erlebt, sondern von den meisten als Unterstützung und Absicherung einer langfristigen Abstinenz.

    Sehr erfreulich war, dass auch die Arbeitgeber das BISS-Angebot von Beginn an sehr gerne annahmen. Zum einen waren sie froh und dankbar, im Krisenfall einen kompetenten Ansprechpartner zu haben, zum anderen sahen sie durch das Projekt eine Risikominimierung im Falle der Einstellung von ehemaligen Drogenabhängigen, da diese noch einer gewissen Kontrolle unterlagen. Immer wieder kam es auch dazu, dass Arbeitgeber die Teilnahme am BISS-Projekt zur Bedingung für eine Einstellung machten.

    Angebote für die Klient/innen

    Die Angebote für die Klient/innen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

    • Unterstützung einer langfristigen Abstinenz durch die monatlich stattfindende BISS-Gruppe
    • Angebot von Einzelgesprächen auf Wunsch der BISS-Teilnehmer/innen
    • Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Vermittlung von Praktika für Teilnehmer/innen, die aus der Adaptionsbehandlung heraus keinen Arbeitsplatz gefunden haben
    • Krisenintervention und rasche Organisation von Hilfen im Falle von Rückfälligkeit
    • Unterstützung und Förderung von Ausgleichsmaßnahmen im Freizeitbereich zur Kompensation von Arbeitsbelastungen
    • Durchführung von unangekündigten Alkohol- und Drogenscreenings zur Absicherung der Suchtmittelabstinenz

    Angebote für die Arbeitgeber

    Den Arbeitgebern werden folgende Angebote gemacht:

    • Regelmäßige Besuche am Arbeitsplatz mit Gesprächsangeboten für Arbeitgeber und Projektteilnehmer/innen
    • Ansprechpartner bei Rückfallverdacht, erhöhten Fehlzeiten oder sonstigen betrieblichen Auffälligkeiten
    • Angebot von Mediation mit Arbeitgebern und Projektteilnehmer/innen in Konfliktsituationen

    Prävention und rasche Hilfemaßnahmen bei Rückfälligkeit

    Einmal monatlich treffen sich alle BISS-Teilnehmer/innen zu einem Gruppengespräch zum allgemeinen Austausch und zur Planung gemeinsamer Aktivitäten. Auf der Basis einer Schweigepflichtsentbindung und eines Dreieckvertrages zwischen Klient/in, Arbeitgeber und Integrationszentrum hat jede/r Beteiligte jederzeit die Möglichkeit, das Integrationszentrum und die BISS-Mitarbeiter/innen zu kontaktieren. Auf diese Weise werden Rückfallkrisen, aber auch sich kumulierende psychosoziale Problemlagen und Konflikte zwischen Arbeitergeber und ehemaligen Klient/innen frühzeitig aufgegriffen und können im Idealfall Rückfälligkeit verhindern und Krisen lösen.

    Ist ein/e BISS-Teilnehmer/in nun tatsächlich rückfällig, können rasche Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Diese reichen von Kriseninterventionen und hochfrequenten ambulanten Angeboten über eine Einweisung in eine Entgiftungseinrichtung bis hin zur erneuten stationären Kurzzeitrehabilitation zur Stabilisierung. Die getroffenen Maßnahmen werden zwischen Arbeitgeber, Integrationszentrum und Klient/in abgestimmt und verhindern so im Regelfall, dass der Arbeitsplatz verloren geht. Da die BISS-Teilnehmer/innen um diese Unterstützungsmöglichkeiten wissen, ist die Bereitschaft, über Rückfälligkeit zu sprechen, durchaus groß.

    Ergebnisse der Modellphase

    Der im Frühjahr 2013 vorgelegte Evaluationsbericht dokumentierte hervorragende Ergebnisse der Modellphase. So zeigte sich eine hohe Zufriedenheit sowohl bei den BISS-Teilnehmer/innen als auch bei den beteiligten Arbeitgebern. Diese berichteten von einer Absicherung und Ermutigung, die durch das BISS-Projekt gegeben wird. Auch die weiteren Beteiligten wie das kommunale Jobcenter und die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg waren von den geringen Abbruchquoten und den katamnestischen Erfolgsquoten begeistert. So zeigten die BISS-Teilnehmer/innen nach einem Jahr durchweg höhere Abstinenzquoten als die Vergleichsgruppe, die im Rahmen der Studie untersucht wurde. Ebenfalls signifikant war die deutlich höhere Zahl an Ausbildungsverhältnissen in der BISS-Gruppe.

    Die Evaluationsergebnisse und die positiven Rückmeldungen aller Beteiligten motivierten die DRV Baden-Württemberg dazu, das BISS-Modell ab 1. Januar 2014 in eine Regelförderung zu überführen. Für alle bei der DRV Baden-Württemberg versicherten BISS-Teilnehmer/innen erhält das Integrationszentrum Lahr einen Pauschalbetrag, der die Begleitung während des ersten Jahres nach der Therapie finanziert und somit möglich macht. Angeregt durch die Erfolge des BISS-Programms eröffnete die DRV Baden-Württemberg darüber hinaus allen Suchtberatungsstellen die Möglichkeit, eine zweite Nachsorgepauschale speziell zur Begleitung der Berufsintegration abzurechnen, d. h., neben der klassischen Nachsorgepauschale können Suchthilfeeinrichtungen nun, wenn sie ehemalige Rehabilitand/innen bei ihrer Berufsintegration begleiten, eine zweite Förderung durch die DRV Baden-Württemberg abrechnen.

    Erfahrungen mit BISS als Regelangebot

    Seit der Einführung von BISS als Regelangebot ab 1. Januar 2014 haben 133 Klient/innen am BISS-Programm teilgenommen. 104 dieser Teilnehmer/innen konnten in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, und 39 Teilnehmer/innen absolvierten eine Berufsausbildung. Mit insgesamt 54 BISS-Teilnehmer/innen wurde ein Bewerbertraining durchgeführt.

    Das wohl beeindruckendste Ergebnis ist der hohe Anteil der regulären BISS-Beender. So haben von allen 133 Teilnehmer/innen, die bisher das Projekt beendet haben, 102 Teilnehmer/innen (77 Prozent) regulär mit laufendem Arbeitsverhältnis abgeschlossen. Lediglich 31 Teilnehmer/innen (23 Prozent) haben das Projekt vorzeitig abgebrochen. Darunter sind auch einige, die sich beruflich an anderen Orten neu orientiert haben und aufgrund der Entfernung nicht mehr teilnehmen konnten. Gemessen an Katamnese-Ergebnissen für Drogenabhängige sind diese Zahlen beachtlich.

    Bei 38 BISS-Teilnehmer/innen mussten Kriseninterventionen durchgeführt werden. Über die Hälfte dieser Kriseninterventionen waren so erfolgreich, dass die BISS-Teilnahme regulär beendet werden konnte und der Arbeitsplatz erhalten blieb. Bei ca. 40 Prozent der Kriseninterventionen waren der Abbruch der Maßnahme und meist auch der Arbeitsplatzverlust bzw. die Kündigung nicht vermeidbar. Insbesondere frühzeitige Interventionen durch hochfrequente ambulante Betreuungen waren erfolgsversprechend. War die Rückfälligkeit bereits so weit fortgeschritten, dass eine Entgiftung und eine Auffangbehandlung erforderlich waren, so konnte trotz großen Aufwands die langfristige Berufsintegration bei mehr als der Hälfte dieser Fälle nicht fortgesetzt werden.

    Auch als Regelangebot ist das BISS-Projekt sowohl für die Rehabilitand/innen als auch für die Arbeitgeber attraktiv. Teilweise entscheiden sich Drogenabhängige für die Durchführung der Adaption im Integrationszentrum Lahr, weil sie wissen, dass dort das BISS-Programm angeboten wird. Mit durchschnittlich 30 Teilnehmer/innen ist das BISS-Projekt ein wichtiger Baustein in der Angebotspalette des Integrationszentrums Lahr.

    Kontakt:

    Wolfgang Indlekofer
    Rehaklinik Freiolsheim
    Max-Hildebrandt-Str. 55
    76571 Gaggenau-Freiolshiem
    Tel. 07204/9204-0
    wolfgang.indlekofer@agj-freiburg.de
    www.rehaklinik-freiolsheim.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Indlekofer, Dipl.-Psych. und Psychologischer Psychotherapeut, ist Therapeutischer Gesamtleiter der Rehaklinik Freiolsheim, Gaggenau.

  • BORA kompakt

    BORA kompakt

    Denis Schinner
    Denis Schinner
    Dr. Andreas Koch

    In diesem Beitrag werden alle wesentlichen Aspekte der BORA-Empfehlungen zusammengefasst. Dazu gehören Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung. Die Autoren Dr. Andreas Koch und Denis Schinner waren selbst Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA und haben die Empfehlungen mitentwickelt.

    Zielgruppen

    Um die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der Suchtrehabilitation“ praxisnah strukturieren zu können, wurde eine Unterscheidung von Zielgruppen vorgenommen, an der sich die weiteren Ausführungen zur Diagnostik und insbesondere zur Therapie orientieren. Grundsätzlich werden dabei Rehabilitanden mit Arbeit von arbeitslosen Rehabilitanden unterschieden. Bei den Erstgenannten geht es im Rahmen der Behandlung um den Erhalt des Arbeitsplatzes und die konkrete berufliche Wiedereingliederung. Bei der zweitgenannten Gruppe stehen eher die Entwicklung einer allgemeinen erwerbsbezogenen Perspektive sowie das Training der entsprechenden Kompetenzen im Vordergrund. Ein weiteres Kriterium zu Differenzierung der Zielgruppen ist das Vorhandensein von besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen, die durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren gekennzeichnet sind:

    • lange oder häufige Fehlzeiten
    • eine negative subjektive Prognose hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft
    • drohender Arbeitsplatzverlust
    • Arbeitslosigkeit
    • eine sozialmedizinische Notwendigkeit für berufliche Veränderungen

    Auf dieser Grundlage wurden fünf Zielgruppen definiert:

    • BORA-Zielgruppe 1 = Rehabilitanden mit Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 2 = Rehabilitanden mit Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 3 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III (ALG I). Dieser Zielgruppe werden auch Erwerbstätige zugeordnet, die während einer Krankschreibung arbeitslos geworden sind, und Erwerbstätige, die langzeitarbeitsunfähig sind und nach 18 Monaten von der Krankenkasse ausgesteuert werden (Arbeitsplatz noch vorhanden, Bezug von ALG I oder II).
    • BORA-Zielgruppe 4 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II (ALG II)
    • BORA-Zielgruppe 5 = Nicht-Erwerbstätige

    Diagnostik

    Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges. Die BORA-Empfehlungen bieten den Praktikern in den Rehabilitationseinrichtungen einen umfangreichen Baukasten für Screening-, Diagnostik- und Assessmentverfahren sowie die Therapie- und Teilhabeplanung bezogen auf die oben genannten BORA-Zielgruppen.

    Vorliegende oder neu erhobene Erkenntnisse können und müssen mittels einer ergänzenden Diagnostik untermauert werden. Der diagnostische Fokus richtet sich u. a. auf die Aspekte Gedächtnisleistung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planungs- und Problemlösefunktionen, Impulskontrolle, Persönlichkeitsfaktoren sowie komorbide Störungen.

    In den Empfehlungen wird angeregt, dass das zu Beginn der Rehabilitation erfolgende Screening und die daraus resultierende Zuordnung zu den BORA-Zielgruppen durch die Leistungserbringer erfolgen. Dies soll einer einseitigen Zuweisungspraxis durch die Leistungsträger entgegenwirken. Dabei steht außer Frage, dass es bereits heute Einrichtungen mit einer vorherrschenden Gruppe von Rehabilitanden (spezifischer Zielgruppenmix) und damit einhergehenden besonderen Anforderungen und Leistungsangeboten gibt.

    Werden durch das Screening Risiken hinsichtlich der Entwicklung von arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen entdeckt, sollen diese durch eine anschließende ausführlichere Diagnostik spezifiziert werden. Ausführliche Informationen zu den meisten Diagnostikinstrumenten sind auf der Internetseite www.medizinisch-berufliche-orientierung.de zu finden. An Screening-Instrumenten können die folgenden zum Einsatz kommen: Das Würzburger Screening ist ein Fragebogen für den Einsatz in Rehabilitationseinrichtungen mit neun Fragen zu den Themenbereichen „Subjektive Erwerbsprognose“, „Berufliche Belastung“ und „Interesse an berufsbezogenen Therapieangeboten“. SIBAR (Screening-Instrument für Beruf und Arbeit) ist ein kurzer Fragebogen mit elf Items. SIMBO-C (Screening-Instrument zur Erkennung des Bedarfs an Medizinisch-beruflich orientierter Rehabilitation) berücksichtigt sieben Indikatoren beeinträchtigter beruflicher Teilhabe

    Es können weitere Instrumente und Verfahren zur Analyse der Ausgangsbedingungen in Frage kommen und genutzt werden. Hierzu gehören Assessmentverfahren wie die FCE-Systeme (functional capacity evaluation). Diese messen die individuelle Fähigkeit (capacity) eines Rehabilitanden, Anforderungen einer bestimmten Arbeitstätigkeit zu erfüllen, und beinhalten standardisierte körperlich orientierte Testaufgaben. Zu den FCE-Systemen gehört z. B. EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit). WorkPark-Therapiegeräte können ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden.

    Weiterführend können neben MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) auch IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und/oder Ida (Instrumentarium zur Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten) zum Einsatz kommen.

    Nicht alle diese Verfahren sollen in allen Rehabilitationseinrichtungen eingesetzt werden, es können auch andere Instrumente genutzt werden. Bei konzeptionellen Veränderungen sollen sich die Einrichtungen jedoch der in den BORA-Empfehlungen vorgestellten Instrumente bedienen.

    Therapieplanung

    Wenn die Ergebnisse der Analyse der beruflichen Ausgangsbedingungen und der Eingangsdiagnostik vorliegen, erfolgt die an dem individuellen Integrationspotential und Rehabilitationsbedarf ausgerichtete Entwicklung von Therapiezielen (unter Berücksichtigung der ICF). Die Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Rehabilitanden und interdisziplinär in Abstimmung mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im therapeutischen Team festgelegt werden. Bei Bedarf werden sie im Laufe der Behandlung angepasst. Primäres Ziel einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Ergänzt wird dies um die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Seiten der Rehabilitandin/des Rehabilitanden.

    In der klinikinternen Prozesssteuerung der beruflichen Orientierung sind alle therapeutischen Leistungen als Rehabilitationsmodule untereinander zu vernetzen. So ist bei der Psychotherapie die berufliche Teilhabeplanung stets als fester Bestandteil zu integrieren. Zudem werden in diesem Kontext entsprechende Erfahrungen aus anderen Therapiebereichen (z. B. Arbeits-, Ergo- und Sporttherapie) reflektiert und gegebenenfalls vertieft. Alle im Rahmen der Rehabilitation angebotenen Therapiebausteine müssen einen Beitrag zur Teilhabe und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leisten. Weiterführend ist die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker nicht mehr nur Psychotherapeut/-in, sondern auch Koordinator/-in der Gesamtrehabilitation und der beruflichen Teilhabeplanung.

    Mit der Arbeits- und Ergotherapie, der klinischen Sozialarbeit und weiteren Interventionen zur beruflichen Wiedereingliederung besteht in den Einrichtungen ein oft seit Jahrzehnten etabliertes Therapieangebot, das eine Verknüpfung zum Arbeitsleben herstellt. In den Einrichtungen werden medizinisch-arbeitsorientierte Leistungen unter Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Einschränkungen gezielt eingesetzt. Hierbei kann es auch um das Training von Grundarbeitsfähigkeiten in individuell bestimmten teilhabebezogenen Handlungsfeldern gehen. Die teilhabeorientierten Handlungsfelder werden in drei Bereiche unterteilt:

    • Grundarbeitsfähigkeiten: Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Flexibilität, Arbeitstempo, Konzentration und Merkfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten: Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit, Umgang mit Autoritäten, Umgang in der Gruppe
    • Selbstbild: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Selbsteinschätzung, Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit

    Grundsätzlich dürfen die erwerbsbezogenen Behandlungsanteile in allen Phasen der medizinischen Rehabilitation nicht mehr nachrangig sein, sondern sind – wie die medizinische und psychotherapeutische Behandlung – von zentraler Bedeutung. Die Teilnahme an entsprechenden Angeboten muss verbindlichen Charakter haben. Die Inhalte, Auffälligkeiten, Schwierigkeiten und Ergebnisse dieses Bereichs müssen in die Gesamtrehabilitation einfließen und vom gesamten therapeutischen Team professionsübergreifend berücksichtigt werden.

    Therapieleistungen

    Folgende Therapieleistungen, ausgehend von der KTL 2015, sind grundsätzlich sinnvoll und sollten in den Einrichtungen angeboten werden: Problembewältigung am Arbeitsplatz, Motivierung zur Wiederaufnahme einer Arbeit, Umgang mit Ängsten, Gespräche mit Vertretern des Arbeitgebers sowie dem Reha-Fachberater, interne und externe Belastungserprobung (auch am bisherigen Arbeitsplatz), PC-Schulungskurse, Bewerbungstraining und Sozialberatung. Weiterhin gehören die Arbeitstherapie, die Ergotherapie und die Einleitung weiterführender Maßnahmen zu den im Einrichtungskonzept zu beschreibenden relevanten therapeutischen Leistungen. Die BORA-Empfehlungen enthalten außerdem eine ausführliche Darstellung, welche therapeutischen Leistungen für welche Zielgruppen besonders sinnvoll sein können.

    Bei jungen Rehabilitanden erschwert häufig ein fehlender Schulabschluss die weitere berufliche Integration. Parallel zur Rehabilitation durchgeführte Beschulungsprojekte oder Maßnahmen mit dem Ziel, einen schulischen Abschluss zu erlangen, ob integriert oder in Kooperation, sind grundsätzlich sinnvoll.

    Bezüglich der so genannten klinikinternen Dienstleistungen konnte mit BORA Klarheit geschaffen werden: Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden. Zu beachten ist dabei aber stets, dass dieser Einsatz sich am primären Ziel der medizinischen Rehabilitation orientieren muss. Dazu bedarf es einer gezielten Indikation, einer therapeutischen Zielsetzung und Begleitung. Zudem ist eine zeitliche Begrenzung zu beachten.

    Bei der personellen und räumlich-apparativen Ausstattung der medizinischen Rehabilitationseinrichtungen gelten die Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung. Darin sind Zielgrößen für einzelne Berufsgruppen beziehungsweise Funktionsgruppen beschrieben, die konzeptionell begründet auch nach oben und unten abweichen können. Sie stellen somit kein Dogma dar, sondern lassen Raum für regionale Besonderheiten und konzeptionelle Einrichtungsschwerpunkte. In konzeptionelle Weiterentwicklungen durch die Einrichtungen und Einrichtungsträger sollen die Leistungsträger aktiv einbezogen werden. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich und auch durch Abbildung in den Pflegesätzen zu unterstützen.

    Spezielle Leistungsformen

    BORA muss in allen Leistungsformen Anwendung finden, nicht nur in der stationären Entwöhnung. Für die ambulante Rehabilitation gilt dies genauso wie für die adaptive Behandlung oder die Nachsorge.

    Bereits das gemeinsame Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 3. Dezember 2008 bezeichnet die ambulante Rehabilitation als ein Instrument zum Erhalt bzw. zur Erreichung der Eingliederung in Arbeit und Beruf. Für die Zielgruppen BORA 1 bis 4 kommt ein unterschiedlich umfangreiches Leistungsspektrum in Betracht. Die Leistungen umfassen beispielsweise sozialrechtliche Beratung, Berufsklärung unter Einbeziehung geeigneter Screening-Instrumente, soziale Gruppenarbeit (insbesondere Umgang mit beruflichen Themen), Training sozialer Kompetenzen und Belastungserprobung.

    Eine Adaptionsbehandlung als Spezifikum in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten kann die letzte Phase der stationären Rehabilitation bilden. In den Adaptionseinrichtungen wird seit jeher der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und einem zu erreichenden Erwerbsbezug eine besondere Bedeutung beigemessen. Viele Leistungen und Erfahrungen aus den adaptiven Behandlungen finden heute Einzug in die Konzepte der Entwöhnungen. Man kann also vereinfacht formulieren: Adaption ist BORA. Adaptionsbehandlungen werden v. a. von Rehabilitanden der BORA-Zielgruppe 4 (vereinzelt auch 2, 3 und 5) in Anspruch genommen. Die Leistungen umfassen u. a. die Fortsetzung der medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung, die externe Arbeits- und Belastungserprobung, die Festigung der Abstinenz sowie die persönliche Stabilisierung bei auftretenden Krisen im privaten und beruflichen Alltag. All diese Leistungen zielen insgesamt auf die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration ab. Die Adaptionseinrichtungen erbringen den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Praxis und berücksichtigen den Lebensalltag der Rehabilitanden.

    Auch in den Nachsorgeangeboten müssen und werden im Zuge der Implementierung der BORA-Empfehlungen die erwerbsbezogenen Interventionen einen wachsenden Anteil an den Beratungs- und Unterstützungsprozessen ausmachen. Auch bei geringer Kontaktfrequenz zu den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden muss der (Re-)Integration in das Erwerbsleben bzw. dem Erhalt erwerbsbezogener Strukturen eine größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.

    Kooperationen

    Eine frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der medizinischen Reha ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitanden, die arbeitsbezogenen Ressourcen, die individuellen Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten. Im Verlauf der Rehabilitation können diese Kontakte dafür genutzt werden, dass die Rehabilitanden praktische Erprobungen oder berufliche Orientierungsmaßnahmen absolvieren. Möglichst frühzeitig sollte ein zeitnaher Übergang zu weiteren Leistungen sichergestellt werden – z. B. in eine Adaption, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, in eine berufliche Wiedereingliederung – oder zumindest die erforderlichen Vermittlungsbemühungen. Abhängig vom Einzelfall kommen u. a. folgende Kooperationspartner in Betracht:

    • Arbeitgeber, Werks- und Betriebsärzte, betriebliche Sozial- und Mitarbeiterberatung
    • Arbeitsagenturen, Jobcenter
    • behandelnde Ärzte, Hausärzte, Psychotherapeuten
    • berufliche Rehabilitationseinrichtungen, Bildungsträger, Betriebe
    • gemeinsame Servicestellen der Rehabilitationsträger
    • Integrationsämter, Integrationsfachdienste
    • Reha-Fachberater der Rentenversicherungsträger
    • sozialmedizinischer Dienst der Rentenversicherungsträger
    • Suchtberatungsstellen, Fachstellen, (Sucht-)Selbsthilfegruppen

    Konkrete Kooperationsvereinbarungen sollen neben einer Zielformulierung möglichst auch feste Ansprechpartner enthalten. Rahmenbedingungen der Kooperation sollen so konkret wie möglich benannt werden, z. B. wie der Austausch zwischen den Partnern erfolgt und ob es Evaluations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt. Nur wenn Kooperationen gepflegt werden, können sie erfolgreich sein.

    Zukünftig werden Steuerungsmodelle im Sinne eines Case Management gefragt sein, die Leistungen aus unterschiedlichen Segmenten koordinieren. Erste Pilotprojekte gibt es dazu. Ziel muss sein, dass alle Bemühungen – von der Erstberatung über die Vermittlung in ambulante und stationäre Hilfen und nachsorgende Angebote – vernetzt und zielführend gestaltet werden. Eine Anamnese muss nicht viermal erhoben werden, aber berufliche Erprobungen können mehrfach durchgeführt werden und so die Rehabilitanden in ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen stärken.

    Dokumentation und Qualitätssicherung

    Daten zum Bereich Arbeit, Beruf und Erwerbstätigkeit werden in verschiedenen Systemen dokumentiert:

    • In der Basisdokumentation werden zu Beginn der Behandlung verschiedene Informationen erfasst und am Ende der Behandlung erste Ergebnisindikatoren festgehalten.
    • Die dokumentierten Ergebnisse der Eingangs- und Abschlussdiagnostik stellen eine Grundlage für die Therapieplanung und die Veränderungsmessung dar.
    • In der Patientenakte werden alle wesentlichen Informationen zum Behandlungsverlauf dokumentiert.
    • Die einrichtungsinterne Leistungserfassung erfolgt mit der KTL, deren neue Version 2015 durchaus verbesserte Möglichkeiten zur Dokumentation der arbeits- und berufsbezogenen therapeutischen Leistungen bietet.
    • Im Reha-Entlassungsbericht (neuer Leitfaden der DRV vom September 2014) werden alle wesentlichen Informationen zum Verlauf und zum Ergebnis der Reha zusammengefasst. Von zentraler Bedeutung ist hier die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, die im freien Text (Blatt 2) möglichst gut begründet werden soll.

    Die in der medizinischen Rehabilitation etablierten Systeme für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beinhalten verschiedene Vorgaben für die Leistungsgestaltung und die Struktur von Ergebnisindikatoren. Die externe Qualitätssicherung erfolgt im Rahmen des Reha QS-Programms der Deutschen Rentenversicherung und umfasst folgende Instrumente:

    • Rehabilitandenbefragung mit einzelnen Fragen zur Arbeits- und Berufsorientierung (insbesondere zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit)
    • Peer Review-Verfahren (Checkliste und Manual in neuer Version vom Dezember 2014) zur Überprüfung der inhaltlichen Qualität der Reha-Entlassungsberichte mit dem Fokus Reha-Prozess und Reha-Ergebnis
    • Therapeutische Versorgung (KTL) mit Kennzahlen zu Häufigkeit, Dauer und Differenziertheit der dokumentierten Leistungsdaten (Leistungsverteilung, Leistungsmenge, Leistungsdauer) und einer gesonderte Auswertung der therapeutischen Leistungen im Bereich Arbeits- und Berufsorientierung
    • Reha-Therapiestandards (RTS) mit Anforderungen in einzelnen ETMs (Evidenzbasierte Therapiemodule) mit speziellen therapeutischen Anforderungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit
    • Visitationen nach einer einheitlichen Checkliste, die auch die Aspekte „arbeitsbezogene Leistungen“, „Sozialmedizin“ und „Sozialdienst“ umfasst
    • Rehabilitandenstruktur mit soziodemografischen (z. B. Alter, Bildungsniveau, Erwerbsstatus) und krankheitsbezogenen Merkmalen (z. B. Diagnosen, Leistungsfähigkeit)
    • Sozialmedizinischer Verlauf zum Verbleib der Rehabilitanden im Erwerbsleben mit Bezug zur Beitragszahlung an die gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur aus Erwerbstätigkeit resultieren kann (Ab 2011 haben sich die gesetzlichen Grundlagen für Hartz-IV-Empfänger geändert, d. h., es werden für diese Personengruppe keine RV-Beiträge mehr gezahlt, was aufgrund der hohen Langzeitarbeitslosigkeit im Indikationsbereich Sucht zu einer deutlichen Verschlechterung dieser Kennzahlen führen kann.)

    Zu den genannten Instrumenten und Indikatoren werden regelmäßig einrichtungsspezifische QS-Berichte erstellt, die Grundlage für einen Qualitätsvergleich der Einrichtungen und deren Qualitätsentwicklung sein sollen.

    Im Bereich der internen Qualitätssicherung werden von den Reha-Einrichtungen verschiedene Instrumente zur Analyse von Indikatoren und Kennzahlen im Zeitverlauf und zum Einrichtungsvergleich eingesetzt. Dazu zählen insbesondere:

    • Patientenbefragungen zur Erhebung der Zufriedenheit am Behandlungsende oder am Stichtag, u. a. mit Fragen zu den Leistungen im Bereich Arbeits- und Ergotherapie
    • Basisdokumentation mit Erhebung des Erwerbsstatus vor und nach der Rehabilitation. Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen und in der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS).
    • Katamnesen nach dem Standard des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) nach einem Jahr zum Behandlungserfolg (insbesondere Abstinenz, Erwerbstätigkeit und Kontextfaktoren). Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen.

    Zum internen Qualitätsmanagement besteht für alle stationären Reha-Einrichtungen eine Zertifizierungspflicht nach § 20 Abs. 2a SGB IX (BAR-Vereinbarung von 2009). Der entsprechende Anforderungskatalog umfasst auch Qualitätskriterien, die die Struktur- und Prozessqualität im Bereich arbeits- und berufsbezogene Leistungen betreffen. Für die relevanten Kernprozesse ist ein Prozessmanagement zu etablieren, die Teilnahme an einem Verfahren der externen QS ist vorgeschrieben, und es müssen Verfahren für die interne Messung und Analyse von Ergebnissen eingesetzt werden.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den bestehenden QM- und QS-Systemen bislang nur wenige oder eher globale Indikatoren zur Analyse der Arbeits- und Berufsorientierung enthalten sind. Verschiedene Weiterentwicklungen im QS-Programm der DRV wären denkbar: Im Rahmen der Rehabilitandenbefragung könnten die Leistungen in der Einrichtung, die sich auf Beruf und Arbeit beziehen, differenzierter abgefragt werden. Bei der Analyse der Rehabilitandenstruktur könnten die BORA-Zielgruppen explizit dargestellt werden. Und bei der im Jahr 2015 laufenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards könnten die ETMs, die die Arbeits- und Berufsorientierung betreffen, zusammengefasst und stärker an den BORA-Empfehlungen ausgerichtet werden.

    Aktuell wird auch die Erhebung einer ‚Integrationsquote‘ diskutiert, die den Anteil der konkret in Erwerbstätigkeit gebrachten Rehabilitanden (für jede Reha-Einrichtung) messen soll. Auch wenn das auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, ist Vorsicht geboten, denn der Auftrag der Reha-Einrichtungen bezieht sich primär auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Bei der Integration in eine Erwerbstätigkeit spielen viele Einflussfaktoren und Leistungen außerhalb bzw. vor und nach der medizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Zudem kann eine einzelne Einrichtung weder für ihr regionales Umfeld und die entsprechende Arbeitsmarktsituation verantwortlich gemacht werden noch alle Schwierigkeiten ausgleichen, die aufgrund der konzeptionell bedingten Rehabilitandenstruktur (Zielgruppenmix) bestehen.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Denis Schinner
    Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption
    Merschstraße 49
    59387 Ascheberg-Herbern
    dschinner@netzwerk-suchthilfe.org
    www.netzwerk-suchthilfe.org
    www.facebook.com/fachklinik.release

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Denis Schinner ist Verwaltungsleiter der Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption, Ascheberg-Herbern.