Schlagwort: Arbeitslosigkeit

  • Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Karl Lesehr

    Zum 31.07.2019 wurden die letzten Teilnehmenden* aus dem Projekt Su+Ber – Sucht und Beruf verabschiedet. Damit wurde dieses Projekt zur Teilhabeverbesserung langzeitarbeitsloser und suchtkranker Menschen nach gut dreieinhalb Jahren mangels weiterer Förderung vorläufig beendet. Wir haben über Su+Ber  ausführlich bereits 2017 in einem zweiteiligen Artikel auf KONTUREN online (Teil 1 + Teil 2) berichtet. Eine abschließende differenzierte und mehrteilige wissenschaftliche Evaluation legte das IFT München planmäßig bis zum Jahresende 2019 vor (PDF zum Download).

    Der hier vorliegende Artikel möchte einen anderen Aspekt, nämlich die innere Projektentwicklung reflektieren. Aus der Sicht eines verantwortlich Beteiligten möchte ich unsere Erfahrung von Hemmnissen und Schwierigkeiten darstellen und zeigen, wie sich unsere Arbeitshaltungen durch diese Erfahrungen im Projektprozess verändert haben. Mit einer solchen, eben nicht nur an Erfolgskennzahlen orientierten Evaluation wollen wir uns auf Entwicklungsschritte einlassen, wie wir sie ja auch von unseren Projekt-Teilnehmenden erhoffen und erwarten. Aufgrund meiner fachlichen Herkunft nehme ich dabei v. a. die Perspektive der Suchthilfe ein; viele meiner Aussagen gelten aber in vergleichbarer Weise auch für den Bereich der Arbeitshilfen.

    Entwicklungsgeschichte und Zielsetzungen des Projekts Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber ist in Baden-Württemberg in einem mehrjährigen Diskussionsprozess entstanden, an dem neben zahlreichen Akteuren der Suchthilfe und der Suchtreha auch engagierte Fachkräfte aus Jobcentern und Politikvertreter beteiligt waren. Mit Su+Ber sollte an sechs Standorten für Langzeitarbeitslose mit einem teilhabebeeinträchtigenden Suchtverhalten (Alkohol/Drogen) auf einem ganz neuen Weg eine stabile Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ermöglicht werden. Wesentliche Teile des Projekts Su+Ber wurden vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land finanziert; die in die Projektkonzeption integrierten und relativ personalintensiven Arbeitsfördermaßnahmen wurden dabei in vollem Umfang von den beteiligten Jobcentern finanziert.

    Suchtprobleme gelten bei der Wiedereingliederung in Arbeit als wesentliches Vermittlungshemmnis. Gleichzeitig ist es ein Grundaxiom der Suchthilfe, dass eine regelmäßige Arbeit entscheidend zu einer gesundheitlichen Stabilisierung suchtkranker Menschen beitragen kann. Die fachliche Entwicklung der medizinischen Suchtreha orientierte sich deshalb stets an dem Ziel einer Reintegration in Arbeit, wofür eine Suchtmittelabstinenz bislang als unumgängliche Voraussetzung galt. Wer allerdings inzwischen die konkreten Arbeitsmarktperspektiven für langzeitarbeitslose Menschen mit Suchtstörungen ehrlich anschaut, für den wird spürbar, dass eine solche vorrangig auf eine formale Arbeitsreintegration orientierte Suchtreha den Teilhabebedürfnissen und -rechten dieser Menschen oft nicht gerecht wird. Die Grundkonzeption unseres Projekts Su+Ber baut zwar notwendigerweise auf diese arbeitsorientierte Tradition der Suchtreha auf, versucht aber, innerhalb der geltenden Rechtssystematik für bestehende versorgungspolitische Schwachstellen neue Lösungen zu finden.

    Konsequente arbeitsorientierte Leistungsvernetzung als Antwort auf Schnittstellenprobleme

    Das Projekt Su+Ber sieht als Antwort auf viele letztlich ungelöste Schnittstellenprobleme bei Maßnahmen zur Arbeitsreintegration im Anschluss an eine Suchtreha eine weitgehende örtliche, zeitliche und personelle Vernetzung aller Fördermaßnahmen: Leistungen der Suchtberatung, Arbeitsfördermaßnahmen der Jobcenter und der Arbeitshilfeträger sowie Leistungen einer arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha sollen im Projekt in einer konsequenten Gesamtmaßnahme integriert werden. Zentrale Bausteine des Projekts waren:

    • eine Zielorientierung der Gesamtmaßnahme auf die Gewinnung eines eigenen Arbeitsplatzes unter konsequenter Berücksichtigung der eben auch widersprüchlichen individuellen Entwicklungsinteressen und der nutzbaren Entwicklungsressourcen der Teilnehmenden. Die Orientierung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sollte alle Beteiligten vor defizit- und mangelorientierten Selbst- und Fremdeinschätzungen und vor zu kleinteiligen Maßnahmenzielen schützen.
    • eine fallbezogene personale Vernetzung aller am Projekt beteiligten Akteure in einem gemeinsamen Clearingprozess und in der Maßnahmenplanung. Die Erfolgsprognose, die sozialleistungsrechtlich erforderlich ist, damit Maßnahmen gewährt werden, orientierte sich nicht an Maximalzielen (Abstinenz, volle Arbeitsintegration), sondern an konkreten Verbesserungen beruflicher Teilhabe und damit verbundener subjektiver Lebensqualität.
    • eine Konzeption der ambulanten Suchtreha, die vorrangig auf die Entwicklung einer hinreichenden Arbeitsfähigkeit orientiert ist und dabei notfalls auch auf den bisherigen Vorrang des gesundheitlichen Maximalziels einer Abstinenz verzichtete.
    • die nahtlose Nutzung aller individuell erfolgversprechenden Fördermaßnahmen der beteiligten Leistungsträger einschließlich einer suchtkompetenten Unterstützung auch im ersten Jahr an einem eigenen Arbeitsplatz.

    Innovation erfordert Mut zum Risiko, erhöht aber auch die institutionellen Erfolgserwartungen

    Ein solcher Projektansatz ließ sich natürlich nur realisieren, indem alle Beteiligten über ihre gewohnten Konzepte und Leistungsformen hinausgingen: So ließen sich die beteiligten Jobcenter auf einen gegenüber sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen höheren Personaleinsatz ein. Die DRV Baden-Württemberg wagte den Versuch einer konsequent arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha auch unter Verzicht auf die traditionelle Abstinenzbindung. Die Suchtberatungsstellen waren zu sozialräumlichen Kooperationen mit anderen PSBs (Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und Suchtkranke) und zu einem mehrheitlich externen Arbeitseinsatz beim Arbeitshilfeträger aufgefordert. Und für alle beteiligten Fachkräfte galt es, sich im geforderten Clearingprozess und in der fallbezogenen Maßnahmenplanung auf eine personale Kooperation einzulassen und dabei die eigenen fachlichen Sichtweisen und Denktraditionen immer wieder zu hinterfragen.

    Bei den beteiligten Leistungsträgern (Jobcenter und DRV Baden-Württemberg), die für das Projekt substantiell/materiell in Vorleistung gehen mussten, entstand dabei verständlicherweise ein hoher Druck, ihre Aufwendungen/Wagnisse auch durch möglichst gute Ergebniszahlen zu legitimieren. Bei den Jobcentern war dennoch die Bereitschaft, auch die eigenen internen Verwaltungsabläufe auf diese neue Projektstruktur abzustimmen, angesichts der je Standort nur bescheidenen Maßnahmekapazitäten (max. zwölf Plätze) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und auch in der projektbezogenen Kooperation mit der DRV Baden-Württemberg gelang es trotz einer insgesamt vertrauensvollen Arbeitsbasis erst zum Ende des ersten Projektjahres und damit zur Hälfte der anfänglich bewilligten Projektlaufzeit, eine für beide Seiten vertretbare Reha-Konzeption für das Projekt Su+Ber zu verabschieden.

    Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung für Su+Ber

    Während solche Schwierigkeiten mit den Leistungsträgern für uns schon in der Projektvorbereitung absehbar waren, hatten wir geglaubt, dass durch die zahlreichen Diskussionen und Fachveranstaltungen der Landesstelle für Suchtfragen im Projektvorlauf und durch ein detailliertes Anforderungsprofil in der ESF-Projektausschreibung bei der Teilnehmergewinnung und in der Projektumsetzung keine größeren Probleme auftreten würden. Tatsächlich hatten wir vor allem im ersten Projektjahr aber an nahezu allen Standorten erhebliche Schwierigkeiten, die in den Arbeitsfördermaßnahmen bereitgestellten Plätze auch zu füllen – deren Auslastung lag in dieser Zeit insgesamt deutlich unter 50 Prozent!

    Als wesentliche Ursachen dieser für uns unerwarteten Entwicklung konnten wir – trotz aller konzeptionellen Absprachen/Vereinbarungen im Vorfeld einer Projektbeteiligung – Folgendes feststellen:

    • Bei vielen Fachkräften der Suchtberatungsstellen herrschte große Skepsis gegenüber einem suchtrehabilitativen Ansatz ohne Abstinenzverpflichtung.
    • In vielen Suchthilfeeinrichtungen wird eine „Reha-Gesamtplanung“ praktiziert, bei der Fragen der Reintegration in Arbeit immer noch meist erst nach einer (stationären) Suchtreha in den Blick genommen wurden.
    • Bei einer Einbeziehung arbeitsorientierter Fördermaßnahmen in die Suchtreha-Planung wurde – unabhängig von der fachlichen Art des Angebots – bevorzugt in trägereigene Maßnahmen vermittelt.

    Offenbar führt eine hohe Autonomie der Fachkräfte in den PSBs bei gleichzeitig subjektiv hoher Arbeitsbelastung in der Fallarbeit dazu, dass vertraute rehabilitative Handlungs- und Denkmuster weitergeführt und innovative Interventionsansätze kaum ernsthaft registriert werden. Im Ergebnis gab es während der drei Projektjahre trotz vielfacher Informationsangebote und Werbung fast ausschließlich von denjenigen Suchtberatungsstellen Vermittlungen in das Projekt Su+Ber, in denen durch Honorarverträge Mitarbeitende unmittelbar in die Projektarbeit eingebunden waren. Aber auch in den direkt am Projekt beteiligten Suchtberatungsstellen gelang es mehrheitlich erst durch eine regelmäßige Präsenz von Projektmitarbeitenden in den eigenen Reha-Teams,  die Quote an Vermittlungen in das „eigene“ Projekt Su+Ber innerhalb der gesamten indikationsgerechten Vermittlungen in Suchtreha zu erhöhen.

    Unterschätzt hatten wir in der Projektplanung aber auch zwei materielle/leistungsrechtliche Faktoren:

    • Aufgrund der knappen Fördermittel für Su+Ber hatten wir für die sechs- bis achtmonatige Projektphase B der Arbeitsförderung und der integrierten ambulanten Suchtreha keine Mehraufwandsentschädigung für die Teilnehmenden vorgesehen. Dadurch waren wir für manchen Kunden/Klienten im Vergleich zu anderen vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen aber deutlich weniger attraktiv (ganz unabhängig von der im Projekt ja zusätzlich geforderten offenen Befassung mit dem eigenen Suchtverhalten).
    • Angesichts der in Baden-Württemberg derzeit sehr guten Arbeitsmarktlage erlebten wir es in der Projektphase A (Motivierung und vorläufige Integrationsplanung) immer wieder, dass Interessenten kurzfristig eine Arbeit fanden und deshalb eine Projektteilnahme im Sinne ihres bisherigen Problembewältigungsmusters fallen ließen. Wenn dann nach oft schon absehbaren Krisen dieser Arbeitsplatz wieder verloren ging, griff die Regelung der „schädlichen Unterbrechung“ der Langzeitarbeitslosigkeit: Eine Wiederaufnahme ins Projekt war dann (eigentlich) genauso wie nach längerer Krankschreibung oder auch kurzfristigen Inhaftierungen (v. a. bei Drogenabhängigen) erst wieder nach einer längeren (kontraproduktiven) Wartezeit möglich; ein möglicherweise günstiges „Motivationsfenster“ blieb wegen unsinniger Zuständigkeitsregelungen so ungenutzt.

    Eine von der Projektkonzeption deutlich abweichende Teilnehmenden-Gruppe

    Im Ergebnis bestand unsere Su+Ber-Teilnehmergruppe v. a. aus Menschen, die von den Jobcentern vermittelt wurden und dort nach zahlreichen, aber wirkungsarmen Maßnahmen als weitgehend hoffnungslose Fälle eingestuft worden waren („hartnäckiger Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit“). Gleichzeitig fehlten uns aus den Suchtberatungsstellen diejenigen Menschen, die sich dort zum wiederholten Mal aktiv um eine Suchtreha-Maßnahme bemühten.

    Es wurde aber auch deutlich, dass mehr als 80 Prozent unserer Teilnehmenden bereits Vorerfahrungen mit der ambulanten Suchthilfe und etwas mehr als die Hälfte auch Erfahrungen mit Suchtreha-Maßnahmen hatten. Zumindest bei dieser Gruppe stark chronifizierter Langzeitarbeitsloser mit Suchtproblemen ist also davon auszugehen, dass aufgrund zweier im Lebensalltag der Menschen ja zusammenhängender Teilhabe-Beeinträchtigungen häufig auch beide leistungsrechtlich getrennten Hilfesysteme in Anspruch genommen werden, allerdings oft ohne irgendeine erkennbare Kooperation und Abstimmung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass wir mit unserem leistungsvernetzten Förder- und Behandlungsangebot von Su+Ber 44 Prozent der Teilnehmenden erstmals für die Nutzung einer Suchtreha-Maßnahme gewinnen konnten.

    Da im Projekt Su+Ber bei den Bemühungen um eine Arbeitsintegration ausdrücklich auch das Suchtverhalten thematisiert werden sollte, war für uns ein freiwilliger und von Sanktionen unabhängiger Zugang zum Projekt grundlegende Bedingung. Daraus leiteten wir die Hypothese ab, dass unsere Projekt-Teilnehmenden trotz ihrer vielfachen Erfahrungen des Scheiterns und vieler aktueller Alltagsprobleme und Beeinträchtigungen sehr wohl weiter an einer Verbesserung ihrer Lebenslage interessiert waren. Auch die zu den formalen Qualifikationen erhobenen Daten lassen vermuten, dass für einen deutlichen Teil der Teilnehmenden die Perspektive einer beruflichen Reintegration keineswegs abwegig ist: Nur 13 Prozent hatten keinen regulären Schulabschluss, aber immerhin 51,5 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung.

    Entwicklung der Teilnehmerzahl

    In der (nach einer Verlängerung) schließlich dreijährigen Projektlaufzeit haben wir nach ESF-Kriterien 301 Teilnehmende ins Projekt Su+Ber aufgenommen, also in die Projektphase A mit ihrem interinstitutionellen Clearing, der vertieften Motivierung und einer vorläufigen Maßnahmenplanung sowie schließlich der formalen Beantragung der ambulanten Suchtreha-Maßnahme. Tatsächlich wurden dann aber von diesen 301 ernsthaften Projektinteressenten nur 199 Teilnehmende in die Projektphase B übernommen, also in die sechs- bis achtmonatige Arbeitsfördermaßnahme mit integrierter ambulanter Suchtreha.

    Nach allen Erfahrungen aus der Motivierungsarbeit der Suchtberatung hatten wir zwar an diesem Übergang mit einem Schwund an Teilnehmenden gerechnet, der Ausstieg von einem Drittel hat uns aber doch beschäftigt. Ein Teil dieser Quote erklärt sich mit den bereits skizzierten leistungsrechtlichen Regelungen („schädliche Unterbrechung“). Andere Teilnehmende fühlten sich abgeschreckt durch die umfangreichen datenschutzrechtlichen Regelungen, die durch die wissenschaftliche Evaluation notwendig wurden und für die wir auch keine grundlegende Vereinfachung finden konnten.

    In der Analyse wurde für uns aber auch deutlich, dass wir es versäumt hatten, Ansätze und Strukturen für eine projektspezifische Veränderungsmotivierung der Teilnehmenden zu entwickeln. Obwohl wir davon ausgegangen waren, dass die vorrangige Triebfeder für die Beteiligung an Su+Ber bei den meisten Teilnehmenden die Gewinnung eines „vollwertigen“ Arbeitsplatzes sei, fanden die meisten (bestenfalls wöchentlichen) Kontakte der Phase A im rein verbalen Setting der Suchtberatungsstelle statt und gingen von den klassischen Konzepten einer Problemanamnese und Motivationsklärung aus.

    Diese Setting-Strukturen hatten Konsequenzen: Im Durchschnitt wurden diejenigen Teilnehmenden, die in oder nach der Phase A bereits wieder aus dem Projekt ausgeschieden sind, knapp vier Monate lang betreut – aus unserer Sicht viel zu viel Lebenszeit für Menschen, die mit einem  Entwicklungswunsch ins Projekt eingetreten waren. Aufgrund der Erfahrungen aus den supervisorischen Praxiswerkstattrunden vermuten wir zudem, dass in diesen Gesprächen mehrheitlich die Suchtproblematik und aktuelle Alltagsprobleme und weniger individuelle Entwicklungssehnsüchte und Hoffnungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt standen. Wir haben es deshalb im zweiten Projektjahr ermöglicht, dass Teilnehmende auch direkt in die Phase B beim Arbeitshilfeträger ins Projekt Su+Ber einsteigen konnten; die für die Projektphase A vorgesehenen Aufgaben konnten dann dort begleitend zu den ersten Arbeitserfahrungen in den ersten drei Wochen bearbeitet und dann nahtlos auch in der ambulanten Suchtreha weitergeführt werden.

    Unterschätzt hatten wir auch einen weiteren Effekt der bereits genannten Skepsis in der ambulanten Suchthilfe gegenüber einem nicht abstinenzgebundenen Suchtreha-Ansatz: An der Mehrzahl der Projektstandorte fanden sich trotz wohlwollender Haltung der PSB-Leitungen nur Fachkräfte für die Mitarbeit im Projekt Su+Ber, die bislang kaum oder gar nicht in Leistungen der ambulanten Suchtreha eingebunden waren. Gleichzeitig fehlte an vielen Standorten aber auch die regelhafte kollegiale Einbindung in das „normale“ Reha-Team. In der Verbindung mit den für alle Beteiligten neuartigen konzeptionellen Anforderungen im Projekt Su+Ber führte dies dazu, dass einige unserer Projektfachkräfte lange Zeit stark verunsichert waren und so die konzeptionellen Entwicklungsräume unserer Reha-Konzeption zunächst kaum für ihre Teilnehmenden nutzen konnten.

    Das Projekt startete aus fördertechnischen Gründen zum Jahresanfang 2016 und damit noch vor dem positiven Ethikvotum zur Evaluationsforschung im Juni 2016. Dies führte – zusammen mit den aufwendigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen, die viele Teilnehmende abschreckten – dazu, dass letztlich nur die Daten von etwa 60 Prozent der tatsächlichen Projekt-Teilnehmenden in die wissenschaftliche Evaluation einbezogen werden konnten.

    „Wir haben die falschen Projekt-Teilnehmenden“

    Rückblickend waren die Austauschrunden der ersten anderthalb Projektjahre neben der Klärung vieler formaler und dokumentationsrelevanter Fragen beherrscht von der Feststellung, dass wir an den meisten Standorten zu wenige und dann auch noch die „falschen“ Teilnehmenden im Projekt hätten, d. h. Personen, die voraussichtlich nicht direkt in den Arbeitsmarkt reintegrierbar wären. Dies fand seine Entsprechung auch in den Ergebnissen unseres prognostischen interinstitutionellen Grobclearings in der Projektphase A: Nur für etwa zehn Prozent der Teilnehmenden wurde von den beteiligten Fachkräften eine gemeinsame positive Prognose abgegeben. Offenbar haben sich in der Wahrnehmung der professionellen Akteure viele statistisch belegte Korrelationen („Vermittlungshemmnisse“, störungsbedingte Leistungseinschränkungen, unzureichende Veränderungsmotivation) als quasi persönliche Eigenschaften zu direkten personalen Zuschreibungen verfestigt und damit verselbständigt („mit diesen Problemen kannst du das doch nicht“). Das gemeinsame Grobclearing wurde so v. a. zum Prüfstein, an dem solche verfestigten individuellen oder institutionellen Zuschreibungen deutlich werden konnten; nach unseren bisherigen Auswertungen haben die prognostischen Einschätzungen dieses Grobclearings nur eine geringe Aussagekraft hinsichtlich des tatsächlich erzielten positiven Projektergebnisses.

    Paradoxerweise wird diese Zuschreibung von Schwächen in der individuellen Betreuungsarbeit oft scheinbar bestätigt durch brüchige und widersprüchliche Selbstkonzepte der Teilnehmenden. Deren eigentlich motivierende Einstellung „Ich will arbeiten, ich brauche das!“ wird regelhaft beeinträchtigt oder blockiert durch die chronifizierte Erfahrung „Ich kann es doch nicht recht machen, ich halte das eh nicht durch“. Vielfältige beschämende Erfahrungen des Scheiterns und unerfüllter Eigen- und Fremderwartungen sind offenbar stärker als einzelne Erfolgserfahrungen. Das Selbstwertgefühl der Menschen als „psychisches Immunsystem“ ist kollabiert. Statt auf Entwicklungskräfte und Alltagskompetenzen zu schauen, konzentrieren sich alle Beteiligten in vermeintlich bester Förder- und Entwicklungsabsicht dann faktisch nur noch auf Schwächen und Defizite, die es durch symptomorientierte Interventionen aufzulösen gelte.

    Fallbezogene Leistungsvernetzung als Weg zu einer gemeinsamen Reha-Verantwortung

    Schon als wir uns in der Projektentwicklung mit den Kriterien des Grobclearings befassten, war uns deutlich, welche fatalen Verstärkungseffekte solche problemorientierten individuellen Prognosen für die „gebrochenen Selbstwirksamkeitserfahrungen“ unserer Teilnehmenden haben (können). Im Projekt Su+Ber haben wir deshalb das Grobclearing als ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Instrument im Rahmen einer konsequenten Leistungsvernetzung konzipiert. Grundsätzlich war demnach eine Projektteilnahme auch dann möglich, wenn nur eine der beteiligten Institutionen eine positive Prognose aussprach. Dieses Instrument der Leistungsvernetzung forderte somit alle Beteiligten zum intensiven Austausch und Abgleich ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen, ihrer Erfahrungen und Bewertungen heraus.

    Dieser weit über eine gewohnte fachliche Kooperation hinausgehende Vernetzungsanspruch in Su+Ber fand im Projektalltag unterschiedliche Akzeptanz. Einzelne Jobcenter sahen sich organisatorisch grundlegend nicht in der Lage, für die Betreuung aller ihrer Teilnehmenden eine konkret verantwortliche Fachkraft zu benennen. Einzelne Fachkräfte zogen sich in diesem Austausch von Sichtweisen und Argumenten immer wieder auf eine übergeordnete Position als Vertreter eines Leistungsträgers zurück. Die breite Mehrheit der Projektbeteiligten erlebte diesen Vernetzungsprozess jedoch als den zentralen fachlichen Gewinn aus der Projektarbeit. Die fallbezogene Verknüpfung persönlicher Sichtweisen, fachlicher Kompetenzen und unterschiedlicher leistungsrechtlicher Perspektiven wurde als Bereicherung erlebt und als Chance, die komplexe Lebenswirklichkeit und die Entwicklungspotentiale der Teilnehmenden umfassender wahrzunehmen und dann auch für die gewünschten Entwicklungsprozesse zu nutzen.

    Im Zuge dieser gemeinsamen Einlassung auf die Teilnehmenden und deren Lebensentscheidungen spürten die Profis oft auch Respekt und Demut: Es wurde für sie erlebbar, dass es bei allen Angeboten einer Teilhabeförderung für Menschen in stark chronifizierten Lebenslagen weniger um die Befähigung zu einer schnellstmöglichen Erreichung irgendwelcher von außen definierter oder verstärkter Ziele gehen sollte, als vielmehr um die Unterstützung einer eigenverantworteten Entwicklung und die Befähigung zu einer individuell spürbar verbesserten Teilhabe. Letztlich muss es um die Förderung einer individuellen Würde gehen, die sich speist aus entwicklungsorientierten Erfahrungen der Selbstwertschätzung und der Selbstwirksamkeit einerseits und der Erfahrung sozialer Wertschätzung und Achtung andererseits.

    Die Feedbacks, die die Profis im Projektverlauf von ihren Teilnehmenden erhielten, machen deutlich, dass eine derart veränderte Betreuungshaltung sehr wohl wahrgenommen und wertgeschätzt wurde: „Ich musste mich mit meinen Schwierigkeiten nicht mehr verstellen, brauchte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen.“ „Die Mitarbeit im Projekt hat mich interessiert, Beikonsum war da kein Thema mehr.“ „Wenn ich eine Aufgabe habe, geht es mir besser.“ „Ich kann etwas, auch so, wie ich derzeit bin.“ Und gleichzeitig machen für mich Rückmeldungen einzelner Projektfachkräfte deutlich, dass dieses gemeinsame Bemühen um einzelne, ganz konkrete Menschen auch zur Verbesserung der eigenen professionellen Identität beigetragen hat.

    Verbesserungsmöglichkeiten für Folgeprojekte

    Zusammenfassend halten wir aufgrund unserer Erfahrungen folgende Ansätze für Verbesserungen bei künftigen vergleichbaren Projekten für grundlegend notwendig:

    • Bei Menschen in chronifiziert teilhabebeeinträchtigten Lebenslagen kann jede suchtrehabilitative Verbesserung der individuellen Lebensqualität soziale und berufliche Krankheitsfolgen und Krankheitsschädigungen reduzieren. Suchtreha-Leistungen dürfen deshalb nicht nur mit dem Ziel einer bestmöglich gesicherten Arbeitsintegration gewährt werden; bei Suchtberatungsstellen sollte zugunsten einer individuell möglichen Teilhabeverbesserung auch für eine bedarfsorientierte Nutzung suchtrehabilitativer Ansätze ohne Abstinenzverpflichtung geworben werden, und es sollten entsprechende Interventionskonzepte entwickelt werden.
    • Damit Menschen unserer Zielgruppen sich angesichts einer Vielzahl von Förderansätzen für ein Konzept unter Einbeziehung spezifischer Suchtreha-Leistungen entscheiden können, müssen motivationale Faktoren (z. B. Mehraufwandsentschädigungen, Zeitperspektiven von Maßnahmen) geschaffen und strukturelle Hemmnisse (z. B. „schädliche Unterbrechung“) bestmöglich beseitigt werden. Gegebenenfalls sollten in enger Abstimmung mit den Jobcentern fallbezogen motivationsstützende Förderalternativen gesucht werden.
    • Für einige Interessenten ist statt einer nur verbalen Klärung und Entwicklungsmotivierung ein frühzeitiger Einstieg in eine Maßnahme der Beschäftigungsförderung motivations- und selbstwertstärkend und ermöglicht gleichzeitig allen Beteiligten konkret sichtbare und ansprechbare Informationen über Belastungsgrenzen und lebensweltliche Hemmfaktoren.
    • Für Langzeitarbeitslose mit Suchtproblemen gibt es nach unserer Erfahrung nur selten nachhaltige und subjektiv befriedigende Arbeitsplätze. Bemühungen um eine berufliche Reintegration sollten deshalb nicht nur an formalen Integrationsdaten orientiert sein, sondern – als Maßnahme einer grundlegenden Teilhabeförderung – gleichgewichtig auch an einer Verbesserung persönlicher Lebensqualität und am Erleben von Selbstwert. Eine solche Teilhabeperspektive sollte von allen Beteiligten akzeptiert sein und an gemeinsam vereinbarten Parametern auch dokumentiert werden. Verbindliche Kooperationspartner bei Jobcentern und Arbeitshilfeträgern erleichtern eine solche gemeinsame Teilhabeperspektive.

    Teilhabeförderung muss sich auch in Ergebniszahlen bewähren

    Jede Form psychosozialer Arbeit und jede Teilhabeförderung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen von der Gesellschaft getragenen Angeboten und individuellen Bedarfen. Somit ist neben allen subjektiv positiven Effekten auch wichtig, wie hoch die Kosteneffizienz und die Zielerreichung eines neuen Projektes ist. Die unzureichende Belegung der zur Verfügung gestellten Plätze im Projekt Su+Ber bedeutet natürlich schon mal eine relativ schlechte Kosteneffizienz. Wir gehen allerdings aufgrund der Verlaufsentwicklung in den drei Projektjahren davon aus, dass bei einer längeren Projektlaufzeit unsere veränderten Strategien der Teilnehmergewinnung und -haltung auch eine deutlich bessere Auslastung ermöglichen könnten.

    Von den 199 Teilnehmenden, die in die Projektphase B gestartet waren, konnten  42 in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit überführt werden. Diese Integrationsquote von insgesamt etwa 21 Prozent entspricht nicht unseren ursprünglichen Hoffnungen bei der Projektkonzeption und zumindest teilweise auch nicht den Erwartungen der beteiligten Jobcenter bzw. der DRV Baden-Württemberg. Zudem waren die Integrationsquoten an den einzelnen Projektstandorten – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation – recht unterschiedlich. Nach unserer Beobachtung spiegeln diese Unterschiede wider, wie intensiv und engagiert sich die Fachleute  der jeweiligen Standorte mit dem Handlungsansatz des Projekts Su+Ber identifiziert und die durch dieses Projekt ermöglichten Handlungsfreiräume auch genutzt haben.

    Es bleibt aber immer noch die Frage, wie eigentlich die Quote von 21 Prozent für die Wiedereingliederung in Arbeit von Menschen unserer Zielgruppen zu bewerten ist bzw. ob nachhaltig wirksamere Maßnahmen für sie konkret zur Verfügung stehen. Es nützt ja wenig, wenn, wie an einem unserer Standorte, nach dem Ende von Su+Ber  zur Sicherung des weiteren Leistungsbezugs der Klientel einfach eine neu benannte Maßnahme aufgelegt wird und die Kunden dann wieder durch eine scheinbar neue Maßnahme geschleust werden. Wir haben uns deshalb in der Analyse unserer Projektarbeit intensiv auseinandergesetzt mit dem Verhältnis von

    • gesellschaftlich geforderten kurzfristigen Ergebniszahlen,
    • den durch SGB IX und das BTHG definierten Anforderungen an eine umfassende Förderung gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe für teilhabebeeinträchtigte Menschen
    • sowie einer subjektiv wahrgenommenen Verbesserung der individuellen Lebenswirklichkeit für die betroffenen Menschen („Lebensqualität“).

    Wir erleben um uns herum eine Praxis der Teilhabeförderung, in der Maßnahmen v. a. nach dem Kriterium kurzfristiger Kosteneinsparung und entlang leistungsrechtlicher Grenzziehungen auf der Basis von Kennzahlen als Verwaltungsakte umgesetzt werden. Dabei werden die betroffenen Menschen zum zu fördernden und zu bewertenden Objekt und letztlich auch zum Störfaktor, weil diese Förderpraxis individuelles Scheitern und kostenträchtige Maßnahmenwiederholungen bei unserer Zielgruppe kaum verringert. Auch wenn wir aufgrund der kurzen  Projektlaufzeit noch keine handfesten Belege liefern können, sind wir nach unseren Erfahrungen aber weiter davon überzeugt, dass – unter Nutzung aller bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen und fachlichen Konzepte – eine konsequent an der Lebenslage der betroffenen Menschen und an ihren Entwicklungssehnsüchten orientierte Förderung/Reha-Maßnahme nicht teurer wäre als die bisherige Praxis, aber für die Teilnehmenden und für die Profis mehr Lebensqualität ermöglichen könnte. Wir brauchen dafür sicherlich neue persönliche Haltungen der Profis, aber wir brauchen auch grundlegende Interventionsansätze, die Handlungsfreiräume schaffen und dazu ermutigen, sich mit den hochkomplexen, natürlich auch widersprüchlichen und biografisch beeinträchtigten „Wirklichkeitskonstruktionen“ von Menschen in chronifizierter sozialer Exklusion auseinanderzusetzen mit dem Ziel einer für sie adäquaten Förderung.

    Was wäre für uns deshalb in einem weiterführenden Projekt wichtig?

    1. Die Praxis von Teilhabeförderung/Behandlung orientiert sich vielfach an linearen Kausalitätsmodellen, denen zufolge einzelne Störungen/Defizite zu Teilhabehemmnissen werden, die behoben werden sollen. Insbesondere die medizinische Suchtreha, die in ihren Anfängen als stationäre Reha ja einen Gegenentwurf zum Lebensalltag der Menschen erlebbar machen wollte, hat die Idee einer rehabilitativen „Befähigung“, die in einem hochspezialisierten Setting effizient vermittelt wird, gefördert. Dieses Modell hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die betroffenen Menschen in der Lage sind, die vermittelten Qualifizierungen/Kompetenzen auch eigenständig und möglichst umfassend in ihren identitätsstiftenden Lebensalltag und ihr Beziehungsnetz zu integrieren. Wenn wir im Kontrast dazu die Alltagsstrukturen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchtproblemen trotz all ihrer Beeinträchtigung auch als Überlebenshilfen sehen, dann wird klar, dass eigenverantwortete radikale Brüche und Veränderungen in diesem Alltag für diese Menschen kaum möglich und selten nachhaltig sind. Wir sind deshalb davon überzeugt davon, dass nachhaltige Teilhabeförderung für diese Zielgruppen nur in alltagsnahen und im Sozialraum verankerten Strukturen gelingen kann, auch um den Preis, dass individuelle Entwicklungen eben oft nur in kleineren Schritten und mit Brüchen möglich sind.
    2. Obwohl die Arbeit der ambulanten Suchthilfe in vielfacher Weise auf eine berufliche Reintegration ausgerichtet ist, versteht sich die Suchtberatung meist nicht als unmittelbar dafür verantwortlicher Akteur. Wenn aber nicht mehr nur die Suchtstörung, sondern deren chronifizierte Einbindung in eine umfassende Lebenslage Grundlage der Hilfen und einer Teilhabeförderung werden soll, dann reicht es nicht, wenn einzelne Fachkräfte in kleinen Projekten sich einem solchen Perspektivenwechsel stellen. In Baden-Württemberg, wo die Kommunen die Hauptfinanziers der Suchtberatung sind, müssen wir vielmehr Land und Kommunen für eine solche gemeinsame Fallverantwortung in der beruflichen Reintegration gewinnen, z. B. indem projektunabhängig die Effekte der Suchtberatung für eine berufliche Reintegration differenziert beobachtet und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden.
    3. Michael Bohne hat in seiner Arbeit sehr anschaulich ausgeführt, wie beschämende Erfahrungen hirnphysiologisch als vorrangige „Gefahreninformation“ abgespeichert werden und in der Folge manches positive Erleben überlagern. In seinen „Big Five der Lösungsblockaden“ beschreibt er Blockaden, die in einem sehr großen Ausmaß auch bei unseren Projekt-Teilnehmenden vorzufinden waren. In der Teilhabeförderung für Menschen in chronifizierten Lebenslagen muss es für uns darum gehen, solche beschämenden Erfahrungen des Scheiterns genauso zu vermeiden wie kurzfristige Erfolgserfahrungen, die die Betroffenen (noch) nicht als Selbstwirksamkeitserfahrung integrieren können, sondern als Glück, Zufall oder als überwiegend externe Unterstützung empfinden (vgl. Sußebach & Willeke, 2019). Wie in jedem guten Management brauchen wir auch für die Teilhabeförderung eine transparente und ehrliche Kultur der Fehlerfreundlichkeit, die Scheitern und Irrtum nicht ausblendet, aber dies als Markierung auf einem eigenverantworteten Entwicklungsweg versteht.
    4. Um solche veränderten Perspektiven plausibel und zu einer effizienten Arbeitsgrundlage werden zu lassen, ist nach unserer Erfahrung eine konsequente fallbezogene Leistungsvernetzung unter der Idee einer gemeinsamen Entwicklungsverantwortung unumgänglich. Bislang legitimiert sich jede Institution über eine abgegrenzte Handlungs- und Leistungsperspektive und wähnt sich in ihrer Abgegrenztheit als wirksamer Partner. Aber erst in einer fallbezogenen Leistungsvernetzung, in der die bestmögliche Förderung gemeinsam in den Blick genommen wird sowie die Möglichkeiten der beteiligten Institutionen und Personen eingefordert und die Grenzen berücksichtigt werden, kann sich eine Teilhabeförderung entwickeln, bei der die Chance auf eine realistische Unterstützung der bestehenden Entwicklungssehnsüchte und -ressourcen der betroffenen Menschen besteht.
    5. Im Projekt Su+Ber haben wir erlebt, wie viel Handlungsenergie im Projekt abgezogen wurde für die Klärung und Einhaltung formalistischer Vorgaben. Wenn Qualität und Effizienz nur noch an formalen Kennwerten gemessen werden, gehen Kreativität und bedarfsorientierte Flexibilität verloren und Entwicklungsförderung verkommt zum Versuch einer Dressur. Entwicklung braucht Zeit, braucht klare, reale Orientierungen, aber auch die Chance zu Irrtümern und Umwegen. In diesem Sinne wünschen wir uns eine Weiterführung von Erfahrungen wie aus unserem Projekt Su+Ber.

    „Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“ (Giovanni Maio, Medizinethiker)

    Weitere Informationen und Berichte aus dem Projekt:
    https://www.werkstatt-paritaet-bw.de/abgeschlossene-projekte/suber-sucht-und-beruf/
    (für die Berichte nach unten scrollen)

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind miteingeschlossen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr
    lesehr@paritaet-bw.de

    Textverweise (die Unterlagen sind über den Verfasser erhältlich):
    • Werkstatt Parität gGmbh: Rahmenkonzeption für eine bei ihrer Arbeitsorientierung leistungsvernetzte ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber. Stuttgart, 12/2016
    • Sara Specht, Karl Lesehr: Das Landes-ESF-Projekt Su+Ber: Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht. Beitrag zu den 24. Suchttherapietagen in Hamburg. 11.06.2019
    • Michael Bohne, Sabine Ebersberger: Synergien nutzen mit PEP. Heidelberg 2019 (Carl Auer-Verlag)
    • Interview mit Michael Bohne zu den Big Five Lösungsblockaden: https://www.youtube.com/watch?v=5i8i7bhGfZw
    • Henning Sußebach, Stefan Willeke: „Die Fee von Fulda“, in: DIE ZEIT 15/2019, 4.4.2019
    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr (70) war 18 Jahre als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er seit 2001 als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und ab 2009 beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der „Fachberatung Sucht“ im von ihm wesentlich initiierten ESF-Projekt Su+Ber hat er in den letzten Jahren noch das Landesprojekt VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung) verantwortet.

  • Unterstützung für arbeitssuchende Abhängigkeitskranke

    Die gemeinsam zwischen der DRV, der Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Spitzenverbänden geschlossenen Empfehlungen sollen arbeitsuchende abhängigkeitskranke Menschen bei dem Zugang in eine medizinische Rehabilitation und bei der anschließenden beruflichen (Wieder-)Eingliederung unterstützen.

    Die Empfehlungen beschreiben die Verwaltungsabläufe für eine gut abgestimmte Zusammenarbeit und Koordinierung der Beratungs- und Dienstleistungsangebote der beteiligten Leistungsträger in der Zeit vor, während und nach der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker. So werden beispielsweise die Zugangsmöglichkeiten in die medizinische Rehabilitation dargestellt. Neu ist unter bestimmten Voraussetzungen der Zugang ohne den sonst üblichen Sozialbericht. Die Empfehlungen sehen eine entsprechende Möglichkeit vor, nach Begutachtung durch einen Gutachterdienst der Bundesagentur für Arbeit oder eines kommunalen Trägers für den Antritt der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auf die Einschaltung einer Suchtberatungsstelle zu verzichten. Dies soll u. a. dazu beitragen, den Betroffenen frühzeitige Zugänge zur medizinischen Rehabilitation zu ermöglichen. Ferner geht es um Kontakte der Rehabilitanden während und nach der Rehabilitation mit der Arbeitsagentur/dem Jobcenter zur Entwicklung einer nahtlos ansetzenden Eingliederungsstrategie in den Arbeitsmarkt.

    Bei diesen Verfahren ist eine enge Kooperation zwischen Jobcentern, Agenturen für Arbeit, Rentenversicherungsträgern, Suchtberatungsstellen und den Rehabilitationseinrichtungen erforderlich, weshalb eine Umsetzung auf Landesebene vorgesehen ist. Die Empfehlungen treten zum 1. Juli 2018 in Kraft.

    Download von der Website der Deutschen Rentenversicherung:

    Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit, des Deutschen Landkreistages und des Deutschen Städtetages zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen vom 01.Juli 2018

    Quelle: Website der Deutschen Rentenversicherung, 19.07.2018

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im ersten Teil des Artikels (vom 11. Juli 2017) wurden die Schwachstellen des Versorgungssystems im Hinblick auf die Reintegration in Arbeit von abhängigkeitskranken Langzeitarbeitslosen als Hintergrund für die Entstehung des Projektes Su+Ber beschrieben. Im zweiten Teil wird nun das Projekt selbst vorgestellt. Im Rahmen des Projekts Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) haben Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitserkrankung in Baden-Württemberg seit Anfang 2016 die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Arbeitsfördermaßnahme ohne Abstinenzverpflichtung mit dem eigenen Suchtverhalten auseinanderzusetzen, soweit dieses eine berufliche Reintegration und eine soziale Teilhabe konkret beeinträchtigt oder gefährdet. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF).

    Zentrale Entwicklungsziele des ESF-Projekts Su+Ber

    Karl Lesehr

    Anstelle eines weiteren Abmühens an bestehenden sozialleistungsrechtlichen Abgrenzungen und an Schnittstellen, die den institutionellen Eigenlogiken entsprechen, wird in Su+Ber eine neuartige und konsequent nutzerorientierte Vernetzung von Jobcenter, Arbeitshilfeträger und Suchtberatung entwickelt. Dabei ist die Beratungsstelle als anerkannter Leistungserbringer der ambulanten Suchtrehabilitation an einer zeitlichen, örtlichen, personellen und fachlichen Vernetzung zweier teilhabeorientierter Sozialleistungen (Suchtreha und Arbeitsförderung) im Lebensalltag der langzeitarbeitslosen Menschen beteiligt. Durch diese Leistungsvernetzung wird für die Projektteilnehmer eine auch über den Zeitpunkt einer Arbeitsaufnahme hinausreichende Betreuungskontinuität ermöglicht. Durch projektspezifische Instrumente und durch standardisierte Bausteine der Zusammenarbeit soll erreicht werden, dass die beiden Leistungsträger jeweils ihre volle Leistungsverantwortung beibehalten, sich aber auch wie die beiden Leistungserbringer als Partner einer gemeinsamen Entwicklungsförderung verstehen und sich ungeachtet aller eigenen abgegrenzten Leistungszuständigkeiten auf eine gemeinsame Suche nach der im Einzelfall wirksamsten Förderungsoption einlassen.

    Kooperation kann nur dann funktionieren, wenn für alle Beteiligten auch Erfolge erkennbar werden: Das Projekt Su+Ber konzentriert sich deshalb ganz bewusst auf Langzeitarbeitslose, für die schon nach einer relativ kurzen und durch suchtrehabilitative Leistungen gestützten Arbeitsfördermaßnahme eine realistische Chance auf die Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz vermutet und dann realisiert werden kann. Als mögliche Zielgruppen wurden daher definiert:

    • Langzeitarbeitslose, die hinreichend stabil substituiert und an einer vollwertigen beruflichen Reintegration nachweislich interessiert sind,
    • Langzeitarbeitslose, die aufgrund gescheiterter Rehaerfahrungen oder auch persönlicher Entscheidung aktuell nicht zu einer abstinenzgebundenen Suchtrehamaßnahme fähig oder bereit sind (v. a. Alkohol), bei denen aber begründete Aussicht besteht, dass sie mit einem strukturierten Suchtmittelkonsum hinreichend arbeitsfähig und in der Lage sind, ihren Lebensalltag nachhaltig ohne suchtbedingte Krisen in den Griff zu bekommen,
    • langzeitarbeitslose Rehabilitanden aus einer (teil)stationären Suchtrehamaßnahme, die sich bereits für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben und für die eine Rückkehr in die vertraute soziale Umgebung wünschenswert ist, die aber nach ihrer regulären Entlassung noch nahtlos eine gezielte alltagsnahe Weiterbehandlung und Förderung für eine wirksame berufliche Reintegration brauchen,
    • langzeitarbeitslose Teilnehmer aus ambulanter Suchtreha, die sich zwar für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben, die aber im Rehaverlauf wiederholt Probleme bei der Aufrechterhaltung einer umfassenden Abstinenz hatten und die aktuell auch nicht für eine stationäre Suchtrehamaßnahme gewonnen werden können; diese Teilnehmer können dann in die arbeitsorientierte ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber übernommen werden, wenn trotz der Suchtmittelrückfälle während der ambulanten Reha eine erfolgreiche Weiterführung der Suchtrehabilitation im Rahmen des Projekts Su+Ber zu vermuten ist.

    Das Projekt Su+Ber geht davon aus, dass sich für eine derartige konkrete Arbeitsplatzperspektive vor allem Klienten gewinnen lassen, die bereits seit langem wiederholt oder kontinuierlich Betreuungsleistungen der Beratungsstelle nutzen oder die durch abstinenzgebundene Suchtrehamaßnahmen nicht wirksam im Erwerbsalltag stabilisiert werden konnten. Entscheidende Voraussetzung für das Projekt Su+Ber ist deshalb ein Konzept suchtrehabilitativer Leistungen, das sich konsequent an einer konstruktiven Bewältigung von Arbeitsrealität orientiert und bei dem eine Suchtmittelabstinenz nur eine mögliche (und oft auch wünschenswerte) Option im Umgang mit Suchtmitteln darstellt. Ziel der suchtrehabilitativen Arbeit im Projekt Su+Ber ist demnach die Entwicklung einer beschäftigungssichernden eigenen Problemwahrnehmung und Risikokompetenz, also einer der aktuellen Lebenslage entsprechenden Selbststeuerungskompetenz und -bereitschaft.

    Konzeptionelle Umsetzung des ESF-Projekts Su+Ber

    Für diese Projektideen konnte im Förderaufruf NaWiSu im Herbst 2015 die Unterstützung der Landespolitik, aber auch der Regionaldirektion für Arbeit und der DRV Baden-Württemberg gewonnen werden. Mit sechs Standorten konnte das Projekt Su+Ber zum Jahresbeginn 2016 starten. Beteiligt sind sechs Jobcenter (davon drei von Optionskommunen), sechs federführende Suchtberatungsstellen (die sich im Vorfeld mit anderen Suchtberatungsstellen im regionalen Einzugsgebiet auf eine gemeinsame Nutzung dieses Projekts verständigt hatten) und sechs an diesem Projekt interessierte Arbeitshilfeträger. Projektträger ist die Werkstatt Parität Stuttgart. Die zunächst aus haushaltstechnischen Gründen auf zwei Jahre begrenzte Projektlaufzeit wird nach aktuellem Stand wohl bis Ende 2018 auf dann drei Jahre verlängert werden, um so auch sinnvolle erste Entwicklungsdaten gewinnen zu können.

    Im Projekt werden aus Landesmitteln nur die Suchtberatungsstellen (Aufwand für 0,8 Vollzeitkräfte) und der Projektträger gefördert; für die Arbeitsfördermaßnahmen wurden im Projektaufruf vergleichsweise günstige Personalschlüssel definiert, die eine intensive Kooperation ermöglichen sollen und von den beteiligten Jobcentern voll finanziert werden. Die DRV Baden-Württemberg fördert die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch das Institut für Therapieforschung München (IFT). Die Entwicklung der notwendigen Rahmenkonzeption für eine projektspezifische ambulante Suchtreha sowie die Einbindung der projektbezogenen Evaluation in die Systematik der Deutschen Suchthilfestatistik wurden ergänzend einmalig vom Suchtreferat des Sozialministeriums gefördert.

    Das Projekt sieht für die Teilnehmer drei Projektphasen vor:

    • In der Phase A (Clearing) bemühen sich die beteiligten Einrichtungen um die Gewinnung und Motivierung von Projektteilnehmern (Grobclearing, Erarbeitung einer persönlichen Entwicklungsperspektive). Dies erfolgt zunächst in den jeweils eigenen Handlungsfeldern und mündet im gemeinsamen prognostischen Verfahren eines Grobclearings, bei dem alle mit dem potentiellen Projektteilnehmer persönlich befassten Kontaktpersonen eine Einschätzung abgeben sollen (also Jobcenter, Beratungsstelle, Arbeitshilfeträger, Substitutionsarzt, Bewährungshelfer o. ä.). Das Grobclearing dient der für jede Sozialleistung erforderlichen prognostischen Einschätzung der aktuell nutzbaren Fähigkeiten und Ressourcen. Es muss zwingend ergänzt werden um eine Klärung der persönlichen Entwicklungsperspektiven und der Teilhabebereitschaft. Die Ergebnisse dieses umfassenden Grobclearings bilden die Grundlage einer gemeinsam abgestimmten Behandlungs- und Maßnahmenempfehlung gegenüber der DRV Baden-Württemberg bzw. dem Jobcenter. Um schon in dieser Phase der Teilnehmergewinnung die Erfahrungen an einem konkreten Arbeitsplatz motivationsklärend nutzen zu können, wurde im Projektverlauf die Möglichkeit geschaffen, dass potentielle Projektteilnehmer quasi auf Probe dem Arbeitshilfeträger für eine Arbeitsfördermaßnahme zugewiesen werden und dass dann in diesem Setting alle weiteren Clearingaktivitäten erfolgen.
    • Die Phase B (Training, Entwicklung) besteht aus der Integration einer sechs- bis achtmonatigen Maßnahme der Arbeitsförderung und einer Maßnahme der projektspezifischen ambulanten Suchtreha. Die Teilnahme ist nur möglich, wenn die Teilnehmer sich freiwillig für diese Leistungsvernetzung entscheiden und mit dem Projektkonzept einverstanden sind. Im Projekt Su+Ber wird zudem eine personelle Verflechtung zwischen der Suchtberatung und dem Sozialdienst des Arbeitshilfeträgers angeregt, die Arbeitsfördermaßnahme sollte regelmäßig auch vor Ort suchtkompetent begleitet und beobachtet werden (sechs bis acht Wochenstunden). Die Leistungen der ambulanten Suchtreha sollen dabei bestmöglich in die Arbeitsplatzstruktur und in den Lebensalltag der Teilnehmer eingebunden sein und hier v. a. einen konfrontierend-stützenden Charakter haben: Ziel ist es, die Kompetenz der Teilnehmer, ihre arbeitsplatzrelevanten Risiken und Schwächen zu erkennen, zu fördern und die Teilnehmer dann gezielt bei konstruktiven Verhaltensmustern zu unterstützen.Nach den ersten acht Wochen in Phase B wird das Grobclearing wiederholt; dabei sollen sowohl das aktuelle Reintegrationsziel als auch der dafür gewählte Weg über das Projekt Su+Ber überprüft und bei Bedarf zusammen mit dem Teilnehmer Entscheidungen zur Veränderung der individuellen Entwicklungsplanung getroffen werden. Bis zum Ende der sechs- bis achtmonatigen Arbeitsfördermaßnahme soll eine Vermittlung an einen sozialversicherungspflichtigen eigenen Arbeitsplatz intensiv versucht und über Betriebspraktika unterstützt werden.Bei einer vorzeitigen Beendigung der Projektteilnahme nach dem zweiten Grobclearing oder auch bei einer Beendigung ohne erfolgreiche Vermittlung an einen eigenen Arbeitsplatz findet eine abschließende Auswertung statt, in der der Teilnehmer von allen Beteiligten eine differenzierte Bewertung der mit ihm gemachten Erfahrungen erhält. Gemeinsam wird dann nach anderen, möglicherweise wirksameren, Fördermöglichkeiten und Behandlungsformen oder nach anderen aktuell vorrangigen Interventionsformen gesucht; entsprechende Maßnahmen werden möglichst unmittelbar im Kontext der Leistungsvernetzung eingeleitet. Grundhaltung bei all diesen Bemühungen ist, dass eine Maßnahme zwar vielleicht nicht zum gewünschten Ergebnis geführt und der Teilnehmer möglicherweise bislang unbekannte Entwicklungsbedarfe entdeckt hat, dass aber eine vorzeitige Beendigung oder eine Beendigung ohne Arbeitsplatzvermittlung nicht automatisch schon als Versagen oder Scheitern des Teilnehmers wahrgenommen wird.
    • In der Phase C (nachhaltige Stabilisierung der Arbeitsreintegration) hat der Teilnehmer im Regelfall einen eigenen Arbeitsplatz und kann dann für weitere zwölf Monate eine intensive suchtrehabilitative Begleitung und Stabilisierung seiner alltäglichen Arbeits- und Lebenssituation nutzen, auch direkt am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. In diese Weiterbetreuung können im Interesse von Beziehungskontinuitäten auch Fachkräfte des Arbeitshilfeträgers integriert werden.

    Erfahrungen und Ergebnisse aus dem ersten Projektjahr 2016

    An allen Projektstandorten wurden zwischen den beteiligten Akteuren verbindliche und regelmäßige (teilweise monatlich) fallbezogene Arbeitsformen aufgebaut, die von den Beteiligten durchweg als lohnend und hilfreich erlebt werden: In der fallbezogenen Vernetzung geht es nicht mehr nur um Informationsaustausch, sondern zunehmend darum, wie nächste Schritte für einen konkreten Menschen gemeinsam wirksam gestaltet werden können. Vor allem die für das Projekt an mehreren Standorten definierten ‚Scharnierverantwortlichen‘ in den Jobcentern werten diese Netzwerkstrukturen als sehr hilfreich und trotz hoher Sitzungsdichte erstaunlich effizient. Während sich die beteiligten Jobcenter meist relativ leicht über die Beauftragung solcher institutioneller Bezugspersonen für das Projekt Su+Ber verständigen konnten, erwies sich eine vergleichbare Verankerung in den beteiligten Suchtberatungsstellen und v. a. auch in kooperierenden anderen Suchtberatungsstellen teilweise als strukturell mühsam und sogar konflikthaft.

    An einzelnen Standorten gab es durch das Projekt Su+Ber erstmals mehr als nur punktuelle Gesprächskontakte zwischen Suchtberatung und Arbeitshilfeträgern. Das Eintauchen in die Denkvorstellungen und in die Handlungswirklichkeiten der jeweils anderen Seite bedeutet natürlich auch Verunsicherung, wird aber vielerorts als Neuland erlebt, in dem auch bislang unbekannte Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Klienten/Kunden gestaltet werden können. Allein schon die eigenen Suchtklienten außerhalb des Beratungszimmers in einer vergleichsweise normalen Alltagssituation mit all ihren Implikationen erleben zu können, kann Horizonte öffnen.

    Mit dem relativ einfachen Instrument des Grobclearings wurde eine effiziente Form gefunden, in der sich die verschiedensten Akteure trotz aller fachlichen und menschlichen Unterschiede in eine gemeinsame Entwicklungsplanung einbringen und gleichzeitig von den Einschätzungen anderer profitieren können. Nicht zuletzt ist die gemeinsame Bearbeitung dieses Grobclearings für die Teilnehmer selbst eine sehr differenzierte und letztlich stärkende Beziehungserfahrung – sie können im Idealfall ein entwicklungsorientiertes persönliches Beziehungsnetz erleben.

    Gleichzeitig wird über das Projekt Su+Ber auch deutlich, wie ‚behandlungsfixiert‘ in den beteiligten Suchtberatungsstellen teilweise noch gearbeitet wird. Aus den ersten Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung ging hervor, wie wenig die Frage einer konkreten Reintegration in Arbeit beispielsweise bei der Rehagesamtplanung und Rehavermittlung bislang schon berücksichtigt wird oder auch wie selten solche Rehaplanungen nicht nur das Ergebnis eines individualisierten Beratungsprozesses sind, sondern auch die differenzierte Expertise eines ganzen Teams einbeziehen.

    Ähnliches gilt für die Fachkräfte der Arbeitshilfeträger, die ja auch in vielen sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen mit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen konfrontiert sind und deshalb notgedrungen oft sehr pragmatisch-kurzfristige Problemlösungen im Umgang mit diesen Menschen entwickelt haben. Jetzt in der Auseinandersetzung mit suchtkompetenten Kollegen zu entdecken, dass deren zentrales Handwerkszeug eine reflektierte und methodisch geschulte Beziehungsarbeit ist, hilft diesen Fachkräften, einen umfassenderen Blick auf die Lebenslage und damit auf die Entwicklungsoptionen und Förderungsbedarfe des einzelnen Teilnehmers zu finden.

    Zu Projektbeginn hat sich die Projektgruppe intensiv mit dem Institut für Therapieforschung München (IFT) über Möglichkeiten und Details einer wissenschaftlichen Evaluation verständigt. Ziel war es, für alle standardisierten Evaluationsdaten die EDV-gestützte Datenerhebung für die Deutsche Suchthilfestatistik zu nutzen und deshalb alle weiteren für das Projekt notwendigen teilnehmerbezogenen Daten auch darüber zu erheben. Nachdem der Verfasser dieses Artikels als Mitglied des Fachausschusses Statistik der DHS damals unmittelbar in die Überarbeitung des Kerndatensatzes Sucht eingebunden war und zudem in Baden-Württemberg vom Sozialministerium mit der Erweiterung des KDS 3.0 um einen landesspezifischen Datensatz und dessen Implementierung in die Dokusoftware beauftragt war, waren hier zahlreiche Synergieeffekte möglich.

    Im bisherigen Projektverlauf mussten die Initiatoren lernen, dass zahlreiche Klienten (v. a. Substituierte), die nach Einschätzung der betreuenden Beratungsstelle durchaus für eine Projektteilnahme geeignet und daran auch interessiert wären, viel stärker in ihrem aktuellen (eben auch arbeitslosen) Lebensstil verankert sind, als sie sich bislang wohl selbst eingestanden hätten. Es wird verstärkt deutlich, dass vielerorts das Behandlungskonzept der Drogensubstitution immer weniger mit der Perspektive einer Verbesserung beruflicher Teilhabe verbunden ist: Für viele Mitarbeiter in der Suchthilfe und angrenzenden Gebieten impliziert das Bemühen um die Aufnahme einer Arbeit den Ausstieg aus der Substitutionsbehandlung (was auch die Premos-Studie – aber als eher problematisch – skizziert, vgl. Wittchen et al., 2011). Gleichzeitig wurde deutlich, dass für eine wirksame Motivierung für eine berufliche Reintegration eben nicht nur der einzelne Patient/Klient, sondern eben auch verstärkt die subjektiven Realitäten des familiären und sozialen Umfelds einbezogen werden müssen.

    Für den Verfasser als fachlichen Begleiter des Projekts Su+Ber war und ist die schönste Erfahrung, dass immer wieder Projektmitarbeiter in der Suchtberatung begeistert entdecken, welche Gestaltungsfreiräume sich für sie in ihrer Arbeit mit dem Projekt auftun. Natürlich ist dieses Projekt mit einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit verbunden, und natürlich stellen sich in einem solchen Vernetzungsprojekt zahlreiche Fachfragen und auch datenschutzrechtliche Unsicherheiten. Gemeinsam wurden aber bislang für alle diese Fragen konstruktive und alltagstaugliche Lösungen gefunden. Dennoch muss allen Beteiligten klar bleiben, dass niemand für alle Situationen und alle individuellen Bedarfe von Hilfe Suchenden eine passende Problemlösung bereitstellen kann – schon gar nicht im Rahmen eines Modellprojekts, das die Ergebnisse ganz spezifischer Lösungswege sauber evaluieren will.

    Konzeption für eine ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber

    Zentrales Arbeitsergebnis aus dem ersten Projektjahr ist die intensive Erarbeitung einer Rehakonzeption für das Su+Ber-Projekt, die zum Jahresende 2016 auch von der DRV Baden-Württemberg anerkannt wurde. Mit dieser Konzeption gewährt die DRV Baden-Württemberg für das Projekt Su+Ber zahlreiche Entwicklungsfreiräume. Dafür ist die Projektgruppe dankbar und sie ist stolz zugleich, denn es war auch in der Projektgruppe Mut notwendig, um in diesem Maß über bewährte Formen hinaus zu denken und dennoch die gewohnte Leistungsqualität ambulanter Suchtreha nicht aus dem Blick zu verlieren. Viele dieser Entwicklungsfreiräume gilt es nun im weiteren Projektverlauf teilnehmerorientiert und kreativ zu nutzen und zu gestalten – immer mit Blick auf eine wirksame und nachhaltige Reintegration in Arbeit und die darauf orientierte Evaluation der Projektarbeit. Im Folgenden werden wesentliche Innovationen dieser Rehakonzeption dargestellt:

    • Für die ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber wurden die möglichen Zielgruppen (Indikationskriterien) erweitert, es besteht keine Abstinenzvoraussetzung und auch keine zwingende Abstinenzperspektive – zentrales suchtrehabilitatives Kriterium ist vielmehr eine stabile berufliche Reintegration bei dafür notwendiger Reduktion bzw. Auflösung suchtassoziierter Risiken.
    • Die DRV Baden-Württemberg ist bereit, die Ergebnisse des leistungsträgerübergreifenden und interdisziplinären Grobclearings als wesentlichen Baustein der für eine Leistungszusage notwendigen Erfolgsprognose zu nutzen. Analog dazu werden auch projektbezogene Entscheidungen zur vorzeitigen Beendigung einer Projektteilnahme von der DRV für die bewilligte Suchtrehamaßnahme übernommen (im Regelfall endet mit der Projektteilnahme also auch die ambulante Suchtreha, sofern nicht gemeinsam mit dem Rehabilitanden die Weiterführung in einer anderen Suchtrehaform vereinbart wurde).
    • Im Projekt Su+Ber sollen geeignete Verfahren zur Erarbeitung teilhaberelevanter persönlicher Entwicklungsziele und -bereitschaften entwickelt werden, auf deren Grundlage die Nutzung unterschiedlicher Rehaformen wirksamer gesteuert werden könnte.
    • Für die auf eine unmittelbare Arbeitsintegration orientierte ambulante Suchtreha wurden vorläufig sieben suchtrehabilitative Entwicklungsdimensionen formuliert, die für die Fachkräfte sowie für den einzelnen Teilnehmer eine verständliche Grundlage für die jeweiligen in einer Rehagesamtplanung zu vereinbarenden suchtrehabilitativen Leistungen sein sollen. Die Verfasser der Konzeption erhoffen sich von einer konsequenten Zuordnung aller suchtrehabilitativen Leistungen zu diesen sieben Dimensionen, dass darüber auch eine qualitative Professionalisierung der entsprechenden suchtrehabilitativen Kompetenzen der Fachkräfte in der Suchtberatung/ambulanten Suchtrehabilitation erleichtert werden kann.
    • Die ersten Erfahrungen mit den Projektteilnehmern haben rasch gezeigt, dass die vertrauten Arbeitsformen ambulanter Suchtreha bei ihnen auf wenig Gegenliebe und teilweise sogar auf offene Ablehnung stoßen. Manche Teilnehmer wären z. B. mit den üblichen Gruppensitzungen weitgehend überfordert. Sehr positiv ist deshalb, dass sich die DRV Baden-Württemberg darauf eingelassen hat, für die Arbeit im Projekt Su+Ber statt der sonst verbindlichen Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) projektspezifische Leistungskategorisierungen zuzulassen und zu erproben. Der von der Projektgruppe entwickelte Katalog suchtrehabilitativer Leistungen im Projekt Su+Ber gliedert sich auf der ersten Ebene in sieben Inhaltsdimensionen und ordnet diesen dann auf einer zweiten Ebene Leistungsarten zu (jeweils etwa zehn Maßnahmen mit dem einzelnen Teilnehmer bzw. mit einer Gruppe oder im sonstigen sozialen Kontext). Diesen damit inhaltlich und formal definierten Maßnahmen werden dann Zeiteinheiten in 10-Minuten-Schritten zugeordnet. Mit dieser Variabilität von Zeit und der Unabhängigkeit der Leistungsarten von Therapieschulen sollen auch kleinteilige Interventionsformen ermöglicht werden, die im Setting der Arbeitsfördermaßnahme oder im Alltag von den Teilnehmern gut umgesetzt werden können. Für eine Leistungsabrechnung werden solche kleinteiligen Zeiteinheiten dann zu den für die ambulante Suchtreha geltenden Abrechnungseinheiten zusammengefasst.
    • Während sich in den letzten Jahren v. a. in der stationären Suchtrehabilitation das Spektrum arbeitsbezogener Suchtrehaleistungen deutlich ausdifferenziert hat, geht das Projekt Su+Ber bei seiner Leistungsvernetzung davon aus, dass alle unmittelbar auf die Arbeitsintegration bezogenen Förderleistungen in der vorrangigen Leistungszuständigkeit des SGB II bleiben. Für Leistungen wie z. B. das Bewerbungstraining wird die Suchtreha deshalb im Regelfall nur supportiv einbezogen, um dabei die spezifischen Probleme und Risiken, die aufgrund einer Abhängigkeitsstörung bestehen, zu thematisieren.
    • Für das Projekt Su+Ber besteht von Seiten der DRV Baden-Württemberg sowohl die Bereitschaft zu den im Projektverlauf notwendig kurzfristigen Leistungsentscheidungen als auch zu einer Langfristigkeit für die im Projektverlauf konzipierte Gesamtbetreuungszeit (inklusive einer gegebenenfalls für die Absicherung der vollen Projektlaufzeit noch erforderlichen Suchtrehanachsorge). Gleichzeitig besteht die Bereitschaft, einen Übergang in das Projekt Su+Ber aus anderen (abstinenzorientierten) Rehaformen bei fachlicher Begründung und einer Mitwirkungsbereitschaft des Rehabilitanden zeitnah zu ermöglichen.

    Nach den erwartbaren anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur bei der Teilnehmergewinnung, sondern auch bei der konkreten Umsetzung des Projekts im ersten Projektjahr sind die Initiatoren wirklich neugierig darauf, welche differenzierten ersten Ergebnisse und Bewertungen der Projektarbeit sie vom IFT in den nächsten Wochen und Monaten als externes Feedback erwarten dürfen.

    Literatur beim Verfasser. Alle im Text erwähnten projektbezogenen Unterlagen sind als Datei über den Verfasser erhältlich.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Das Projekt „Chancen und Wege“

    Das Projekt „Chancen und Wege“

    Clarissa Abromeit
    Monika Schnellhammer

    Hinter Langzeitarbeitslosigkeit verbirgt sich oft auch eine Suchtproblematik. Diese Erkenntnis brachte das Jobcenter und den Caritasverband in Osnabrück zusammen an einen Tisch. Heraus kam das erfolgreiche Kooperationsprojekt „Chancen und Wege“, das mittlerweile seit fünf Jahren läuft. Die Teilnehmer/ innen des Programmes sind Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. „Chancen und Wege“ unterstützt sie mittels Arbeitsmöglichkeiten und sozialpädagogischer Betreuung dabei, sich Schritt für Schritt auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten und Vermittlungshemmnisse abzubauen.

    Der problematische Konsum von Suchtmitteln, verhaltensbezogene Störungen, Komorbiditäten und psychische Erkrankungen sind Hemmnisse, die die (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsbezug verhindern können. Für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen findet zu wenig adäquate Förderung statt, um Vermittlungsergebnisse und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation zu erzielen. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch das Jobcenter Osnabrück im Zuge der Umsetzung des SGB II. Die persönlichen Ansprechpartner/innen des Jobcenters sowie die Fallmanager/innen vermitteln zwar erfolgreich in Arbeit, jedoch ist es ihnen aufgrund ihrer hohen Fallzahlen nicht möglich, ihre Kunden so intensiv wie in einer Maßnahme zu begleiten. Außerdem wurde eine Suchtproblematik als wichtiges Thema vieler Arbeitsuchender erkannt.

    Gemeinsames Ziel: Stabilität schaffen durch Struktur

    Aus diesen Gründen schrieb das Jobcenter über das Regionale Einkaufszentrum Nord eine Maßnahme aus, welche folgende Inhalte aufweisen sollte: Die Maßnahme sollte tagesstrukturierend sein, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, zielgruppenspezifische Angebote umfassen und eine intensive Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse ermöglichen. Mitarbeiter der Suchtberatung des Caritasverbandes in Osnabrück erarbeiteten daraufhin ein Konzept, das explizit diese Zielgruppe mit den entsprechenden Vermittlungshemmnissen erreichen sollte. Durch die suchtspezifische Fachlichkeit, die Nähe zur Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation, aber auch zu anderen Fachbereichen und Kooperationspartnern, sollte der Zugang erleichtert werden, und Schwellenängste der Teilnehmenden sollten verringert werden. Nicht allein die Preiskalkulation, sondern die Qualität der Maßnahme stand dabei im Vordergrund. Der Caritasverband Osnabrück bekam den Zuschlag zunächst für ein Jahr. Inzwischen läuft die Maßnahme im fünften Jahr nach der dritten Ausschreibung, diesmal voraussichtlich bis 2019.

    Das so zustande gekommene Projekt „Chancen und Wege“ (CuW) ist eine Maßnahme zur Aktivierung und Stabilisierung von erwerbsfähigen Erwachsenen nach § 16 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die Teilnehmenden im Alter von über 25 Jahren weisen zahlreiche Vermittlungshemmnisse auf. Ziele der Maßnahme sind die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung der Vermittlungshemmnisse und die Heranführung der Teilnehmenden an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Im besten Fall gelingt nach der Aktivierung und Stabilisierung die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die weiterbegleitet und nachbetreut werden kann.

    An der Maßnahme „Chancen und Wege“ haben seit 2012 247 Personen teilgenommen. Davon konnten 227 Teilnehmende aktiviert werden. Das heißt, je nach Vermittlungshemmnis wurden gemeinsam individuelle Zielvereinbarungen erstellt, und die Teilnehmenden wurden zu weiterführenden Fachstellen begleitet. Hierbei kann es sich um Schuldnerberatung, Wohnungscoaching, Ambulant betreutes Wohnen, Integrationsfachdienst, Rechtliche Betreuung, Ambulante Assistenz oder fachärztliche Behandlungen handeln.

    Seit Juli 2014 wird die Maßnahme gemeinsam in Bietergemeinschaft mit der Dekra Akademie GmbH an einem gemeinsamen Standort durchgeführt. Sowohl die Möglichkeiten der praktischen Erprobung als auch die Netzwerke innerhalb der Dekra Akademie bieten den Teilnehmenden mehr Optionen für ihre beruflichen Perspektiven.

    Voraussetzungen für die Bewerbung und Durchführung sind die Trägerzertifizierung und die Maßnahmezulassung nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung). Das AZAV-Zulassungsverfahren für Träger und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung soll die Qualität der Dienstleistungen nachhaltig verbessern sowie Vergleichbarkeit und Transparenz unter den Dienstleistern herstellen. Die Maßnahme wird jährlich extern auditiert.

    Aufbau des Programms

    „Chancen und Wege“ verfügt über 44 Teilnehmerplätze. Das Jobcenter schließt mit den Teilnehmenden eine Eingliederungsvereinbarung über die Teilnahme bei CuW und vereinbart eine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung. Am Ende der Zuweisungsdauer erstellt die zuständige Sozialpädagogin einen Abschlussbericht über den Maßnameverlauf. Dies ist für den Fallmanager im Jobcenter hilfreich, damit weitere Handlungsschritte geplant werden können.

    Die Teilnehmenden werden in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten zu Beginn der Maßnahme einen Wochenplan (s. Abb. 2). Jede Gruppe erscheint an drei Tagen pro Woche für insgesamt mindestens 15 Stunden. Davon finden an zwei Tagen Lernmodule zum Training sozialer Kompetenzen, Gesundheitsförderung und Bewerbungscoaching statt. Zudem begeben sich die Teilnehmenden selbstständig auf Stellensuche und aktualisieren ihre Bewerbungsunterlagen. Einmal pro Woche bereiten sie gemeinsam ein gesundes Frühstück zu. Am Praxistag werden vier Gewerke (Holz, Metall, Lagerlogistik und Handel) angeboten. Die Teilnehmenden werden dazu angeregt, gemeinsam als Gruppe Projekte zu planen und umzusetzen. So stellen sie kleine Möbel und Gegenstände für den Gemeinschaftsbereich sowie nützliche Utensilien für den Eigengebrauch her. Weitere Arbeitserprobungen erfolgen bei begleiteten Praktika in externen Betrieben. Die Qualifizierungsmodule im EDV-Bereich festigen bestehendes Wissen und vertiefen es, ein Zertifikat wird nach erfolgreicher Teilnahme ausgestellt.

    Abb. 2: Beispiel für einen Wochenplan

    Kooperation zwischen „Chancen und Wege“ und Fachambulanz

    Die Teilnehmenden werden individuell über Angebote der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation des Caritasverbandes Osnabrück informiert. Die Vermittlung und Begleitung erfolgt über die zuständige Sozialpädagogin. So werden Berührungsängste verringert und Erstkontakte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen CuW und Fachambulanz gelingt oftmals ein erfolgversprechender Prozess für die Teilnehmenden. Viele werden im Verlauf der Maßnahme der Beratungsstelle zugeführt. Langfristig konnten Beratungs- und therapeutische Settings in der Fachambulanz bei gut einem Viertel der Teilnehmenden etabliert werden.

    Auch nach einer erfolgreich beendeten Rehabilitation hat sich die Kooperation zwischen Fachambulanz und CuW als effektiv erwiesen. Das bedeutet, auch Personen in der Adaption, der ambulanten Behandlung oder Nachsorge können an CuW teilnehmen, um die in der Rehabilitation erlernten Schritte im Alltag umzusetzen. Gerade hier sind Strukturen und berufliche Perspektiven wichtig, um langfristig konsumfrei zu leben. Die Grundlagen für eine dauerhafte Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft können über diesen Weg geschaffen werden. Abbildung 3 stellt die Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“ dar.

    Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“

    Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung

    Neben den persönlichen Einzelgesprächen und dem Jobcoaching ist die Teilnahme am SKOLL-Training möglich. Dies wird in regelmäßigen Abständen angeboten. Die Ergebnisse der Maßnahme lassen die Überzeugung zu, dass die Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung bei der Wiedereingliederung in den Erwerbsbezug zu erheblichen Verbesserungen führen kann. Mit SKOLL im Settingansatz kann hier ein effektiver Beitrag geleistet werden.

    Das SKOLL Training beinhaltet zehn Trainingseinheiten, in denen es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtmittel bei riskantem Konsumverhalten geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht weniger die Abstinenz als die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Ziel des Trainings ist es, den Konsum zu stabilisieren, zu reduzieren oder ganz einzustellen. Der Umgang mit Suchtdruck und sozialem Druck wird geübt, Stressbewältigung gelernt und ein Krisenplan erarbeitet. So werden Veränderungsprozesse bei riskant konsumierenden Menschen eingeleitet, und die Arbeitsfähigkeit wird wiederhergestellt.

    Diese vielfältigen Ansätze und Angebote werden gerne genutzt, die Teilnehmenden fühlen sich in der Regel durch die Maßnahme gut begleitet. Dies wird in regelmäßigen Abfragen zur Kundenzufriedenheit und durch den monatlichen Austausch mit den „Maßnahmepatinnen“ des Jobcenters deutlich.

    Die sozialpädagogische Begleitung

    Die sozialpädagogische Begleitung ist  das Herzstück der Maßnahme. Es finden regelmäßig Einzelgespräche statt, um die individuellen Vermittlungshemmnisse zu thematisieren und sie mithilfe von Zielvereinbarungen und durch Unterstützung zu verändern. In einem Aktivierungs- und Fortschrittsplan werden der Gesprächsverlauf und die Zielsetzungen für den Teilnehmer dokumentiert.

    Die Förderung der sozialintegrativen Aktivitäten nimmt einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Kompetenzen wie Selbsteinschätzung und die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wie auch lebenspraktische Fertigkeiten wie Verlässlichkeit, Selbstorganisation und äußeres Erscheinungsbild sind wichtige Faktoren bei der Arbeitsplatzsuche. Die Teilnehmenden lernen, dem Tag wieder eine Struktur zu geben, sich für eine Sache oder ein Projekt zu begeistern. Soziale Kompetenzen, wie z. B. im Team zielorientiert zusammenzuarbeiten, Konflikte konstruktiv zu lösen und die Meinung des anderen zu respektieren, können entwickelt und vertieft werden. Teilnehmende bringen ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Kenntnisse für ihr Team ein. Eine besondere Aktivierung und Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung wird über die „Kompetenzbilanz“, ein ressourcenaktivierendes Coachingverfahren, erzielt.

    Häufig werden bei Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblematik neben den substanz- und verhaltensbezogenen Auffälligkeiten weitere Vermittlungshemmnisse festgestellt wie geringe Sozialkompetenz, mangelhafte oder fehlende fachliche Qualifizierungen, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen, wenig ausgebildete Grundfertigkeiten sowie eine fehlende Tagesstruktur. Weitere gesundheitliche Probleme wie Hepatitis oder Herz- und Kreislauferkrankungen, verbunden mit fehlender Krankheits- und Problemeinsicht, gehen häufig mit stark beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und mangelnder Motivation einher. Aber auch eingeschränkte Mobilität durch den Verlust oder das Fehlen eines Führerscheins oder finanzielle Schwierigkeiten stellen für viele Personen der Zielgruppe große Hemmnisse dar.

    Weitere Eingliederungshemmnisse dieser Zielgruppe können auch eine unkontrollierte Substitutionsbehandlung und die Nichteinhaltung von Auflagen sein, Probleme in und mit der Familie wie frühe Elternschaft, Trennung und/oder Scheidung, Tod eines Familienangehörigen oder Partners, Gewalt in der Familie und Erziehungsschwierigkeiten. Kaum erlebte (positive) Erfahrungswerte auf dem ersten Arbeitsmarkt, verbunden mit mangelnder Kenntnis von Arbeitstugenden und Perspektivlosigkeit, kennzeichnen die Zielgruppe.

    Abbau von Hemmnissen erhöht Jobchancen

    Im Durchschnitt wurden im letzten Maßnahmejahr zehn Vermittlungshemmnisse bei den Teilnehmenden festgestellt. Die zügig in den ersten Arbeitsmarkt vermittelten Personen wiesen demgegenüber durchschnittlich nur 7,5 Hemmnisse auf. Aufgrund der Fallzahlen kann nicht von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden. Aber die Ergebnisse können als Hinweis interpretiert werden, dass der Abbau von Hemmnissen die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich erhöht.

    Eine erfolgreiche Vermittlung wurde durch die regelmäßige Ansprache von Arbeitgebern durch die Jobcoaches der DEKRA Akademie GmbH initiiert. Dabei werden die Vermittlungsprozesse selbst häufig durch vorausgehende Arbeitserprobungen eingeleitet. Mit den Teilnehmern, die in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, kann eine Nachbetreuungsvereinbarung geschlossen werden. Sie umfasst regelmäßige Gespräche über die Entwicklung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Situation.

    Die enge Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Osnabrück, insbesondere den „Maßnahmepatinnen“ im Fallmanagement, mit den persönlichen Ansprechpartnern und den Mitarbeitenden im Arbeitgeberservice hat sich sehr bewährt. Die vielfältigen Kooperationen tragen zu einem guten Ergebnis zugunsten der Förderung der Teilnehmenden in der Maßnahme „Chancen und Wege“ stark bei.

    Fallbeispiel Herr Z

    Herr Z ist Teilnehmer der Maßnahme „Chancen und Wege“. In seiner Biographie spielte das Thema Alkohol schon seit der Kindheit eine Rolle. Er hat den Hauptschulabschluss gerade eben noch geschafft. Die Arbeitsbiographie ist geprägt von diversen Helfertätigkeiten und Gelegenheitsjobs. Zwischendurch kam es immer wieder zu Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund fehlender Motivation und einer Alkoholabhängigkeit. Neben den geringen beruflichen Kenntnissen bestehen aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums gesundheitliche Beschwerden (kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen im rechten Arm) und hohe Schulden. Weiterhin besteht die Gefahr einer sozialen Exklusion. Nach eigenen Angaben fällt es ihm schwer, außerhalb der Szene Kontakte zu knüpfen. Er ist mittleren Alters und möchte seine Rentenansprüche aufbessern. Es geht hier exemplarisch also um folgende Vermittlungshemmnisse:

    • Gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer Suchterkrankung
    • Hohe Schulden
    • Geringe berufliche Kenntnisse

    Herr Z ist motiviert und nimmt pünktlich und zuverlässig an der Maßnahme teil. Seine kognitiven Fähigkeiten sind ausbaufähig. Seine Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind schwach ausgeprägt, und er wirkt schnell überfordert. Es ist schon längere Zeit her, dass er konzentriert Aufgaben bearbeiten sollte. Durch Gedächtnistraining, Lesen in der Gruppe und selbstständige Bearbeitung von Arbeitsblättern wird er angeregt, diese Fähigkeiten zu trainieren.

    Im Verlauf der nächsten Wochen wird mit Herrn Z der Aktivierungs- und Integrationsfortschrittsplan erstellt. Hier werden die verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, soziales Netzwerk, Arbeit und Ausbildung, Finanzen und Wohnung besprochen. Auch ist es wichtig zu erfassen, ob bereits Unterstützung und Netzwerke an anderer Stelle bestehen (Kontakt zur Suchtberatung, Selbsthilfegruppe, ambulante Assistenz etc.). Gemeinsam verschaffen sich die Sozialpädagogin und Herr Z einen Überblick zu Unterstützungsbedarf und vorhandenen Kompetenzen.

    Mit Herrn Z werden Förderschritte und Ziele vereinbart und schriftlich in seinem Aktivierungs- und Integrationsfortschrittplan festgehalten. Diese müssen für ihn erreichbar, konkret und transparent sein. Außerdem wird verabredet, welche Handlungsschritte vorrangig sind. Es geht also um:

    • Abklärung somatischer Beschwerden
    • Gesundheitliche Stabilisierung
    • Förderung kognitiver Fähigkeiten
    • Sortieren und Vorbereiten seiner Unterlagen für einen Termin bei der Schuldnerberatung
    • Emotionale Entlastung
    • Klärung beruflicher Perspektiven
    • Durchführung einer Arbeitserprobung
    • Steigerung der Leistungsfähigkeit
    • Sinnvolle Freizeitgestaltung
    • Aufbau eines stabilen Netzwerkes

    In den kommenden Wochen geht es um die Erweiterung seiner Kompetenzen und die Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse.

    Herr Z berichtet, dass für ihn die hohen Schulden eine große Belastung darstellen. Ständig erhält er Post von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten. Dies führt zu Stress, den er mit Alkohol kompensiert, um seine Probleme zu verdrängen. Da es unter Alkoholeinfluss bereits zu peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit kam, hat er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Mittlerweile hat er nur noch zwei Bekannte, die ebenfalls suchterkrankt sind. Außerdem berichtet er, dass sein letzter Arztbesuch einige Jahre her ist, da er befürchtet, dass sich seine Leberwerte verschlechtert haben. Hinzu kommen häufige Magenbeschwerden.

    Im Rahmen der Einzelgespräche werden nun folgende Handlungsschritte erarbeitet:

    1) Herr Z wird umfassend über die Angebote der Fachambulanz des Caritasverbandes aufgeklärt. Nach mehreren Gesprächen mit der Sozialpädagogin lässt er sich darauf ein, in der Suchtberatung einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren, um über sein Konsummuster zu sprechen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Herrn Z ist dieser Schritt sehr unangenehm, da er bereits im Suchthilfesystem bekannt ist. Er schämt sich für die Rückfälligkeit und dafür, dass er in der Beratung erneut Hilfe suchen muss.

    2) Gelegentlich kommt es innerhalb der Maßnahme zu Fehlzeiten. Herr Z meldet sich öfter wegen Magenbeschwerden ab. Auch dies wird in den Einzelgesprächen thematisiert. Herr Z war schon seit Jahren nicht beim Hausarzt. Er hat die Befürchtung, dass etwas mit seinem Magen nicht in Ordnung ist und sich seine Leberwerte weiter verschlechtert haben. Diese Ängste werden ausführlich mit der Sozialpädagogin besprochen. Nach mehreren Gesprächen sieht Herr Z ein, dass mit den jetzigen Magenbeschwerden und den daraus resultierenden Fehlzeiten keine beruflichen Perspektiven entwickelt werden können.

    Es wird vereinbart, dass Herr Z in Begleitung der Sozialpädagogin seinen Hausarzt aufsucht. Es stellt sich heraus, dass Herr Z ein Magengeschwür hat, das gut behandelt werden kann. Seine Leberwerte sind erhöht, jedoch noch nicht besorgniserregend. Der Hausarzt empfiehlt ebenfalls eine Kontaktaufnahme zur Suchtberatung und eine abstinente Lebensweise. Außerdem sollte Herr Z alle sechs Monate einen Gesundheitscheck machen, um Veränderungen frühzeitig festzustellen.

    Nach einer mehrwöchigen Medikamenteneinnahme gegen das Magengeschwür fühlt sich Herr Z viel besser. Auch ist er viel gelöster und freudiger, da sich seine Befürchtungen nicht bestätigten. Er fühlte sich entgegen seinen Erwartungen bei dem Arzt gut aufgehoben und ernstgenommen, sodass er sich nun regelmäßige Arztbesuche vorstellen kann.

    Die Suchterkrankung bzw. Leberwerte bleiben weiterhin ein Thema,  Herr Z kann sich mittlerweile auf das Angebot der Suchtberatung einlassen.

    3) Die Schuldenproblematik besteht schon seit Jahren. Herr Z hat den Überblick verloren. Es wird eine Schufaauskunft beantragt. Außerdem bringt Herr Z alle Unterlagen mit, die er finden konnte. An zwei Nachmittagen werden seine Papiere nach Gläubigern und Datum sortiert. Bereits jetzt wirkt Herr Z erleichtert, da er mit den Unterlagen nicht mehr alleine dasteht. Herr Z wird über verschiedene Möglichkeiten wie Vergleichszahlungen und das Verbraucherinsolvenzverfahren informiert. Um fachliche Unterstützung zu erhalten, wird ein Termin in der Schuldnerberatung vereinbart. Herr Z fühlt sich durch die Vorsortierung seiner Unterlagen gut vorbereitet und nimmt den Gesprächstermin alleine wahr.

    4) Herr Z hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In den Einzelgesprächen mit dem Jobcoach werden Fähigkeiten, Stärken und berufliche Kenntnisse erfragt. Herr Z gibt an, dass er Erfahrungen als Helfer in den Bereichen Garten und Landschaftsbau, in der Produktion und im Lagerbereich hat.

    Parallel tauscht sich der Jobcoach mit dem praktischen Anleiter aus, um auch über die Entwicklungen aus den hausinternen Praxisprojekten informiert zu sein. Aufgrund kognitiver Einschränkungen ist es wichtig, dass nach beruflichen Perspektiven geschaut wird, in denen es um einfache und sich wiederholende Abläufe geht. Weiterhin ist die Sensibilitätsstörung im rechten Arm zu berücksichtigen. Er kann diesen nicht schwer belasten und hat gelegentlich Taubheitsgefühle.

    Am Praxistag der Maßnahme ist Herr Z im Holzbereich tätig. Hier wird darauf geachtet, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine schweren Maschinen bedient. Er hat sich für ein Gemeinschaftsprojekt mit einem anderen Teilnehmer entschieden. Sie bauen eine Garderobe für den Gruppenraum. Herr Z übernimmt die Planung (Form, Farbe) und welches Material benötigt wird. Außerdem übernimmt er leichte Schleifarbeiten, die er mit großer Sorgfalt ausführt. Der andere Teilnehmer ist für die Umsetzung (Sägen, Leimen, Schrauben, etc.) zuständig. Hier zeigt sich, dass Herr Z besonders gut im Team arbeiten kann. Er hält sich an Absprachen und ist kompromissbereit.

    Im Verlauf der Maßnahme macht Herr Z eine positive Entwicklung durch. Nachdem er sich gesundheitlich stabilisieren konnte (regelmäßige Arztbesuche) nimmt er weiterhin Gespräche in der Suchtberatung wahr. Parallel geht er wöchentlich zur Orientierungsgruppe Alkohol. Diese wird ebenfalls von der Suchtberatung angeboten. Außerdem hat er sich über das Angebot verschiedener Selbsthilfegruppen informiert. Diese thematisieren nicht nur die Suchtproblematik sondern auch das Freizeitverhalten. Nach der Kontaktaufnahme zur Schuldnerberatung werden weitere Schritte für das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeleitet. Die Selbstorganisation seiner Unterlagen behält Herr Z bei. Der Jobcoach arbeitet mit Herrn Z an seiner beruflichen Perspektive. Zunächst wird er ein weiteres Praktikum absolvieren, um positive Referenzen für seine Bewerbungsunterlagen zu sammeln. Auch gab es Gespräche mit dem zuständigen Fallmanager vom Jobcenter Osnabrück, um Fördermöglichkeiten abzuklären.

    Kontakt und Angaben zu den Autorinnen:

    Monika Schnellhammer
    Geschäftsführerin des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Osnabrück
    MoSchnellhammer@caritas-os.de

    Clarissa Abromeit
    Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., Koordinatorin der Maßnahme „Chancen und Wege“
    CAbromeit@caritas-os.de

  • Zur Situation der arbeitslosen Klientel in der deutschen Suchthilfe

    Zur Situation der arbeitslosen Klientel in der deutschen Suchthilfe

    Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsneutrale Differenzierung (z. B. Klientinnen und Klienten) verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

    Hintergrund und Zielsetzung

    Personen, die arbeitslos sind, weisen im Vergleich zu Erwerbstätigen diverse Risikofaktoren in Bezug auf ihren Gesundheitszustand auf. So wurde in einer Metaanalyse Arbeitslosigkeit als Ursache für zahlreiche Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit Langzeiterwerbsloser gefunden (Paul & Moser, 2009). Arbeitslosigkeit gilt als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer und psychosomatischer Symptome und ist Grund für schlechtes subjektives Wohlbefinden und ein geringes Selbstbewusstsein. Auch auf ein problematischeres Substanzkonsum- bzw. Suchtverhalten unter arbeitslosen Personen gibt es Hinweise (Hollederer, 2008). Diskutiert werden mehrere Zusammenhänge von Arbeitslosigkeit und Suchterkrankungen (Henkel, 2011):

    1. Arbeitslosigkeit erhöht das Risiko für riskanten Substanzkonsum und Abhängigkeitserkrankungen.
    2. Chronisches Suchtverhalten führt häufig zum Verlust des Arbeitsplatzes und verringert gleichzeitig die Perspektive auf ein Beschäftigungsverhältnis.
    3. Das schulisch-berufliche Qualifizierungsniveau ist bei einem hohen Anteil Suchtkranker, die sich in Behandlung befinden, gering, was bereits für sich genommen ein bedeutender Risikofaktor für Arbeitslosigkeit ist.
    4. Substanzabhängige, die nach der Suchtbehandlung arbeitslos bleiben, sind deutlich stärker gefährdet, rückfällig zu werden, als Erwerbstätige.

    Hinweise für die letzten beiden Punkte finden sich beispielsweise in der ARA-Studie (Henkel, Dornbusch & Zemlin, 2005; Zemlin, Henkel & Dornbusch, 2006), in der arbeitslose Alkoholabhängige nach Behandlung schlechtere Werte in den Bereichen Lebenszufriedenheit, Problembewältigungsstrategien, physische und psychische Gesundheit sowie in der sozialen Integration und Partizipation aufweisen und höhere Rückfallraten haben als Erwerbstätige. Unter den Arbeitslosen war der Anteil derjenigen ohne Berufsausbildung höher als bei Erwerbstätigen. Dies bestätigte sich auch in einer Untersuchung der Klientel in der deutschen Suchthilfe (Kipke et al., 2015). Arbeitslose Klienten, die aufgrund einer Hauptdiagnose im Bereich illegaler Substanzen in Beratung oder Betreuung waren, verfügten beinahe doppelt so häufig über keine abgeschlossene Hochschul- oder Berufsausbildung wie erwerbstätige Klienten.

    Auch die Daten zur Inanspruchnahme des Hilfesystems zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen Erwerbsstatus und Suchterkrankungen. Eine Auswertung der Leistungsdaten aller AOK-Versicherten, die in den Jahren 2007 bis 2012 in ambulanter oder stationärer medizinischer Behandlung waren, zeigt, dass in der Population von Hartz IV-Empfangenden im Vergleich zu Kurzzeitarbeitslosen und Erwerbstätigen Suchtprobleme – unabhängig von Alter und Geschlecht – deutlich verbreiteter sind (Henkel & Schröder, 2015). Insgesamt 10,2 Prozent der ALG II-Bezieher (Arbeitslosengeld II) wurden mit einer Suchtdiagnose gemäß ICD-10 diagnostiziert. Bei ALG I-Empfängern betrug diese Diagnoserate 6,3 Prozent und bei Erwerbstätigen 3,7 Prozent.

    Auch im suchtspezifischen Versorgungssegment liegt eine deutliche Belastung der Klientel durch Arbeitslosigkeit vor. Die jüngsten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) zeigen, dass über alle Hauptdiagnosen (HD) hinweg im Jahr 2015 mehr als jeder dritte Klient (38 Prozent) in ambulanten und jeder zweite Patient (53 Prozent) in stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe am Tag vor Betreuungsbeginn ALG I oder ALG II bezog (Braun, Brand & Künzel, 2016a; alle Daten der DSHS sind verfügbar unter: http://www.suchthilfestatistik.de/).

    Im Rahmen dieses Beitrags soll mithilfe der Daten der DSHS die Entwicklung der letzten Jahre sowie die aktuelle Situation der arbeitslosen Klientel, die wegen suchtbezogener Probleme in Betreuung/Behandlung ist, dargestellt werden. Der Beitrag schreibt eine Arbeit fort, die Trendverläufe bis 2011 darstellte (Kipke et al., 2015).

    Alle zugrundeliegenden Daten aus der DSHS beziehen sich auf Betreuungs-/Behandlungsepisoden, die synonym auch als Fälle bezeichnet werden. Da derselbe Klient mehrere Behandlungsepisoden in einem Berichtsjahr absolviert haben kann, ist die Zahl der Fälle ungleich der Zahl der Klienten. Dasselbe gilt im stationären Setting für Patienten. Der einfacheren Lesbarkeit halber wird dennoch teilweise der Begriff Klient/Patient benutzt.

    Methodik

    Es werden wesentliche Charakteristika von arbeitslosen Klienten in ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen im zeitlichen Verlauf von 2007 bis 2015 dargestellt. Des Weiteren wird eine vergleichende Charakterisierung der arbeitslosen und erwerbstätigen Klientel im ambulanten Setting vorgenommen. Folgende Datenquellen werden herangezogen: 1) Für die Verlaufsdarstellung werden Daten der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS; aktuellster Tabellenband: Braun, Brand & Künzel, 2016; alle Tabellenbände verfügbar unter: https.//www.suchthilfestatistik.de/daten) genutzt, die jedes Jahr bundesweit in ambulanten Suchtberatungs-/behandlungseinrichtungen sowie (teil-) stationären Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen erhoben wurden. 2) Für die vergleichende Charakterisierung der Klientel werden Daten von Klienten mit unterschiedlichem Erwerbsstatus in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen hinsichtlich ihres soziodemographischen Hintergrunds, ihrer spezifischen Suchtproblematik und ihrer Betreuungsmerkmale gegenübergestellt (siehe Kurzbericht 2/2016 der DSHS; Künzel, Specht & Braun, 2016).

    Eine ausführliche Beschreibung der Methodik der Deutschen Suchthilfestatistik findet sich in Dauber, Specht, Künzel und Braun (2016). Die Daten der DSHS ermöglichen eine systematische Analyse von Trends in Suchthilfeeinrichtungen, insbesondere aufgrund ihrer hohen Erreichungsquote in der ambulanten (geschätzte Erreichungsquote ≥ 74 Prozent) und stationären (geschätzte Erreichungsquote ≥ 64 Prozent) Suchthilfe (Dauber et al. 2016) und der hohen Vergleichbarkeit der Daten. Diese Vergleichbarkeit wird durch die einheitliche Verwendung des Deutschen Kerndatensatzes zur Dokumentation im Bereich der Suchthilfe erzielt (KDS; DHS, 2007). Die Grundgesamtheit der vorliegenden Analyse schließt alle Fälle ein, für die eine Hauptdiagnose (HD) vergeben wurde. Sie bezieht sich in ambulanten Einrichtungen auf alle Fälle, die im jeweiligen Jahr eine Betreuung begonnen bzw. beendet haben („Zugänge/Beender“) und im stationären Bereich auf alle Fälle, die im jeweiligen Jahr eine Betreuung beendet haben („Beender“). Für die Beschreibung der Arbeitslosenanteile in der Suchthilfe zwischen 2007 und 2015 wurden alle Fälle als „arbeitslos“ definiert, bei denen in den letzten sechs Monaten vor Betreuungsbeginn Arbeitslosigkeit nach Sozialgesetzbuch (SGB) II oder SGB III vorlag. In der Vergleichsgruppe „erwerbstätig“ wurden alle Fälle der erfassten Kategorien zu Erwerbstätigkeit zusammengefasst („Auszubildender“, „Arbeiter/Angestellter/Beamter“, „Selbstständig/Freiberufler“, „in beruflicher Rehabilitation“, „Sonstige Erwerbsperson“).

    Für die vergleichende Gegenüberstellung von Klienten mit unterschiedlichem Erwerbsstatus wurden Daten zum Erwerbsstatus aus dem ambulanten Suchthilfesetting im Jahr 2015 in Gruppen zusammengefasst (Künzel et al., 2016): a) arbeitslose Klientel: Klienten, die am Tag vor Betreuungsbeginn und am Tag nach Betreuungsende arbeitslos nach SGB II oder SGB III waren, und b) erwerbstätige Klientel: Klienten, die am Tag vor und am Tag nach der Betreuung erwerbstätig waren.

    Ergebnisse

    Trends der Jahre 2007 bis 2015

    Die Zahlen aus dem Jahr 2015 zeigen, dass der Anteil an arbeitslosen Klienten, die bereits sechs Monate vor Betreuungsbeginn erwerbslos waren, bei Fällen mit HD Opioide sowohl in ambulanten als auch in stationären Einrichtungen am höchsten (ambulant: 58 Prozent; stationär: 67 Prozent) und bei Fällen mit HD Stimulanzien am zweithöchsten (ambulant: 46 Prozent; stationär: 63 Prozent) war. Insgesamt ist der Anteil der Erwerbslosen im Verlauf der Jahre 2007 bis 2015 über alle HD in ambulanten Einrichtungen um etwa vier Prozentpunkte auf 36 Prozent gesunken und in stationären Einrichtungen um etwa einen Prozentpunkt auf 48 Prozent gestiegen. Der Anteil arbeitsloser Patienten war in stationären Einrichtungen insgesamt höher als in ambulanten Einrichtungen. Der größte Unterschied zwischen ambulantem und stationärem Setting in Bezug auf die Hauptdiagnosen fand sich bei Fällen mit HD Cannabis. Bei diesen Fällen lag im Jahr 2015 der Anteil Erwerbsloser bei 31 Prozent im ambulanten und bei 60 Prozent im stationären Setting.

    Die Anteile der arbeitslosen Klienten an allen Klienten in ambulanten und stationären Einrichtungen insgesamt sowie differenziert nach den Hauptdiagnosen Alkohol, Opioide, Cannabis, Kokain, Stimulanzien und Pathologisches Glückspielen sind in Abbildung 1 dargestellt. Der Anteil an erwerbslosen Patienten ist zwischen 2007 und 2015 im stationären Bereich bei Fällen mit HD Stimulanzien am stärksten (+16 Prozentpunkte) und bei Fällen mit HD Opioide am zweitstärksten (+9 Prozentpunkte) angestiegen. In ambulanten Einrichtungen war der stärkste Anstieg der Anteile Arbeitsloser ebenfalls bei Fällen mit HD Stimulanzien (+8 Prozentpunkte) zu beobachten, während der Anteil bei Fällen mit HD Alkohol am stärksten (-7 Prozentpunkte) zurückging.

    Abbildung 1: Anteil arbeitsloser Klientel in der Deutschen Suchthilfestatistik von 2007 bis 2015 gesamt und nach Hauptdiagnosen, getrennt für ambulantes und stationäres Setting

    Merkmale der Klientel mit unterschiedlichem Erwerbsstatus in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen im Jahr 2015

    Fast alle Klienten (97 Prozent), die einen Tag vor der Betreuung erwerbstätig waren, befanden sich bereits sechs Monate vor Betreuungsbeginn in einem Arbeitsverhältnis, und 91 Prozent der arbeitslosen Klienten bezogen bereits sechs Monate vor Betreuungsbeginn Arbeitslosengeld (elf Prozent ALG I; 80 Prozent ALG II).

    Der Anteil Alleinstehender war bei arbeitslosen Klienten deutlich höher (59 Prozent) als bei Erwerbstätigen (40 Prozent). Auch das Bildungsniveau der Klienten variierte nach dem Erwerbsstatus (s. Abbildung 2). Arbeitslose Klienten verfügten deutlich seltener über eine (Fach-)Hochschulreife (acht Prozent vs. Erwerbstätige: 18 Prozent) oder über einen Realschulabschluss (27 Prozent vs. Erwerbstätige: 38 Prozent) und hatten häufiger die Schule ohne Abschluss verlassen als Erwerbstätige (13 Prozent vs. Erwerbstätige: vier Prozent). Zudem hatte beinahe die Hälfte der arbeitslosen Klienten keine abgeschlossene Berufsausbildung (46 Prozent vs. Erwerbstätige: 14 Prozent).

    Abbildung 2: Höchster Schulabschluss erwerbstätiger und arbeitsloser Klienten in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen (DSHS 2015; Künzel, Specht & Braun, 2015)

    Neben soziodemographischen Merkmalen ergeben sich auch in der spezifischen Suchtproblematik Unterschiede zwischen Klienten in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen mit unterschiedlichem Erwerbsstatus. Während eine alkoholbezogene HD häufiger bei Erwerbstätigen vorlag, wiesen arbeitslose Klienten häufiger eine HD aus dem Spektrum der illegalen Substanzen auf. Die HD Opioide fand sich bei arbeitslosen Klienten fast viermal so häufig (22 Prozent  vs. Erwerbstätige: sechs Prozent) und die HD Stimulanzien mehr als doppelt so häufig (elf Prozent vs. Erwerbstätige: fünf Prozent) wie bei Erwerbstätigen. Substanzbezogene Zusatzdiagnosen waren bei arbeitslosen Klienten häufiger als bei erwerbstätigen, insbesondere alkoholbezogene Störungen kamen deutlich häufiger vor.

    Bezüglich der Betreuung von Klienten mit unterschiedlichem Erwerbsstatus in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen ergab sich, dass bei Substituierten fast viermal so häufig eine psychosoziale Begleitbetreuung vorlag, wenn sie arbeitslos waren, als wenn sie erwerbstätig waren (elf Prozent vs. drei Prozent). Zudem war der Anteil an Klienten, die ihre Betreuung unplanmäßig beendeten, unter den Arbeitslosen deutlich höher (43 Prozent) als unter den Erwerbstätigen (32 Prozent). Arbeitslose Klienten wurden nach Betreuungsende häufiger in eine stationäre Rehabilitationseinrichtung weitervermittelt als erwerbstätige (42 Prozent vs. 30 Prozent), während bei Erwerbstätigen die Vermittlung in eine Selbsthilfegruppe am häufigsten war (34 Prozent vs. 16 Prozent). Ein positives Betreuungsergebnis am Ende der Betreuung lag, unabhängig von der Art der Beendigung, bei erwerbstätigen Klienten häufiger vor als bei arbeitslosen Klienten (bei planmäßiger Beendigung: 86 Prozent vs. 72 Prozent; bei unplanmäßiger Beendigung: 43 Prozent vs. 28 Prozent). Arbeitslosen Klienten wurde häufiger eine Verschlechterung des Zustandes nach der Behandlung als Ergebnis attestiert als erwerbstätigen Klienten (bei planmäßiger Beendigung: zwei Prozent vs. ein Prozent; bei unplanmäßiger Beendigung: acht Prozent vs. vier Prozent).

    Diskussion

    Bei erwerbslosen Klienten liegen spezifische gesundheitsrelevante Risiken vor, die in der Literatur berichtet werden (Hollederer, 2008; Paul & Moser, 2009; Henkel et al., 2005; Zemlin et al., 2006). Dies spiegelt sich bei einem hohen Anteil arbeitsloser Klienten und Patienten in deutschen Suchthilfeeinrichtungen wider. Im Jahr 2015 war mehr als jeder dritte Klient in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen und fast jeder zweite Patient im stationären Setting arbeitslos. Im Verlauf von 2007 bis 2015 zeigte sich im ambulanten Setting ein leichter Rückgang und im stationären Setting ein leichter Anstieg des Anteils der arbeitslosen Klientel.

    Der größte Unterschied im Anteil arbeitsloser Klienten zwischen ambulanten und stationären Behandlungssetting fand sich im Jahr 2015 bei der HD Cannabis (31 Prozent vs. 60 Prozent). Dieser Unterschied erklärt sich möglicherweise dadurch, dass im Vergleich zu ambulanten Klienten stationäre Cannabispatienten eine deutlich schwerere Störungsausprägung aufweisen, die im Zusammenhang steht mit auffallend hohem Konsum weiterer Substanzen und dem damit verbundenen erhöhten Risiko für die Entwicklung komorbider psychischer Störungen (Brand et al., 2016). Zusätzlich sind stationäre Cannabispatienten durch eine äußerst ungünstige (psycho-)soziale Situation belastet und scheinen im Vergleich zu ambulanten Cannabispatienten gerade in den Bereichen „Schule, Ausbildung, Beruf“ deutlich benachteiligt zu sein (Brand et al., 2016).

    Der höchste Anteil arbeitsloser Klienten fand sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Behandlungssetting bei der HD Opioide. Bei etwa zwei Drittel der Klienten, die sich aufgrund einer opioidbezogenen Störung in Behandlung begaben, lag Arbeitslosigkeit vor. Allerdings waren nicht nur Klienten mit der HD Opioide deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, sondern auch Klienten mit der HD Stimulanzien. So zeigten die Trendbeobachtungen seit 2007 auch einen deutlichen Anstieg des Anteils Erwerbsloser mit HD Stimulanzien, so dass im Jahr 2015 im stationären Bereich 63 Prozent der Klienten mit HD Stimulanzien erwerbslos waren. Dies könnte bedingt sein durch die schnelle Entwicklung psychischer Auffälligkeiten als Konsequenz des Stimulanzienkonsums, was auch den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben könnte (Milin, Schäfer & Mühlig, 2016). Dadurch wiederum könnte sich die Motivation für eine (insbesondere stationäre) Behandlung erhöhen (Kipke et al., 2015).

    Die Ergebnisse der Gegenüberstellung erwerbstätiger und arbeitsloser Klienten in ambulanten Einrichtungen bestätigen vorliegende Erkenntnisse zu soziodemographischen und gesundheitsrelevanten Zusammenhängen von Arbeitslosigkeit und Suchterkrankung (Henkel et al., 2005; Zemlin et al., 2006). Auch ein Vergleich des sozioökonomischen Status arbeitsloser Suchtkranker im Jahr 2009 (Kipke et al., 2015) mit der aktuellen Situation im Jahr 2015 bestätigt diese Befunde. Nach wie vor liegt bei arbeitslosen Suchtkranken eine deutlich schlechtere Qualifizierung hinsichtlich Schul- und Ausbildungsabschluss vor. Die aktuelle Situation arbeitsloser Suchtkranker zeigt auch, dass deutlich mehr arbeitslose als erwerbstätige Klienten ohne feste Partnerschaft leben. Entsprechend können fast zwei Drittel der arbeitslosen Klienten nicht auf diese wichtige Ressource zurückgreifen. Außerdem weisen Klienten, bei denen während der Suchtbehandlung Arbeitslosigkeit vorlag, häufiger eine HD aus dem Spektrum der illegalen Substanzen sowie deutlich häufiger substanzbezogene Zusatzdiagnosen auf als erwerbstätige Klienten. Diese Beobachtungen untermauern weiterhin bestehende Hinweise auf ein erhöhtes Risiko Arbeitsloser für riskanten Substanzkonsum und ein ungünstigeres Gesundheits- und Suchtverhalten (Hollederer, 2008; Henkel, 2011).

    Die spezifischen Suchtproblematiken, die bei arbeitslosen Klienten beobachtet wurden, schlagen sich offenbar auch in den Daten zum Betreuungsabschluss nieder. Klienten, die arbeitslos waren, brachen die ambulante Suchtbehandlung häufiger vorzeitig ab und bekamen, unabhängig von der Art der Beendigung, häufiger eine Verschlechterung ihres Zustandes nach Behandlungsende attestiert als erwerbstätige Klienten.

    Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass sich die dargestellten epidemiologischen Trends in Bezug auf arbeitslose Klienten/Patienten in der Deutschen Suchthilfe (Kipke et al., 2015) weiter fortsetzen und die Unterschiede der sozioökonomischen Charakteristika zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen in der Suchthilfe über die letzten Jahre eine hohe Stabilität aufwiesen.

    Danksagung

    Das Projekt „Deutsche Suchthilfestatistik“ wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördert. Unser Dank gilt den teilnehmenden Klienten/Patienten und Einrichtungen sowie den Mitgliedern des Fachbeirats Suchthilfestatistik (R. Gaßmann, A. Koch, P. Missel, G. Sauermann, R. Walter–Hamann, T. Wessel).

    Deklaration möglicher Interessenkonflikte

    Es bestehen keinerlei Interessenkonflikte im Zusammenhang mit der Erstellung dieser Publikation.

    Kontakt:

    Rebecca Thaller
    IFT Institut für Therapieforschung
    Parzivalstraße 25
    80804 München
    Tel. 089/36 08 04 63
    Fax 089 – 36 08 04 49
    thaller@ift.de
    http://www.ift.de/

    Angaben zu den Autorinnen:

    Rebecca Thaller (M.Sc. Psych.), Sara Specht (MPH) und Jutta Künzel (Dipl.-Psych.) sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am IFT Institut für Therapieforschung, München, im Bereich Therapie- und Versorgungsforschung. Dr. Barbara Braun (Dipl.-Psych.) leitet am IFT den Bereich Therapie- und Versorgungsforschung sowie den Bereich Forschung Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern.

    Literatur:
    • Brand, H., Künzel, J., Pfeiffer-Gerschel, T. & Braun, B. (2016). Cannabisbezogene Störungen in der Suchthilfe: Inanspruchnahme, Klientel und Behandlungserfolg. SUCHT, 62(1), 9 -21.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2016a). Deutsche Suchthilfestatistik 2015. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2016b). Deutsche Suchthilfestatistik 2015. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitations-einrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2015a). Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2015b). Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitations-einrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H., Künzel, J. & Pfeiffer- Gerschel, T. (2014a). Deutsche Suchthilfestatistik 2013. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Braun, B., Brand, H. & Künzel, J. (2014b). Deutsche Suchthilfestatistik 2013. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Bundesagentur für Arbeit (2017). Arbeitsmarkt in Zahlen. Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, Februar 2017. Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit.
    • Dauber, H., Specht, S., Künzel, J. & Braun, B (2015). Suchthilfe in Deutschland 2015. Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS). Online Bericht. Verfügbar unter http://www.suchthilfestatistik.de
    • DGB Bereich Arbeitsmarktpolitik (2010). Gesundheitsrisiko Arbeitslosigkeit – Wissensstand, Praxis und Anforderungen an eine arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Arbeitsmarkt aktuell, 9. Berlin: DGB.
    • Henkel, D. & Schröder, H. (2015). Suchtdiagnoseraten bei Hartz-IV-Beziehenden in der medizinischen Versorgung im Vergleich zu ALG-I-Arbeitslosen und Erwerbstätigen: eine Auswertung der Leistungsdaten aller AOK-Versicherten der Jahre 2007–2012. Suchttherapie, 16(03), 129-135.
    • Henkel, D. (2011). Unemployment and substance use: a review of literature (1990 – 2010). Current Drug Abuse Reviews 4, 24 – 28.
    • Henkel, D., Dornbusch, P. & Zemlin, U. (2005). Prädiktoren der Alkoholrückfälligkeit bei Arbeitslosen 6 Monate nach Behandlung: Empirische Ergebnisse und Schlussfolgerungen für die Suchtrehabilitation. Suchttherapie, 6(04), 165-175.
    • Hollederer, A. (2008). Psychische Gesundheit im Fall von Arbeitslosigkeit. Praktische Arbeitsmedizin, 12(10), 29-32.
    • Kipke, I., Brand, H., Geiger, B., Pfeiffer-Gerschel, T. & Braun, B. (2015). Arbeitslosigkeit und Sucht–Epidemiologische und soziodemographische Daten aus der Deutschen Suchthilfestatistik 2007–2011. SUCHT, 61(2), 81-94.
    • Künzel J., Specht, S. & Braun B. (2016). Klientinnen und Klienten in ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe mit unterschiedlichem Erwerbsstatus vor und nach der Betreuung. Kurzbericht Nr.2/2016 – Deutsche Suchthilfestatistik 2015. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Milin, S., Schäfer, I., Mühlig, S. (2016). Epidemiologie. In: Drogenbeauftrage der Bundesregierung, BMG, BÄK & DGPPN (Hrsg.), S-3-Leitlinie Methamphetamin-bezogene Störungen (5-9). Berlin: Springer Verlag.
    • Paul, K. I. & Moser, K. (2009). Unemployment impairs mental health: Meta-analyses. Journal of Vocational behavior, 74(3), 264-282.
    • Pfeiffer-Gerschel, T. Steppan, M. & Brand, B. (2013a).  Deutsche Suchthilfestatistik 2012. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T. Steppan, M. & Brand, B. (2013b). Deutsche Suchthilfestatistik 2012. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2012a).  Deutsche Suchthilfestatistik 2011. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2012b).  Deutsche Suchthilfestatistik 2011. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2011a).  Deutsche Suchthilfestatistik 2010. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2011b). Deutsche Suchthilfestatistik 2010. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2010a). Deutsche Suchthilfestatistik 2009. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I. & Steppan, M. (2010b). Deutsche Suchthilfestatistik 2009. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel T., Hildebrand A. & Wegmann, L. (2009a). Deutsche Suchthilfestatistik 2008. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Pfeiffer-Gerschel T., Hildebrand A. & Wegmann, L. (2009b). Deutsche Suchthilfestatistik 2008. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitations-einrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Piontek, D., Gomes de Matos, E., Atzendorf, J. & Kraus, L. (2016). Kurzbericht Epidemiologischer Suchtsurvey. Tabellenband: Trends des Konsums illegaler Drogen und des klinisch relevanten Cannabisgebrauchs nach Geschlecht und Alter 1990 – 2015. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Sonntag, D., Bauer, C. & Eichmann, A. (2008a). Deutsche Suchthilfestatistik 2007. Alle Bundesländer. Tabellenband für ambulante Beratungs- und/oder Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen (Typ 3 und 4). Bezugsgruppe: Zugänge Beender ohne Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Sonntag, D., Bauer, C. & Eichmann, A. (2008b). Deutsche Suchthilfestatistik 2007. Alle Bundesländer. Tabellenband für (teil-)stationäre Rehabilitationseinrichtungen und Adaptionseinrichtungen (Typ 8,9,10). Bezugsgruppe: Beender mit Einmalkontakte. München: IFT Institut für Therapieforschung.
    • Zemlin, U., Henkel, D. & Dornbusch, P. (2006). „Predictors of alcohol relapses among the unemployed 6 months after treatment. ARA-Study. Empirical results and conclusions for addiction therapy and rehabilitation in Germany.” Vortrag, The 11th International Conference on Treatment of Addictive Behaviors (ICTAB 11).
  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Karl Lesehr

    Psychosoziale Stabilisierung durch Arbeit

    Dass ein drohender Arbeitsplatzverlust für viele Menschen mit Suchtproblemen eine erstmals ernsthaft aufrüttelnde Bedeutung haben kann, kennt wohl jede Fachkraft in der Suchthilfe. Gleichzeitig gilt für die Arbeit mit Suchtkranken aber auch die Erfahrung, dass geregelte Arbeit und Beschäftigung ganz wesentlich zur Stabilisierung von Lebenslagen beitragen können, die durch eine Suchtproblematik in unterschiedlichster Art und Weise beeinträchtigt sind. 1968 wurde Sucht vor Gericht als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt, was von einigen Akteuren schnell als vermeintlich vorrangige Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung verstanden wurde. In der schließlich 1978 – wieder auf gerichtlichen Druck hin – zustande gekommenen Suchtvereinbarung wurde dann eine gemeinsame Leistungszuständigkeit von Kranken- und Rentenversicherung für die damals bekannten Behandlungsangebote bei Abhängigkeitsstörungen geregelt. Diese Entwicklung war keineswegs zufällig: In der aus den ersten Heilstätten entstandenen stationären Suchtrehabilitation war die berufliche Reintegration – anders als in der Rehabilitation bei sonstigen psychiatrischen Erkrankungen – bereits ein zentrales Ziel des Behandlungssystems. Diese durch die Suchtvereinbarung bestätigte medizinische Suchtrehabilitation hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter fachlich ausdifferenziert, um bei suchtassoziierten Teilhabebeeinträchtigungen für ganz unterschiedliche Patientengruppen jeweils qualifizierte und passgenaue Entwicklungsanstöße geben zu können.

    Gerade weil dieses teilhabeorientierte Behandlungsangebot sich insgesamt unstrittig bewährt hat und weltweit als Erfolgsmodell gilt, ist es aber auch notwendig, seine ‚Schwachstellen‘ in den Blick zu nehmen. Dabei interessieren in diesem Beitrag weniger die zahlreichen behandlungs- und teilhaberelevanten ‚Schnittstellen‘, um deren Verbesserung sich die Suchtreha seit langem bemüht. Für das Projekt Su+Ber impulsgebend ist stattdessen die These, dass mit strukturell neuartigen Förder- und Behandlungsformen für langzeitarbeitslose Menschen mit Abhängigkeitsstörungen wesentliche Verbesserungen ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe erreicht werden könnten (teilhaberelevante Versorgungsschwachstellen).

    Schon in den 90er Jahren hat Günther Wienberg (1992) mit dem einprägsamen Begriff der „vergessenen Mehrheit“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein großer Teil der diagnostizierten Abhängigkeitskranken faktisch keinen Zugang zu spezialisierten suchtrehabilitativen Hilfen hat bzw. sie nicht in Anspruch nimmt. In dieser Versorgungsanalyse hat Wienberg verdeutlicht, dass dafür methodische und strukturelle Aspekte des Versorgungssystems mitverantwortlich sind und eben nicht nur eine unzureichende oder fehlende Krankheitseinsicht dieser Menschen, wie es das alte Jellinek-Modell mit seiner „Tiefpunkt-Theorie“ vermeintlich nahelegte.

    Teilhaberelevante Schwachstellen des Suchtbehandlungssystems

    • In der überwiegend wohnort- und alltagsfernen stationären Suchtreha hat sich die Reintegrationsperspektive bei langzeitarbeitslosen Patienten fast zwangsläufig auf die Perspektive einer ‚Teilhabebefähigung‘ verkürzt. Im Wesentlichen gelingt nur in der Drogenrehabilitation, bei der häufig auch ein Wohnortwechsel der Patienten eingeplant wird und längere Behandlungszeiten nutzbar sind, die unmittelbare Verknüpfung von Suchtbehandlung und Arbeitsintegration in nennenswertem Umfang. Die ARA-Studie (Dieter Henkel et al. 2005) hat schon vor Jahren verdeutlicht, wie gering auch nach einer formal erfolgreichen Alkoholrehabilitationsmaßnahme für langzeitarbeitslose Rehabilitanden die Chancen auf eine nachhaltig erfolgreiche berufliche Reintegration und damit auch auf einen Erhalt der erreichten Suchtmittelabstinenz sind. Auch die neu entwickelten Instrumente einer arbeitsorientierten Rehanachsorge bleiben noch zu oft im Beratungssetting und damit auf einer reflektierenden Metaebene stehen und haben dann viel Distanz zum komplexen realen Lebensalltag des Rehabilitanden.
    • Die Regelung des § 16a SGB II wird auch über zehn Jahre nach ihrer Einführung ganz überwiegend nur dafür genutzt, dass Jobcenter Kunden mit vermuteten oder diagnostizierten Abhängigkeitsstörungen an die Suchtberatung verweisen und so möglichst auch in weiterführende Suchtbehandlungen vermitteln. Eine unmittelbare Einbeziehung der Fach- und Steuerungskompetenz der Suchtberatungsstellen in die wohnortnahen Bemühungen um eine konkrete berufliche Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker ist dagegen nur an wenigen Standorten Realität geworden. Dementsprechend sind in den Suchtberatungsstellen das Interesse, aber auch die Handlungskompetenzen für eine direkte suchtkompetente Unterstützung der Klienten bei ihrer nachhaltigen beruflichen Integration in diesem Jahrzehnt kaum gewachsen.
    • Mit der Drogensubstitutionsbehandlung, die sich längst von einer Überbrückungshilfe zu einem grundständigen Behandlungsangebot für Drogenabhängige entwickelt hat, wurde das bislang für die Suchtrehabilitation grundlegende Paradigma einer (zumindest aktuell angestrebten) Suchtmittelabstinenz als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Reintegration auch aus einer medizinischen Perspektive in Frage gestellt. Gleichzeitig entfallen aber für diese durch die Krankenversicherung finanzierte und als ambulante Behandlung im Lebensalltag konzipierte Behandlungsoption aufgrund der für die Suchtrehabilitation bislang geltenden abstinenzorientierten Behandlungskonzepte weitgehend alle in der Suchtvereinbarung seinerzeit für unverzichtbar gehaltenen suchtrehabilitativen Leistungsmöglichkeiten. Langzeitarbeitslose Substituierte (wie im Übrigen auch andere nicht abstinenzwillige oder -fähige Abhängigkeitskranke) sind deswegen für eine berufliche Reintegration fast ausschließlich auf das Leistungsportfolio des SGB II angewiesen. In diesem wurden in den letzten Jahren aber viele Beschäftigungsangebote radikal abgebaut, die angesichts der oft vielfältigen Teilhabebeeinträchtigungen eine wenigstens schrittweise Arbeitsintegration ermöglichen sollen. Außerdem finden im SGB II generell die spezifischen Dynamiken abhängigkeitskranker ‚Kunden‘ nur höchst unzureichend und wenig systematisch Berücksichtigung. So können z. B. aufgrund der leistungsrechtlichen Vorgaben des SGB II die für die suchtkranken Menschen dringend notwendigen Unterstützungsleistungen nach einer Wiedereingliederung an einem Arbeitsplatz im Rahmen einer Arbeitsförderung kaum ermöglicht werden. Aber auch die für alle Fördermaßnahmen im SGB II maßgebliche leistungsrechtliche Definition der „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit ihrem Konstrukt der „schädlichen Unterbrechungen“ wirkt gerade bei Menschen mit Abhängigkeitsstörungen allzu oft als Leistungsbarriere: Bei guter Arbeitsmarktkonjunktur findet nämlich mancher von ihnen relativ leicht einen Arbeitsplatz, scheitert dann aber nach kurzer Zeit aufgrund seines Suchtverhaltens. Diese Krisenerfahrung kann dann aber wegen dieser Regelung oft nicht zeitnah und motivationsfördernd für die Einleitung geeigneter Fördermaßnahmen genutzt werden.

    Systembedingt unzureichende Reintegrationsperspektiven

    Die o. g. Schwachstellen in der aktuellen Versorgungsstruktur haben Auswirkungen für die betroffenen Menschen und für die fachlichen Akteure in den Versorgungsstrukturen:

    • Es gibt bis heute trotz der AOK-Studie (Henkel & Schröder, 2015, 2016) nahezu keine versorgungspolitisch sinnvoll nutzbaren Zahlen über den Anteil der Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen.
    • Aber auch in keiner der an der Suchtbehandlung oder der Arbeitsförderung beteiligten Institutionen wird das maßnahmen- oder förderungsrelevante Ausmaß suchtassoziierter Probleme festgestellt, ebenso wenig wie die aktuelle teilhaberelevante Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft. Gerade bei den oft länger dauernden psychosozialen Betreuungen Substituierter gibt auch der im KDS dokumentierte soziodemografische Eingangsstatus dafür zu wenig aktuelle Informationen.
    • Die vielerorts genutzte Strategie zur Qualifizierung von Jobcenter-Mitarbeitenden für eine sachgerechtere Problemidentifizierung und Problemansprache bei Kunden mit möglichen Suchtproblemen kann zwar die Zuweisung von Kunden nach § 16a SGB II an die Suchtberatung erhöhen und verbessern, löst dort aber keineswegs die für die Zielgruppe (angesichts nur begrenzter Rehaperspektive, v. a. aufgrund der Abstinenzgebundenheit) bestehenden Motivierungs- und Reintegrationsprobleme.
    • Das Konzept ‚erfolgreiche Suchtbehandlung und Abstinenz als notwendige Voraussetzung für eine berufliche Reintegration‘ ist in seiner Ausschließlichkeit hochselektiv. Es nutzt auch zu wenig die differenzierten Erkenntnisse der Motivationsforschung und vor allem nicht die realen Entwicklungsperspektiven betroffener Menschen: Einerseits sind in der Lebensrealität zahlreiche Menschen mit Abhängigkeitsstörungen auch längerfristig relativ unauffällig in Arbeit, andererseits haben aber viele Langzeitarbeitslose aufgrund ihrer Biografie und aktuellen Lebenslage selber kaum mehr ernsthaft Interesse an einer beruflichen Reintegration.
    • Die Ausgrenzung von Betroffenengruppen aus dem suchtrehabilitativen Angebot verstärkt aber auch eine generalisierte Misserfolgserwartung für diese Menschen im Gesamtversorgungssystem. Die Ausgrenzung reduziert das gesellschaftliche Interesse an konstruktiven Fördermaßnahmen und führt mit dazu, dass Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitsstörungen zu den Jobcenterkunden mit den geringsten Chancen auf eine nachhaltige Vermittlung in Arbeit zählen, also auch die schlechteste gesundheitliche Erfolgserwartung haben.
    • Diese ‚Misserfolgserwartung‘ trägt implizit weiter dazu bei, dass sich tradierte Strukturen einer individualisierten Rehavermittlung ohne umfassende Rehagesamtplanung in vielen Suchtberatungsstellen bis heute erhalten können und dass regionale, einrichtungsübergreifende und fallbezogene Kooperationen zwischen Suchtberatungsstellen und Jobcentern zur Verbesserung der Chancen einer beruflichen Reintegration eher Seltenheitswert haben.
    • Der sozialleistungsrechtlich in der Regel nicht abgesicherte Status der Suchtberatungsstellen erschwert vor allem im Bereich der Drogensubstitution eine teilhabeorientierte Behandlungskooperation (im Sinne der alten Suchtvereinbarung) auf Augenhöhe. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass viele Kommunen, die die Suchtberatung (mit)finanzieren, trotz mancher gut gemeinter Steuerungsbemühungen selten nachhaltig teilhabeorientierte Steuerungsimpulse mit ihrer Finanzierung verbinden und dafür dann auch ihre eigene Mitwirkungsbereitschaft einbringen.

    Strukturelle Herausforderungen an das Suchthilfesystem

    Die Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit den o. g. Problemzusammenhängen befasst und dafür auch intensiv das Gespräch mit dem Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Landespolitik gesucht. Als Institution der Suchthilfe hat sich die Landesstelle im Gegensatz zu Wienberg zunächst auf das eigene Handlungsfeld und damit auch auf die dort mögliche Kooperation mit den Jobcentern beschränkt.

    Fachlicher Hintergrund für die Gespräche waren zum einen die schon seit über einem Jahrzehnt gesammelten Erfahrungen aus dem Projekt Q-Train der AG Drogen Pforzheim, in dem sich überwiegend substituierte Drogenabhängige in einer Arbeitsfördermaßnahme im konkreten Arbeitsalltag mit den Beeinträchtigungen durch ihren Suchtmittelkonsum und ihr suchtassoziiertes Sozialverhalten auseinandersetzen können und müssen. Nach Möglichkeit werden sie dann an einen festen Arbeitsplatz vermittelt, wo sie nach Bedarf noch weiter betreut werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation zu diesem Projekt machen deutlich, dass sich durch den unmittelbaren suchttherapeutischen Fokus auf Arbeitsprozess und Arbeitsleistung bei den auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelten Teilnehmern vergleichbare Stabilisierungs- und sogar Abstinenzeffekte erreichen lassen wie über eine traditionelle Drogenrehabilitationsmaßnahme.

    Einen weiteren wichtigen Hintergrundaspekt bildeten zum anderen die Ergebnisse der bereits erwähnten ARA-Studie und die darauf aufbauenden intensiven Bemühungen der AHG-Fachklinik Wilhelmsheim, durch den Aufbau und die Verbesserung einer möglichst nahtlosen Kooperation mit den zuweisenden Suchtberatungsstellen und den Jobcentern die Reintegrationschancen für ihre langzeitarbeitslosen Rehabilitanden spürbar zu erhöhen.

    Und schließlich haben die gegenüber der ambulanten Suchthilfe teilweise durchaus vorwurfsvollen Äußerungen der DRV zum Rückgang der Suchtreha-Antragszahlen und die darauf aufbauenden Strukturdiskussionen mit der DRV Baden-Württemberg mit dazu beigetragen, dass eine Arbeitsgruppe der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg im November 2013 eine Rahmenkonzeption zur beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den ersten Arbeitsmarkt vorgelegt hat. Nach geduldiger und auch hartnäckiger Weiterverfolgung dieser konzeptionellen Ansätze veröffentlichte das Land schließlich im August 2015 den Förderaufruf zur Einreichung von Projektanträgen zur „Förderung der nachhaltigen Wiedereingliederung langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den Arbeitsmarkt nach der Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg (NaWiSu)“. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und richtet sich im Gegensatz zu den meisten anderen ESF-Projekten zur Arbeitsmarktintegration überwiegend an die zu einer Leistungsvernetzung eingeladenen Suchtberatungsstellen. Dieser Förderaufruf bildet den Rahmen für das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht), das im Folgenden vorgestellt wird.

    Ziele des ESF-Förderaufrufs NaWiSu

    Ausgangspunkte für den Förderaufruf waren, wie auch schon für die Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen, folgende Einschätzungen:

    • In der Gruppe der ‚dauerhaft‘ Langzeitarbeitslosen gibt es – übrigens neben gut einem Drittel abstinent lebender Menschen (!) – eine offenbar wachsende Teilgruppe von Menschen, bei denen eine Abhängigkeitsstörung oder ein suchtassoziierter Lebensstil als wesentliches Integrationshindernis festgestellt oder vermutet werden kann. Diese Teilgruppe der Langzeitarbeitslosen ist nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern vor allem sozialpolitisch ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem.
    • Es scheint unstrittig, dass Jobcenter und Arbeitshilfeträger mit ihren aktuellen Leistungsmöglichkeiten weniger in ihrer Qualifikation als vielmehr strukturell bzw. leistungsrechtlich überfordert sind, wenn es um eine nachhaltige berufliche Reintegration von Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen geht. Unabhängig von allen angestrebten Verbesserungen der Arbeitsmarktinstrumente im SGB II können Bemühungen der Jobcenter deshalb nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, störungsspezifische Fachkompetenzen und Interventionsmöglichkeiten besser und unmittelbar in zielgruppenspezifische Reintegrationsmaßnahmen einzubinden.
    • Die Bemühungen, mit Hilfe des § 16a SGB II die Suchtberatungsstellen stärker in Aktivitäten für eine berufliche Reintegration einzubinden, waren bislang bestenfalls insoweit erfolgreich, als es dabei um die verstärkte Vermittlung in klassische Suchtrehamaßnahmen ging. Darüber hinaus ist die Suchtberatung aber angesichts ihrer Finanzierungsstruktur (freiwillige Leistung der öffentlichen Daseinsvorsorge) und der dadurch sehr begrenzten Ressourcen und Leistungsmöglichkeiten bislang kaum in der Lage, aus eigenen Kräften einen ausreichenden, störungsbezogenen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Reintegration suchtkranker Menschen zu leisten.

    Damit strukturelle Verbesserungen der beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Menschen mit Abhängigkeitsstörungen gelingen können, werden daher im Förderaufruf NaWiSu folgende fünf Veränderungen angestrebt:

    • Um wirksame fallbezogene Kooperationen zu ermöglichen, müssen in Ergänzung zu den tradierten stationären und damit in aller Regel wohnort- und v. a. alltagsfernen Behandlungsmodellen wohnortnahe ambulante Behandlungsansätze und Fördermaßnahmen verstärkt werden.
    • Für die Teilnehmer müssen integrierte und zeitlich überschaubare Fördermaßnahmen mit einer klaren Zielperspektive entwickelt werden. Dabei sollte die berufliche Reintegration maßnahmenleitend sein, und auch die suchtbezogene Behandlung sollte vorrangig auf dieses Ziel orientiert sein: Die Behandlung muss für die Teilnehmer einen erkennbaren Gewinn für ihre aktuellen persönlichen Entwicklungsperspektiven haben.
    • Die Suchtberatungsstellen werden für solche integrierten Behandlungs- und Reintegrationsmaßnahmen nur dann einen nennenswerten und stabilen Beitrag leisten können, wenn solche Leistungen wenigstens teilweise als suchtrehabilitative Leistungen eigenständig finanziert werden und die Suchtberatung dem Jobcenter damit auch als gleichwertiger Leistungspartner gegenübertreten kann.
    • Angesichts der seit langem eher stagnierenden Entwicklung der ambulanten Suchtrehabilitation hat die stärkere Einbindung einer wohnortnahen beruflichen Reintegration aber nur dann eine Erfolgsperspektive, wenn die bisher für die Suchtreha verbindlichen Behandlungsgrundsätze zugunsten einer unmittelbaren Orientierung auf eine nachhaltige Arbeitsintegration gelockert und dafür auch neuartige Arbeits- und Interventionsformen ermöglicht werden.
    • Gleichzeitig muss die ambulante Suchtreha die in den letzten Jahren aufgebauten spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen der stationären Suchtreha stärker auch für ihren Arbeitsbereich nutzen. Für die Einrichtungen und Fachkräfte der ambulanten Suchthilfe gilt es zudem, neben den natürlich weiterhin sinnvollen und notwendigen Angeboten der traditionellen stationären oder ambulanten Suchtreha im Bewusstsein der Mitarbeitenden und in den Arbeitsstrukturen ein neues Handlungskonzept aufzubauen und zu implementieren und dann auch klientenorientierte Brücken zwischen den unterschiedlichen Optionen einer nachhaltigen Teilhabeförderung zu nutzen. Diese strukturelle Entwicklung v. a. der Suchtberatungsstellen soll im Aufruf NaWiSu modellhaft gefördert werden.

    Im Rahmen des Förderaufrufs wird seit Jahresbeginn 2016 das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) durchgeführt. Welche Entwicklungsziele und konkrete Maßnahmen es beinhaltet, wird im zweiten Teil des Artikels vorgestellt. Dieser erscheint in Kürze im Rahmen von Teil 2 des Titelthemas „Wege in Arbeit“.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Arbeitsmotivation in der Rehabilitation

    Arbeitsmotivation in der Rehabilitation

    Dr. Jens Hinrichs
    Andrea Christoffer
    Univ.-Prof Dr. Dr. Gereon Heuft
    Dr. Rolf Fiedler

     

     

     

     

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Was sind die Gründe dafür, dass sich Menschen im Arbeitsleben engagieren, Weiterbildungen besuchen, einen außergewöhnlichen Einsatz zeigen oder sich ständig für Sonderaufgaben oder Überstunden melden, während andere einfach ihr „Soll“ auf der Arbeit verrichten, Arbeit vermeiden oder gar nach Möglichkeiten suchen, aus dem Erwerbsleben auszusteigen bzw. nicht mehr zurückzukehren? Das Erfordernis der Existenzsicherung durch ein Einkommen ist sicherlich ein wichtiger Einflussfaktor, dennoch engagiert sich jeder Einzelne bei der Arbeit unterschiedlich. Hier rücken die persönlichen Motive und Einstellungen in den Vordergrund, die Menschen zu Leistungen im Arbeitsleben bewegen.

    Erwerbslosigkeit geht häufig mit einer Verlangsamung des Lebensrhythmus einher und führt zu einer nachteiligen Auflösung von Zeit- und Alltagsstruktur, so dass Betroffene Probleme bekommen, in der verbleibenden Zeit ihre Aufgaben zu bewältigen (Kastner et al. 2005). Eine erfolgreiche Reintegration von lange arbeitsunfähigen Rehabilitanden kann oftmals entlastend auf die dahinterliegende Symptomatik wirken (Bengel et al. 2003). Arbeit erfüllt somit unterschiedliche Funktionen: Sie strukturiert den Lebensablauf, sorgt für soziale Kontakte, befriedigt ein allgemeines Bedürfnis nach Beschäftigung, beeinflusst das Selbstwerterleben und Wohlbefinden positiv und kann identitäts- und im Idealfall auch sinnstiftend sein. Daher liefert die berufliche Integration die günstigsten Perspektiven, langfristig und effizient die Auswirkungen von Krankheit und Behinderung positiv zu beeinflussen.

    Dies unterstreicht die Wichtigkeit rehabilitativer Bemühungen, die Krankheitsfolgen so weit zu minimieren, dass die Wiederherstellung und der Erhalt der Erwerbsfähigkeit gesichert werden können. Bei dem Ziel, eine Ein- oder Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu erreichen, müssen auch berufliche Perspektiven, Einstellungen zur Arbeit und die Arbeitsmotivation berücksichtigt werden.

    Aus diesem Zusammenhang sind die Entwicklung des Assessments zur Diagnostik von Arbeitsmotivation (DIAMO) und das Gruppentraining zur Förderung arbeitsbezogener Motivation (ZAZO) hervorgegangen. Die Entwicklung dieser Instrumente war ein langjähriger, durch die Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e.V. Nordrhein-Westfalen geförderter Forschungsschwerpunkt an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster.

    Arbeitsmotivation

    Der Begriff Motivation stellt in der wissenschaftlichen Psychologie eines der zentralen Konzepte zur Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens von Menschen dar. Motivation determiniert das Handeln und gibt Antworten auf die Frage, warum eine Person sich gegenwärtig so und nicht anders verhält. Nach Lewin (1936) resultiert Motivation aus einem dynamischen Prozess aus dem Wechselspiel zwischen subjektiv wahrgenommenen inneren Zuständen (Motive, Antrieb, Bedürfnisse, Wünsche, Streben) und situativen Einflussfaktoren (äußere Anreize, Normen, Werte). Als motivationales Resultat dieses Wechselspiels werden Richtung, Intensität und Ausdauer des Handelns definiert. Somit soll das psychologische Konzept der Motivation Antworten auf die Fragen geben:

    • Warum habe ich dieses oder jenes Ziel ausgesucht?
    • Warum nähere ich mich dem Ziel (oder entferne mich von ihm)?
    • Wie schnell erreiche ich ein Ziel?

    Hier unterscheidet man zwischen personenseitigen (intrinsisch) und situativen (extrinsisch) motivationalen Einflussfaktoren. Intrinsische Motivation ist unabhängig von situativen Faktoren, d. h., jemand handelt aus eigenem Antrieb, z. B. weil eine bestimmte Tätigkeit Spaß macht, und nicht etwa, weil man die Ergebnisfolgen oder einen bestimmten äußeren Anreiz, z. B. Geld, Prestige oder Anerkennung, erreichen will (Rheinberg et al. 2012).

    Was allgemein zur Motivation gesagt werden kann, trifft ebenso auf Arbeitsmotivation zu. Dabei geht es konkret um den Kontext Arbeit und Beruf und somit um einen definierten Zielbereich. Im Kontext der Erwerbsarbeit stehen häufig fremdgesetzte Ziele und Anforderungen (z. B. Unternehmensziele, Arbeit zur Existenzsicherung) im Vordergrund, die wiederum mit persönlichen Zielen und Bedürfnissen (z. B. leistungsgerechte Bezahlung, Anerkennung) korrespondieren können. Somit liegt hier ein komplexeres Wechselspiel aus persönlichen Motiven, eigenen und fremdgesetzten Zielen vor, auf das gleichzeitig auch verschiedene soziale Faktoren wie Normen, Status oder regionale Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage Einfluss nehmen. Letztlich wird jede einzelne Person in ihrem individuellen Arbeitsverhalten von den unterschiedlichsten Gründen beeinflusst. Arbeitsmotivation ist somit ein außerordentlich komplexer Forschungsgegenstand.

    Diagnostik von Arbeitsmotivation (DIAMO)

    Der DIAMO-Fragebogen erfasst arbeitsbezogene Motive, Einstellungen und personengebundene Verhaltensmuster in der Selbstauskunft (Fiedler et al. 2005; Ranft et al. 2009). Der DIAMO beinhaltet die Konzepte Motivationales Selbstbild, Motivationale Handlungsentwürfe und Motivationale Passung. Den drei zentralen Konzepten sind zehn Skalen (Themenbereiche) mit insgesamt 57 Items zugeordnet. Die Antworten ermöglichen es, einen differenzierten Einblick in die arbeitsbezogene Motivationsstruktur von Rehabilitanden zu gewinnen. So können Stärken und Schwächen identifiziert und als diagnostische Ansatzpunkte für ggf. notwendige motivationale Interventionen oder Beratungen zur Motivationsförderung genutzt werden (Abb. 1).

    Abb. 1: Konzepte, Merkmale und Dimensionen des DIAMO-Fragebogens

    Das Motivationale Selbstbild erfasst personenseitige Aspekte, Dispositionen und Einstellungen zur Arbeit. Hierzu gehören  z. B.: das Neugiermotiv, das die Personen dazu anhält, Neues zu entdecken und durch explorierendes Verhalten sich neues Wissen anzueignen, das Anschlussmotiv, bei dem die sozialen Verbindungen und Kontakte zu den Kollegen im Vordergrund stehen, oder auch die Misserfolgsvermeidung, die motivationshemmende Aspekte erfasst. Die Motivationalen Handlungsentwürfe erfassen annähernde und vermeidende Verhaltensweisen, z. B. den Einsatz aktiver Problemlösungsstrategien und Merkmale wie „Anpacken“ und „Auf die Dinge Zugehen“ oder Verhaltensweisen wie Abwarten, Resignieren und Vermeiden. Das Konzept der Motivationalen Passung richtet den Fokus auf individuelle Erfahrungen und die subjektive Bewertung der Arbeitssituation am letzten bzw. aktuellen Arbeitsplatz. Die Fragen dienen primär einem Screening, um z. B. festzustellen, ob eine Passung zwischen den Bedürfnissen eines Rehabilitanden und den tatsächlichen Bedingungen am Arbeitsplatz vorliegt bzw. vorlag.

    Interpretation der DIAMO-Ergebnisse

    Für die Gesamtauswertung des DIAMO empfiehlt sich die Betrachtung der Skalenprofile, die sich auf das Motivationale Selbstbild und die Motivationalen Handlungsentwürfe beziehen. Die Ergebnisse werden mit clusteranalytisch gewonnenen Normprofilen verglichen, die ein Normal- und ein Risikoprofil unterscheiden.

    Das Normalprofil zeigt hohe Werte auf den motivationsförderlichen Skalen Einstellung zur Arbeit, Neugiermotiv, Einflussmotiv, Anschlussmotiv und Ziel-Aktivität sowie niedrige Werte bei den motivationshemmenden Skalen Misserfolgsvermeidung und Ziel-Inhibition. Das Risikoprofil zeigt hingegen niedrigere Werte auf den motivationsförderlichen Skalen und hohe Werte auf den motivationshemmenden Skalen. Für das Normal- und das Risikoprofil liegen Vergleichsdaten aus der medizinischen Rehabilitation (ohne Sucht) und auch aus der stationären Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten vor. Letztere wurden im Rahmen einer vor kurzem gemeinsam mit dem Deutschen Orden Ordenswerke Weyarn und dem MZG Bad Lippspringe durchgeführten DIAMO-Sucht-Studie erhoben (Christoffer et al. 2016).

    Im Folgenden sind exemplarisch zwei Profilverläufe aus der DIAMO-Sucht-Studie für den Bereich Motivationale Handlungsentwürfe (Annäherung vs. Vermeidung) gegenübergestellt. Die Abb. 2 zeigt einen Studienteilnehmer mit einem Ergebnisverlauf, der eher dem Normalprofil (grüne Punkte) entspricht. In der Selbstbeurteilung ist er im Arbeitsverhalten eher aktiv und aufgeschlossen und zeigt nur geringe Vermeidungstendenzen. Hier ist als Therapeut anzunehmen, dass sich der Rehabilitand in der Arbeitstherapie eher engagiert und motiviert zeigen wird.

    Abb. 2: Beispiel eines Rehabilitanden aus der DIAMO-Sucht-Studie mit hohem Annäherungs- und geringem Vermeidungsverhalten im Vergleich mit Normal- und Risikoprofil

    Im Gegensatz hierzu zeigt die Abb. 3 eine motivationshemmende Ausprägung, die dem Risikoprofil entspricht bzw. dieses noch unterschreitet (rote Punkte). Dieser Studienteilnehmer schätzt sich sehr gering zielaktiviert ein, was darauf hindeutet, dass er wenig Engagement und Aktivität zeigen wird, um seine Ziele zu erreichen. Ebenfalls erreicht er signifikant höhere Werte bei Ziel-Inhibition, was deutlich auf Resignation und Vermeidungsverhalten hinweist. Er wirkt also eher wie ein Mensch, der sich nicht (mehr) aktiv in Arbeit einbringt und sich aus dem Arbeitskontext zurückgezogen hat. Hier stellt sich als Therapeut die Frage, ob und mit welchen Zielen dieser Rehabilitand eigentlich noch verbunden ist.

    Abb. 3: Beispiel eines Rehabilitanden aus der DIAMO-Sucht-Studie mit geringem Annäherungs- und hohem Vermeidungsverhalten im Vergleich mit Normal- und

    An diesen kurzen Beispielen soll deutlich werden, dass ein Profilverlauf an sich informativ ist, da er einen Teil der arbeitsbezogenen motivationalen Selbstbeurteilung des Rehabilitanden darstellt und schon die motivationalen Grundtendenzen wie Vermeidungs- und Annäherungsmotivation sichtbar macht. Gleichzeitig werden aber im therapeutischen Kontext weitere Fragen mit Klärungsbedarf aufgeworfen.

    Implikationen für die therapeutische Beratung

    Der DIAMO-Fragebogen (57 Items) und eine Auswertungshilfe sind im Internet (www.zazo-i.de) frei zugänglich. Aufgrund seiner relativen Kürze, der vorhandenen Vergleichsprofile und Interpretationshilfen ist er in der Praxis ökonomisch einsetzbar (Durchführung und Auswertung ca. 15 Minuten). Bei der Bewertung der DIAMO-Ergebnisse eines Klienten ist es sinnvoll, die gewonnenen Informationen aus der Selbstbeurteilung mit der Einschätzung der Behandler in Beziehung zu setzen. Der Berater/Therapeut kann bezüglich der Motivationslage der Klienten entweder zu einer übereinstimmenden oder aber aufgrund von Beobachtungen während der Behandlung auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung kommen. Der Abgleich kann als eine Orientierung für weiterführende, ressourcenorientierte Interventionen im Behandlungssetting bzw. für den Prozess der beruflichen Eingliederung genutzt werden (Tab. 1 und 2; in Anlehnung an Flückiger & Wüsten 2015).

    Tab. 1: Motivationsförderliche Skalen: Neugier, Anschluss, Einfluss, Arbeitseinstellung, Ziel-Aktivität
    Tab. 2: Motivationshemmende Skalen: Misserfolgsvermeidung, Ziel-Inhibition

    Bestehen zwischen Fremd- und Selbstbeurteilung seitens Therapeut und Rehabilitand kongruente Einschätzungen, kann dies in der Arbeitstherapie offen zurückgemeldet und bestärkt bzw. bei ungünstiger Motivlage (z. B. hohes Vermeidungsverhalten) validiert werden. Bestehen Abweichungen in der Fremd- und Selbsteinschätzung, z. B. wenn sich ein Rehabilitand als stark anschlussmotiviert erlebt, jedoch auf den Arbeitstherapeuten zurückgezogen und in der Gruppe isoliert wirkt, besteht hier ein Einstiegsfenster, um mit dem Rehabilitanden über das Thema Arbeit und Arbeitsumfeld (Motivationale Passung) ins Gespräch zu kommen. Diese Rückmeldeprozesse haben ressourcenaktivierende Elemente, da Stärken des Rehabilitanden gespiegelt werden und mögliche Schwierigkeiten thematisiert und ggf. problemlöseorientiert angegangen werden können.

    Die im Rahmen der DIAMO-Sucht-Studie befragten Klinikmitarbeiter schätzten auch die grafische Aufbereitung der Ergebnisse als eine praktikable Möglichkeit ein, um die individuellen Angaben im DIAMO-Fragebogen schnell und verständlich an den Rehabilitanden zurückzumelden. Als besonders förderlich wurde u. a. angemerkt, dass auffällige Werte auf den ersten Blick erkennbar waren und als Ansatzpunkte dafür dienten, die arbeitsbezogenen Motivlagen mit den Patienten zu besprechen.

    In der Evaluationsstudie zeigten ca. 30 Prozent der antwortenden Rehabilitanden eine erhöhte arbeitsbezogene Vermeidungsmotivation. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein (z. B. schlechte Erfahrungen mit Kollegen und Vorgesetzten, geringe Gratifikation, hohe Arbeitsbelastung, Krankheit usw.), was aber trotzdem die Frage aufwirft, wie verbunden sich diese Gruppe noch mit ihren derzeitigen beruflichen Zielen fühlt. Bekannt ist, dass fehlende Zielverbundenheit (Commitment) dazu führt, dass die Zielverfolgung nach Misserfolg schneller aufgegeben wird und in ein Vermeidungsverhalten führen kann (Brunstein 1995). Auf Grundlage dieser Beobachtungen im DIAMO wurde das Motivationstraining Zielanalyse und Zieloperationalisierung, kurz: ZAZO entwickelt, um persönliche arbeitsbezogene Ziele systematisch mit Rehabilitanden zu klären und ggf. neue Ziele zu entwickeln (Abb. 4).

    Abb. 4: Konzeptioneller Ansatzpunkt des ZAZO-Gruppentrainings

    Das ZAZO-Gruppentraining

    Das Motivationstraining ZAZO stellt ein ressourcenorientiertes Gruppentraining dar, das die Klärung individueller berufsbezogener Ziele und die Unterstützung zur Umsetzung dieser Ziele anstrebt (Fiedler et al. 2011).

    Das ZAZO-Gruppentraining basiert auf vier interaktiven und aufeinander aufbauenden Modulen zu je ca. 90 bis 100 Minuten. Die aus der Praxis bewährte Gruppengröße für einen Trainer liegt zwischen sechs und acht Teilnehmern. In der praktischen Durchführung haben sich jeweils zwei Sitzungen pro Woche etabliert, jedoch lässt sich das Training inhaltlich wie auch zeitlich variabel kürzen oder aufteilen.

    Die Teilnehmer werden während des Trainings zu einer multidimensionalen Bearbeitung und Auseinandersetzung mit ihren persönlich gesetzten arbeitsbezogenen Zielen angeleitet. Das Training zielt auf die Generierung neuer beruflicher Perspektiven und Anliegen ab und fördert motivationale und volitionale (Wille zur Umsetzung) Kompetenzen, so dass eine berufliche Reintegration realistischer wird (Abb. 5). Durch die Vermittlung von Strategien zur Zielverfolgung und Zielbindung wird ein konstruktiver Umgang mit Hürden und Schwierigkeiten auf dem Weg zur Zielerreichung ermöglicht. Die konkrete Zielanalyse steigert die Motivation, die Ziele, die mit einem höheren Wohlbefinden und einer besseren Lebenszufriedenheit verknüpft sind, umzusetzen.

    Abb. 5: Ablauf des ZAZO-Gruppentrainings

    Folgende Inhalte werden im Training vermittelt und bearbeitet:

    • Entwicklung berufsbezogener Wünsche und Anliegen,
    • Setzen von Zielen,
    • Aufbau von Commitment (Selbstverpflichtung) und Zielverfolgungsstrategien,
    • Umgang mit Hindernissen,
    • Ablösen von unrealistischen Zielen,
    • Erkennen von Zielkonflikten,
    • Entwerfen von Zielhierarchien und
    • Adaption an die positiven und ggf. negativen Zielkonsequenzen.

    Zusätzlich erhalten die Teilnehmer Schulungsmaterial, welches sie bei der Durchführung anleitet und zur aktiven Mitarbeit anregt, welches zur Protokollierung der persönlichen Zielstrukturen dient und später zum Nachschlagen genutzt werden kann.

    In der Überprüfung der Wirksamkeit konnte gezeigt werden, dass das Training die berufliche Motivation fördert und insbesondere die subjektive Prognose der Erwerbsfähigkeit verbessert (Hanna et al. 2010). Rehabilitanden aus der psychosomatischen und orthopädischen Rehabilitation wurden direkt nach dem Training und nach sechs Monaten befragt, wie sie den Mehrwert der ZAZO-Maßnahme einschätzten und ob sie die im Training entwickelten Ziele noch verfolgten bzw. bereits umgesetzt hätten (Hinrichs et al. 2014). Circa 60 Prozent der Teilnehmer konnten klarere berufsbezogene Zielvorstellungen im Training entwickeln, und etwa 65 Prozent der Teilnehmer stimmten dem Nutzen des ZAZO-Trainings eher bzw. voll zu (Abb. 6).

    Abb. 6: Einschätzung der ZAZO-Teilnehmer direkt nach dem Training (N=174)

    Nach sechs Monaten berichteten etwa 30 Prozent der antwortenden ZAZO-Teilnehmer, dass sie ihre Ziele aus dem Training vollständig und etwa 40 Prozent, dass sie ihre Ziele teilweise realisiert hätten. Circa 70 Prozent der Teilnehmer verfolgten nach eigenen Angaben weiterhin ihre gesetzten Ziele (Abb. 7).

    Abb. 7: Einschätzung der ZAZO-Teilnehmer nach sechs Monaten (N=75)

    Fazit

    Es besteht Einigkeit darüber, dass im rehabilitativen Kontext die Auseinandersetzung mit Arbeitsmotivation ein wichtiger Baustein in der Arbeitstherapie ist. Durch eine geeignete Diagnostik lassen sich hemmende und förderliche Motivlagen identifizieren, die in der Behandlung gezielt ressourcenaktivierend genutzt oder problemlöseorientiert bearbeitet werden können. Zu bedenken ist aber, dass Arbeitsmotivation zwar eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass Rehabilitanden sich mit arbeits- und berufsbezogenen Themen auseinandersetzen, sie entscheidet jedoch aufgrund ihrer Komplexität und Abhängigkeit von psychosozialen und sozialmedizinischen Faktoren nicht alleine darüber, ob ein Rehabilitand erfolgreich in Arbeit kommt. Es ist wichtig, die Förderung von Arbeitsmotivation nicht als isolierte Maßnahme zu verstehen, sondern immer in das gesamte arbeitstherapeutische Behandlungskonzept zu integrieren.

    Aufgrund der positiven Ergebnisse in den Evaluationsstudien zum ZAZO-Training werden von der  Arbeitsgruppe, die ZAZO entwickelt hat, auch nach Abschluss der Projektförderphase weiterhin train-the-trainer-Workshops zu den Themen Diagnostik und Förderung von Arbeitsmotivation angeboten.

    Sobald der Geist auf ein Ziel gerichtet ist, kommt ihm vieles entgegen.
    J. W. von Goethe

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. rer. medic. Jens Hinrichs, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    jens.hinrichs@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de
    http://zazo-i.de

    Dr. Jens Hinrichs (*1972) schloss 2005 das Studium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Osnabrück ab. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster. Er promovierte zum Thema berufsspezifischer Belastungen von Polizeibeamten in NRW. In der Rehabilitationsforschung liegen seine Schwerpunkte in den Bereichen Arbeitsmotivation und Ressourcen sowie in der Entwicklung von Workshops zur Förderung der Ressourcenorientierung von Mitarbeitern und Rehabilitanden im Behandlungsprozess.

    Andrea Christoffer, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    andrea.christoffer@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de

    Andrea Christoffer (*1987) schloss 2013 das Diplomstudium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück ab. Seitdem befindet sie sich in der fünfjährigen berufsbegleitenden Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin an der Universität Osnabrück. Seit 2013 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster tätig. Sie arbeitet im Kontext rehabilitationswissenschaftlicher Forschungsprojekte zu den Themen der Diagnostik von Arbeitsmotivation und der Förderung ressourcenaktivierender Behandlungsmethoden im Reha-Kontext.

    Univ.-Prof. Dr. Dr. med. Gereon Heuft
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    gereon.heuft@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de

    Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft (*1954) ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychoanalytiker (Lehr- und Kontrollanalytiker der DGPT). Seit 1999 Lehrstuhlinhaber für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Er ist der ärztliche Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (WBP) Bundesärztekammer/Bundespsychotherapeutenkammer, Schriftleiter der „Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ sowie in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen und berufspolitischen Funktionen. Forschungsschwerpunkte sind die Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie, die Rehabilitationsforschung und die Psychotraumatologie.

    Dr. rer. medic. Rolf G. Fiedler, Dipl.-Psych.
    Psychologischer Psychotherapeut
    Psychotherapeutische Praxis
    Marktstraße 15
    48607 Ochtrup
    www.therapier.bar

    Dr. Rolf G. Fiedler (*1967) war wissenschaftlicher Mitarbeiter, Promovend und postdoktoral an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, 2002 bis 2008 angestellt; 2009 bis heute als Honorarkraft. 2006 bis 2011 Tätigkeit in der LWL-Klinik Münster im psychologischen Dienst der Suchtambulanz. 2011 bis 2016 im psychologischen Dienst bei Mediant GGZ, Enschede (Niederlanden), am Centrum voor Ontwikkelingsstoornissen (COS Twente), Schwerpunkt Begleitung, Coaching und Psychotherapie von Menschen mit AD(H)S und Autismus-Spektrum-Störungen. Seit Anfang 2017 ist er in eigener psychotherapeutischer Privatpraxis tätig (www.therapier.bar). Berufs- und Heilerlaubnis (BIG-Registrierung) als Psychotherapeut und Gesundheitspsychologe (www.bigregister.nl). Approbation als Psychologischer Psychotherapeut mit Fachkunde in Verhaltenstherapie, eingetragen im Arztregister der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (www.kvwl.de).

    Literatur:
    • Bengel J, Beutel M, Broda M, Haag G, Härter M, Lucius-Hoene G, Muthny FA, Potreck-Rose F, Stegie R, Weis J (2003). Chronische Erkrankungen, psychische Belastungen und Krankheitsbewältigung – Herausforderungen an eine psychosoziale Versorgung in der Medizin. Psychother Psych Med.; 53: 83-93.
    • Brunstein, JC (1995). Motivation nach Mißerfolg – Die Bedeutung von Commitment und Substitution. Göttingen: Hogrefe.
    • Christoffer A, Fiedler R, Heuft G; Reimer A, v. Einsiedel R, Hinrichs J (2016). Diagnostik von Arbeitsmotivation: Eine indikationsspezifische Validierung des DIAMO-Fragebogens im Bereich der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten. 25. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium: 29.02.-02.03.2013 in Aachen. DRV-Schriften, Bd. 109, S. 60-61.
    • Fiedler RG, Ranft A, Schubmann C, Heuft G, Greitemann B (2005). Diagnostik von Arbeitsmotivation in der Rehabilitation – Vorstellung und Befunde zur faktoriellen Struktur neuer Konzepte. Psychother Psych Med, 55, 476-482.
    • Fiedler RG, Hanna R, Hinrichs J, Heuft G. (2011). Förderung beruflicher Motivation – Ein Trainingsprogramm für die Rehabilitation. Weinheim: Beltz.
    • Flückiger C, Wüsten G (2015). Ressourcenaktivierung. Ein Manual für Psychotherapie, Coaching und Beratung. Bern: Huber.
    • Hanna R, Fiedler RG, Dietrich H, Greitemann B, Heuft G. (2010). Zielanalyse und Zieloperationalisierung (ZAZO): Evaluation eines Gruppentrainings zur Förderung beruflicher Motivation. Psychother Psych Med, 60:316-325.
    • Hinrichs J, Fiedler RG, Hawener I, Greitemann B, Heuft G (2014). Förderung beruflicher Motivation: Das ZAZO-Gruppentraining in der Routineversorgung der medizinischen Rehabilitation. Ergebnisse aus der Implementierungsstudie. 23. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium: 10.03.-12.03.2014 in Karlsruhe. DRV-Schriften, Bd. 103, S. 226-228.
    • Kastner M, Hagemann T, Kliesch G (2005). Arbeitslosigkeit und Gesundheit – Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Lengerich: Pabst Science Publishers.
    • Lewin K (1936). Principles of topological psychology. New York: McGraw-Hill.
    • Ranft A, Fiedler RG, Greitemann B, Heuft G (2009). Optimierung und Konstruktvalidierung des Diagnostikinstruments für Arbeitsmotivation (DIAMO). Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 59, 21-30.
    • Rheinberg F, Vollmeyer R (2012). Motivation (8. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    „Suchthilfe und Arbeit“ ist trotz des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren noch immer ein großes Thema. Das ist merkwürdig, denn bereits 1985 war mit der „Hammer Studie“ (Raschke & Schliehe, 1985) eigentlich schon alles gesagt: „Der Ausstieg aus dem Drogenkonsum steht und fällt mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen“. Gleichzeitig erschwert eine Abhängigkeitserkrankung jedoch immens die berufliche Integration. Das Gleiche gilt auch für psychische Erkrankungen oder andere Hindernisse, die von den Agenturen für Arbeit als Vermittlungshemmnisse beschrieben werden. Vermittlungshemmnisse haben dramatische Folgen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be­rufsforschung (IAB; Achatz & Trappmann) hat im Jahr 2011 den Einfluss multipler Hindernisfaktoren auf die Arbeitsmarktintegration untersucht. Diese Faktoren waren u. a. Alter und Geschlecht, gesundheitliche Einschränkungen, geringe Schulbildung oder Qualifikation, Migrationshinter­grund, langer ALG II-Bezug und schlechte regionale Arbeitsmarktlage. Bei einem Vermittlungshemmnis lag die Wahrscheinlichkeit für den Übergang in eine Erwerbstätigkeit bereits bei nur elf Prozent und sank dann mit jedem weiteren Vermitt­lungshemmnis ab, bis sie bei sechs und mehr Faktoren bei null Prozent angekommen war (Achatz & Trappmann, 2011, S. 30). Damit haben Suchtkranke, die vielfache Vermittlungshemmnisse auf sich konzentrieren, nur eine marginale Integrationschance.

    Seit 30 Jahren steht das Thema Arbeit auch auf der Agenda des Fachverbandes Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+). „Sorgen mit der Nachsorge“ hieß 1986 die Dissertation des damaligen Geschäftsführers des fdr+, Manfred Sohn. Zweimal veröffentlichte der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung Grundsatzpapiere zu diesem Thema: Im Jahr 2012 das sehr gute Konsenspapier „Förderung der Teilhabe Abhängigkeitskranke am Arbeitsleben“ und im Jahr 2016 den Beschluss „Teilhabe am Arbeitsleben“. Das Problem dieser Veröffentlichungen: An theoretischen Herleitungen herrscht kein Mangel. Was fehlt, ist die praktische Umsetzung des Sozialrechtes in Hilfen für abhängigkeitskranke Menschen. Vor diesem Hintergrund rief der fdr+ 2014 eine Arbeitsgruppe „Arbeit und Bildung“ ins Leben, die im Mai 2017 die Handreichung „Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen“ veröffentlicht hat. In dieser Broschüre werden die Leistungen zur Teilhabe an Arbeit für Suchtkranke detailliert beschrieben. Untermauert von erläuternden und heranführenden Texten geben die Autoren eine ausführliche Übersicht zu den Leistungstypen und Leistungsmöglichkeiten, mit denen suchtkranke Menschen an Arbeit herangeführt werden können. Das Bundesteilhabegesetz, das während der Erstellung der Handreichung mit seinen ersten Teilen in Kraft getreten ist, findet ebenfalls angemessen Berücksichtigung. Folgende gesetzliche Finanzierungsmöglichkeiten werden vorgestellt und erklärt:

    1. Betriebsformen und Trägerstrukturen
    2. Individuelle Leistungstypen
    3. Maßnahmen in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker
    4. Weitere Möglichkeiten zur Förderung der Teilhabe an Arbeit

    Teilhabe am Arbeitsleben ist ein identitätsstiftender Faktor, sie ermöglicht positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Im Vorwort der Handreichung stellen die Autoren dar, wieso Integration und Teilhabe als Leitbild in der Suchthilfe betrachtet werden dürfen und müssen – ein Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, sich um Integration und Teilhabe (weiterhin) nachdrücklich zu bemühen, und dass ein erfolgreiches Wirken möglich ist. Im O-Ton heißt es dort:

    Im Jahr 1968 stellte das Bundessozialgericht fest: Sucht ist Krankheit. Seit 1975 ist durch die „Eingliederungshilfeverordnung“ festgelegt, dass Suchtkranke zu den Personen mit einer seelischen Behinderung zählen. Seit 2009 ist die UN Behindertenrechtskonvention in Deutschland verbindlich und geltendes Recht. Sie hat die Umsetzung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zum Ziel. Wenn ein Mensch durch seine Abhängigkeitskrankheit keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung hat oder er arbeitslos ist oder wird, gilt er nicht nur als krank, sondern auch als (vorübergehend) „behindert“ im Sinne der Sozialgesetzbücher IX und XII und hat Anspruch auf sozialrechtliche Leistungen zur Überwindung dieser Situation. Dieser Leistungsanspruch ist mit dem Teilhabekonzept der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) eng verbunden, da er eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigungen erfordert.

    Der Eintritt in Erwerbsarbeit, Tätigkeit oder Qualifizierung soll für die abhängigkeitskranke Person einen Rollenwechsel in die Welt positiver Zuschreibungen und der Anerkennung durch Arbeit einleiten. Damit sind gleichfalls positive Erwartungen verbunden, wie etwa die Wiederentdeckung vermeintlich verschütteter Bildungsressourcen oder auch des Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit und die damit zusammenhängenden Kompetenzen. Die Erarbeitung eines subjektiven wie objektiven „Wertes“ in der Arbeitsgesellschaft und nicht zuletzt die Aussicht auf eine selbstbestimmte, auskömmliche Sicherung der Existenz bilden zentrale Anreize für den beruflichen (Wieder-)Einstieg.

    In unserer modernen Arbeitsgesellschaft bildet Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Qualifikationen, Belohnungen und sozialen Einflussmöglichkeiten eine zentrale Basis für die Zuweisung von sozialem Status und von gesellschaftlichen Partizipationschancen. In den Arbeitsmarkt integriert zu sein, wird mit sozialer Teilhabe zunehmend gleichgesetzt, so dass im Umkehrschluss Arbeitslosigkeit mit sozialem Ausschluss verbunden wird.

    Für Abhängigkeitskranke assoziiert „Arbeit haben“ zudem den Ausstieg aus der Sucht. Es ist die Chance, eine bislang meist krisenhafte Berufsbiographie positiv und selbstbestimmt zu gestalten und einen „eigenen Weg“ zu finden. Dabei benötigen alle Teilhabebemühungen und Hilfeangebote positive Zukunftserwartungen für die Menschen, verbunden mit konkreten Chancen. Deswegen sind auch drogenpolitische Paradigmen alternativ zu etablierten Stigmata neu zu formulieren:

    Teilhabe an Erwerbsarbeit für Abhängigkeitskranke kann mithilfe von berufsbezogenen Unterstützungs-, Bildungs- und Beschäftigungsangeboten auch im Rahmen der Suchthilfe stärker als bisher möglich werden. Die vorliegende Arbeitshilfe wird vom grundlegenden Gedanken getragen, dass eine nachhaltige und selbstbestimmte berufliche Integration für Abhängigkeitskranke möglich ist. Suchthilfe muss ihre Adressaten*innen als aktiv an der Arbeitsgesellschaft teilhabende Menschen wahrnehmen und entsprechende Angebote bereitstellen. Das gibt ihnen auf dieser Basis die Möglichkeit, positive Zukunftserwartungen hinsichtlich Verdienst, Selbstwert, Zugehörigkeit und sinnvoller Tätigkeit zu entwickeln.

    Von der Seite der Arbeitsverwaltung und anderer staatlicher Institutionen wird Abhängigkeitskranken jedoch nicht selten mit einer eher defizitorientierten Perspektive begegnet. Sie sollen etwa ihre „Erwerbsfähigkeit wiedererlangen“ und alles hierbei „Hinderliche“ aus dem Weg räumen. Dadurch werden auch andere Fallbeteiligte dazu aufgefordert, jene Hürden in den Arbeitsmarkt zu identifizieren und mithilfe der „richtigen Instrumente“ abzubauen. So dringt diese Perspektive quasi-diagnostisch in die Biographien der Adressaten*innen ein und codiert dort mehrere Fragmente zu sog. Vermittlungshemmnissen um, etwa die Suchterkrankung, eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit, kein oder ein niedriger Bildungsabschluss, der gesundheitliche Zustand bis hin zur Familiensituation. Dieser Begriff erlangte als Defizitindikator für die Vermittlungswahrscheinlichkeit (vgl. Achatz & Trappmann 2011) eine zentrale Bedeutung; im Rahmen der sog. „Job-Perspektive“ wurde er gar zum diagnostischen Parameter, der den Bezug bestimmter Fördermöglichkeiten begründet.

    Aus Sicht der Betroffenen stellen Vermittlungshemmnisse nichts anderes als Spiegelbilder der Akzeptanzdefizite des Arbeitsmarktes dar, entlang derer die Arbeitsverwaltung den Handlungsbedarf für die jeweiligen Integrationsbemühungen vermisst und die die Grenzen der (regionalen) Integrationskultur zeigen.

    Für den Aufbau beschäftigungsbezogener Hilfeangebote stellt sich für die Suchthilfe die Aufgabe, beide Perspektiven zu reflektieren und in den Hilfeprozess zu integrieren. Denn meistens gehören Abhängigkeitskranke zu den Kunden*innen der Arbeitsverwaltung, denen ein besonders hohes Maß an Vermittlungshemmnissen zugesprochen wird und die damit als „schwer vermittelbar“ gelten.

    Beratungsstellen der Suchthilfe erreichen etwa eine halbe Million Menschen jährlich. Wenn etwa 50 Prozent von ihnen arbeitslos oder Sozialhilfebezieher sind müssen für mindestens 250.000 Menschen Angebote zur Teilhabe an Bildung und Arbeit gemacht werden. (…)

    Das Sozialrecht hat in den vergangenen Jahren den Anspruch abhängigkeitskranker Menschen auf Hilfe verbessert. Eingelöst wird dieser Anspruch jedoch nur zum Teil. Immer noch werden Abhängigkeitskranke diskriminiert und von Leistungen der Teilhabe an Arbeit ausgeschlossen. Insbesondere das Fehlen längerfristiger Perspektiven entmutigt viele Menschen und verschlechtert die Chancen zur Wiedereingliederung in Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Verlust der Arbeit führt zu ‚sinnlos‘ zur Verfügung stehender Freizeit. Dieses Aufweichen der Tagesstruktur wird nicht problemlos bewältigt.

    Die beruflichen Angebote in der Suchthilfe liefern den Hintergrund für die Nachhaltigkeit von bio-psycho-sozialen Hilfen. Sie müssen die Grundlage für Teilhabeplanung sein. (…)

    Literatur bei den Autor/innen

    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.: Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen. Eine Handreichung, fdr+texte Nr. 12, Berlin 2017.
    Die Broschüre kann zum Preis von 7 Euro beim fdr+ bestellt werden: www.fdr-online.info

    Kontakt:

    Jost  Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr)
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    Tel. 030/85 40 04 90
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

  • Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz

    Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO, 2005) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/WHO) erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen. Mit der ICF liegt ein personenzentriertes und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt berücksichtigendes Instrument der Hilfeplanung vor, mit dem sich alltagsrelevante Fähigkeiten und Einschränkungen in vereinheitlichter Sprache konkret beschreiben lassen.

    Durch eine detaillierte Klassifikation von Beeinträchtigungen ist es möglich, den Bedarf an professioneller Hilfe konkret zu beschreiben und eine passgenaue Hilfeplanung einzuleiten. Die ICF berücksichtigt individuelle Ressourcen und hat gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel, zwei Aspekte, denen auch in der Arbeit mit Suchtkranken eine entscheidende Bedeutung zukommt. Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen erreichen nicht zuletzt aufgrund einer besseren medizinischen und psychosozialen Betreuung ein durchschnittlich höheres Lebensalter. Abhängigkeitserkrankungen gehen oftmals mit funktionalen Problemen und Einschränkungen im Bereich der Alltagsbewältigung, der sozialen Beziehungen und der Erwerbstätigkeit einher (Schuntermann, 2011). Mit der Dauer der Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden physischen und psychischen Begleiterscheinungen steigen auch die Beeinträchtigungen von individuellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten. Im Bereich der Suchthilfe ist eine ausschließlich auf Psychodiagnostik basierende Betreuung/Behandlung in der Regel nicht ausreichend, da der Hilfebedarf der Klientel nicht adäquat abgebildet wird. Die Diagnose Sucht sagt alleine wenig über die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen aus. Selbst beim Vorliegen weiterer Diagnosen bei derselben Person lassen sich nur schwer valide Aussagen hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ableiten. Instrumente wie der Addiction Severity Index (ASI), der lange Zeit zur Standarddokumentation des Suchthilfeträgers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) in Frankfurt am Main zählte, liefern zwar Hinweise auf Belastungen und Beeinträchtigungen, jedoch keine auf den konkreten Hilfebedarf.

    ICF in der Suchthilfe

    Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen, die die Sucht auf das Leben eines Betroffenen ausübt, also auf die Mobilität, die Kommunikation, die Selbstversorgung, das häusliche Leben, die Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und das Erwerbsleben. Die Gesamtheit der Auswirkungen sowie das Zusammenwirken von Aktivitätsbeeinträchtigungen und Rollenanforderungen sollten im Rahmen einer professionellen Hilfeplanung berücksichtigt werden. Eine wirksame Rehabilitation benötigt umfassende Daten, um die Betreuung/Behandlung planen zu können. „Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen.“ (Fleischmann, 2011)

    Es geht nicht darum, nur Defizite zu lokalisieren, sondern auf der Grundlage der individuellen Ressourcen des Beurteilten die soziale Reintegration und gesellschaftliche Teilhabe unter Berücksichtigung der aktuellen Fähigkeiten zu fördern. Eine „Beeinträchtigung“ wird im Rahmen des ICF-Gesundheitsbegriffes nicht als Eigenschaft der Person interpretiert, sondern als funktionale Störung im Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt, was die Veränderbarkeit (gesundheits-)politischer und sozialer Verhältnisse miteinschließt.

    Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung, einem der zentralen Ziele der medizinischen Rehabilitation, wie es auch in den Empfehlungen zur „Beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) dargestellt wird (Koch, 2015). Wenn von Erwerbsbezug in der Rehabilitation die Rede ist, dann spielen berufsspezifische Fähigkeitsprofile eine wichtige Rolle, die sich mithilfe der ICF in sehr konkreter Weise abbilden und für den beruflichen Wiedereingliederungsprozess nutzbar machen lassen.

    Von Vorteil ist die ICF weiterhin in professionstheoretischer Hinsicht. Die einheitliche Sprache ermöglicht eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Einrichtungen, Disziplinen und Versorgungsbereichen sowie die Evaluation der Hilfemaßnahmen hinsichtlich der Zielerreichung und der Verringerung des Schweregrades der Beeinträchtigungen. Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden ‚Sprache‘ mit der Möglichkeit, das medizinische, suchtpsychiatrische und suchthilfespezifische Versorgungssystem stärker zu integrieren. Damit lässt sich eine bessere Nutzung von Synergien erreichen statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen.

    Vor diesem Hintergrund wird seit April 2015 in den Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) der ICF-basierte Fremdratingbogen Mini-ICF-APP („Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen“; Linden, Baron, Muschalla, 2009) eingesetzt. Erste Erfahrungen mit diesem Instrument werden im Folgenden vorgestellt.

    Datenerhebung und Auswertung

    Ziel des Einsatzes des Mini-ICF-APP ist es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Teilhabe- und Aktivitätsbeeinträchtigungen im Vordergrund der betreuten/behandelten Klientel stehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, individuelle und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung weiterzuentwickeln.

    Zudem soll festgestellt werden, ob zwischen unterschiedlichen Einrichtungstypen (stationäre Rehabilitation, ambulante Betreuung/Behandlung, Betreutes Wohnen), unterschiedlichen Konsummustern und den Konsument/innen verschiedener Hauptsuchtmittel (Cannabis, Opiate, Stimulanzien) signifikante Unterschiede hinsichtlich der im Alltag auftretenden Beeinträchtigungen deutlich werden. Am Ende des Artikels werden die Ergebnisse mit Blick auf die Suchthilfepraxis zur Diskussion gestellt.

    Das Instrument: Mini-ICF-APP

    Zwischenzeitlich liegen einige ICF-basierte Instrumente für den Indikationsbereich psychische Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen vor (Breuer, 2015). Eines dieser Instrumente ist das Mini-ICF-APP, ein Fremdbeurteilungsinstrument mit 13 Items zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. Die maßgebliche Bewertung des jeweiligen Klienten bzw. der Klientin in den 13 Fähigkeitsdimensionen findet durch den geschulten Bezugsbetreuer/die geschulte Bezugsbetreuerin statt. Beim Ausfüllen des Fragebogens werden alle zur Verfügung stehenden Informationen genutzt: anamnestische Angaben, fremdanamnestische Angaben, psychologische und testpsychologische Befunde ebenso wie Beobachtungen der Bezugsbetreuer/innen oder Mitteilungen durch den Klienten/die Klientin. Das Verfahren ermöglicht die einfache Erfassung des Hilfebedarfs in wesentlichen Bereichen. So kann mit dem Instrument eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß die betreffende Person in ihrer Fähigkeit zur Ausübung lebens- und berufsrelevanter Tätigkeiten beeinträchtigt ist.

    Das Mini-ICF-APP liefert neben der Erfassung des Hilfebedarfs auch die Möglichkeit, über eine Wiederholungsmessung die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu überprüfen. Die Skalierung zur Einschätzung der Fähigkeitseinschränkungen ist wie folgt strukturiert: 0 = keine Beeinträchtigung, 1 = leichte Beeinträchtigung, 2 = mittelgradige Beeinträchtigung, 3 = erhebliche Beeinträchtigung, 4 = vollständige Beeinträchtigung. Zusätzlich zum Mini-ICF-APP wird ein Deckblatt eingesetzt, das von JJ extra für den Arbeitsbereich der Suchthilfe entwickelt wurde. Mit dem Deckblatt werden soziodemografische Angaben, Angaben zum Erwerbsleben und zum Suchtmittelkonsum erfasst.

    Beschreibung der Stichprobe

    Seit Mitte 2015 wird in allen Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) das Mini-ICF-APP eingesetzt. Dazu zählen stationäre und ambulante Suchthilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen des Betreuten Wohnens. Der Rücklauf verwertbarer Fragebögen lag bis zum September 2016 bei N=1.243. Alle Bögen wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es gab keine Ausschlusskriterien.

    Die ICF-basiert beurteilten Klient/innen aller JJ-Einrichtungen sind im Durchschnitt 35,3 Jahre alt. 78,1 Prozent sind männlich, 21,9 Prozent weiblich. Nur 26,4 Prozent gingen im letzten Jahr einer beruflichen Tätigkeit nach. Eine psychiatrische Zusatzdiagnose liegt bei 31,2 Prozent der Personen vor. Die durchschnittliche Dauer der Abhängigkeit beträgt 14,9 Jahre. 38,4 Prozent der Befragten wurden zum Zeitpunkt der Messung substituiert. Das am häufigsten genannte Hauptsuchtmittel ist Heroin (45,9 Prozent), gefolgt von Cannabis (20,6 Prozent), Alkohol (13,9 Prozent), Amphetaminen (7,3 Prozent), Kokain (5,3 Prozent) und Sonstige (2,5 Prozent).

    Ergebnisse

    Im Folgenden (Tabelle 1) werden die Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen dargestellt (N=1.243).

    Tabelle 1: Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen

    Die Mittelwerte liegen größtenteils zwischen einer leichten und mittelgradigen Beeinträchtigung. Das impliziert, dass bei einem Teil der untersuchten Gruppe deutliche Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, die in vielen Fällen interventionsbedürftig sind. Am höchsten sind die Beeinträchtigungen in den Bereichen „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „ Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“. Vergleicht man die Beeinträchtigungswerte mit den Daten von Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken (N=213; Linden et al., 2015), die in den empirischen Studien zur Entwicklung des Mini-ICF-APP untersucht wurden, so treten die hohen Fähigkeitsbeeinträchtigungen der Klientel aus den Suchthilfeeinrichtungen von JJ noch deutlicher hervor. Während der Globalwert der 13 Items in der JJ-Untersuchung bei 1,58 liegt, ist er in der genannten Vergleichsgruppe mit 0,84 nur etwa halb so hoch.

    Beispiel: Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    Am Beispiel des Items „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, das am höchsten geratet wurde, lässt sich aufzeigen, wie schwer die Beeinträchtigungen konkret eingeschätzt wurden (Tabelle 2).

    Tabelle 2: Einschätzung des Items Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    34,6 Prozent der beurteilten Klient/innen sind in diesem Bereich mittelgradig beeinträchtigt, 21,5 Prozent sogar erheblich bzw. 3,7 Prozent vollständig. Die Einschätzung „mittelgradige Beeinträchtigung“ verweist auf „deutliche Probleme, die beschriebenen Fähigkeiten/Aktivitäten auszuüben“ (Linden et al., 2015, S. 5). Erhebliche und vollständige Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen bedeuten, dass die Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung so auffällig sind, dass die Unterstützung von Dritten notwendig ist.

    Bezogen auf das Item „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ bedeutet eine mittelgradige Beeinträchtigung nach der Definition der Autor/innen des Mini-ICF-APP: „Der Proband kann keine volle Leistungsfähigkeit über die ganze Arbeitszeit hin zum Einsatz bringen. Sein Durchhaltevermögen ist deutlich vermindert. Durch Nichterfüllung von Aufgaben ergibt sich ein reduziertes Leistungsniveau und gegebenenfalls Ärger mit dem Arbeitgeber oder Partner.“ Eine erhebliche Beeinträchtigung (21,5 Prozent der Klient/innen) bedeutet: „Um die Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, ist immer wieder Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder vom Partner erforderlich, die ihn auffordern oder ermutigen, bei der Sache zu bleiben oder weiterzumachen, oder die selbst gelegentlich eingreifen und zeitweise Arbeiten von ihm übernehmen.“ (Linden et al., 2015, S. 14)

    Folglich besteht in vielen Fällen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des individuellen Leistungsvermögens und vor allem auch hinsichtlich der Eigeninitiative. Dieser Unterstützungsbedarf ist in der individuellen Hilfeplanung zu berücksichtigen. Die Kenntnis solcher Fähigkeitsbeeinträchtigungen soll nicht nur zur Auswahl adäquater Hilfemaßnahmen führen, sondern auch zur realistischen Einschätzung der Fähigkeiten des Betreffenden beitragen, um zu verhindern, dass durch zu hohe Erwartungen – insbesondere im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung – strukturelle Überforderungssituation entstehen, die ihrerseits neue negativen Auswirkungen nach sich ziehen.

    Eine interne JJ-Untersuchung (N=189) mit dem ICF-basierten Selbstrating-Instrument ICF AT 50-Psych (Nosper, 2008), das ebenfalls die Dimensionen der Aktivität und Partizipation abbildet, zeigt ferner, dass die befragten Patient/innen sich selbst als deutlich weniger beeinträchtigt einschätzen. Mit Blick auf den therapeutischen Alltag bietet sich an, die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Patient/innen und der Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen zu thematisieren und die unterschiedlichen Einschätzungen der Fähigkeitsdimensionen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.

    Gruppenunterschiede

    Das Geschlecht und das Alter haben auf den Mini-ICF-Globalwert keinen signifikanten Einfluss, lediglich in einzelnen Bereichen: Männer sind im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ (1,47 vs. 1,17) sowie „Planung und Strukturierung von Aufgaben“ (1,71 vs. 1,43) höher belastet. Ältere haben höhere Beeinträchtigungen im Bereich „Selbstpflege“ und „Mobilität und Verkehrsfähigkeit“. Jüngere haben im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ größere Schwierigkeiten. Der Zusammenhang beschränkt sich auf einzelne Items. Einen globalen Einfluss auf den Schweregrad hat die Dauer der Abhängigkeit. Zwölf der 13 Items korrelieren in signifikanter Weise. Lediglich beim Item „Selbstbehauptungsfähigkeit“ ist die Dauer der Abhängigkeit nicht entscheidend.

    Tabelle 3: Einfluss der Dauer der Abhängigkeit auf den Beeinträchtigungsgrad

    Einfluss auf den Globalwert hat auch der Berufsstatus: Diejenigen, die während der letzten zwölf Monate vor Behandlungsbeginn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, weisen signifikant höhere Beeinträchtigungswerte auf. Ferner korrelieren die BORA-Stufen, denen insbesondere im Rahmen der stationären Rehabilitation eine wachsende Bedeutung zukommt, mit dem Schweregrad der ICF-spezifisch gemessenen Beeinträchtigungen.

    Globalwerte nach Einrichtungstypen

    Der Einsatz ICF-basierter Instrumente soll zur verbesserten Hilfeplanung beitragen. Insofern wurde auch untersucht, ob in verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und Hilfsangeboten spezifische Beeinträchtigungen festzustellen sind (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Globalwerte in verschiedenen JJ-Einrichtungen

    Die Werte entsprechen den Erwartungen und zeigen, dass die Einschätzungen in realistischer Weise erfolgen, was auch hohe Interrater-Reliabilität bestätigt. Ambulant betreute Klient/innen sind weniger beeinträchtigt als stationär Behandelte, was der Indikationsstellung entspricht. Besonders hoch sind die Beeinträchtigungswerte im Drogennotdienst, einer Einrichtung mit ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten, und in der Tagesstätte Rödelheimer Bahnweg. Zur Zielgruppe dieser Einrichtung zählen suchtkranke Männer und Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die in einem schlechten Allgemeinzustand und/oder chronisch krank sind und bei denen auf Grund der chronifizierten Suchtmittelabhängigkeit die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit meist nicht mehr möglich erscheint.

    Praktisch hilfreich wird das Ganze, wenn man sich die Einrichtungswerte in den einzelnen Fähigkeitsdimensionen anschaut. Unterschiede in den einzelnen Items zeigen an, wo der einrichtungsspezifische Hilfebedarf am größten ist. In der Einrichtung Rödelheimer Bahnweg mit dem höchsten Globalwert (2,18) liegt die Beeinträchtigung im Bereich „Proaktivität und Spontanaktivität“ bei 2,32. Dies verdeutlicht nicht nur, in welchem Bereich große Schwierigkeiten bestehen, sondern verweist zugleich darauf, dass Unterstützungs- und Förderungsleistungen im Bereich der Eigeninitiative, der häuslichen Aktivitäten und der Freizeitgestaltung anstehen.

    Im Betreuten Wohnen ist der Beeinträchtigungswert im Bereich „Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen“ mit 1,85 am höchsten. Der Verlust stützender familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und fortwährende gesellschaftliche Isolation prägen nicht selten die Lebenslage von langjährig Abhängigen. Im Betreuten Wohnen soll solchen Vereinsamungstendenzen entgegengewirkt und die gesellschaftliche Reintegration bewerkstelligt werden. Entsprechende Hilfsangebote sind zu forcieren.

    In der stationären Rehabilitation wurden die höchsten Beeinträchtigungswerte im Bereich „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ (2,06) festgestellt, was auf die Ambivalenz in Bezug auf Abstinenzbemühungen verweist. Bei der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit geht es darum, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, rational zu urteilen und unter Abwägung der Sachlage differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen – Fähigkeiten also, die im Falle einer Abhängigkeitserkrankung stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die anspruchsvolle und mitunter von Rückschlägen begleitete Aufgabe, sich gegen die Sucht und für ein abstinentes Leben zu entscheiden, scheint hier zum Ausdruck zu kommen.

    Hauptsubstanz

    Untersucht wurde außerdem, ob sich im Zusammenhang mit dem Hauptsuchtmittel Unterschiede hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades feststellen lassen (Tabelle 4). Verglichen wurden die Konsument/innen der Hauptsuchtmittel Opiate, Cannabis und Stimulanzien (Amphetamine und Kokain).

    Tabelle 4: Einfluss des Hauptsuchtmittels auf den Beeinträchtigungsgrad

    Auffällig ist zunächst, dass sich die Globalwerte kaum unterscheiden. Diese liegen bei 1,47 (Opiate), 1,44 (Cannabis) und 1,35 (Stimulanzien). Überraschend sind die Ergebnisse, weil in der Bezeichnung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen die Vorstellung mitschwingt, dass Cannabis eine in den Auswirkungen zu vernachlässigende Droge sei. Dies ist nach den hier angegebenen Werten nicht der Fall, im Gegenteil: Mehrere Beeinträchtigungen der Cannabiskonsument/innen werden im Vergleich mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit sogar höher eingeschätzt (s. Markierung in Tabelle 4).

    Verlaufsmessungen

    Das Mini-ICF-APP ermöglicht die Evaluation der Hilfemaßnahmen. Durch Verlaufsmessungen kann festgestellt werden, ob es zu Veränderung des Beeinträchtigungsgrades in den jeweiligen Fähigkeitsdimensionen kommt. Sofern der Klient/die Klientin längere Zeit in der Einrichtung betreut oder behandelt wird, findet drei bis fünf Monate nach der Ersterhebung eine Wiederholungsmessung statt. Eine erste Auswertung der Verlaufsmessung zeigt positive Veränderungen (Tabelle 5). Bei denjenigen, die eine längere Behandlung/Betreuung in Anspruch nehmen, bilden sich in allen Bereichen positive Trends ab, die – bis auf die Verkehrsfähigkeit – signifikant sind.

    Tabelle 5: Auswertung der Wiederholungsmessung

    Zusammenfassung

    Als Resümee der Einführung des Mini-ICF-APP ist zunächst festzuhalten, dass es einen erfreulich hohen Rücklauf von Fragebögen gibt. Das spricht nicht nur für die Akzeptanz des Instruments, sondern auch für seine Praktikabilität. Die Bögen sind weitgehend korrekt ausgefüllt, es gibt wenig Datenverlust.

    Die untersuchte Gruppe zeigt deutlich höhere Beeinträchtigungswerte als die Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken ohne Suchtdiagnose. Die Beeinträchtigungen sind in den Bereichen „Widerstand- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ am höchsten. Geschlechts- und altersspezifische Differenzen gibt es keine wesentlichen. Die Dauer der Abhängigkeit beeinflusst den Schweregrad der gemessenen Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen in direkter Weise. Berufsstatus und Schweregrad der Beeinträchtigung korrelieren ebenfalls. Auffällig hoch waren die Beeinträchtigungswerte der Cannabiskonsument/innen, was sich mit anderen Untersuchungen in diesem Bereich deckt. In den Einrichtungstypen lassen sich unterschiedliche Belastungen feststellen. Verlaufsmessungen zeigen, dass es zu Verbesserungen während der Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt.

    Diskussion

    1.) Das ICF-basierte Instrument Mini-ICF-APP ist im Suchtbereich einfach anwendbar, das bestätigen die Rückläufe sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen. Insgesamt bietet die Implementierung des Mini-ICF-APP ein positives Beispiel der ICF-Umsetzung im Suchtbereich. Die standardisierte Routinebeschreibung der funktionalen Gesundheit stellt eine sinnvolle Ergänzung zur medizinischen und psychologischen Diagnostik dar.

    2.) Der Hilfebedarf kann konkret beschrieben werden. Es werden Fähigkeitsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Aktivitäten und Teilhabe erfasst, beschrieben und bei der Betreuung bzw. Behandlung berücksichtigt, die bei einer rein medizinischen oder psychologischen Diagnostik nicht im Fokus stehen. Es kann auf der Grundlage des umfangreichen Datenmaterials differenziert werden nach:

    • Konsummustern
    • Dauer der Abhängigkeit
    • Einrichtungstypen
    • BORA-Stufen

    Die Aufbereitung der vereinsweit gesammelten Daten ermöglicht den Datenvergleich zwischen verschiedenen Behandlungsgruppen und Gesundheitsbereichen.

    3.) Die Beschreibung und Differenzierung des Hilfebedarfs erleichtert nicht nur die individuelle Hilfeplanung, sondern ermöglicht es auch, diesen Hilfebedarf bei der Etablierung schwerpunktmäßiger Angebote zu berücksichtigen. Mittelfristiges Ziel ist eine verbesserte Zuweisungspraxis bei der Weitervermittlung in passgenaue Behandlungsangebote. ICF-basierte Instrumente sollten bei der Feststellung des adäquaten Behandlungsbedarfs standardmäßig eingesetzt werden.

    4.) Mit Blick auf die zunehmend wichtiger werdende Erwerbsorientierung und berufliche Wiedereingliederung der Klientel in der Suchthilfe lassen sich mit dem Mini-ICF-APP die aus einer Krankheit resultierenden Fähigkeits- und Aktivitätsstörungen – im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen einer beruflichen Tätigkeit – konkret beschreiben. Dadurch, dass die Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF abgebildet wird, können Fähigkeiten beurteilt werden, die im Erwerbsleben zentral sind.

    5.) Die Aktivitäten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen eines Suchtkranken hängen stark mit seinem Konsumstatus zusammen. Dadurch, dass das Mini-ICF-APP keine explizit suchtspezifischen Items beinhaltet, kann der Einfluss des Konsumverhaltens auf die aktuellen Aktivitäten nicht abgebildet werden. Abhilfe schafft das zusätzlich eingesetzte JJ-Deckblatt. Außerdem entwickelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitarbeiter/innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der Suchtverbände ein „Core Set Sucht“. Einige Items lassen sich insbesondere bei neu betreuten Klient/innen im Fremdrating nur schwer beurteilen, der zusätzliche Einsatz von Selbstbeurteilungsinstrumenten wird empfohlen.

    6.) Die Verlaufsmessungen zeigen, dass Hilfemaßnahmen zur Verringerung des Schweregrades der Fähigkeitsbeeinträchtigungen führen. Die Evaluation und der Wirksamkeitsnachweis der durchgeführten Maßnahmen werden von den Leistungs- und Kostenträgern zunehmend erwartet. Die international anerkannte und standardisierte ICF-Diagnostik stellt eine große Hilfe dabei dar, durchgeführte Maßnahmen zu evaluieren.

    Literatur:
    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13

  • Drogenpatienten sind anders

    Drogenpatienten sind anders

    Andreas Reimer
    Andreas Reimer

    Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.

    Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen

    In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    • sind im Durchschnitt deutlich jünger,
    • sind häufiger arbeitslos,
    • sind häufiger Schulabbrecher,
    • haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
    • sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
    • haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
    • sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.

    Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.

    In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.

    Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.

    Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern

    Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.

    In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.

    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)

    Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.

    Die BORA-Empfehlungen

    Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.

    Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.

    Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil

    In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte  der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur  Zielerreichung können sein:

    • interne und externe Arbeitserprobung (Training),
    • Festlegung eines Trainingsbereiches,
    • Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
    • Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
    • PC-Schulung,
    • Bewerbungstraining,
    • Sozialberatung,
    • Vorstellung im Berufsförderungswerk.

    Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.

    In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

    Interne Trainingsfelder

    Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.

    Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).

    Anpassung der Personalausstattung

    Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.

    Kontakt:

    Andreas Reimer
    Deutscher Orden Ordenswerke
    Geschäftsbereich Suchthilfe
    Klosterweg 1
    83629 Weyarn
    andreas.reimer@deutscher-orden.de
    www.deutschordenswerke.de

    Angaben zum Autor:

    Andreas Reimer ist leitender Arzt im Geschäftsbereich Suchthilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, und Mitherausgeber von KONTUREN online.