Schlagwort: Arbeitsmarkt

  • Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung

    Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung

    1 Komplexität der Strukturen in der Suchthilfe

    Peter Schay

    Abhängigkeitserkrankungen verfestigen sich in seelischen und körperlichen Symptomen oder in krankhaften Verhaltensweisen. Sie werden verstanden als „krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch die [Rehabilitand*innen] nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind“ (G-BA 2007, zit. n. Brandt 2010, S. 381). Dementsprechend müssen die Rehabilitand*innen „dauerhaft gesundheitlich und sozial stabilisiert werden“ (Stöver 2011, S. 31 f.).

    Das Suchthilfesystem beinhaltet vielfältige Maßnahmen, die „die individuelle Lebenssituation [der Klientel] berücksichtigen und ihre individuellen Problemlagen, aber auch ihre Fähigkeiten und Ressourcen in den Mittelpunkt stellen.“ (Adlon, Wißmann 2020) In den unterschiedlichen Leistungssegmenten der Rehabilitation wird mit abhängigkeits- und/oder psychisch kranken Menschen das Problem bearbeitet und behandelt, dass ihre soziale Kompetenz (Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit) als Folge des häufig bereits im Kindes- und Jugendalter begonnenen Suchtmittelkonsums „verarmt“ ist. In der Rehabilitation werden ihre Fähigkeiten, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erfassen und zu verstehen, und die Fähigkeit, sich mitzuteilen, gefördert und unterstützt.

    2 Die Adaptionsbehandlung

    Die Adaptionsbehandlung (Phase II der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) wird als letzte Phase der stationären Rehabilitation durchgeführt und dient insbesondere dem Ziel, die Rehabilitand*innen „mit Leistungen zur Eingliederung“ zu fördern und zu integrieren. Ziel von Leistungen zur Teilhabe für abhängigkeitskranke Menschen ist es, diese zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu befähigen. Dazu gehören:

    • Erreichen und Erhaltung von Abstinenz
    • Behebung oder Ausgleich körperlicher und psychischer Störungen
    • möglichst dauerhafte Erhaltung beziehungsweise Erreichung der Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft

    2.1 Daten zur Adaptionsbehandlung aus der Basisdokumentation des FVS

    Der Fachverband Sucht e. V. (FVS) hat in seiner Basisdokumentation 2019 (FVS 2020) die Ergebnisse der Adaptionseinrichtungen umfassend dargestellt:

    Altersstruktur
    Die Prozentangaben beziehen sich jeweils auf 100 % der Männer bzw. 100 % der Frauen (d. h. sie addieren sich in der Spalte weiblich bzw. männlich jeweils zu 100 %). 

    • bis 19 Jahre: 0,9 % weiblich, 1,1 % männlich
    • 20 bis 29 Jahre: 24,7 % weiblich, 20,9 % männlich
    • 30 bis 39 Jahre: 35,0 % weiblich,36,1 % männlich
    • 40 bis 49 Jahre: 22,9 % weiblich, 25,3 % männlich
    • 50 bis 59 Jahre: 15,7 % weiblich, 15,5 % männlich
    • 60 Jahre und älter: 0,9 % weiblich, 1,1 % männlich

    Erwerbsstatus
    85,6 % der Rehabilitand*innen waren bei Behandlungsbeginn arbeitslos. 23,5 % haben Arbeitslosengeld I und 62,1 % Arbeitslosengeld II bezogen.

    Dauer der Abhängigkeit
    15,4 % der Rehabilitand*innen waren 1 bis 5 Jahre, 23,0 % waren 6 bis 10 Jahre, 38,6 % waren 11 bis 20 Jahre, 22,9 % waren mehr als 21 Jahre abhängig.

    Vorausgegangene Behandlungen
    67,9 % der Rehabilitand*innen hatten bis zu 20 Entgiftungen, 49,5 % einen qualifizierten Entzug und 100,0 % eine stationäre Entwöhnung (Phase I der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) absolviert.

    Psychische Diagnosen
    46,0 % der Rehabilitand*innen hatten eine oder mehrere psychische Diagnose: Depressionen F32, F33 und F34.1 = 29,2 %, Angststörung F40 und F41 = 4,1 %, Persönlichkeitsstörung F60 und F61 = 15,1 %.

    Somatische Diagnosen
    43,6 % der Rehabilitand*innen hatten eine somatische Diagnose: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen = F40-F48.

    Suizidale Handlungen
    23,2 % der Rehabilitand*innen hatten in einem länger als ein Jahr zurückliegenden Zeitraum suizidale Handlungen begangen, weitere 5,5 % im letzten Jahr vor der Aufnahme in der Adaption.

    Schulden
    66,5 % der Rehabilitand*innen hatten erhebliche Schulden.

    Leistungsfähigkeit am Behandlungsende
    Die Leistungsfähigkeit (6 Stunden und mehr) am Behandlungsende betrug bei den Rehabilitand*innen mit komorbider Depressionen 85,8 %, mit komorbider Angststörung 83,7 % und mit komorbider Persönlichkeitsstörung 85,6 %, gesamt 91,1 %.

    Berufliche Integration in den ersten vier Monaten nach Behandlungsende
    Vier Monate nach der Entlassung waren 57,8 % der Rehabilitand*innen arbeitslos, 19,2 % waren in Vollzeit beschäftigt, 8,7 % in Teilzeit. 5,2 % waren in einer Umschulungs-/Qualifizierungsmaßnahme. 3,8 % waren in einer Ausbildung und 1,3 % sind zur Schule gegangen.

    In der Basisdokumentation des FVS heißt es: „Um dieses Ergebnis würdigen zu können, sollen die Zahlen mit dem allgemeinen Vermittlungszahlen der Jobcenter in Relation gesetzt werden. Diese sind […] abhängig von der Anzahl der Vermittlungshemmnissen. […] Die Vermittlungsquote des Jobcenters liegt bei Personen mit drei oder vier Vermittlungshemmnissen bei 4,3 % bzw. 2,4 %“ (FVS 2020, S. 60). Dies belegt, dass Adaptionsbehandlungen in Bezug auf die berufliche Reintegration deutlich erfolgreicher sind als die üblichen Maßnahmen der Jobcenter.

    Die Vermittlungshemmnisse (Alter, Gesundheit, berufliche Qualifikation, Dauer der Arbeitslosigkeit u. a.) sind bei den meisten Rehabilitand*innen sehr ausgeprägt. Es ist zu befürchten, dass die Corona-Pandemie eine Vermittlung in eine existenzsichernde Arbeit deutlich schwieriger macht. Die Zahlen machen deutlich, dass insbesondere Leistungen der Eingliederung in Schule/Arbeit erbracht werden müssen.

    2.2 Ziele der Adaptionsbehandlung

    Die Adaption umfasst die Fortführung der medizinischen, psychotherapeutischen und sucht-therapeutischen Behandlung. Im Vordergrund steht neben der medizinischen Betreuung die psycho-therapeutische Aufarbeitung von Krisen, Rückfallsituationen und weiteren Problemlagen im Rahmen der Integration in den Erwerbsprozess und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ziel ist die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration – zum Beispiel durch externe Arbeits- und Belastungs-erprobung, Betriebspraktika sowie berufliche Bildungsmaßnahmen – und die Hinführung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung.

    Die Adaptionseinrichtungen erbringen somit den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Lebenswirklichkeit. Hier bietet sich die Möglichkeit, im Bereich des beruflichen Kontexts und der sozialen Interaktion auftretende Stärken zu fördern und Schwächen therapeutisch zu bearbeiten und zu kompensieren. In der rehabilitativen Behandlung abhängigkeitskranker Menschen wirkt das therapeutische Angebot der Adaptionseinrichtung festigend auf den Behandlungserfolg und somit nachhaltig auf die berufliche (Re-)Integration.

    3 Integrationspotential von Abhängigkeitskranken

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) hat konkrete Faktoren benannt, die sich auf das Integrationspotential von Abhängigkeitskranken auswirken (buss 2011):

    • Komorbide psychische oder körperliche Erkrankung (mit Einschränkungen in der Leistungs- und Belastungsfähigkeit)
      + insbesondere (traumabedingte) Angststörungen (ICD-10: F4) und Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1),
      + Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2), Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31), Ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.6), Abhängige Persönlichkeitsstörung (F60.7), Narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.8),
      + Kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen (F61),
      + Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F19.71),
      + Störungen des Sozialverhaltens (F92.0),
      + Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (F90.0, F98.8)
      + Rezedivierende depressive Störungen (F33).
    • Geringe psychosoziale Kompetenz mit erheblichen Teilhabestörungen
    • Inkonstanz der psychosozialen Entwicklung mit Bindungsstörung, sozialer Entwurzelung, Vernachlässigung oder Delinquenz
    • Fehlende Persönlichkeits‐ und Lebensentwürfe, Sozialisationsdefizite, fehlende soziale Einbindung
    • Langzeitarbeitslosigkeit
    • Keine Berufsausbildung oder Berufserfahrung, kein Facharbeiterstatus
    • Vermittlungshemmnisse, bspw. kein Schulabschluss, geringe berufliche Kenntnisse, fehlende Arbeitsorientierung, Probleme im Bereich sozialer Beziehungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder psychische Belastungen, Ver-/Überschuldung, reduzierte Fähigkeit zur Selbstverantwortung
    • Zusätzliche Schwierigkeiten, die bei ausländischen Rehabilitanden häufig den beruflichen Integrationsprozess erschweren, bspw. Probleme mit der deutschen Sprache und Klärung des Aufenthaltsstatus

    Um die Hemmnisse wirksam und effizient bearbeiten zu können, müssen alle notwendigen Maßnahmen in die Gesamtplanung der Adaptionsbehandlung konsequent eingebunden werden. Dementsprechend sind zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und zur beruflichen (Re-)Integration die unten aufgezählten Aspekte a) bis i) zu berücksichtigen. Die einzelnen Aspekte werden ausführlich in dem vom Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe herausgegebenen Handbuch „Die Adaptionsbehandlung“ (Koch, Schay, Voigt 2017, S. 41-43) beschrieben:

    a) Medizinische und psychotherapeutische Behandlung

    b) Beruflich orientierte Eingangsdiagnostik

    c) Prüfung der persönlichen Voraussetzungen

    d) Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Agentur für Arbeit / Vermittlung in Maßnahmen

    e) Interne Belastungserprobung

    f) Vermittlung eines externen berufsorientierenden Praktikums

    g) Vermittlung in Qualifizierungsmaßnahmen

    h) Vermittlung in Schulen

    i) Hilfe bei Bewerbungen

    4 Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung

    Die vorrangige Zielsetzung der Adaptionsbehandlung ist grundsätzlich die (Wieder-)Heranführung der Rehabilitand*innen an den allgemeinen Arbeitsmarkt, d. h., „jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen qualifiziert, umfassend und entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen mit dem Ziel der Eingliederung und/oder Ausbildung zu unterstützen“ (Jobcenter Mecklenburgische Seenplatte Nord 2021). Vermittlungshemmnisse sollen möglichst weitgehend behoben und die notwendigen Integrationsstrategien entwickelt werden.

    „Dieser Leistungsanspruch ist eng mit dem Teilhabekonzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) verbunden. Danach ist eine alleinige biomedizinische Krankheitsbetrachtung (Diagnose und Befunde) nicht ausreichend, sondern eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigung erforderlich.“ (GVG 2010, S. 18)

    „Die vorrangige Zielsetzung von öffentlich geförderter Beschäftigung ist die (Wieder-) Heranführung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen an den allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie dient insbesondere dazu, […] die ‚soziale‘ Integration zu fördern als auch die Beschäftigungsfähigkeit aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen und damit die Chance zur Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu erhöhen.“ (Bundesagentur für Arbeit 2009, S. 2)

    „Die Maßnahmeinhalte sind an den Bedarfslagen der identifizierten Zielgruppen auszurichten und auf die individuellen Erfordernisse und Bedürfnisse der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen abzustimmen. Die Maßnahmeinhalte müssen zumindest mittelbar zur Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hinführen (‚erste Stufe einer Integrationsleiter‘).
    AGH MAE [Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung] sind inhaltlich so auszugestalten, dass Teilnehmer/innen über die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft hinaus auch in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung gefördert werden (z. B. durch feste Ansprechpartner beim Maßnahmeträger, geeignete Qualifizierungselemente, Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche, Bewerbungstraining, Praktika).“ (Bundesagentur für Arbeit 2009, S. 8)

    Das Ziel der Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Integration in der Adaptionsbehandlung besteht in der Optimierung der persönlichen Fähigkeiten, um den Ansprüchen des Arbeitsmarktes zumindest teilweise gerecht werden zu können, und in der Unterstützung durch Motivationsarbeit. Um diese Zielsetzung erreichen zu können, müssen medizinische Behandlung, medizinische Rehabilitation, berufliche (Re-)Integration und soziale Integration als ganzheitliches Geschehen verstanden werden und wirksam ineinandergreifen.

    Die „frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitand*innen, arbeitsbezogene Ressourcen, individuelle Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten (BORA-Empfehlungen 2014, S. 23).

    4.1 Gesetzliche Bestimmungen nach dem SGB II

    Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat im Juni 2020 seine Rechtsauffassung zur „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ nach dem SGB II veröffentlicht. Ziel ist die Eingliederung in Arbeit. Um dies zu erreichen, können folgende Maßnahmen durchgeführt werden:

    • Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung
    • Förderung der beruflichen Weiterbildung einschließlich des Nachholens des Hauptschulabschlusses
    • Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben
    • Leistungen zur Eingliederung (Eingliederungszuschüsse)
    • Förderung der Berufsausbildung benachteiligter junger Menschen

    Zur Umsetzung der Maßnahmen können verschiedene Eingliederungsleistungen nach dem SGB II in Anspruch genommen werden (vgl. BMAS 2020). Dazu zählen:

    Kommunale Eingliederungsleistungen
    In § 16 a SGB II werden u. a. Sucht- und Schuldnerberatung sowie psychosoziale Betreuung gefördert.

    Einstiegsgeld
    Gefördert wird die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die mit einer wöchentlichen Arbeitszeit ausgeübt werden muss. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate; es besteht kein Rechtsanspruch.

    Förderung von Arbeitsgelegenheiten
    Für Rehabilitand*innen, bei denen eine unmittelbare Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich ist, kann diese Förderung ist Anspruch genommen werden. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate innerhalb von fünf Jahren.

    Eingliederung von Langzeitarbeitslosen
    Diese Leistung kommt in Betracht für Rehabilitand*innen, die mindestens zwei Jahre arbeitslos sind, und soll die Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses fördern. Gefördert werden können Arbeitsverhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate. Im ersten Jahr der Beschäftigung beträgt der Lohnkostenzuschuss pauschal 75 % und im zweiten 50 % des zu berücksichtigenden Arbeitsentgeltes. Zur Stabilisierung der Beschäftigten findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung statt („Coaching“).

    Teilhabe am Arbeitsmarkt
    Ziel dieser Förderung ist, dass besonders arbeitsmarktferne Menschen durch eine öffentlich geförderte Beschäftigung soziale Teilhabe erreichen (vgl. §§ 16e und 16i SGBII). Gefördert werden können erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr vollendet haben und/oder schwerbehindert sind.
    Diese Leistung gem. § 16i SGB II kommt in Betracht, wenn die/der Rehabilitand*in mindestens sechs Jahre innerhalb von sieben Jahren Leistungen nach dem SGB II bezogen hat und nur kurzzeitig erwerbstätig war. Bei Leistungsberechtigten, die mindestens ein minderjähriges Kind haben, werden nur die letzten fünf Jahre betrachtet. Die Ableistung eines Bundesfreiwilligendienstes oder eines Jugendfreiwilligendienstes wird „aufgrund der besonderen Zielrichtung und der Ausgestaltung im Sinne des § 16i Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II“ nicht als Beschäftigung abgerechnet.
    Der Lohnkostenzuschuss wird bis zu fünf Jahre gewährt; in den ersten zwei Jahren werden 100 % erstattet, ab dem dritten Jahr sinkt er um jeweils 10 %. Zur Stabilisierung der Beschäftigten findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung statt („Coaching“), und es können für eine „Förderung einer Qualifizierung“ bis zu 3.000 Euro bezuschusst werden.
    Bei Leistungsberechtigten, die gem. § 16e SGB II im Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ beschäftigt waren, wird generell eine Förderung nach § 16i SGB II nicht ausgeschlossen. Die vorhergehende Förderung wird auf die Förderungsdauer und Förderungshöhe nach § 16i SGB II eingerechnet.

    Leistungen der Freien Förderung
    Die Handlungsmöglichkeiten für eine individuelle Unterstützung der Rehabilitand*innen werden durch diese Leistung deutlich verbessert. Die Leistungen dienen der Aktivierung, Stabilisierung oder Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Insbesondere jugendliche erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen können weitergehend gefördert werden.

    Förderung schwer zu erreichender junger Menschen
    Ziel dieser Leistung ist, junge Menschen in einer schwierigen Phase zu unterstützen und sie (zurück) in Maßnahmen der Bildung, Arbeitsförderung, Ausbildung oder Arbeit zu holen.

    Nachgehende Betreuung
    Diese Leistung der Stabilisierung der Beschäftigungsaufnahme kann je nach Einzelfall erbracht werden, bspw. in Form von Beratung. Die Förderungsdauer beträgt 6 Monate nach Beschäftigungsaufnahme.

    Das BMAS hat keine Aufsichtsbefugnisse gegenüber dem Jobcenter in kommunaler Trägerschaft. Die Aufsichtsbehörde liegt bei den Landesbehörden. Die Adaptionseinrichtungen müssen mit ihrem örtlichen Jobcenter Kooperationsvereinbarungen abschließen, um für ihre Rehabilitand*innen Förderungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen zu können.

    4.2 BORA – Berufliche Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Da die „besondere Zielgruppe“ suchtmittelkonsumierender bzw. suchtmittelabhängiger Menschen (nach Maßgabe von § 3 SGB II) von besonderen Vermittlungshemmnissen gekennzeichnet ist, müssen im Behandlungskontext Maßnahmen zur Verbesserung der Chancen auf schulische und berufliche (Re-)Integration sichergestellt werden. Die vorrangige Zielsetzung dabei ist die erstmalige oder erneute Heranführung an den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die einzuleitenden Maßnahmen müssen „dem gesetzlichen Auftrag [dienen], Menschen in Arbeit zu integrieren. Sie bieten die Möglichkeit, Ursachen des Suchtverhaltens zu erkennen und Hilfestellung in Situationen zu geben, in denen ohne Betreuung Rückfälle drohen. Darüber hinaus schaffen sie die Möglichkeit der Tagesstrukturierung und verringern die Gelegenheit zum Suchtmittelkonsum und -verhalten.“ (Leune 2009, S. 22)

    Wegen der großen Bedeutsamkeit der beruflichen (Re-)Integration bei Abhängigkeitserkranken hat die DRV in Kooperation mit den Fachverbänden (buss, fdr, FVS) eine Arbeitsgruppe zur beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter (BORA) etabliert und als Ergebnis 2014 Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs veröffentlicht (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 2 ff.).

    Die BORA-Empfehlungen unterscheiden zunächst zwischen Rehabilitand*innen mit bestehendem Arbeitsverhältnis und Rehabilitanden, die ohne Beschäftigungsverhältnis sind. Besteht ein Arbeitsverhältnis, liegt der Schwerpunkt auf dem Erhalt des Beschäftigungsverhältnisses und der Beseitigung von am Arbeitsplatz existierenden Problemlagen. Hier kann die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber eine förderliche Funktion einnehmen. Bei arbeitslosen Rehabilitanden steht die Entfaltung einer persönlichen beruflichen Perspektive im Vordergrund. Eine rechtzeitige Kooperation mit den unterschiedlichen Leistungsträgern (bspw. Jobcenter, Agentur für Arbeit) ist dabei zwingend notwendig (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 3). Die BORA-Empfehlungen unterscheiden insgesamt fünf Zielgruppen, die in Abbildung 1 im Einzelnen dargestellt sind:

    Abb. 1: Die fünf BORA-Zielgruppen (Schay 2021)

    Diese fallgruppenspezifische Orientierung dient zur Umsetzung von therapeutischen Angebots- und Leistungsstrukturen. Dabei ist eine individuelle und eine bedarfsorientierende Therapieplanung notwendig (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 12).

    In der Adaptionsbehandlung werden überwiegend Rehabilitand*innen der Zielgruppe 3 und 4 behandelt, bei denen der Schwerpunkt u. a. auf Motivationsarbeit, Abstinenzfestigung, Umgang mit negativen Rückmeldungen und Ereignissen sowie der Einleitung weiterer Maßnahmen liegen muss (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 20, BMAS 2015). Die arbeitsbezogenen Interventionen in dieser Behandlungsphase – wie die interne/externe Belastungserprobung – sollen eine gezielte Indikation und therapeutische Zielsetzung einschließen (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, 13 f.), um den Erwerb oder die Verbesserung verschiedener Kompetenzbereiche erreichen zu können. Dabei sind drei Grundebenen zu beachten:

    • Grundarbeitsfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten
    • Selbstbild

    4.3 Rechtliche Würdigung der Leistungen zur Eingliederung in der Adaptionsbehandlung

    Die mit der DRV abgestimmten und genehmigten Konzepte der stationären Adaptionseinrichtungen und die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 06.09.2007 (B14/7b AS 16/07 R – BSGE), vom 02.12.2014 (B14 AS 35/13 R RdNr. 20) und vom 03.09.2020 (B14 AS 41/19 R) bestätigen eindrücklich die Auffassung, dass für die Gewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II nicht maßgebend ist, ob die/der Leistungsberechtigte in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, sondern ob sie/er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich bzw. 15 Stunden wöchentlich ausüben kann (vgl. § 7 Abs. 4, Pkt. 2 SGB II).

    5 Berufliche Aktivitäten und Teilhabe in der Adaptionsbehandlung

    Mit „berufliche Aktivitäten und Teilhabe“ werden die Maßnahmen beschrieben, die in Adaptionseinrichtungen zur Förderung der beruflichen (Re-)Integration durchgeführt werden.

    „Arbeitsbezogene Leistungen sind […] individuell, umfassend, zielorientiert und so konkret, wie es für den Individualfall nötig ist, realistisch, flexibel und gemeinsam mit den Rehabilitanden zu planen und schlüssig, ergebnisorientiert durchzuführen.“ (Wiegand 2012, S. 46)

    Zu Beginn der Adaptionsbehandlung liegt der Fokus auf der Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten. Bei ausreichender Stabilität und Leistungsfähigkeit werden die Rehabilitanden in eine Belastungserprobung oder ein betriebliches Praktikum vermittelt. Im Rahmenkonzept der DRV (2019, S. 10) heißt es: „Aufgabe dieser Maßnahmen ist, die Fähigkeit der Rehabilitanden im Bereich Arbeitshandlungen zu erweitern und zu verbessern“. Hierbei sind insbesondere folgende Maßnahmen wichtig:

    • Maßnahmen zur Stärkung von Ausdauer und Motivation
    • Maßnahmen zur Erweiterung der sozialen Kompetenz und zur Entwicklung von Eigeninitiative am Arbeitsplatz wie auch im alltäglichen Leben
    • Hilfen zur Problembewältigung am Arbeitsplatz
    • Hilfen zur Überprüfung von Selbsteinschätzung und Fremdbeurteilung

    Das Schaubild „Verlaufsmodell der beruflichen (Re-)Integration in der Adaptionsbehandlung“ (Abb. 2) zeigt die „konzeptionellen Akzentuierungen zur beruflichen und sozialen (Re-)Integration“ in der Adaptionsbehandlung (vgl. Koch, Schay, Voigt 2017, S. 66).

    6 Schlussbemerkungen

    Die Leistungen zur Unterstützung von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Erwachsenen mit Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf stellen einen gleichberechtigten Zugang zur sozialen Teilhabe sicher. „Hierzu bedarf es teilhabeorientierter, trägerübergreifender und individueller passgenauer Unterstützungssettings, die auf der Grundlage eines Reha-Managements in den verschiedenen Systemen der beruflichen Ausbildung […] eingesetzt werden können.“ (BAG BBW 2014, S. 3)

    Das Ziel der Verbesserung der sozialen Teilhabe muss in der Adaptionsbehandlung entsprechend bei arbeitsmarktintegrativen Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 45 SGB III durch das Hilfesystem konsequent verfolgt werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil durch die Forschung gut belegt ist, dass Arbeitslosigkeit ein erheblicher Risikofaktor ist, der die Entwicklung bzw. Verschlimmerung von Suchtproblemen begünstigen kann (vgl. Henke 2019).

    Die Rehabilitand*innen müssen sich darauf verlassen können, dass sie von den Mitarbeiter*innen der Adaptionsbehandlung konsequent in ihren Möglichkeiten der sozialen und beruflichen Teilhabe unterstützt zu werden.
    Es muss schrittweise in der Behandlung möglich sein, ihre Einstellung zur „Eingliederung in Arbeit“ zu hinterfragen und ggf. zu ändern, um eine mögliche berufliche Perspektive zu entwickeln.
    Voraussetzung dafür ist eine enge und verbindliche Kooperationsvereinbarung zwischen der Einrichtung und dem Jobcenter, um alle Leistungen für die Rehabilitand*innen nutzen zu können.

    Die systematische Umsetzung entsprechender Maßnahmen ist von grundlegender Bedeutung, da ALG-II-Bezieher überwiegend nur geringe Integrationschancen haben. Die hochbelastete Gruppe der Menschen mit vielfältigen Vermittlungshemmnissen (hier: Abhängigkeits- und psychisch Kranke) bedarf entsprechender Unterstützung und Begleitung (vgl. Henke 2019, S. 40 f.).

    „[…] die Stärkung der beruflichen Wiedereingliederung von Suchterkrankten muss deutlich verbessert und dauerhaft sichergestellt sein.“ (Blienert et. al. 2021)

    Kontakt:

    Peter Schay
    c/o Kadesch gGmbH
    Martinstraße 1
    44652 Herne
    pschay@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Peter Schay: M.Sc. Integrative Psychotherapie, Dipl. Supervisor,  Approbation als KuJ-Psychotherapeut, Erlaubnis zur Psychotherapie nach dem HPG. Peter Schay war 25 Jahre Geschäftsführer der Kadesch gGmbH Herne, die für junge Menschen mit Abhängigkeitserkrankung die Angebote der sozialen und medizinischen Rehabilitation vorhält.

    Literatur:
    • Adlon, N., Wißmann, R. (2020): Vorwort, in: Seitenwechsel. Arbeitskreis der Arbeitsmaßnahmen für Menschen mit Suchterkrankungen in NRW, hrsg. v. Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW, Paderborn, S. 5-7
    • Blienert, B., Niermann, K.-F. (2021): Warum es Zeit ist, Cannabis zu legalisieren, in: „Die Welt“, 26.10.2021, Hamburg
    • BORA-Empfehlungen (2014): Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14. November 2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA). Online verfügbar unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Reha-Einrichtungen/Grundlagen-und-Anforderungen/Konzepte-und-Positionspapiere/konzepte_positionspapiere.html
    • Brandt, C. (2010): Soziale Formen psychotherapeutischen Verstehens, in: Psychotherapeutenjournal 4/2010, Psychotherapeutenverlag, Verlagsgruppe Huthig Jehle Rehm GmbH, Heidelberg, 381-389
    • Bundesagentur für Arbeit (2009): SGB II – Arbeitshilfe Arbeitsgelegenheiten (AGH) nach § 16d SGB II (Stand: 07/2009)
    • Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke e. V. (BAG BBW) (Hg.) (2014): Der junge Mensch im Mittelpunkt: Reha-Erstausbildungen für junge Menschen mit Behinderung und komplexem Unterstützungsbedarf. Ein Beitrag zur Diskussion des Bundesteilhabegesetzes
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015): Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz – Abschlussbericht, Berlin
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2020): Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, in: https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Grundsicherung-Arbeitslosengeld-II/Beratung-und-Vermittlung/eingliederungsleistungen.html
    • Bundessozialgericht (BSG) (2007): Urteil vom 06.09.2007 – B14/7b AS 16/07 R – BSGE – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kassel
    • Bundessozialgericht (BSG) (2014): Urteil vom 02.12.2014 – B14 AS 35/13 R Rd.Nr. 20 – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kassel
    • Bundessozialgericht (BSG) (2020): Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 41/19R – Grundsätze für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung – Aufenthalt zur Entwöhnungsbehandlung in einem Adaptionshaus – Gesamtverantwortung für die alltägliche Lebensführung – Einflussnahme der Einrichtung nach dem Therapiekonzept, Kassel
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) (2011): Workshop „Arbeitsmarktintegration“: Zielgruppen der Therapie – Zielgruppen der Arbeitswelt. Veranstaltung am 29.11.2011 in Kassel, Präsentation online verfügbar unter: http://www.suchthilfe.de/veranstaltung/workshop/arbeitsmarktintegration/4_zielgruppen.pdf
    • Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2012): Anforderungsprofil zur Durchführung der Medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung
    • Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2019): Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung zur Adaption in der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen vom 27. März 2019
    • Fachverband Sucht e. V. (FVS) (2020): Basisdokumentation 2019. Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e. V., Reihe: Qualitätsförderung in der Entwöhnungsbehandlung Band 27, Bonn
    • Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG) (2010): Die medizinische Rehabilitation – Ein Überblick, Schriftenreihe Bd. 66, Köln
    • Henke, J., Henkel, D., Nägele, B., Wagner, A. (2019): Erhebung von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben nach dem SGB II. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der Jobcenter, in: Suchttherapie 2019, 20: 39-47
    • Jobcenter Mecklenburgische Seenplatte Nord (2021): Beratung und Vermittlung, Fallmanagement im Jobcenter, in: https://www.jobcenter-ge.de/Jobcenter/MSE-Nord/DE/Beratung-Vermittlung/Fallmanagement/fallmanagement_node.html
    • Koch, A., Schay, P., Voigt, W. (Hg.) (2017): Die Adaptionsbehandlung. Handbuch zur zweiten Phase der stationären medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitskranken, Lengerich
    • Leune, J. (2009): Arbeit und Beschäftigung als zentrale Integrationsaufgabe, in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.): Krise als Chance, Forum Sucht, Band 42, ISSN 0942-2382, Münster, S. 18-28
    • Sozialgesetzbuch (SGB) zweites Buch (II) (2021): Grundsicherung für Arbeitsuchende, in: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/BJNR295500003.html
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    • Wiegand, G. (2012): Die Bedeutung der beruflichen Teilhabeförderung bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker aus Sicht eines Vertreters eines regionalen Leistungsträgers, in: SuchtAktuell, Zeitschrift des Fachverbandes Sucht e. V., Jg. 20/01.13, Bonn, S. 44-48
  • Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur

    Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur

    Einleitung

    Mit der Entwicklung und Veröffentlichung der BORA-Empfehlungen im Jahr 2015 ist im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen die berufliche Integration im Rahmen der Medizinischen Rehabilitation deutlicher als bisher in den Fokus gerückt, auch wenn das Thema Arbeit bislang schon einen traditionell hohen Stellenwert in der Suchtbehandlung hatte (Köhler, 2009). Die Reha-Einrichtungen waren aufgefordert, durch Ergänzung ihrer Rehabilitationskonzepte die Analyse und Förderung der Integrationspotentiale der Rehabilitand*innen weiterzuentwickeln. Die Einführung von BORA unterstreicht die Notwendigkeit in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker, den Fokus auf die berufliche Wiedereingliederung zu legen, neben den anderen relevanten Teilhabezielen und der Förderung der Abstinenz.

    Die verstärkte berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation darf aber nicht fälschlicherweise mit einer Abkehr von der Psychotherapie gleichgesetzt werden. Allerdings gelingt die Vernetzung mit der regionalen Agentur für Arbeit oder mit den lokalen Jobcentern trotz beeindruckender Abstinenzquoten nicht in allen Fällen (Kobelt et al., 2017). Bei vielen Rehabilitand*innen führt ein möglicherweise biografisch bedingtes Überforderungsgefühl oder eine nicht genügend ausgeprägte Resilienz dazu, dass ein konstruktiver Umgang mit Stresssituationen, Selbstwertproblemen oder mangelnder Gratifikation erschwert wird. Ebenso sind die Auflösung von konkurrierenden Belastungssituationen zwischen Arbeit und Familie, von Konflikten mit Kolleg*innen oder Vorgesetzten sowie eine ausgewogene Selbstorganisation große Herausforderungen. Die differenzierte und individualisierte Therapieplanung in den Einrichtungen trägt diesen Aspekten Rechnung. Persönlichkeitsstrukturelle Anteile der Rehabilitand*innen werden dabei ebenso thematisiert und bearbeitet wie die Kontextbedingungen der bestehenden Arbeitsplatzverhältnisse (Kobelt et al., 2017, Baumeister, 2016, Buruck et al., 2016). Die Realität der Arbeitswelt hat in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten eine wichtige Bedeutung und wird unmittelbar in die Therapie integriert. Die Rehabilitand*innen sollen sich durch den mehrwöchigen Aufenthalt in der Klinik kein schützendes Idyll alternativ zur Suchterkrankung aufbauen, in dem die Probleme des Alltags ausgespart bleiben (Baumeister, 2016).

    In § 42 SGB IX werden die Ziele in ein rein medizinisches Ziel (Abwendung, Beseitigung, Minderung, Ausgleich vorhandener Behinderung/chronischer Krankheiten) und ein Teilhabeziel unterteilt. Drittes Ziel ist dann die möglichst dauerhafte Wiedereingliederung (BSG vom 29.01.2008 B 5a/5 R 26/07 R). Das Rehabilitationsziel soll also mit einer Kombination von medizinisch-therapeutischen Maßnahmen zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit einerseits und der dauerhaften Wiedereingliederung ins Erwerbsleben andererseits erreicht werden.

    Forschungslage zum Wiedereingliederungserfolg nach Entwöhnungsbehandlung

    Obwohl die berufliche Wiedereingliederung ein wichtiges Ziel der Entwöhnungsbehandlung darstellt, gibt es bisher nur wenige Arbeiten, die sich  mit dem Wiedereingliederungserfolg nach der Entwöhnungsbehandlung in Leistungsträgerschaft der Deutschen Rentenversicherung beschäftigen; gleichzeitig finden sich nur wenige empirische Hinweise darauf, welche personen- oder kontextbezogenen Faktoren die berufliche Wiedereingliederung begünstigen. Buschmann-Steinhage und Zollmann (2008) konnten zeigen, dass der Beschäftigungsstatus zum Zeitpunkt der Antragsstellung den Arbeitsstatus zwei Jahre nach Beendigung der Entwöhnungsbehandlung vorhersagen kann, d. h., dass die Erwerbssituation durch die Reha-Maßnahme mindestens stabil gehalten werden kann. Als ergänzende Prädiktoren wurden die Wohnregion, der Bildungsstatus, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des zuletzt erzielten Arbeitsentgeltes identifiziert. Gerade bei abhängigkeitserkrankten Menschen, die aus einem Beschäftigungsverhältnis in die Entwöhnungsbehandlung kommen, ist die Chance im Vergleich zu arbeitslosen Personen um 50% erhöht, dass sie auch nach der Rehabilitation einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen (Kobelt et al., 2019). Bachmeier (2019) konnte zeigen, dass die Quote der Erwerbstätigen im Katamnesezeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung um ca. 8% gegenüber dem Status zu Behandlungsbeginn gesteigert werden konnte (von 46,2% auf 54,3%). Entsprechend sank die Erwerbslosigkeitsquote um über 10% (von 33,3% auf 22,9%). Auch die Arbeitsunfähigkeitszeiten reduzierten sich im Katamnesezeitraum im Vergleich zum Zeitraum vor der Behandlung deutlich.

    Dennoch stellt eine Abhängigkeitserkrankung ein erhebliches Risiko für den Arbeitsplatzverlust dar, wobei der Anteil beruflich gering Qualifizierter in dieser Population besonders hoch ist (Henkel, 2011). Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Entwöhnungsbehandlung auf dem Arbeitsmarkt wieder eingegliedert zu werden, sank für Rehabilitand*innen ohne qualifizierten Berufsabschluss um 83% gegenüber der Vergleichsgruppe mit relevanten Qualifikationen (Bestmann, 2019). Auch in früheren Studien wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Humankapitalinvestitionen, die Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt mitbringen, wie Berufsausbildung und tätigkeitsspezifische Kenntnisse und Erfahrungen, die entscheidende Größe für die Aufnahme bzw. auch monetäre Bewertung einer Arbeitstätigkeit darstellen (Achatz et al., 2011).

    Zudem steigt das Risiko, nach der Entwöhnungsbehandlung erwerbslos zu sein, um 70% an, wenn weitere psychische Erkrankungen bspw. eine Depression vorliegen (Kobelt et al., 2019; Bestmann 2019). Für Arbeitgeber ist die körperliche und psychische Gesundheit eine Versicherung für Stabilität und Leistungsvermögen. Bestehende körperliche, psychische oder Abhängigkeitserkrankungen erschweren so die erfolgreiche Bewerbung auf ein Stellenangebot (Dietz, 2009).

    Werden lediglich versicherungskontenbezogene Katamneseergebnisse berücksichtigt, die die Veränderung der Beitragszeiten aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung widerspiegeln, zeigt sich, dass sich nach einer Entwöhnungsbehandlung die Erwerbstätigkeit der Rehabilitand*innen nur geringfügig verbessert (Kobelt et al., 2019). Auch zwei bzw. drei Jahre nach der letzten Entwöhnungsbehandlung ändert sich an diesem Status wenig (Bestmann, 2019). Je länger die Erwerbslosigkeitszeiten vor der Entwöhnungsbehandlung sind, desto mehr sinkt die Chance auf eine berufliche Wiedereingliederung (Bestmann, 2019). Dabei ist zu beachten, dass diese Entwicklungen keine Bewertung der Leistungsfähigkeit der Entwöhnungsbehandlung zulassen, sondern auf zahlreiche Einflussfaktoren zurückzuführen sind.

    In den wenigen verfügbaren Studien zeigt sich bislang, dass auf der individuellen Ebene vor allem die Schwere der Erkrankung, operationalisiert durch eine vorliegende Komorbidität, und der Erwerbsstatus im Jahr vor der Entwöhnungsbehandlung die wichtigsten Variablen sind, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestimmen.

    Während die Interaktion zwischen Erkrankung und Arbeitsplatzproblematik im Rahmen der in den BORA-Empfehlungen vorgesehenen Interventionsbausteinen behandelt werden kann (Kobelt et al., 2017), sind die Einflussmöglichkeiten auf die Kontextfaktoren, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt blockieren, wie Ausbildungsstatus und/oder fehlender Arbeitsplatz, sehr begrenzt. Achatz und Trappmann (2011) haben festgestellt, dass die Kumulation von Hemmnissen mit jedem zusätzlichen Risiko die Übergangswahrscheinlichkeit aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fast halbiert. Je länger ein Mensch arbeitslos ist, desto mehr verliert der Betroffene psychosoziale Fähigkeiten zur Überwindung der Teilhabeprobleme. Ein Teufelskreis entsteht, aus dessen Erleben neue Belastungen und Misserfolge und damit neue Erkrankungen erwachsen oder sich bestehende Einschränkungen noch weiter intensivieren (Zenger et al., 2013; Mewes et al., 2013). Hinzu kommen Vorbehalte der Arbeitgeber insbesondere gegenüber älteren Langzeitarbeitslosen, die dazu führen, dass Anstrengungen, in eine Anstellung zurückzufinden, immer seltener zum Erfolg führen können. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Grundsicherungsstellen effizienter ist, sich auf die Langzeitarbeitslosengruppen zu konzentrieren, deren Arbeitsaufnahme am wahrscheinlichsten ist (Achatz und Trappmann, 2011). Daher ist der frühzeitige Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten im Anschluss an die Entwöhnungsbehandlung wichtig, um die berufliche Integration zu fördern und Rückfälle zu verhindern, wobei auch die regionale Arbeitsmarktsituation Einfluss auf die beruflichen Integrationschancen hat.

    Wie soll der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden?

    Medizinisch-berufliche Rehabilitationsprogramme (MBOR, BORA) sollen eine kosteneffektive und qualitativ hochwertige Patientenbetreuung hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung gewährleisten. Neben der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit als zentraler Zielsetzung der Entwöhnungsbehandlung stellt die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit (Return to Work) ebenfalls eine wichtige Messgröße und absehbar ein wichtiges Qualitätsmerkmal dar.

    Allerdings gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden sollte. So wird schon kontrovers diskutiert, ob es ausreicht, dass die Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung potentiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also auch, wenn die Beiträge zur Rentenversicherung von der Agentur für Arbeit entrichtet werden. Doch selbst wenn man sich darauf verständigt, dass lediglich Beiträge aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als Erfolgsparameter anerkannt werden, bleibt sowohl die Bemessung der Mindestanzahl der Beitragsmonate sowie der Kumulationszeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung (ein, zwei, fünf Jahre) noch offen (Nübling et al., 2016). Reicht es aus, wenn der Rehabilitand mindestens einen Monatsbeitrag aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung entrichtet hat, oder sollte die Differenz zwischen den Beitragsmonaten im Jahr nach der Rehabilitation zum Jahr vor der Rehabilitation mindestens positiv sein, um eine Verbesserung zu dokumentieren? Als Ausweg aus diesem nicht abschließend geklärten Dilemma schlägt Höder (2019) vor, dass es dem Kostenträger überlassen bleiben sollte, welches Ergebnis als klinisch relevant zu bewerten ist. Diese Alternative ist kritisch zu bewerten, denn letztlich bleibt die Frage ungelöst, wie es Versicherten mit einer Abhängigkeitserkrankung ohne Entwöhnungsbehandlung ergangen wäre, da es keine kontrollierten Untersuchungen mit Vergleichsgruppen gibt.

    Doch auch dieser Weg wirft weitere Fragen auf, vor allem dann, wenn die Ergebnisindikatoren (bspw. Beiträge aus versicherungspflichtiger Beschäftigung) unabhängig von den persönlichen (Psychopathologie, Suchtgeschichte, Berufsausbildung) und kontextuellen (Arbeitsmarkt, Wohnort, Mobilität) Voraussetzungen und Bedingungen der Versicherten und ohne ausreichende Berücksichtigung der Beeinflussbarkeit festgelegt werden (Amelung et al., 2013).

    Wenn zukünftig Kliniken auf der Grundlage der Return-to-Work-Quote als Ergebnisindikator verglichen werden, um zum Beispiel erfolgreiche Behandlungs- und Fallmanagementprogramme zu identifizieren (vgl. Krischak et al., 2018), ist zu erwarten, dass sich Suchtrehakliniken deutlich mehr mit der Agentur für Arbeit, mit den JobCentern oder mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018) vernetzen müssen. So wurde schon vor Jahren eine vertraglich geregelte Kooperation zwischen Entwöhnungseinrichtungen und den Agenturen für Arbeit bzw. den Jobcentern gefordert (Bahemann et al., 2012).

    Die Erwartung, dass vor der Rehabilitationsbehandlung arbeitslose oder arbeitsunfähige Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung eine neue Tätigkeit beginnen oder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, setzt demnach unbedingt voraus, dass die behandelnden stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen direkt auf die kontextuellen Bedingungen des Arbeitsmarktes bzw. des bestehenden Arbeitsplatzes einwirken können, da die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit oder die Reintegration in den Arbeitsmarkt nach längerer Arbeitslosigkeit nur sehr begrenzt von der rehabilitativ-psychotherapeutischen Behandlungsplanung beeinflusst werden kann (Rekowski, 2014). Dazu kann entweder die schon geforderte enge Kooperation mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern dienen, oder die berufliche Reintegration bzw. die Stabilisierung der regelmäßigen Erwerbstätigkeit muss im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung oder Nachsorge verstärkt in den Mittelpunkt gestellt werden, wobei die Rehabilitand*innen kontinuierlich betreut, unterstützt und beobachtet werden müssen (Kulick, 2009).

    Fragestellung

    Weil die Vernetzung mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit vor allem für arbeitslose Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung ist, sollte mit der vorliegenden Studie untersucht werden, wie erfolgreich die Kooperation und Vernetzung mit der Agentur für Arbeit bzw. den örtlichen Jobcentern im Rahmen der stationären Entwöhnungsbehandlung gestaltet werden kann:

    • Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, für die eine Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter notwendig ist?
    • Wie wurde der Kontakt zur Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter hergestellt?
    • Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, die während der Entwöhnungsbehandlung erfolgreich mit der Agentur für Arbeit oder mit den Jobcentern Kontakt aufnehmen konnten?
    • Welche Gründe gab es, dass kein Kontakt zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter hergestellt werden konnte?

    Methoden

    Um wesentliche Indikatoren für die Zusammenarbeit zwischen der Agentur für Arbeit bzw. den Jobcentern und den an der Untersuchung beteiligten Einrichtungen zu dokumentieren, wurde durch eine Gruppe von Expert*innen der Suchtfachverbände (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss), Fachverband Drogen- und Suchthilfe (fdr+) und Fachverband Sucht (FVS)) sowie der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover die Basisdokumentation um zusätzliche Items ergänzt, auf deren Grundlage die Aktivitäten zur Förderung der beruflichen Teilhabe der Einrichtungen im Rahmen von BORA evaluiert werden können (s. Tabelle 1).

    Tabelle 1: Ergänzende Items zur Dokumentation der Vernetzung im Rahmen von BORA

    Die Items wurden als ergänzendes Modul in das Dokumentationssystem PATFAK (Software für stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe von der Fa. Redline Data) integriert.

    Die Erhebung wurde in den Jahren 2017 (n=1.839), 2018 (n=1.961) und 2019 (=1.874) durchgeführt und umfasste ausschließlich Versicherte der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (insgesamt n=5.674). Folgende Fachkliniken, die alle in der Federführung der DRV Braunschweig-Hannover liegen, haben sich an der Datenerhebung beteiligt:

    • Fachklinik Nettetal
    • Fachklinik Hase-Ems
    • Haus Möhringsburg
    • Fachklinik Bassum
    • Haus Niedersachsen
    • Klinik am Kronsberg
    • Fachklink Südergellersen
    • Therapiezentrum OPEN
    • Fachklinik Erlengrund
    • Klinik am Park

    Die Datensätze der einzelnen Entlassungsjahrgänge wurden jeweils im Folgejahr von diesen Einrichtungen zusammen mit den Daten des Deutschen Kerndatensatzes (KDS 3.0) eingesammelt. Die Datensammlung, Auswertung und Ergebnisdarstellung wurde von der Firma Redline Data übernommen. Es wurden lediglich deskriptive Statistiken durchgeführt.

    Ergebnisse

    Bei etwas mehr als der Hälfte der Rehabilitand*innen wurde während der Reha die Kontaktaufnahme zum Jobcenter als erforderliche Maßnahme identifiziert (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Kontaktaufnahme zu Jobcenter / Agentur für Arbeit erforderlich

    79,9% der Rehabilitand*innen, bei denen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter notwendig war, waren unter 50 Jahre alt. In dieser Gruppe waren 53,9% wegen einer Alkoholabhängigkeit in der Entwöhnungsbehandlung, 34,2% wegen einer Abhängigkeit von illegalen Drogen (Opioide, Cannabis, Kokain, Stimulanzien) und 6,4% Prozent waren mehrfachabhängig. 59,1% der Rehabilitand*innen waren zum Zeitpunkt der Befragung bereits Empfänger von Arbeitslosengeld II.

    Die genauere Analyse der erforderlichen Kontaktaufnahme im Verhältnis zum Erwerbsstatus zeigt ein nicht überraschendes Bild: Von den Rehabilitand*innen, bei denen keine Kontaktaufnahme erforderlich war, machen Erwerbspersonen mit 67,5% den größten Anteil aus. Bei den Fällen mit erforderlicher Kontaktaufnahme ist die große Mehrheit (78,1%) arbeitslos (s. Tabelle 3). Die einzelnen Kategorien wurden wie folgt zusammengefasst:

    • Erwerbspersonen = Auszubildende, Arbeiter*innen, Angestellte, Beamt*innen, Selbständige, Freiberufler*innen, berufliche Reha, Elternzeit, Sonstige
    • arbeitslose Personen = ALG I oder ALG II
    • Nichterwerbspersonen = Schüler*innen, Studierende, Hausfrau/Hausmann, Rentner*innen, Pensionär*innen, Sonstige (mit/ohne Leistungen nach SGB XII)
    Tabelle 3: Erwerbsstatus und Kontakterfordernis

    Bei der Frage, ob der Kontakt für die Rehabilitand*innen, bei denen der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur erforderlich war, auch erfolgreich hergestellt werden konnte, zeigt sich, dass das nur bei etwas mehr als der Hälfte der Fälle gelungen ist (52,0%; s. Tabelle 4).

    Tabelle 4: Erfolg der Kontaktaufnahme

    Zur Frage nach den genutzten Kontaktwegen fällt der sehr geringe Anteil „Online“ auf (4,5%). Die übrigen Kontaktoptionen werden zu etwa gleichen Teilen genutzt, wobei die telefonische Kontaktaufnahme etwas überwiegt (38,0%; s. Tabelle 5).

    Tabelle 5: Nutzung verschiedener Kontaktwege

    Bei der Frage nach den Kontaktwegen ist zu beachten, dass hier eine Mehrfachauswahl möglich war. Die Antworten zu den einzelnen Kontaktwegen beziehen sich nur auf 2.054 Rehabilitand*innen (66,3%), die mindestens einen Kontaktweg genutzt haben. 27,7% der Rehabilitand*innen haben mehr als einen Kontaktweg genutzt (s. Tabelle 6).

    Tabelle 6: Anzahl der genutzten Kontaktwege

    Problematisch sind die Fälle, bei denen der Kontakt nicht erfolgreich war (n=1.454; s.a. Tabelle 4). Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Rehabilitand*innen, die keinen Kontakt zur Agentur oder zum Jobcenter herstellen konnten, auch gar nicht erst versucht hat, einen der Kontaktwege zu nutzen (n=1.045; s.a. Tabelle 6). Daraus lässt sich aber auch erkennen, dass bei 409 Fällen trotz Nutzung einer Kontaktoption kein Kontakt zustande kam.

    Wenn die Kontaktaufnahme zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur nicht erfolgreich war, stellt sich die Frage nach den Gründen. Bei der Konzeption der Datenerhebung wurden von der Gruppe der Expert*innen zunächst mehrere mögliche Gründe aus der klinischen Erfahrung zusammengestellt und als Kategorien vorgegeben. Plausibel erscheint das Ergebnis, dass in 16,2% der Fälle das Jobcenter bzw. die Arbeitsagentur die Kontaktherstellung für die Zeit nach der Reha plant, weil erst an dieser Stelle die eigene Zuständigkeit gesehen wird (s. Tabelle 7).

    Tabelle 7: Gründe für nicht erfolgten Kontakt

    Es hat sich gezeigt, dass die Gründe, warum es nicht zu einer Kontaktaufnahme mit der Agentur oder dem Jobcenter kam, sehr unterschiedlich sein können und mit den vorgegebenen Antwortkategorien nur unzureichend erfasst werden konnten. Nach Rücksprache mit den an der Untersuchung teilnehmenden Einrichtungen verbergen sich hinter den „sonstigen Gründen“, die eine erfolgreiche Kontaktaufnahme verhindert haben, z. B. folgende Aspekte:

    • Weiterführende stationäre Maßnahmen (Adaption, Krankenhausaufenthalte, Soziotherapie),
    • Jobcenterwechsel nach Wohnortwechsel kurz vor/nach der Entlassung,
    • Misstrauen gegenüber der Arbeitsverwaltung aufgrund negativer Vorerfahrungen,
    • realistische Möglichkeit, eine Arbeit aufgrund eigener Initiative aufzunehmen,
    • kein Kontakt aufgrund von vorzeitigem Behandlungsende,
    • Rehabilitand*in bevorzugt eigene Lösung und lehnt jede Hilfe ab,
    • Rehabilitand*in verfolgt ein Rentenbegehren und lehnt jede Hilfe ab,
    • negative sozialmedizinische Prognose.

    Für den Entlassungsjahrgang 2019 wurde diese weitergehende Ursachenanalyse ausgewertet (s. Tabelle 8). Hervorzuheben ist hier, dass bei etwa einem Viertel der Fälle die Eigeninitiative der Rehabilitand*innen im Vordergrund steht und ggf. zu einer Arbeitsaufnahme führen kann (Kategorie 4 = 12,5% und Kategorie 6 = 12,1%).

    Tabelle 8: Differenzierte Analyse der Gründe für nicht erfolgten Kontakt

    Wenn der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur hergestellt werden konnte (n=1.613), wurde mit dem letzten Item erfasst, wie der Beratungsprozess weiter verlaufen ist (s. Tabelle 9). Bei etwa einem Drittel der Fälle hat noch während der Reha ein erster Beratungstermin stattgefunden, bei weniger als 20% der Fälle konnte kein Beratungstermin vereinbart werden. Die häufigste Option mit 46,8% (n=755) ist die Vereinbarung eines Termins für die Zeit nach der Reha. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch die Fälle ohne erfolgreiche Kontaktaufnahme, bei denen schon der Erstkontakt auf die Zeit nach der Reha verschoben wurde (n=236; s.a. Tabelle 7).

    Tabelle 9: Vereinbarung eines Beratungstermins

    Zusammenfassung und Diskussion

    Mit der vorliegenden Auswertung der Zusatzitems zur „Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur“ konnten erstmalig Daten zu dieser, für das Rehabilitationsziel der Deutschen Rentenversicherung sehr bedeutsamen Fragestellung vorgelegt werden. Es hat sich gezeigt, dass für mehr als die Hälfte der Rehabilitand*innen in der Entwöhnungsbehandlung ein Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter erforderlich ist, um die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nach erfolgter erfolgreicher Behandlung zu organisieren und umzusetzen. Insbesondere die arbeitslosen Rehabilitand*innen sind am Ende ihrer Behandlung auf eine möglichst engmaschige Betreuung angewiesen, nicht nur, um die verschiedenen persönlichen und arbeitsmarktbedingten Vermittlungshemmnisse überwinden zu können, sondern auch, um nicht schon an der Schwelle zwischen Entlassung und Alltag in Misserfolgserlebnisse zu geraten, die das Rückfallrisiko erhöhen. Diese Betreuung ist vor allem angesichts der Tatsache notwendig, dass ein Großteil der arbeitslosen Rehabilitand*innen unter 50 Jahre alt ist. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass bei nur etwa der Hälfte der ratsuchenden Personen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter erfolgreich war. Bei lediglich 34% der Rehabilitand*innen, die einen Kontakt herstellen konnten, fand noch während der Entwöhnungsbehandlung ein Termin statt, was etwa 17% der betreuungsbedürftigen Rehabilitand*innen entspricht, für die der Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter notwendig war. Bei rund 47% der Rehabilitand*innen mit erfolgreicher Kontaktaufnahme wurde zwar ein Beratungstermin für die Zeit nach der Entwöhnungsbehandlung geplant, es bleibt jedoch offen, ob der Termin tatsächlich von den Versicherten wahrgenommen wurde. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Verteilung auf die einzelnen Kategorien der verschiedenen Items zwischen den Jahrgängen nur unwesentlich unterscheidet.

    Im Rahmen des von der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover angebotenen Fallmanagements (Piegza et al., 2013) hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass die vereinbarten Termine nach Entlassung aus der Entwöhnungsbehandlung nicht mehr zustande kamen. Die Einschränkung, dass sogar die Kontaktherstellung erst nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung erfolgen soll, erschwert die Betreuung der Rehabilitand*innen, für die gerade die Entlassung ein kritischer Zeitpunkt ist, zusätzlich.

    Unsere Untersuchung unterstreicht die Ergebnisse von Henke (2019), die zeigen konnte, dass nur etwa 30% der arbeitslosen Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung nahtlos vom Jobcenter weiterbetreut wurden, 43% nur manchmal und 14% der Rehabilitand*innen fast nie.

    Unsere Untersuchung zeigt aber auch, dass die Vernetzung mit dem nachbetreuenden System zur Wiedereingliederung in eine Arbeitstätigkeit nicht nur von den Kontaktmöglichkeiten der Agentur für Arbeit bzw. der Jobcenter abhängt. Ein nicht unerheblicher Teil der Versicherten, für die eine Beratung durch die Agentur oder das Jobcenter angezeigt wäre, lehnte die Kontaktaufnahme aus persönlichen Gründen, wegen schlechter Erfahrungen oder deswegen ab, weil sie sich selbst um eine Arbeitsaufnahme kümmern wollten. Vor dem Hintergrund, dass es nur wenigen arbeitslosen Rehabilitand*innen nach der Entwöhnungsbehandlung gelingt, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sollte die Zurückweisung von Hilfsangeboten im therapeutischen Prozess kritisch hinterfragt bzw. in der nachstationären Phase engmaschig begleitet werden (Kulick, 2009).

    Die insgesamt nur teilweise erfolgreiche Kooperation mit der Agentur für Arbeit und den Jobcentern auf der einen Seite und die mangelnde bzw. unzuverlässige Inanspruchnahme von Fallmanagementangeboten durch die Rehabilitand*innen nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung auf der anderen Seite erfordern möglicherweise eine Intensivierung bestehender Konzepte des „supported employment“ (Viering et al., 2015) bzw. des therapeutisch begleiteten Fallmanagements, z. B. im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung.

    Es sollte deutlich geworden sein, dass zur Wiedereingliederung der doch erheblichen Anzahl arbeitsloser Abhängigkeitserkrankter eine multiprofessionelle bzw. institutionsübergreifende Betreuung und Begleitung notwendig ist, um erfolgreich sein zu können, vor allem dann, wenn die Versicherten nicht durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation unterstützt werden können. Unsere Ergebnisse zeigen, dass trotz der Bemühungen der Rehabilitationseinrichtungen, die Vernetzung zu initiieren, vermutlich nur ein kleiner Anteil im nachfolgenden System ankommt. Sie zeigen aber auch, dass wenn die Vernetzung nur unzureichend funktioniert, bestehende BORA-Konzepte noch mehr hinsichtlich erfolgreicher beruflicher Wiedereingliederung ausgerichtet sein müssen. Dazu kann die engere Zusammenarbeit mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018; Renkowski, 2014), der bedarfsgerechte Ausbau des Fallmanagements im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung bzw. der Nachsorge, aber auch die Prüfung wohnortnaher Möglichkeiten für die Entwöhnungsbehandlung für Arbeitslose dienen, da sich zeigt, dass die Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter erschwert ist, wenn die medizinische Rehabilitation wohnortfern durchgeführt wird. Möglicherweise relativiert sich dieser Aspekt, wenn die Online-Kontaktaufnahme stärker genutzt wird.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Andreas.Koch@h-brs.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch, ehem. Geschäftsbereichsleitung Suchthilfe / Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Weyarn (bis 30.04.2020); Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef
    PD Dr. Axel Kobelt-Pönicke, Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, Hauptabteilung 1 Leistung, Rehastrategie – Psychische Erkrankungen, Laatzen; Universität Hildesheim, Institut für Psychologie, Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie, Hildesheim
    Dirk Laßeur, Leiter der Stabsstelle Qualitätsmanagement der CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Osnabrück
    Moritz Radamm, Leiter der Klinik am Kronsberg, Fachabteilungsleitung Behandlung, STEP gGmbH, Hannover

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  • Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Karl Lesehr

    Zum 31.07.2019 wurden die letzten Teilnehmenden* aus dem Projekt Su+Ber – Sucht und Beruf verabschiedet. Damit wurde dieses Projekt zur Teilhabeverbesserung langzeitarbeitsloser und suchtkranker Menschen nach gut dreieinhalb Jahren mangels weiterer Förderung vorläufig beendet. Wir haben über Su+Ber  ausführlich bereits 2017 in einem zweiteiligen Artikel auf KONTUREN online (Teil 1 + Teil 2) berichtet. Eine abschließende differenzierte und mehrteilige wissenschaftliche Evaluation legte das IFT München planmäßig bis zum Jahresende 2019 vor (PDF zum Download).

    Der hier vorliegende Artikel möchte einen anderen Aspekt, nämlich die innere Projektentwicklung reflektieren. Aus der Sicht eines verantwortlich Beteiligten möchte ich unsere Erfahrung von Hemmnissen und Schwierigkeiten darstellen und zeigen, wie sich unsere Arbeitshaltungen durch diese Erfahrungen im Projektprozess verändert haben. Mit einer solchen, eben nicht nur an Erfolgskennzahlen orientierten Evaluation wollen wir uns auf Entwicklungsschritte einlassen, wie wir sie ja auch von unseren Projekt-Teilnehmenden erhoffen und erwarten. Aufgrund meiner fachlichen Herkunft nehme ich dabei v. a. die Perspektive der Suchthilfe ein; viele meiner Aussagen gelten aber in vergleichbarer Weise auch für den Bereich der Arbeitshilfen.

    Entwicklungsgeschichte und Zielsetzungen des Projekts Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber ist in Baden-Württemberg in einem mehrjährigen Diskussionsprozess entstanden, an dem neben zahlreichen Akteuren der Suchthilfe und der Suchtreha auch engagierte Fachkräfte aus Jobcentern und Politikvertreter beteiligt waren. Mit Su+Ber sollte an sechs Standorten für Langzeitarbeitslose mit einem teilhabebeeinträchtigenden Suchtverhalten (Alkohol/Drogen) auf einem ganz neuen Weg eine stabile Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ermöglicht werden. Wesentliche Teile des Projekts Su+Ber wurden vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land finanziert; die in die Projektkonzeption integrierten und relativ personalintensiven Arbeitsfördermaßnahmen wurden dabei in vollem Umfang von den beteiligten Jobcentern finanziert.

    Suchtprobleme gelten bei der Wiedereingliederung in Arbeit als wesentliches Vermittlungshemmnis. Gleichzeitig ist es ein Grundaxiom der Suchthilfe, dass eine regelmäßige Arbeit entscheidend zu einer gesundheitlichen Stabilisierung suchtkranker Menschen beitragen kann. Die fachliche Entwicklung der medizinischen Suchtreha orientierte sich deshalb stets an dem Ziel einer Reintegration in Arbeit, wofür eine Suchtmittelabstinenz bislang als unumgängliche Voraussetzung galt. Wer allerdings inzwischen die konkreten Arbeitsmarktperspektiven für langzeitarbeitslose Menschen mit Suchtstörungen ehrlich anschaut, für den wird spürbar, dass eine solche vorrangig auf eine formale Arbeitsreintegration orientierte Suchtreha den Teilhabebedürfnissen und -rechten dieser Menschen oft nicht gerecht wird. Die Grundkonzeption unseres Projekts Su+Ber baut zwar notwendigerweise auf diese arbeitsorientierte Tradition der Suchtreha auf, versucht aber, innerhalb der geltenden Rechtssystematik für bestehende versorgungspolitische Schwachstellen neue Lösungen zu finden.

    Konsequente arbeitsorientierte Leistungsvernetzung als Antwort auf Schnittstellenprobleme

    Das Projekt Su+Ber sieht als Antwort auf viele letztlich ungelöste Schnittstellenprobleme bei Maßnahmen zur Arbeitsreintegration im Anschluss an eine Suchtreha eine weitgehende örtliche, zeitliche und personelle Vernetzung aller Fördermaßnahmen: Leistungen der Suchtberatung, Arbeitsfördermaßnahmen der Jobcenter und der Arbeitshilfeträger sowie Leistungen einer arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha sollen im Projekt in einer konsequenten Gesamtmaßnahme integriert werden. Zentrale Bausteine des Projekts waren:

    • eine Zielorientierung der Gesamtmaßnahme auf die Gewinnung eines eigenen Arbeitsplatzes unter konsequenter Berücksichtigung der eben auch widersprüchlichen individuellen Entwicklungsinteressen und der nutzbaren Entwicklungsressourcen der Teilnehmenden. Die Orientierung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sollte alle Beteiligten vor defizit- und mangelorientierten Selbst- und Fremdeinschätzungen und vor zu kleinteiligen Maßnahmenzielen schützen.
    • eine fallbezogene personale Vernetzung aller am Projekt beteiligten Akteure in einem gemeinsamen Clearingprozess und in der Maßnahmenplanung. Die Erfolgsprognose, die sozialleistungsrechtlich erforderlich ist, damit Maßnahmen gewährt werden, orientierte sich nicht an Maximalzielen (Abstinenz, volle Arbeitsintegration), sondern an konkreten Verbesserungen beruflicher Teilhabe und damit verbundener subjektiver Lebensqualität.
    • eine Konzeption der ambulanten Suchtreha, die vorrangig auf die Entwicklung einer hinreichenden Arbeitsfähigkeit orientiert ist und dabei notfalls auch auf den bisherigen Vorrang des gesundheitlichen Maximalziels einer Abstinenz verzichtete.
    • die nahtlose Nutzung aller individuell erfolgversprechenden Fördermaßnahmen der beteiligten Leistungsträger einschließlich einer suchtkompetenten Unterstützung auch im ersten Jahr an einem eigenen Arbeitsplatz.

    Innovation erfordert Mut zum Risiko, erhöht aber auch die institutionellen Erfolgserwartungen

    Ein solcher Projektansatz ließ sich natürlich nur realisieren, indem alle Beteiligten über ihre gewohnten Konzepte und Leistungsformen hinausgingen: So ließen sich die beteiligten Jobcenter auf einen gegenüber sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen höheren Personaleinsatz ein. Die DRV Baden-Württemberg wagte den Versuch einer konsequent arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha auch unter Verzicht auf die traditionelle Abstinenzbindung. Die Suchtberatungsstellen waren zu sozialräumlichen Kooperationen mit anderen PSBs (Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und Suchtkranke) und zu einem mehrheitlich externen Arbeitseinsatz beim Arbeitshilfeträger aufgefordert. Und für alle beteiligten Fachkräfte galt es, sich im geforderten Clearingprozess und in der fallbezogenen Maßnahmenplanung auf eine personale Kooperation einzulassen und dabei die eigenen fachlichen Sichtweisen und Denktraditionen immer wieder zu hinterfragen.

    Bei den beteiligten Leistungsträgern (Jobcenter und DRV Baden-Württemberg), die für das Projekt substantiell/materiell in Vorleistung gehen mussten, entstand dabei verständlicherweise ein hoher Druck, ihre Aufwendungen/Wagnisse auch durch möglichst gute Ergebniszahlen zu legitimieren. Bei den Jobcentern war dennoch die Bereitschaft, auch die eigenen internen Verwaltungsabläufe auf diese neue Projektstruktur abzustimmen, angesichts der je Standort nur bescheidenen Maßnahmekapazitäten (max. zwölf Plätze) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und auch in der projektbezogenen Kooperation mit der DRV Baden-Württemberg gelang es trotz einer insgesamt vertrauensvollen Arbeitsbasis erst zum Ende des ersten Projektjahres und damit zur Hälfte der anfänglich bewilligten Projektlaufzeit, eine für beide Seiten vertretbare Reha-Konzeption für das Projekt Su+Ber zu verabschieden.

    Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung für Su+Ber

    Während solche Schwierigkeiten mit den Leistungsträgern für uns schon in der Projektvorbereitung absehbar waren, hatten wir geglaubt, dass durch die zahlreichen Diskussionen und Fachveranstaltungen der Landesstelle für Suchtfragen im Projektvorlauf und durch ein detailliertes Anforderungsprofil in der ESF-Projektausschreibung bei der Teilnehmergewinnung und in der Projektumsetzung keine größeren Probleme auftreten würden. Tatsächlich hatten wir vor allem im ersten Projektjahr aber an nahezu allen Standorten erhebliche Schwierigkeiten, die in den Arbeitsfördermaßnahmen bereitgestellten Plätze auch zu füllen – deren Auslastung lag in dieser Zeit insgesamt deutlich unter 50 Prozent!

    Als wesentliche Ursachen dieser für uns unerwarteten Entwicklung konnten wir – trotz aller konzeptionellen Absprachen/Vereinbarungen im Vorfeld einer Projektbeteiligung – Folgendes feststellen:

    • Bei vielen Fachkräften der Suchtberatungsstellen herrschte große Skepsis gegenüber einem suchtrehabilitativen Ansatz ohne Abstinenzverpflichtung.
    • In vielen Suchthilfeeinrichtungen wird eine „Reha-Gesamtplanung“ praktiziert, bei der Fragen der Reintegration in Arbeit immer noch meist erst nach einer (stationären) Suchtreha in den Blick genommen wurden.
    • Bei einer Einbeziehung arbeitsorientierter Fördermaßnahmen in die Suchtreha-Planung wurde – unabhängig von der fachlichen Art des Angebots – bevorzugt in trägereigene Maßnahmen vermittelt.

    Offenbar führt eine hohe Autonomie der Fachkräfte in den PSBs bei gleichzeitig subjektiv hoher Arbeitsbelastung in der Fallarbeit dazu, dass vertraute rehabilitative Handlungs- und Denkmuster weitergeführt und innovative Interventionsansätze kaum ernsthaft registriert werden. Im Ergebnis gab es während der drei Projektjahre trotz vielfacher Informationsangebote und Werbung fast ausschließlich von denjenigen Suchtberatungsstellen Vermittlungen in das Projekt Su+Ber, in denen durch Honorarverträge Mitarbeitende unmittelbar in die Projektarbeit eingebunden waren. Aber auch in den direkt am Projekt beteiligten Suchtberatungsstellen gelang es mehrheitlich erst durch eine regelmäßige Präsenz von Projektmitarbeitenden in den eigenen Reha-Teams,  die Quote an Vermittlungen in das „eigene“ Projekt Su+Ber innerhalb der gesamten indikationsgerechten Vermittlungen in Suchtreha zu erhöhen.

    Unterschätzt hatten wir in der Projektplanung aber auch zwei materielle/leistungsrechtliche Faktoren:

    • Aufgrund der knappen Fördermittel für Su+Ber hatten wir für die sechs- bis achtmonatige Projektphase B der Arbeitsförderung und der integrierten ambulanten Suchtreha keine Mehraufwandsentschädigung für die Teilnehmenden vorgesehen. Dadurch waren wir für manchen Kunden/Klienten im Vergleich zu anderen vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen aber deutlich weniger attraktiv (ganz unabhängig von der im Projekt ja zusätzlich geforderten offenen Befassung mit dem eigenen Suchtverhalten).
    • Angesichts der in Baden-Württemberg derzeit sehr guten Arbeitsmarktlage erlebten wir es in der Projektphase A (Motivierung und vorläufige Integrationsplanung) immer wieder, dass Interessenten kurzfristig eine Arbeit fanden und deshalb eine Projektteilnahme im Sinne ihres bisherigen Problembewältigungsmusters fallen ließen. Wenn dann nach oft schon absehbaren Krisen dieser Arbeitsplatz wieder verloren ging, griff die Regelung der „schädlichen Unterbrechung“ der Langzeitarbeitslosigkeit: Eine Wiederaufnahme ins Projekt war dann (eigentlich) genauso wie nach längerer Krankschreibung oder auch kurzfristigen Inhaftierungen (v. a. bei Drogenabhängigen) erst wieder nach einer längeren (kontraproduktiven) Wartezeit möglich; ein möglicherweise günstiges „Motivationsfenster“ blieb wegen unsinniger Zuständigkeitsregelungen so ungenutzt.

    Eine von der Projektkonzeption deutlich abweichende Teilnehmenden-Gruppe

    Im Ergebnis bestand unsere Su+Ber-Teilnehmergruppe v. a. aus Menschen, die von den Jobcentern vermittelt wurden und dort nach zahlreichen, aber wirkungsarmen Maßnahmen als weitgehend hoffnungslose Fälle eingestuft worden waren („hartnäckiger Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit“). Gleichzeitig fehlten uns aus den Suchtberatungsstellen diejenigen Menschen, die sich dort zum wiederholten Mal aktiv um eine Suchtreha-Maßnahme bemühten.

    Es wurde aber auch deutlich, dass mehr als 80 Prozent unserer Teilnehmenden bereits Vorerfahrungen mit der ambulanten Suchthilfe und etwas mehr als die Hälfte auch Erfahrungen mit Suchtreha-Maßnahmen hatten. Zumindest bei dieser Gruppe stark chronifizierter Langzeitarbeitsloser mit Suchtproblemen ist also davon auszugehen, dass aufgrund zweier im Lebensalltag der Menschen ja zusammenhängender Teilhabe-Beeinträchtigungen häufig auch beide leistungsrechtlich getrennten Hilfesysteme in Anspruch genommen werden, allerdings oft ohne irgendeine erkennbare Kooperation und Abstimmung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass wir mit unserem leistungsvernetzten Förder- und Behandlungsangebot von Su+Ber 44 Prozent der Teilnehmenden erstmals für die Nutzung einer Suchtreha-Maßnahme gewinnen konnten.

    Da im Projekt Su+Ber bei den Bemühungen um eine Arbeitsintegration ausdrücklich auch das Suchtverhalten thematisiert werden sollte, war für uns ein freiwilliger und von Sanktionen unabhängiger Zugang zum Projekt grundlegende Bedingung. Daraus leiteten wir die Hypothese ab, dass unsere Projekt-Teilnehmenden trotz ihrer vielfachen Erfahrungen des Scheiterns und vieler aktueller Alltagsprobleme und Beeinträchtigungen sehr wohl weiter an einer Verbesserung ihrer Lebenslage interessiert waren. Auch die zu den formalen Qualifikationen erhobenen Daten lassen vermuten, dass für einen deutlichen Teil der Teilnehmenden die Perspektive einer beruflichen Reintegration keineswegs abwegig ist: Nur 13 Prozent hatten keinen regulären Schulabschluss, aber immerhin 51,5 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung.

    Entwicklung der Teilnehmerzahl

    In der (nach einer Verlängerung) schließlich dreijährigen Projektlaufzeit haben wir nach ESF-Kriterien 301 Teilnehmende ins Projekt Su+Ber aufgenommen, also in die Projektphase A mit ihrem interinstitutionellen Clearing, der vertieften Motivierung und einer vorläufigen Maßnahmenplanung sowie schließlich der formalen Beantragung der ambulanten Suchtreha-Maßnahme. Tatsächlich wurden dann aber von diesen 301 ernsthaften Projektinteressenten nur 199 Teilnehmende in die Projektphase B übernommen, also in die sechs- bis achtmonatige Arbeitsfördermaßnahme mit integrierter ambulanter Suchtreha.

    Nach allen Erfahrungen aus der Motivierungsarbeit der Suchtberatung hatten wir zwar an diesem Übergang mit einem Schwund an Teilnehmenden gerechnet, der Ausstieg von einem Drittel hat uns aber doch beschäftigt. Ein Teil dieser Quote erklärt sich mit den bereits skizzierten leistungsrechtlichen Regelungen („schädliche Unterbrechung“). Andere Teilnehmende fühlten sich abgeschreckt durch die umfangreichen datenschutzrechtlichen Regelungen, die durch die wissenschaftliche Evaluation notwendig wurden und für die wir auch keine grundlegende Vereinfachung finden konnten.

    In der Analyse wurde für uns aber auch deutlich, dass wir es versäumt hatten, Ansätze und Strukturen für eine projektspezifische Veränderungsmotivierung der Teilnehmenden zu entwickeln. Obwohl wir davon ausgegangen waren, dass die vorrangige Triebfeder für die Beteiligung an Su+Ber bei den meisten Teilnehmenden die Gewinnung eines „vollwertigen“ Arbeitsplatzes sei, fanden die meisten (bestenfalls wöchentlichen) Kontakte der Phase A im rein verbalen Setting der Suchtberatungsstelle statt und gingen von den klassischen Konzepten einer Problemanamnese und Motivationsklärung aus.

    Diese Setting-Strukturen hatten Konsequenzen: Im Durchschnitt wurden diejenigen Teilnehmenden, die in oder nach der Phase A bereits wieder aus dem Projekt ausgeschieden sind, knapp vier Monate lang betreut – aus unserer Sicht viel zu viel Lebenszeit für Menschen, die mit einem  Entwicklungswunsch ins Projekt eingetreten waren. Aufgrund der Erfahrungen aus den supervisorischen Praxiswerkstattrunden vermuten wir zudem, dass in diesen Gesprächen mehrheitlich die Suchtproblematik und aktuelle Alltagsprobleme und weniger individuelle Entwicklungssehnsüchte und Hoffnungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt standen. Wir haben es deshalb im zweiten Projektjahr ermöglicht, dass Teilnehmende auch direkt in die Phase B beim Arbeitshilfeträger ins Projekt Su+Ber einsteigen konnten; die für die Projektphase A vorgesehenen Aufgaben konnten dann dort begleitend zu den ersten Arbeitserfahrungen in den ersten drei Wochen bearbeitet und dann nahtlos auch in der ambulanten Suchtreha weitergeführt werden.

    Unterschätzt hatten wir auch einen weiteren Effekt der bereits genannten Skepsis in der ambulanten Suchthilfe gegenüber einem nicht abstinenzgebundenen Suchtreha-Ansatz: An der Mehrzahl der Projektstandorte fanden sich trotz wohlwollender Haltung der PSB-Leitungen nur Fachkräfte für die Mitarbeit im Projekt Su+Ber, die bislang kaum oder gar nicht in Leistungen der ambulanten Suchtreha eingebunden waren. Gleichzeitig fehlte an vielen Standorten aber auch die regelhafte kollegiale Einbindung in das „normale“ Reha-Team. In der Verbindung mit den für alle Beteiligten neuartigen konzeptionellen Anforderungen im Projekt Su+Ber führte dies dazu, dass einige unserer Projektfachkräfte lange Zeit stark verunsichert waren und so die konzeptionellen Entwicklungsräume unserer Reha-Konzeption zunächst kaum für ihre Teilnehmenden nutzen konnten.

    Das Projekt startete aus fördertechnischen Gründen zum Jahresanfang 2016 und damit noch vor dem positiven Ethikvotum zur Evaluationsforschung im Juni 2016. Dies führte – zusammen mit den aufwendigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen, die viele Teilnehmende abschreckten – dazu, dass letztlich nur die Daten von etwa 60 Prozent der tatsächlichen Projekt-Teilnehmenden in die wissenschaftliche Evaluation einbezogen werden konnten.

    „Wir haben die falschen Projekt-Teilnehmenden“

    Rückblickend waren die Austauschrunden der ersten anderthalb Projektjahre neben der Klärung vieler formaler und dokumentationsrelevanter Fragen beherrscht von der Feststellung, dass wir an den meisten Standorten zu wenige und dann auch noch die „falschen“ Teilnehmenden im Projekt hätten, d. h. Personen, die voraussichtlich nicht direkt in den Arbeitsmarkt reintegrierbar wären. Dies fand seine Entsprechung auch in den Ergebnissen unseres prognostischen interinstitutionellen Grobclearings in der Projektphase A: Nur für etwa zehn Prozent der Teilnehmenden wurde von den beteiligten Fachkräften eine gemeinsame positive Prognose abgegeben. Offenbar haben sich in der Wahrnehmung der professionellen Akteure viele statistisch belegte Korrelationen („Vermittlungshemmnisse“, störungsbedingte Leistungseinschränkungen, unzureichende Veränderungsmotivation) als quasi persönliche Eigenschaften zu direkten personalen Zuschreibungen verfestigt und damit verselbständigt („mit diesen Problemen kannst du das doch nicht“). Das gemeinsame Grobclearing wurde so v. a. zum Prüfstein, an dem solche verfestigten individuellen oder institutionellen Zuschreibungen deutlich werden konnten; nach unseren bisherigen Auswertungen haben die prognostischen Einschätzungen dieses Grobclearings nur eine geringe Aussagekraft hinsichtlich des tatsächlich erzielten positiven Projektergebnisses.

    Paradoxerweise wird diese Zuschreibung von Schwächen in der individuellen Betreuungsarbeit oft scheinbar bestätigt durch brüchige und widersprüchliche Selbstkonzepte der Teilnehmenden. Deren eigentlich motivierende Einstellung „Ich will arbeiten, ich brauche das!“ wird regelhaft beeinträchtigt oder blockiert durch die chronifizierte Erfahrung „Ich kann es doch nicht recht machen, ich halte das eh nicht durch“. Vielfältige beschämende Erfahrungen des Scheiterns und unerfüllter Eigen- und Fremderwartungen sind offenbar stärker als einzelne Erfolgserfahrungen. Das Selbstwertgefühl der Menschen als „psychisches Immunsystem“ ist kollabiert. Statt auf Entwicklungskräfte und Alltagskompetenzen zu schauen, konzentrieren sich alle Beteiligten in vermeintlich bester Förder- und Entwicklungsabsicht dann faktisch nur noch auf Schwächen und Defizite, die es durch symptomorientierte Interventionen aufzulösen gelte.

    Fallbezogene Leistungsvernetzung als Weg zu einer gemeinsamen Reha-Verantwortung

    Schon als wir uns in der Projektentwicklung mit den Kriterien des Grobclearings befassten, war uns deutlich, welche fatalen Verstärkungseffekte solche problemorientierten individuellen Prognosen für die „gebrochenen Selbstwirksamkeitserfahrungen“ unserer Teilnehmenden haben (können). Im Projekt Su+Ber haben wir deshalb das Grobclearing als ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Instrument im Rahmen einer konsequenten Leistungsvernetzung konzipiert. Grundsätzlich war demnach eine Projektteilnahme auch dann möglich, wenn nur eine der beteiligten Institutionen eine positive Prognose aussprach. Dieses Instrument der Leistungsvernetzung forderte somit alle Beteiligten zum intensiven Austausch und Abgleich ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen, ihrer Erfahrungen und Bewertungen heraus.

    Dieser weit über eine gewohnte fachliche Kooperation hinausgehende Vernetzungsanspruch in Su+Ber fand im Projektalltag unterschiedliche Akzeptanz. Einzelne Jobcenter sahen sich organisatorisch grundlegend nicht in der Lage, für die Betreuung aller ihrer Teilnehmenden eine konkret verantwortliche Fachkraft zu benennen. Einzelne Fachkräfte zogen sich in diesem Austausch von Sichtweisen und Argumenten immer wieder auf eine übergeordnete Position als Vertreter eines Leistungsträgers zurück. Die breite Mehrheit der Projektbeteiligten erlebte diesen Vernetzungsprozess jedoch als den zentralen fachlichen Gewinn aus der Projektarbeit. Die fallbezogene Verknüpfung persönlicher Sichtweisen, fachlicher Kompetenzen und unterschiedlicher leistungsrechtlicher Perspektiven wurde als Bereicherung erlebt und als Chance, die komplexe Lebenswirklichkeit und die Entwicklungspotentiale der Teilnehmenden umfassender wahrzunehmen und dann auch für die gewünschten Entwicklungsprozesse zu nutzen.

    Im Zuge dieser gemeinsamen Einlassung auf die Teilnehmenden und deren Lebensentscheidungen spürten die Profis oft auch Respekt und Demut: Es wurde für sie erlebbar, dass es bei allen Angeboten einer Teilhabeförderung für Menschen in stark chronifizierten Lebenslagen weniger um die Befähigung zu einer schnellstmöglichen Erreichung irgendwelcher von außen definierter oder verstärkter Ziele gehen sollte, als vielmehr um die Unterstützung einer eigenverantworteten Entwicklung und die Befähigung zu einer individuell spürbar verbesserten Teilhabe. Letztlich muss es um die Förderung einer individuellen Würde gehen, die sich speist aus entwicklungsorientierten Erfahrungen der Selbstwertschätzung und der Selbstwirksamkeit einerseits und der Erfahrung sozialer Wertschätzung und Achtung andererseits.

    Die Feedbacks, die die Profis im Projektverlauf von ihren Teilnehmenden erhielten, machen deutlich, dass eine derart veränderte Betreuungshaltung sehr wohl wahrgenommen und wertgeschätzt wurde: „Ich musste mich mit meinen Schwierigkeiten nicht mehr verstellen, brauchte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen.“ „Die Mitarbeit im Projekt hat mich interessiert, Beikonsum war da kein Thema mehr.“ „Wenn ich eine Aufgabe habe, geht es mir besser.“ „Ich kann etwas, auch so, wie ich derzeit bin.“ Und gleichzeitig machen für mich Rückmeldungen einzelner Projektfachkräfte deutlich, dass dieses gemeinsame Bemühen um einzelne, ganz konkrete Menschen auch zur Verbesserung der eigenen professionellen Identität beigetragen hat.

    Verbesserungsmöglichkeiten für Folgeprojekte

    Zusammenfassend halten wir aufgrund unserer Erfahrungen folgende Ansätze für Verbesserungen bei künftigen vergleichbaren Projekten für grundlegend notwendig:

    • Bei Menschen in chronifiziert teilhabebeeinträchtigten Lebenslagen kann jede suchtrehabilitative Verbesserung der individuellen Lebensqualität soziale und berufliche Krankheitsfolgen und Krankheitsschädigungen reduzieren. Suchtreha-Leistungen dürfen deshalb nicht nur mit dem Ziel einer bestmöglich gesicherten Arbeitsintegration gewährt werden; bei Suchtberatungsstellen sollte zugunsten einer individuell möglichen Teilhabeverbesserung auch für eine bedarfsorientierte Nutzung suchtrehabilitativer Ansätze ohne Abstinenzverpflichtung geworben werden, und es sollten entsprechende Interventionskonzepte entwickelt werden.
    • Damit Menschen unserer Zielgruppen sich angesichts einer Vielzahl von Förderansätzen für ein Konzept unter Einbeziehung spezifischer Suchtreha-Leistungen entscheiden können, müssen motivationale Faktoren (z. B. Mehraufwandsentschädigungen, Zeitperspektiven von Maßnahmen) geschaffen und strukturelle Hemmnisse (z. B. „schädliche Unterbrechung“) bestmöglich beseitigt werden. Gegebenenfalls sollten in enger Abstimmung mit den Jobcentern fallbezogen motivationsstützende Förderalternativen gesucht werden.
    • Für einige Interessenten ist statt einer nur verbalen Klärung und Entwicklungsmotivierung ein frühzeitiger Einstieg in eine Maßnahme der Beschäftigungsförderung motivations- und selbstwertstärkend und ermöglicht gleichzeitig allen Beteiligten konkret sichtbare und ansprechbare Informationen über Belastungsgrenzen und lebensweltliche Hemmfaktoren.
    • Für Langzeitarbeitslose mit Suchtproblemen gibt es nach unserer Erfahrung nur selten nachhaltige und subjektiv befriedigende Arbeitsplätze. Bemühungen um eine berufliche Reintegration sollten deshalb nicht nur an formalen Integrationsdaten orientiert sein, sondern – als Maßnahme einer grundlegenden Teilhabeförderung – gleichgewichtig auch an einer Verbesserung persönlicher Lebensqualität und am Erleben von Selbstwert. Eine solche Teilhabeperspektive sollte von allen Beteiligten akzeptiert sein und an gemeinsam vereinbarten Parametern auch dokumentiert werden. Verbindliche Kooperationspartner bei Jobcentern und Arbeitshilfeträgern erleichtern eine solche gemeinsame Teilhabeperspektive.

    Teilhabeförderung muss sich auch in Ergebniszahlen bewähren

    Jede Form psychosozialer Arbeit und jede Teilhabeförderung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen von der Gesellschaft getragenen Angeboten und individuellen Bedarfen. Somit ist neben allen subjektiv positiven Effekten auch wichtig, wie hoch die Kosteneffizienz und die Zielerreichung eines neuen Projektes ist. Die unzureichende Belegung der zur Verfügung gestellten Plätze im Projekt Su+Ber bedeutet natürlich schon mal eine relativ schlechte Kosteneffizienz. Wir gehen allerdings aufgrund der Verlaufsentwicklung in den drei Projektjahren davon aus, dass bei einer längeren Projektlaufzeit unsere veränderten Strategien der Teilnehmergewinnung und -haltung auch eine deutlich bessere Auslastung ermöglichen könnten.

    Von den 199 Teilnehmenden, die in die Projektphase B gestartet waren, konnten  42 in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit überführt werden. Diese Integrationsquote von insgesamt etwa 21 Prozent entspricht nicht unseren ursprünglichen Hoffnungen bei der Projektkonzeption und zumindest teilweise auch nicht den Erwartungen der beteiligten Jobcenter bzw. der DRV Baden-Württemberg. Zudem waren die Integrationsquoten an den einzelnen Projektstandorten – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation – recht unterschiedlich. Nach unserer Beobachtung spiegeln diese Unterschiede wider, wie intensiv und engagiert sich die Fachleute  der jeweiligen Standorte mit dem Handlungsansatz des Projekts Su+Ber identifiziert und die durch dieses Projekt ermöglichten Handlungsfreiräume auch genutzt haben.

    Es bleibt aber immer noch die Frage, wie eigentlich die Quote von 21 Prozent für die Wiedereingliederung in Arbeit von Menschen unserer Zielgruppen zu bewerten ist bzw. ob nachhaltig wirksamere Maßnahmen für sie konkret zur Verfügung stehen. Es nützt ja wenig, wenn, wie an einem unserer Standorte, nach dem Ende von Su+Ber  zur Sicherung des weiteren Leistungsbezugs der Klientel einfach eine neu benannte Maßnahme aufgelegt wird und die Kunden dann wieder durch eine scheinbar neue Maßnahme geschleust werden. Wir haben uns deshalb in der Analyse unserer Projektarbeit intensiv auseinandergesetzt mit dem Verhältnis von

    • gesellschaftlich geforderten kurzfristigen Ergebniszahlen,
    • den durch SGB IX und das BTHG definierten Anforderungen an eine umfassende Förderung gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe für teilhabebeeinträchtigte Menschen
    • sowie einer subjektiv wahrgenommenen Verbesserung der individuellen Lebenswirklichkeit für die betroffenen Menschen („Lebensqualität“).

    Wir erleben um uns herum eine Praxis der Teilhabeförderung, in der Maßnahmen v. a. nach dem Kriterium kurzfristiger Kosteneinsparung und entlang leistungsrechtlicher Grenzziehungen auf der Basis von Kennzahlen als Verwaltungsakte umgesetzt werden. Dabei werden die betroffenen Menschen zum zu fördernden und zu bewertenden Objekt und letztlich auch zum Störfaktor, weil diese Förderpraxis individuelles Scheitern und kostenträchtige Maßnahmenwiederholungen bei unserer Zielgruppe kaum verringert. Auch wenn wir aufgrund der kurzen  Projektlaufzeit noch keine handfesten Belege liefern können, sind wir nach unseren Erfahrungen aber weiter davon überzeugt, dass – unter Nutzung aller bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen und fachlichen Konzepte – eine konsequent an der Lebenslage der betroffenen Menschen und an ihren Entwicklungssehnsüchten orientierte Förderung/Reha-Maßnahme nicht teurer wäre als die bisherige Praxis, aber für die Teilnehmenden und für die Profis mehr Lebensqualität ermöglichen könnte. Wir brauchen dafür sicherlich neue persönliche Haltungen der Profis, aber wir brauchen auch grundlegende Interventionsansätze, die Handlungsfreiräume schaffen und dazu ermutigen, sich mit den hochkomplexen, natürlich auch widersprüchlichen und biografisch beeinträchtigten „Wirklichkeitskonstruktionen“ von Menschen in chronifizierter sozialer Exklusion auseinanderzusetzen mit dem Ziel einer für sie adäquaten Förderung.

    Was wäre für uns deshalb in einem weiterführenden Projekt wichtig?

    1. Die Praxis von Teilhabeförderung/Behandlung orientiert sich vielfach an linearen Kausalitätsmodellen, denen zufolge einzelne Störungen/Defizite zu Teilhabehemmnissen werden, die behoben werden sollen. Insbesondere die medizinische Suchtreha, die in ihren Anfängen als stationäre Reha ja einen Gegenentwurf zum Lebensalltag der Menschen erlebbar machen wollte, hat die Idee einer rehabilitativen „Befähigung“, die in einem hochspezialisierten Setting effizient vermittelt wird, gefördert. Dieses Modell hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die betroffenen Menschen in der Lage sind, die vermittelten Qualifizierungen/Kompetenzen auch eigenständig und möglichst umfassend in ihren identitätsstiftenden Lebensalltag und ihr Beziehungsnetz zu integrieren. Wenn wir im Kontrast dazu die Alltagsstrukturen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchtproblemen trotz all ihrer Beeinträchtigung auch als Überlebenshilfen sehen, dann wird klar, dass eigenverantwortete radikale Brüche und Veränderungen in diesem Alltag für diese Menschen kaum möglich und selten nachhaltig sind. Wir sind deshalb davon überzeugt davon, dass nachhaltige Teilhabeförderung für diese Zielgruppen nur in alltagsnahen und im Sozialraum verankerten Strukturen gelingen kann, auch um den Preis, dass individuelle Entwicklungen eben oft nur in kleineren Schritten und mit Brüchen möglich sind.
    2. Obwohl die Arbeit der ambulanten Suchthilfe in vielfacher Weise auf eine berufliche Reintegration ausgerichtet ist, versteht sich die Suchtberatung meist nicht als unmittelbar dafür verantwortlicher Akteur. Wenn aber nicht mehr nur die Suchtstörung, sondern deren chronifizierte Einbindung in eine umfassende Lebenslage Grundlage der Hilfen und einer Teilhabeförderung werden soll, dann reicht es nicht, wenn einzelne Fachkräfte in kleinen Projekten sich einem solchen Perspektivenwechsel stellen. In Baden-Württemberg, wo die Kommunen die Hauptfinanziers der Suchtberatung sind, müssen wir vielmehr Land und Kommunen für eine solche gemeinsame Fallverantwortung in der beruflichen Reintegration gewinnen, z. B. indem projektunabhängig die Effekte der Suchtberatung für eine berufliche Reintegration differenziert beobachtet und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden.
    3. Michael Bohne hat in seiner Arbeit sehr anschaulich ausgeführt, wie beschämende Erfahrungen hirnphysiologisch als vorrangige „Gefahreninformation“ abgespeichert werden und in der Folge manches positive Erleben überlagern. In seinen „Big Five der Lösungsblockaden“ beschreibt er Blockaden, die in einem sehr großen Ausmaß auch bei unseren Projekt-Teilnehmenden vorzufinden waren. In der Teilhabeförderung für Menschen in chronifizierten Lebenslagen muss es für uns darum gehen, solche beschämenden Erfahrungen des Scheiterns genauso zu vermeiden wie kurzfristige Erfolgserfahrungen, die die Betroffenen (noch) nicht als Selbstwirksamkeitserfahrung integrieren können, sondern als Glück, Zufall oder als überwiegend externe Unterstützung empfinden (vgl. Sußebach & Willeke, 2019). Wie in jedem guten Management brauchen wir auch für die Teilhabeförderung eine transparente und ehrliche Kultur der Fehlerfreundlichkeit, die Scheitern und Irrtum nicht ausblendet, aber dies als Markierung auf einem eigenverantworteten Entwicklungsweg versteht.
    4. Um solche veränderten Perspektiven plausibel und zu einer effizienten Arbeitsgrundlage werden zu lassen, ist nach unserer Erfahrung eine konsequente fallbezogene Leistungsvernetzung unter der Idee einer gemeinsamen Entwicklungsverantwortung unumgänglich. Bislang legitimiert sich jede Institution über eine abgegrenzte Handlungs- und Leistungsperspektive und wähnt sich in ihrer Abgegrenztheit als wirksamer Partner. Aber erst in einer fallbezogenen Leistungsvernetzung, in der die bestmögliche Förderung gemeinsam in den Blick genommen wird sowie die Möglichkeiten der beteiligten Institutionen und Personen eingefordert und die Grenzen berücksichtigt werden, kann sich eine Teilhabeförderung entwickeln, bei der die Chance auf eine realistische Unterstützung der bestehenden Entwicklungssehnsüchte und -ressourcen der betroffenen Menschen besteht.
    5. Im Projekt Su+Ber haben wir erlebt, wie viel Handlungsenergie im Projekt abgezogen wurde für die Klärung und Einhaltung formalistischer Vorgaben. Wenn Qualität und Effizienz nur noch an formalen Kennwerten gemessen werden, gehen Kreativität und bedarfsorientierte Flexibilität verloren und Entwicklungsförderung verkommt zum Versuch einer Dressur. Entwicklung braucht Zeit, braucht klare, reale Orientierungen, aber auch die Chance zu Irrtümern und Umwegen. In diesem Sinne wünschen wir uns eine Weiterführung von Erfahrungen wie aus unserem Projekt Su+Ber.

    „Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“ (Giovanni Maio, Medizinethiker)

    Weitere Informationen und Berichte aus dem Projekt:
    https://www.werkstatt-paritaet-bw.de/abgeschlossene-projekte/suber-sucht-und-beruf/
    (für die Berichte nach unten scrollen)

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind miteingeschlossen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr
    lesehr@paritaet-bw.de

    Textverweise (die Unterlagen sind über den Verfasser erhältlich):
    • Werkstatt Parität gGmbh: Rahmenkonzeption für eine bei ihrer Arbeitsorientierung leistungsvernetzte ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber. Stuttgart, 12/2016
    • Sara Specht, Karl Lesehr: Das Landes-ESF-Projekt Su+Ber: Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht. Beitrag zu den 24. Suchttherapietagen in Hamburg. 11.06.2019
    • Michael Bohne, Sabine Ebersberger: Synergien nutzen mit PEP. Heidelberg 2019 (Carl Auer-Verlag)
    • Interview mit Michael Bohne zu den Big Five Lösungsblockaden: https://www.youtube.com/watch?v=5i8i7bhGfZw
    • Henning Sußebach, Stefan Willeke: „Die Fee von Fulda“, in: DIE ZEIT 15/2019, 4.4.2019
    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr (70) war 18 Jahre als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er seit 2001 als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und ab 2009 beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der „Fachberatung Sucht“ im von ihm wesentlich initiierten ESF-Projekt Su+Ber hat er in den letzten Jahren noch das Landesprojekt VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung) verantwortet.

  • Umsetzung der BORA-Empfehlungen

    Umsetzung der BORA-Empfehlungen

    BORA-Empfehlungen vom 14.11.2014

    In unserem Schwerpunktthema im Mai 2015 stellten wir die Frage „Wofür brauchen wir BORA?“. Zu dieser Zeit waren die BORA-Empfehlungen gerade frisch verabschiedet, und die Einrichtungen gingen daran, Maßnahmen umzusetzen und ihre Konzepte zu überarbeiten. Dies geschah in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß und mit unterschiedlichem Nachdruck durch die Leistungsträger. Dreieinhalb Jahre später werfen wir wieder einen Blick auf Maßnahmen zum Erwerbsbezug in der Suchtreha und fragen „Was hat sich getan?“. Dazu werden zwei Abschlussarbeiten vorgestellt, von denen die eine einen bundesweiten Überblick zur organisatorischen und konzeptionellen Entwicklung gibt und die andere sich auf die konkrete Umsetzung in einer Einrichtung konzentriert.

    Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse

    Bachelorarbeit von Natascha Otten

    Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse

    Am 01.03.2015 sind die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation“ in Kraft getreten. Diese Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe BORA (Beruflich orientierte Rehabilitation Abhängigkeitskranker) erarbeitet, deren Mitglieder Expertinnen und Experten der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtverbände waren. Ziel dieser Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA-Empfehlungen) war es, neue Impulse für eine noch individuellere und an den Teilhabebedarfen der einzelnen Rehabilitandin bzw. des einzelnen Rehabilitanden orientierte Suchtrehabilitation zu geben.

    Im Rahmen der hier vorgestellten Bachelor-Abschlussarbeit setzt sich die Autorin mit dem Stand der Umsetzung dieser Empfehlungen auseinander. Ziel der Arbeit war unter anderem, aufzuzeigen, welche Probleme und Schwierigkeiten bei der Umsetzung auftreten können und welchen Mehrwert diese Empfehlungen für den Bereich der Suchtrehabilitation haben.

    Ausgangslage

    In einem vorausgehenden Forschungsprojekt von Studierenden der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde eine Umfrage zum Stand der Umsetzung der BORA-Empfehlungen durchgeführt. Eine weitere ähnliche Umfrage erfolgte durch den Fachverband Sucht (FVS). Die in beiden Umfragen erzielten Ergebnisse ließen vermuten, dass sich die Umsetzung der BORA-Empfehlungen noch in einem Prozess befindet, da die meisten Kliniken zwar bereits ein BORA-Konzept entwickelt, jedoch noch keine Rückmeldung seitens der Federführer erhalten hatten. Die Mehrheit der Einrichtungen berichtete in den Umfragen von positiven Impulsen und Entwicklungen, lediglich vereinzelte Kliniken empfanden die Empfehlungen als sinnlos.

    Gegenstand der anschließenden Bachelorarbeit war es, die vorliegenden Umfrageergebnisse qualitativ zu evaluieren. Dazu führte die Autorin Experteninterviews durch. Als Interviewpartner wurden Führungskräfte aus Fachkliniken in unterschiedlichen Regionen Deutschlands ausgewählt. Zusätzlich wurden ein Einrichtungsleiter einer Adaptionseinrichtung und zwei Mitverfasser der BORA-Empfehlungen (ein Experte der Deutschen Rentenversicherung und ein Experte aus den Reihen der Suchtverbände) befragt, um einen möglichst guten Überblick zu gewährleisten.

    Fazit der Interviews

    Als eines der aktuellen Hauptprobleme der Umsetzung wurden fehlende finanzielle Ressourcen benannt. Die Ausgangssituationen der einzelnen Kliniken stellten sich als sehr unterschiedlich heraus, sodass auch der Bedarf an finanzieller Unterstützung verschieden groß ist. Für die Umsetzung der BORA-Empfehlungen ist es notwendig, entsprechende Instrumente für Screening- und Assessmentverfahren einzuführen, das vorhandene Personal weiterzubilden und ggf. auch neue berufsbezogene Therapieangebote zu etablieren – alles Maßnahmen, die Geld kosten. Dadurch wird deutlich, dass die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Leistungsträger den Hauptgrund für die uneinheitliche Umsetzung darstellt.

    Auffällig war, dass zum Zeitpunkt der Befragung die Umsetzung und Finanzierung von zusätzlichen Maßnahmen im Norden Deutschlands bereits weit fortgeschritten war. Es zeichnete sich eine Art Nord-Süd-Gefälle ab.

    Auch wenn die BORA-Empfehlungen eher als eine Art Ergänzung der bisherigen Strukturen und Prozesse zu verstehen sind, sehen die befragten Experten in ihnen einen Mehrwert, insbesondere für die Evaluation der bisherigen Rehabilitationsprozesse. Durch BORA werden neue Impulse gegeben, um den Reha-Prozess noch individueller zu gestalten und somit bessere Chancen für eine berufliche Wiedereingliederung zu schaffen. Dieses Ziel sollte gerade von den Leistungsträgern auch finanziell unterstützt werden.

    Ausblick

    Wie der Name schon sagt, handelt es sich aktuell lediglich um Empfehlungen ohne verpflichtende Umsetzung für die Einrichtungen. Allein deswegen kann eine bundesweit einheitliche Umsetzung nicht erwartet werden. Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung haben gezeigt, dass BORA eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der beruflichen Orientierung in der Suchtrehabilitation darstellt. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich der weitere konzeptionelle Umsetzungsprozess gestalten wird. Sinnvoll erscheint, in drei bis vier Jahren eine erneute Umfrage durchzuführen, weil dann davon auszugehen ist, dass der Umsetzungsprozess weitestgehend abgeschlossen ist und eine umfassende Beurteilung vorgenommen werden kann. Am Ende sollte jedoch die Frage diskutiert werden, ob es nicht sinnvoller wäre, BORA als ein verbindliches Rahmenkonzept einzuführen und zu finanzieren.

    Die Bachelorarbeit steht hier zum Download bereit.

    Kontakt:

    Natascha Otten
    N.Otten@bghw.de

    Angaben zur Autorin:

    Natascha Otten, Absolventin der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg im Bereich Sozialversicherung mit dem Schwerpunkt Unfallversicherung, ist Mitarbeiterin der Berufsgenossenschaft Handel- und Warenlogistik in Essen.

    Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein

    Bachelorarbeit von Melanie Zirnsak

    Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein

    Im Januar 2017 wurden in der Fachklinik Hirtenstein fünf Zielgruppen implementiert, welche sich an den „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen; Beckmann u. a. 2014, S. 1) orientieren. Die Implementierung dieser BORA-Zielgruppen stellte den Evaluationsgegenstand einer Pilotstudie dar, welche im Rahmen einer Bachelorarbeit durchgeführt wurde. Da die BORA-Empfehlungen erst 2014 herausgegeben wurden, besitzen sie eine hohe Aktualität und Relevanz für Praxis und Forschung.

    Bei den Empfehlungen der Arbeitsgruppe BORA steht die Förderung der beruflichen Integration im Fokus. Das Augenmerk liegt hierbei nicht auf einer konzeptionellen Neuentwicklung, sondern auf der Weiterentwicklung von bereits bestehenden Therapiekonzepten (vgl. Koch 2015, o.S.). Die BORA-Empfehlungen „beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen“ (ebd., o.S.) von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, welche sehr verschiedene therapiebezogene Bedürfnisse haben können. Abbildung 1 stellt die Aufgliederung in diese fünf Zielgruppen dar.

    Abb. 1: Die fünf BORA-Zielgruppen (Eigene Darstellung in Anlehnung an Beckmann u. a. 2014, S. 11 f.). BBPL = Besondere Berufliche Problemlagen

    Ziel

    Die Arbeit gliedert sich in zwei Bereiche: die theoretische Hinführung zum Thema sowie den Methodenteil. Im theoretischen Teil werden Grundlagen der Suchttherapie, das dynamische Zusammenspiel der einzelnen Therapieziele sowie die Einfluss- und Wirkfaktoren in der Suchttherapie dargestellt. Im Anschluss wird auf die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eingegangen. Neben der geschichtlichen Entwicklung geht es hier vor allem um die Aufbereitung und Erläuterung der BORA-Empfehlungen.

    Ziel ist es, die Auswirkungen der Implementierung der fünf Zielgruppen in der Praxis zu erheben und zu bewerten. Die genaue Fragestellung lautet: Wie wirkt sich aus Sicht der therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Implementierung erwerbsbezugshomogener Bezugsgruppen (ebhB) nach den BORA-Empfehlungen auf die soziale Situation, die Arbeitsweise in den Gruppen und die Gesamtsituation in der Klinik aus?

    Methode

    Die Fragestellung untergliedert sich in fünf Forschungsfragen. So soll evaluiert werden, wie sich die Implementierung auf

    1. die Arbeit in den Bezugsgruppen,
    2. die soziale Situation in den Gruppen,
    3. die soziale Situation zwischen den Gruppen sowie
    4. auf die Gesamtsituation in der Klinik und
    5. die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten

    auswirkt. Aus diesen Forschungsfragen wurden im Rahmen der Operationalisierung Dimensionen erarbeitet, welche wiederrum Grundlage für die Entwicklung von Indikatoren waren (vgl. Schnell u. a. 2013, S. 118). Die möglichen Auswirkungsbereiche sowie deren Aufgliederung in Dimensionen sind in Abbildung 2 dargestellt.

    Abb. 2: Mögliche Auswirkungsbereiche der Implementierung der ebhB

    Für die Evaluation wurde eine quantitative Erhebung mittels zweier Fragebogen durchgeführt. Ein standardisierter Online-Fragebogen wurde durch einen weitgehend standardisierten papiergebundenen Fragebogen ergänzt. Es wurden alle elf therapeutisch tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachklinik Hirtenstein befragt. Hierdurch handelt es sich um eine Vollerhebung. Da mittels der Befragung die Veränderungen durch die Implementierung erhoben wurden, die Erhebung selbst jedoch erst nach der Implementierung stattfand, handelt es sich um eine quasi-indirekte Veränderungsmessung (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 95). Das Erhebungsinstrument wurde einem zweistufigen Pretest unterzogen. Der Erhebungszeitraum betrug 17 Tage.

    Nur Ergebnisse von Personen, die schon mindestens drei Monate in der Fachklinik Hirtenstein beschäftigt sind, gingen in die Bewertung ein, da nur diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl die Vorher- als auch die Nachher-Situationen kennengelernt haben und somit die Auswirkungen in der Fachklinik einschätzen und bewerten können.

    Ergebnisse

    Die Rücklaufquote lag sowohl bei der Online- als auch bei der papiergebundenen Umfrage bei 100 Prozent.

    1. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gaben an, dass die Arbeit in den erwerbsbezugshomogenen Bezugsgruppen die Konzentration, die Zielgerichtetheit und die Beteiligung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden erhöht hat. Zudem hat sich die Anschlussfähigkeit erhöht, und es hat eine Veränderung der Themenschwerpunkte stattgefunden.
    2. In Bezug auf die soziale Situation innerhalb der Bezugsgruppen wurden ebenfalls Veränderungen wahrgenommen. So haben sich hier die Gruppenkohäsion und die wechselseitige Unterstützung erhöht. Auch trug die Implementierung zur Verringerung von Konflikten und zur Erhöhung der Interaktion innerhalb der einzelnen Gruppen bei. Die Befragten äußerten zudem, dass sie eine Erhöhung bei der Übereinstimmung von Themen wahrnehmen. Lediglich bei der Identifizierung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit der Gruppe konnten die Befragten keine Veränderung feststellen.
    3. Im Bereich der sozialen Situation zwischen den einzelnen Bezugsgruppen verringerte sich die Abgrenzung zwischen den Gruppen. Im Hinblick auf die wechselseitige Unterstützung sowie die Interaktion zwischen den Gruppen wurde eine Erhöhung wahrgenommen, eine Bildung elitärer Gruppen wurde nicht beobachtet. Das Konfliktniveau wurde als unverändert eingestuft.
    4. Auf die Gesamtsituation in der Klinik hat sich die Einführung ebenfalls ausgewirkt. So wurde von den Befragten eine Verbesserung der Gesamtatmosphäre festgestellt. Auch werden berufsbezogene Aspekte nun stärker in den Behandlungsprozess eingebunden, und der Stellenwert der erwerbsbezogenen Behandlungsanteile hat sich erhöht. Nach Meinung der Befragten kann nun besser auf arbeitsbezogene Probleme eingegangen werden, und die Erwerbstätigkeit rückt stärker in den Fokus.
    5. Bei den Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten kann festgestellt werden, dass sich die erforderliche Aktivität durch therapeutisch Arbeitende sowie der Aufwand bei der Anwendung therapeutischer Techniken unverändert blieben. Bezüglich der Arbeitsinhalte ist eine Veränderung festzustellen und der allgemeine Arbeits- und Dokumentationsaufwand hat sich durch die Einführung der ebhB erhöht.

    Die Auswirkungen der Implementierung der ebhB werden durch die Forscherin größtenteils als vorteilhaft bewertet. So werden vier der Ergebnisse als neutral eingestuft, und lediglich die Erhöhung des allgemeinen Arbeitsaufwands und des Dokumentationsaufwands wird als negativ eingestuft. Die Bewertung erfolgte auf Grundlage der theoretischen Fundierung.

    Diskussion

    Insgesamt werden die wahrgenommenen Veränderungen überwiegend als positiv eingestuft. Insbesondere kann hier herausgestellt werden, dass die Implementierung der ebhB dem Ziel der BORA-Empfehlungen, der Diversität der Bedürfnisse von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden besser gerecht werden zu können, zuträglich ist (vgl. Beckmann u. a. 2014, S. 17). So deuten die Ergebnisse darauf hin, dass erwerbsbezugshomogene Bezugsgruppen in einigen Bereichen zu einer bedarfsgerechteren Versorgung von Personen mit Abhängigkeitserkrankungen beitragen können. Werden die Ergebnisse der Evaluation in der Fachklinik Hirtenstein betrachtet, so kann die Implementierung aufgrund vielfältiger Verbesserungen nur befürwortet werden und sollte auch von anderen Rehabilitationseinrichtungen in Betracht gezogen werden.

    Aufgrund des eingeschränkten Studiendesigns und der geringen Anzahl partizipierender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten die Ergebnisse äußerst vorsichtig interpretiert werden. Es ist nicht möglich, die Ergebnisse auf andere Kontexte zu übertragen, sie können also nicht für die Allgemeinheit von Rehabilitationseinrichtungen generalisiert werden (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 42). Um ein flächendeckendes Bild zu erhalten, wäre es wünschenswert, dass auch andere Rehabilitationseinrichtungen Studien bezüglich der Auswirkungen durchführen. Auch wäre es sinnvoll, zusätzlich eine Befragung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vorzunehmen, um eine abschließende Bewertung der Implementierung zu ermöglichen (vgl. Döring 2014, S. 171).

    Die Bachelorarbeit kann bei der Redaktion KONTUREN angefordert werden: redaktion@konturen.de

    Kontakt:

    Melanie Zirnsak
    melaniezirnsak@googlemail.com

    Angaben zur Autorin:

    Melanie Zirnsak, Absolventin der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten im Bereich Gesundheitswirtschaft mit dem Schwerpunkt Prävention und Gesundheitsförderung, ist Studentin der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Bereich Public Health.

    Literatur:
    • Beckmann, Ulrike/Eckstein, Gerhard/Hennig, Uwe/Hoffmann, Sabine/Koch, Andreas/Köhler, Joachim u. a. (2014): Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14. November 2014. Deutsche Rentenversicherung Bund. Berlin.
    • Döring, Nicola (2014): Evaluationsforschung. In: Nina Baur und Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167–181.
    • Gollwitzer, Mario/Jäger, Reinhold S. (2014): Evaluation kompakt, 2., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
    • Koch, A., Wofür brauchen wir BORA? – Ausgangssituation und Aufgabenstellung, KONTUREN online, verfügbar unter: http://www.konturen.de/titelthema/wofuer-brauchen-wir-bora, 6. Mai 2015 [letzter Zugriff 29. November 2018]
    • Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung, 10., überarbeitete Auflage. München: Oldenbourg Verlag.
  • Unterstützung für arbeitssuchende Abhängigkeitskranke

    Die gemeinsam zwischen der DRV, der Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Spitzenverbänden geschlossenen Empfehlungen sollen arbeitsuchende abhängigkeitskranke Menschen bei dem Zugang in eine medizinische Rehabilitation und bei der anschließenden beruflichen (Wieder-)Eingliederung unterstützen.

    Die Empfehlungen beschreiben die Verwaltungsabläufe für eine gut abgestimmte Zusammenarbeit und Koordinierung der Beratungs- und Dienstleistungsangebote der beteiligten Leistungsträger in der Zeit vor, während und nach der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker. So werden beispielsweise die Zugangsmöglichkeiten in die medizinische Rehabilitation dargestellt. Neu ist unter bestimmten Voraussetzungen der Zugang ohne den sonst üblichen Sozialbericht. Die Empfehlungen sehen eine entsprechende Möglichkeit vor, nach Begutachtung durch einen Gutachterdienst der Bundesagentur für Arbeit oder eines kommunalen Trägers für den Antritt der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auf die Einschaltung einer Suchtberatungsstelle zu verzichten. Dies soll u. a. dazu beitragen, den Betroffenen frühzeitige Zugänge zur medizinischen Rehabilitation zu ermöglichen. Ferner geht es um Kontakte der Rehabilitanden während und nach der Rehabilitation mit der Arbeitsagentur/dem Jobcenter zur Entwicklung einer nahtlos ansetzenden Eingliederungsstrategie in den Arbeitsmarkt.

    Bei diesen Verfahren ist eine enge Kooperation zwischen Jobcentern, Agenturen für Arbeit, Rentenversicherungsträgern, Suchtberatungsstellen und den Rehabilitationseinrichtungen erforderlich, weshalb eine Umsetzung auf Landesebene vorgesehen ist. Die Empfehlungen treten zum 1. Juli 2018 in Kraft.

    Download von der Website der Deutschen Rentenversicherung:

    Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit, des Deutschen Landkreistages und des Deutschen Städtetages zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen vom 01.Juli 2018

    Quelle: Website der Deutschen Rentenversicherung, 19.07.2018

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im ersten Teil des Artikels (vom 11. Juli 2017) wurden die Schwachstellen des Versorgungssystems im Hinblick auf die Reintegration in Arbeit von abhängigkeitskranken Langzeitarbeitslosen als Hintergrund für die Entstehung des Projektes Su+Ber beschrieben. Im zweiten Teil wird nun das Projekt selbst vorgestellt. Im Rahmen des Projekts Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) haben Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitserkrankung in Baden-Württemberg seit Anfang 2016 die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Arbeitsfördermaßnahme ohne Abstinenzverpflichtung mit dem eigenen Suchtverhalten auseinanderzusetzen, soweit dieses eine berufliche Reintegration und eine soziale Teilhabe konkret beeinträchtigt oder gefährdet. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF).

    Zentrale Entwicklungsziele des ESF-Projekts Su+Ber

    Karl Lesehr

    Anstelle eines weiteren Abmühens an bestehenden sozialleistungsrechtlichen Abgrenzungen und an Schnittstellen, die den institutionellen Eigenlogiken entsprechen, wird in Su+Ber eine neuartige und konsequent nutzerorientierte Vernetzung von Jobcenter, Arbeitshilfeträger und Suchtberatung entwickelt. Dabei ist die Beratungsstelle als anerkannter Leistungserbringer der ambulanten Suchtrehabilitation an einer zeitlichen, örtlichen, personellen und fachlichen Vernetzung zweier teilhabeorientierter Sozialleistungen (Suchtreha und Arbeitsförderung) im Lebensalltag der langzeitarbeitslosen Menschen beteiligt. Durch diese Leistungsvernetzung wird für die Projektteilnehmer eine auch über den Zeitpunkt einer Arbeitsaufnahme hinausreichende Betreuungskontinuität ermöglicht. Durch projektspezifische Instrumente und durch standardisierte Bausteine der Zusammenarbeit soll erreicht werden, dass die beiden Leistungsträger jeweils ihre volle Leistungsverantwortung beibehalten, sich aber auch wie die beiden Leistungserbringer als Partner einer gemeinsamen Entwicklungsförderung verstehen und sich ungeachtet aller eigenen abgegrenzten Leistungszuständigkeiten auf eine gemeinsame Suche nach der im Einzelfall wirksamsten Förderungsoption einlassen.

    Kooperation kann nur dann funktionieren, wenn für alle Beteiligten auch Erfolge erkennbar werden: Das Projekt Su+Ber konzentriert sich deshalb ganz bewusst auf Langzeitarbeitslose, für die schon nach einer relativ kurzen und durch suchtrehabilitative Leistungen gestützten Arbeitsfördermaßnahme eine realistische Chance auf die Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz vermutet und dann realisiert werden kann. Als mögliche Zielgruppen wurden daher definiert:

    • Langzeitarbeitslose, die hinreichend stabil substituiert und an einer vollwertigen beruflichen Reintegration nachweislich interessiert sind,
    • Langzeitarbeitslose, die aufgrund gescheiterter Rehaerfahrungen oder auch persönlicher Entscheidung aktuell nicht zu einer abstinenzgebundenen Suchtrehamaßnahme fähig oder bereit sind (v. a. Alkohol), bei denen aber begründete Aussicht besteht, dass sie mit einem strukturierten Suchtmittelkonsum hinreichend arbeitsfähig und in der Lage sind, ihren Lebensalltag nachhaltig ohne suchtbedingte Krisen in den Griff zu bekommen,
    • langzeitarbeitslose Rehabilitanden aus einer (teil)stationären Suchtrehamaßnahme, die sich bereits für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben und für die eine Rückkehr in die vertraute soziale Umgebung wünschenswert ist, die aber nach ihrer regulären Entlassung noch nahtlos eine gezielte alltagsnahe Weiterbehandlung und Förderung für eine wirksame berufliche Reintegration brauchen,
    • langzeitarbeitslose Teilnehmer aus ambulanter Suchtreha, die sich zwar für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben, die aber im Rehaverlauf wiederholt Probleme bei der Aufrechterhaltung einer umfassenden Abstinenz hatten und die aktuell auch nicht für eine stationäre Suchtrehamaßnahme gewonnen werden können; diese Teilnehmer können dann in die arbeitsorientierte ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber übernommen werden, wenn trotz der Suchtmittelrückfälle während der ambulanten Reha eine erfolgreiche Weiterführung der Suchtrehabilitation im Rahmen des Projekts Su+Ber zu vermuten ist.

    Das Projekt Su+Ber geht davon aus, dass sich für eine derartige konkrete Arbeitsplatzperspektive vor allem Klienten gewinnen lassen, die bereits seit langem wiederholt oder kontinuierlich Betreuungsleistungen der Beratungsstelle nutzen oder die durch abstinenzgebundene Suchtrehamaßnahmen nicht wirksam im Erwerbsalltag stabilisiert werden konnten. Entscheidende Voraussetzung für das Projekt Su+Ber ist deshalb ein Konzept suchtrehabilitativer Leistungen, das sich konsequent an einer konstruktiven Bewältigung von Arbeitsrealität orientiert und bei dem eine Suchtmittelabstinenz nur eine mögliche (und oft auch wünschenswerte) Option im Umgang mit Suchtmitteln darstellt. Ziel der suchtrehabilitativen Arbeit im Projekt Su+Ber ist demnach die Entwicklung einer beschäftigungssichernden eigenen Problemwahrnehmung und Risikokompetenz, also einer der aktuellen Lebenslage entsprechenden Selbststeuerungskompetenz und -bereitschaft.

    Konzeptionelle Umsetzung des ESF-Projekts Su+Ber

    Für diese Projektideen konnte im Förderaufruf NaWiSu im Herbst 2015 die Unterstützung der Landespolitik, aber auch der Regionaldirektion für Arbeit und der DRV Baden-Württemberg gewonnen werden. Mit sechs Standorten konnte das Projekt Su+Ber zum Jahresbeginn 2016 starten. Beteiligt sind sechs Jobcenter (davon drei von Optionskommunen), sechs federführende Suchtberatungsstellen (die sich im Vorfeld mit anderen Suchtberatungsstellen im regionalen Einzugsgebiet auf eine gemeinsame Nutzung dieses Projekts verständigt hatten) und sechs an diesem Projekt interessierte Arbeitshilfeträger. Projektträger ist die Werkstatt Parität Stuttgart. Die zunächst aus haushaltstechnischen Gründen auf zwei Jahre begrenzte Projektlaufzeit wird nach aktuellem Stand wohl bis Ende 2018 auf dann drei Jahre verlängert werden, um so auch sinnvolle erste Entwicklungsdaten gewinnen zu können.

    Im Projekt werden aus Landesmitteln nur die Suchtberatungsstellen (Aufwand für 0,8 Vollzeitkräfte) und der Projektträger gefördert; für die Arbeitsfördermaßnahmen wurden im Projektaufruf vergleichsweise günstige Personalschlüssel definiert, die eine intensive Kooperation ermöglichen sollen und von den beteiligten Jobcentern voll finanziert werden. Die DRV Baden-Württemberg fördert die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch das Institut für Therapieforschung München (IFT). Die Entwicklung der notwendigen Rahmenkonzeption für eine projektspezifische ambulante Suchtreha sowie die Einbindung der projektbezogenen Evaluation in die Systematik der Deutschen Suchthilfestatistik wurden ergänzend einmalig vom Suchtreferat des Sozialministeriums gefördert.

    Das Projekt sieht für die Teilnehmer drei Projektphasen vor:

    • In der Phase A (Clearing) bemühen sich die beteiligten Einrichtungen um die Gewinnung und Motivierung von Projektteilnehmern (Grobclearing, Erarbeitung einer persönlichen Entwicklungsperspektive). Dies erfolgt zunächst in den jeweils eigenen Handlungsfeldern und mündet im gemeinsamen prognostischen Verfahren eines Grobclearings, bei dem alle mit dem potentiellen Projektteilnehmer persönlich befassten Kontaktpersonen eine Einschätzung abgeben sollen (also Jobcenter, Beratungsstelle, Arbeitshilfeträger, Substitutionsarzt, Bewährungshelfer o. ä.). Das Grobclearing dient der für jede Sozialleistung erforderlichen prognostischen Einschätzung der aktuell nutzbaren Fähigkeiten und Ressourcen. Es muss zwingend ergänzt werden um eine Klärung der persönlichen Entwicklungsperspektiven und der Teilhabebereitschaft. Die Ergebnisse dieses umfassenden Grobclearings bilden die Grundlage einer gemeinsam abgestimmten Behandlungs- und Maßnahmenempfehlung gegenüber der DRV Baden-Württemberg bzw. dem Jobcenter. Um schon in dieser Phase der Teilnehmergewinnung die Erfahrungen an einem konkreten Arbeitsplatz motivationsklärend nutzen zu können, wurde im Projektverlauf die Möglichkeit geschaffen, dass potentielle Projektteilnehmer quasi auf Probe dem Arbeitshilfeträger für eine Arbeitsfördermaßnahme zugewiesen werden und dass dann in diesem Setting alle weiteren Clearingaktivitäten erfolgen.
    • Die Phase B (Training, Entwicklung) besteht aus der Integration einer sechs- bis achtmonatigen Maßnahme der Arbeitsförderung und einer Maßnahme der projektspezifischen ambulanten Suchtreha. Die Teilnahme ist nur möglich, wenn die Teilnehmer sich freiwillig für diese Leistungsvernetzung entscheiden und mit dem Projektkonzept einverstanden sind. Im Projekt Su+Ber wird zudem eine personelle Verflechtung zwischen der Suchtberatung und dem Sozialdienst des Arbeitshilfeträgers angeregt, die Arbeitsfördermaßnahme sollte regelmäßig auch vor Ort suchtkompetent begleitet und beobachtet werden (sechs bis acht Wochenstunden). Die Leistungen der ambulanten Suchtreha sollen dabei bestmöglich in die Arbeitsplatzstruktur und in den Lebensalltag der Teilnehmer eingebunden sein und hier v. a. einen konfrontierend-stützenden Charakter haben: Ziel ist es, die Kompetenz der Teilnehmer, ihre arbeitsplatzrelevanten Risiken und Schwächen zu erkennen, zu fördern und die Teilnehmer dann gezielt bei konstruktiven Verhaltensmustern zu unterstützen.Nach den ersten acht Wochen in Phase B wird das Grobclearing wiederholt; dabei sollen sowohl das aktuelle Reintegrationsziel als auch der dafür gewählte Weg über das Projekt Su+Ber überprüft und bei Bedarf zusammen mit dem Teilnehmer Entscheidungen zur Veränderung der individuellen Entwicklungsplanung getroffen werden. Bis zum Ende der sechs- bis achtmonatigen Arbeitsfördermaßnahme soll eine Vermittlung an einen sozialversicherungspflichtigen eigenen Arbeitsplatz intensiv versucht und über Betriebspraktika unterstützt werden.Bei einer vorzeitigen Beendigung der Projektteilnahme nach dem zweiten Grobclearing oder auch bei einer Beendigung ohne erfolgreiche Vermittlung an einen eigenen Arbeitsplatz findet eine abschließende Auswertung statt, in der der Teilnehmer von allen Beteiligten eine differenzierte Bewertung der mit ihm gemachten Erfahrungen erhält. Gemeinsam wird dann nach anderen, möglicherweise wirksameren, Fördermöglichkeiten und Behandlungsformen oder nach anderen aktuell vorrangigen Interventionsformen gesucht; entsprechende Maßnahmen werden möglichst unmittelbar im Kontext der Leistungsvernetzung eingeleitet. Grundhaltung bei all diesen Bemühungen ist, dass eine Maßnahme zwar vielleicht nicht zum gewünschten Ergebnis geführt und der Teilnehmer möglicherweise bislang unbekannte Entwicklungsbedarfe entdeckt hat, dass aber eine vorzeitige Beendigung oder eine Beendigung ohne Arbeitsplatzvermittlung nicht automatisch schon als Versagen oder Scheitern des Teilnehmers wahrgenommen wird.
    • In der Phase C (nachhaltige Stabilisierung der Arbeitsreintegration) hat der Teilnehmer im Regelfall einen eigenen Arbeitsplatz und kann dann für weitere zwölf Monate eine intensive suchtrehabilitative Begleitung und Stabilisierung seiner alltäglichen Arbeits- und Lebenssituation nutzen, auch direkt am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. In diese Weiterbetreuung können im Interesse von Beziehungskontinuitäten auch Fachkräfte des Arbeitshilfeträgers integriert werden.

    Erfahrungen und Ergebnisse aus dem ersten Projektjahr 2016

    An allen Projektstandorten wurden zwischen den beteiligten Akteuren verbindliche und regelmäßige (teilweise monatlich) fallbezogene Arbeitsformen aufgebaut, die von den Beteiligten durchweg als lohnend und hilfreich erlebt werden: In der fallbezogenen Vernetzung geht es nicht mehr nur um Informationsaustausch, sondern zunehmend darum, wie nächste Schritte für einen konkreten Menschen gemeinsam wirksam gestaltet werden können. Vor allem die für das Projekt an mehreren Standorten definierten ‚Scharnierverantwortlichen‘ in den Jobcentern werten diese Netzwerkstrukturen als sehr hilfreich und trotz hoher Sitzungsdichte erstaunlich effizient. Während sich die beteiligten Jobcenter meist relativ leicht über die Beauftragung solcher institutioneller Bezugspersonen für das Projekt Su+Ber verständigen konnten, erwies sich eine vergleichbare Verankerung in den beteiligten Suchtberatungsstellen und v. a. auch in kooperierenden anderen Suchtberatungsstellen teilweise als strukturell mühsam und sogar konflikthaft.

    An einzelnen Standorten gab es durch das Projekt Su+Ber erstmals mehr als nur punktuelle Gesprächskontakte zwischen Suchtberatung und Arbeitshilfeträgern. Das Eintauchen in die Denkvorstellungen und in die Handlungswirklichkeiten der jeweils anderen Seite bedeutet natürlich auch Verunsicherung, wird aber vielerorts als Neuland erlebt, in dem auch bislang unbekannte Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Klienten/Kunden gestaltet werden können. Allein schon die eigenen Suchtklienten außerhalb des Beratungszimmers in einer vergleichsweise normalen Alltagssituation mit all ihren Implikationen erleben zu können, kann Horizonte öffnen.

    Mit dem relativ einfachen Instrument des Grobclearings wurde eine effiziente Form gefunden, in der sich die verschiedensten Akteure trotz aller fachlichen und menschlichen Unterschiede in eine gemeinsame Entwicklungsplanung einbringen und gleichzeitig von den Einschätzungen anderer profitieren können. Nicht zuletzt ist die gemeinsame Bearbeitung dieses Grobclearings für die Teilnehmer selbst eine sehr differenzierte und letztlich stärkende Beziehungserfahrung – sie können im Idealfall ein entwicklungsorientiertes persönliches Beziehungsnetz erleben.

    Gleichzeitig wird über das Projekt Su+Ber auch deutlich, wie ‚behandlungsfixiert‘ in den beteiligten Suchtberatungsstellen teilweise noch gearbeitet wird. Aus den ersten Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung ging hervor, wie wenig die Frage einer konkreten Reintegration in Arbeit beispielsweise bei der Rehagesamtplanung und Rehavermittlung bislang schon berücksichtigt wird oder auch wie selten solche Rehaplanungen nicht nur das Ergebnis eines individualisierten Beratungsprozesses sind, sondern auch die differenzierte Expertise eines ganzen Teams einbeziehen.

    Ähnliches gilt für die Fachkräfte der Arbeitshilfeträger, die ja auch in vielen sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen mit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen konfrontiert sind und deshalb notgedrungen oft sehr pragmatisch-kurzfristige Problemlösungen im Umgang mit diesen Menschen entwickelt haben. Jetzt in der Auseinandersetzung mit suchtkompetenten Kollegen zu entdecken, dass deren zentrales Handwerkszeug eine reflektierte und methodisch geschulte Beziehungsarbeit ist, hilft diesen Fachkräften, einen umfassenderen Blick auf die Lebenslage und damit auf die Entwicklungsoptionen und Förderungsbedarfe des einzelnen Teilnehmers zu finden.

    Zu Projektbeginn hat sich die Projektgruppe intensiv mit dem Institut für Therapieforschung München (IFT) über Möglichkeiten und Details einer wissenschaftlichen Evaluation verständigt. Ziel war es, für alle standardisierten Evaluationsdaten die EDV-gestützte Datenerhebung für die Deutsche Suchthilfestatistik zu nutzen und deshalb alle weiteren für das Projekt notwendigen teilnehmerbezogenen Daten auch darüber zu erheben. Nachdem der Verfasser dieses Artikels als Mitglied des Fachausschusses Statistik der DHS damals unmittelbar in die Überarbeitung des Kerndatensatzes Sucht eingebunden war und zudem in Baden-Württemberg vom Sozialministerium mit der Erweiterung des KDS 3.0 um einen landesspezifischen Datensatz und dessen Implementierung in die Dokusoftware beauftragt war, waren hier zahlreiche Synergieeffekte möglich.

    Im bisherigen Projektverlauf mussten die Initiatoren lernen, dass zahlreiche Klienten (v. a. Substituierte), die nach Einschätzung der betreuenden Beratungsstelle durchaus für eine Projektteilnahme geeignet und daran auch interessiert wären, viel stärker in ihrem aktuellen (eben auch arbeitslosen) Lebensstil verankert sind, als sie sich bislang wohl selbst eingestanden hätten. Es wird verstärkt deutlich, dass vielerorts das Behandlungskonzept der Drogensubstitution immer weniger mit der Perspektive einer Verbesserung beruflicher Teilhabe verbunden ist: Für viele Mitarbeiter in der Suchthilfe und angrenzenden Gebieten impliziert das Bemühen um die Aufnahme einer Arbeit den Ausstieg aus der Substitutionsbehandlung (was auch die Premos-Studie – aber als eher problematisch – skizziert, vgl. Wittchen et al., 2011). Gleichzeitig wurde deutlich, dass für eine wirksame Motivierung für eine berufliche Reintegration eben nicht nur der einzelne Patient/Klient, sondern eben auch verstärkt die subjektiven Realitäten des familiären und sozialen Umfelds einbezogen werden müssen.

    Für den Verfasser als fachlichen Begleiter des Projekts Su+Ber war und ist die schönste Erfahrung, dass immer wieder Projektmitarbeiter in der Suchtberatung begeistert entdecken, welche Gestaltungsfreiräume sich für sie in ihrer Arbeit mit dem Projekt auftun. Natürlich ist dieses Projekt mit einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit verbunden, und natürlich stellen sich in einem solchen Vernetzungsprojekt zahlreiche Fachfragen und auch datenschutzrechtliche Unsicherheiten. Gemeinsam wurden aber bislang für alle diese Fragen konstruktive und alltagstaugliche Lösungen gefunden. Dennoch muss allen Beteiligten klar bleiben, dass niemand für alle Situationen und alle individuellen Bedarfe von Hilfe Suchenden eine passende Problemlösung bereitstellen kann – schon gar nicht im Rahmen eines Modellprojekts, das die Ergebnisse ganz spezifischer Lösungswege sauber evaluieren will.

    Konzeption für eine ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber

    Zentrales Arbeitsergebnis aus dem ersten Projektjahr ist die intensive Erarbeitung einer Rehakonzeption für das Su+Ber-Projekt, die zum Jahresende 2016 auch von der DRV Baden-Württemberg anerkannt wurde. Mit dieser Konzeption gewährt die DRV Baden-Württemberg für das Projekt Su+Ber zahlreiche Entwicklungsfreiräume. Dafür ist die Projektgruppe dankbar und sie ist stolz zugleich, denn es war auch in der Projektgruppe Mut notwendig, um in diesem Maß über bewährte Formen hinaus zu denken und dennoch die gewohnte Leistungsqualität ambulanter Suchtreha nicht aus dem Blick zu verlieren. Viele dieser Entwicklungsfreiräume gilt es nun im weiteren Projektverlauf teilnehmerorientiert und kreativ zu nutzen und zu gestalten – immer mit Blick auf eine wirksame und nachhaltige Reintegration in Arbeit und die darauf orientierte Evaluation der Projektarbeit. Im Folgenden werden wesentliche Innovationen dieser Rehakonzeption dargestellt:

    • Für die ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber wurden die möglichen Zielgruppen (Indikationskriterien) erweitert, es besteht keine Abstinenzvoraussetzung und auch keine zwingende Abstinenzperspektive – zentrales suchtrehabilitatives Kriterium ist vielmehr eine stabile berufliche Reintegration bei dafür notwendiger Reduktion bzw. Auflösung suchtassoziierter Risiken.
    • Die DRV Baden-Württemberg ist bereit, die Ergebnisse des leistungsträgerübergreifenden und interdisziplinären Grobclearings als wesentlichen Baustein der für eine Leistungszusage notwendigen Erfolgsprognose zu nutzen. Analog dazu werden auch projektbezogene Entscheidungen zur vorzeitigen Beendigung einer Projektteilnahme von der DRV für die bewilligte Suchtrehamaßnahme übernommen (im Regelfall endet mit der Projektteilnahme also auch die ambulante Suchtreha, sofern nicht gemeinsam mit dem Rehabilitanden die Weiterführung in einer anderen Suchtrehaform vereinbart wurde).
    • Im Projekt Su+Ber sollen geeignete Verfahren zur Erarbeitung teilhaberelevanter persönlicher Entwicklungsziele und -bereitschaften entwickelt werden, auf deren Grundlage die Nutzung unterschiedlicher Rehaformen wirksamer gesteuert werden könnte.
    • Für die auf eine unmittelbare Arbeitsintegration orientierte ambulante Suchtreha wurden vorläufig sieben suchtrehabilitative Entwicklungsdimensionen formuliert, die für die Fachkräfte sowie für den einzelnen Teilnehmer eine verständliche Grundlage für die jeweiligen in einer Rehagesamtplanung zu vereinbarenden suchtrehabilitativen Leistungen sein sollen. Die Verfasser der Konzeption erhoffen sich von einer konsequenten Zuordnung aller suchtrehabilitativen Leistungen zu diesen sieben Dimensionen, dass darüber auch eine qualitative Professionalisierung der entsprechenden suchtrehabilitativen Kompetenzen der Fachkräfte in der Suchtberatung/ambulanten Suchtrehabilitation erleichtert werden kann.
    • Die ersten Erfahrungen mit den Projektteilnehmern haben rasch gezeigt, dass die vertrauten Arbeitsformen ambulanter Suchtreha bei ihnen auf wenig Gegenliebe und teilweise sogar auf offene Ablehnung stoßen. Manche Teilnehmer wären z. B. mit den üblichen Gruppensitzungen weitgehend überfordert. Sehr positiv ist deshalb, dass sich die DRV Baden-Württemberg darauf eingelassen hat, für die Arbeit im Projekt Su+Ber statt der sonst verbindlichen Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) projektspezifische Leistungskategorisierungen zuzulassen und zu erproben. Der von der Projektgruppe entwickelte Katalog suchtrehabilitativer Leistungen im Projekt Su+Ber gliedert sich auf der ersten Ebene in sieben Inhaltsdimensionen und ordnet diesen dann auf einer zweiten Ebene Leistungsarten zu (jeweils etwa zehn Maßnahmen mit dem einzelnen Teilnehmer bzw. mit einer Gruppe oder im sonstigen sozialen Kontext). Diesen damit inhaltlich und formal definierten Maßnahmen werden dann Zeiteinheiten in 10-Minuten-Schritten zugeordnet. Mit dieser Variabilität von Zeit und der Unabhängigkeit der Leistungsarten von Therapieschulen sollen auch kleinteilige Interventionsformen ermöglicht werden, die im Setting der Arbeitsfördermaßnahme oder im Alltag von den Teilnehmern gut umgesetzt werden können. Für eine Leistungsabrechnung werden solche kleinteiligen Zeiteinheiten dann zu den für die ambulante Suchtreha geltenden Abrechnungseinheiten zusammengefasst.
    • Während sich in den letzten Jahren v. a. in der stationären Suchtrehabilitation das Spektrum arbeitsbezogener Suchtrehaleistungen deutlich ausdifferenziert hat, geht das Projekt Su+Ber bei seiner Leistungsvernetzung davon aus, dass alle unmittelbar auf die Arbeitsintegration bezogenen Förderleistungen in der vorrangigen Leistungszuständigkeit des SGB II bleiben. Für Leistungen wie z. B. das Bewerbungstraining wird die Suchtreha deshalb im Regelfall nur supportiv einbezogen, um dabei die spezifischen Probleme und Risiken, die aufgrund einer Abhängigkeitsstörung bestehen, zu thematisieren.
    • Für das Projekt Su+Ber besteht von Seiten der DRV Baden-Württemberg sowohl die Bereitschaft zu den im Projektverlauf notwendig kurzfristigen Leistungsentscheidungen als auch zu einer Langfristigkeit für die im Projektverlauf konzipierte Gesamtbetreuungszeit (inklusive einer gegebenenfalls für die Absicherung der vollen Projektlaufzeit noch erforderlichen Suchtrehanachsorge). Gleichzeitig besteht die Bereitschaft, einen Übergang in das Projekt Su+Ber aus anderen (abstinenzorientierten) Rehaformen bei fachlicher Begründung und einer Mitwirkungsbereitschaft des Rehabilitanden zeitnah zu ermöglichen.

    Nach den erwartbaren anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur bei der Teilnehmergewinnung, sondern auch bei der konkreten Umsetzung des Projekts im ersten Projektjahr sind die Initiatoren wirklich neugierig darauf, welche differenzierten ersten Ergebnisse und Bewertungen der Projektarbeit sie vom IFT in den nächsten Wochen und Monaten als externes Feedback erwarten dürfen.

    Literatur beim Verfasser. Alle im Text erwähnten projektbezogenen Unterlagen sind als Datei über den Verfasser erhältlich.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Das Projekt „Chancen und Wege“

    Das Projekt „Chancen und Wege“

    Clarissa Abromeit
    Monika Schnellhammer

    Hinter Langzeitarbeitslosigkeit verbirgt sich oft auch eine Suchtproblematik. Diese Erkenntnis brachte das Jobcenter und den Caritasverband in Osnabrück zusammen an einen Tisch. Heraus kam das erfolgreiche Kooperationsprojekt „Chancen und Wege“, das mittlerweile seit fünf Jahren läuft. Die Teilnehmer/ innen des Programmes sind Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. „Chancen und Wege“ unterstützt sie mittels Arbeitsmöglichkeiten und sozialpädagogischer Betreuung dabei, sich Schritt für Schritt auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten und Vermittlungshemmnisse abzubauen.

    Der problematische Konsum von Suchtmitteln, verhaltensbezogene Störungen, Komorbiditäten und psychische Erkrankungen sind Hemmnisse, die die (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsbezug verhindern können. Für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen findet zu wenig adäquate Förderung statt, um Vermittlungsergebnisse und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation zu erzielen. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch das Jobcenter Osnabrück im Zuge der Umsetzung des SGB II. Die persönlichen Ansprechpartner/innen des Jobcenters sowie die Fallmanager/innen vermitteln zwar erfolgreich in Arbeit, jedoch ist es ihnen aufgrund ihrer hohen Fallzahlen nicht möglich, ihre Kunden so intensiv wie in einer Maßnahme zu begleiten. Außerdem wurde eine Suchtproblematik als wichtiges Thema vieler Arbeitsuchender erkannt.

    Gemeinsames Ziel: Stabilität schaffen durch Struktur

    Aus diesen Gründen schrieb das Jobcenter über das Regionale Einkaufszentrum Nord eine Maßnahme aus, welche folgende Inhalte aufweisen sollte: Die Maßnahme sollte tagesstrukturierend sein, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, zielgruppenspezifische Angebote umfassen und eine intensive Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse ermöglichen. Mitarbeiter der Suchtberatung des Caritasverbandes in Osnabrück erarbeiteten daraufhin ein Konzept, das explizit diese Zielgruppe mit den entsprechenden Vermittlungshemmnissen erreichen sollte. Durch die suchtspezifische Fachlichkeit, die Nähe zur Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation, aber auch zu anderen Fachbereichen und Kooperationspartnern, sollte der Zugang erleichtert werden, und Schwellenängste der Teilnehmenden sollten verringert werden. Nicht allein die Preiskalkulation, sondern die Qualität der Maßnahme stand dabei im Vordergrund. Der Caritasverband Osnabrück bekam den Zuschlag zunächst für ein Jahr. Inzwischen läuft die Maßnahme im fünften Jahr nach der dritten Ausschreibung, diesmal voraussichtlich bis 2019.

    Das so zustande gekommene Projekt „Chancen und Wege“ (CuW) ist eine Maßnahme zur Aktivierung und Stabilisierung von erwerbsfähigen Erwachsenen nach § 16 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die Teilnehmenden im Alter von über 25 Jahren weisen zahlreiche Vermittlungshemmnisse auf. Ziele der Maßnahme sind die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung der Vermittlungshemmnisse und die Heranführung der Teilnehmenden an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Im besten Fall gelingt nach der Aktivierung und Stabilisierung die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die weiterbegleitet und nachbetreut werden kann.

    An der Maßnahme „Chancen und Wege“ haben seit 2012 247 Personen teilgenommen. Davon konnten 227 Teilnehmende aktiviert werden. Das heißt, je nach Vermittlungshemmnis wurden gemeinsam individuelle Zielvereinbarungen erstellt, und die Teilnehmenden wurden zu weiterführenden Fachstellen begleitet. Hierbei kann es sich um Schuldnerberatung, Wohnungscoaching, Ambulant betreutes Wohnen, Integrationsfachdienst, Rechtliche Betreuung, Ambulante Assistenz oder fachärztliche Behandlungen handeln.

    Seit Juli 2014 wird die Maßnahme gemeinsam in Bietergemeinschaft mit der Dekra Akademie GmbH an einem gemeinsamen Standort durchgeführt. Sowohl die Möglichkeiten der praktischen Erprobung als auch die Netzwerke innerhalb der Dekra Akademie bieten den Teilnehmenden mehr Optionen für ihre beruflichen Perspektiven.

    Voraussetzungen für die Bewerbung und Durchführung sind die Trägerzertifizierung und die Maßnahmezulassung nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung). Das AZAV-Zulassungsverfahren für Träger und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung soll die Qualität der Dienstleistungen nachhaltig verbessern sowie Vergleichbarkeit und Transparenz unter den Dienstleistern herstellen. Die Maßnahme wird jährlich extern auditiert.

    Aufbau des Programms

    „Chancen und Wege“ verfügt über 44 Teilnehmerplätze. Das Jobcenter schließt mit den Teilnehmenden eine Eingliederungsvereinbarung über die Teilnahme bei CuW und vereinbart eine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung. Am Ende der Zuweisungsdauer erstellt die zuständige Sozialpädagogin einen Abschlussbericht über den Maßnameverlauf. Dies ist für den Fallmanager im Jobcenter hilfreich, damit weitere Handlungsschritte geplant werden können.

    Die Teilnehmenden werden in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten zu Beginn der Maßnahme einen Wochenplan (s. Abb. 2). Jede Gruppe erscheint an drei Tagen pro Woche für insgesamt mindestens 15 Stunden. Davon finden an zwei Tagen Lernmodule zum Training sozialer Kompetenzen, Gesundheitsförderung und Bewerbungscoaching statt. Zudem begeben sich die Teilnehmenden selbstständig auf Stellensuche und aktualisieren ihre Bewerbungsunterlagen. Einmal pro Woche bereiten sie gemeinsam ein gesundes Frühstück zu. Am Praxistag werden vier Gewerke (Holz, Metall, Lagerlogistik und Handel) angeboten. Die Teilnehmenden werden dazu angeregt, gemeinsam als Gruppe Projekte zu planen und umzusetzen. So stellen sie kleine Möbel und Gegenstände für den Gemeinschaftsbereich sowie nützliche Utensilien für den Eigengebrauch her. Weitere Arbeitserprobungen erfolgen bei begleiteten Praktika in externen Betrieben. Die Qualifizierungsmodule im EDV-Bereich festigen bestehendes Wissen und vertiefen es, ein Zertifikat wird nach erfolgreicher Teilnahme ausgestellt.

    Abb. 2: Beispiel für einen Wochenplan

    Kooperation zwischen „Chancen und Wege“ und Fachambulanz

    Die Teilnehmenden werden individuell über Angebote der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation des Caritasverbandes Osnabrück informiert. Die Vermittlung und Begleitung erfolgt über die zuständige Sozialpädagogin. So werden Berührungsängste verringert und Erstkontakte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen CuW und Fachambulanz gelingt oftmals ein erfolgversprechender Prozess für die Teilnehmenden. Viele werden im Verlauf der Maßnahme der Beratungsstelle zugeführt. Langfristig konnten Beratungs- und therapeutische Settings in der Fachambulanz bei gut einem Viertel der Teilnehmenden etabliert werden.

    Auch nach einer erfolgreich beendeten Rehabilitation hat sich die Kooperation zwischen Fachambulanz und CuW als effektiv erwiesen. Das bedeutet, auch Personen in der Adaption, der ambulanten Behandlung oder Nachsorge können an CuW teilnehmen, um die in der Rehabilitation erlernten Schritte im Alltag umzusetzen. Gerade hier sind Strukturen und berufliche Perspektiven wichtig, um langfristig konsumfrei zu leben. Die Grundlagen für eine dauerhafte Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft können über diesen Weg geschaffen werden. Abbildung 3 stellt die Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“ dar.

    Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“

    Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung

    Neben den persönlichen Einzelgesprächen und dem Jobcoaching ist die Teilnahme am SKOLL-Training möglich. Dies wird in regelmäßigen Abständen angeboten. Die Ergebnisse der Maßnahme lassen die Überzeugung zu, dass die Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung bei der Wiedereingliederung in den Erwerbsbezug zu erheblichen Verbesserungen führen kann. Mit SKOLL im Settingansatz kann hier ein effektiver Beitrag geleistet werden.

    Das SKOLL Training beinhaltet zehn Trainingseinheiten, in denen es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtmittel bei riskantem Konsumverhalten geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht weniger die Abstinenz als die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Ziel des Trainings ist es, den Konsum zu stabilisieren, zu reduzieren oder ganz einzustellen. Der Umgang mit Suchtdruck und sozialem Druck wird geübt, Stressbewältigung gelernt und ein Krisenplan erarbeitet. So werden Veränderungsprozesse bei riskant konsumierenden Menschen eingeleitet, und die Arbeitsfähigkeit wird wiederhergestellt.

    Diese vielfältigen Ansätze und Angebote werden gerne genutzt, die Teilnehmenden fühlen sich in der Regel durch die Maßnahme gut begleitet. Dies wird in regelmäßigen Abfragen zur Kundenzufriedenheit und durch den monatlichen Austausch mit den „Maßnahmepatinnen“ des Jobcenters deutlich.

    Die sozialpädagogische Begleitung

    Die sozialpädagogische Begleitung ist  das Herzstück der Maßnahme. Es finden regelmäßig Einzelgespräche statt, um die individuellen Vermittlungshemmnisse zu thematisieren und sie mithilfe von Zielvereinbarungen und durch Unterstützung zu verändern. In einem Aktivierungs- und Fortschrittsplan werden der Gesprächsverlauf und die Zielsetzungen für den Teilnehmer dokumentiert.

    Die Förderung der sozialintegrativen Aktivitäten nimmt einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Kompetenzen wie Selbsteinschätzung und die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wie auch lebenspraktische Fertigkeiten wie Verlässlichkeit, Selbstorganisation und äußeres Erscheinungsbild sind wichtige Faktoren bei der Arbeitsplatzsuche. Die Teilnehmenden lernen, dem Tag wieder eine Struktur zu geben, sich für eine Sache oder ein Projekt zu begeistern. Soziale Kompetenzen, wie z. B. im Team zielorientiert zusammenzuarbeiten, Konflikte konstruktiv zu lösen und die Meinung des anderen zu respektieren, können entwickelt und vertieft werden. Teilnehmende bringen ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Kenntnisse für ihr Team ein. Eine besondere Aktivierung und Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung wird über die „Kompetenzbilanz“, ein ressourcenaktivierendes Coachingverfahren, erzielt.

    Häufig werden bei Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblematik neben den substanz- und verhaltensbezogenen Auffälligkeiten weitere Vermittlungshemmnisse festgestellt wie geringe Sozialkompetenz, mangelhafte oder fehlende fachliche Qualifizierungen, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen, wenig ausgebildete Grundfertigkeiten sowie eine fehlende Tagesstruktur. Weitere gesundheitliche Probleme wie Hepatitis oder Herz- und Kreislauferkrankungen, verbunden mit fehlender Krankheits- und Problemeinsicht, gehen häufig mit stark beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und mangelnder Motivation einher. Aber auch eingeschränkte Mobilität durch den Verlust oder das Fehlen eines Führerscheins oder finanzielle Schwierigkeiten stellen für viele Personen der Zielgruppe große Hemmnisse dar.

    Weitere Eingliederungshemmnisse dieser Zielgruppe können auch eine unkontrollierte Substitutionsbehandlung und die Nichteinhaltung von Auflagen sein, Probleme in und mit der Familie wie frühe Elternschaft, Trennung und/oder Scheidung, Tod eines Familienangehörigen oder Partners, Gewalt in der Familie und Erziehungsschwierigkeiten. Kaum erlebte (positive) Erfahrungswerte auf dem ersten Arbeitsmarkt, verbunden mit mangelnder Kenntnis von Arbeitstugenden und Perspektivlosigkeit, kennzeichnen die Zielgruppe.

    Abbau von Hemmnissen erhöht Jobchancen

    Im Durchschnitt wurden im letzten Maßnahmejahr zehn Vermittlungshemmnisse bei den Teilnehmenden festgestellt. Die zügig in den ersten Arbeitsmarkt vermittelten Personen wiesen demgegenüber durchschnittlich nur 7,5 Hemmnisse auf. Aufgrund der Fallzahlen kann nicht von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden. Aber die Ergebnisse können als Hinweis interpretiert werden, dass der Abbau von Hemmnissen die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich erhöht.

    Eine erfolgreiche Vermittlung wurde durch die regelmäßige Ansprache von Arbeitgebern durch die Jobcoaches der DEKRA Akademie GmbH initiiert. Dabei werden die Vermittlungsprozesse selbst häufig durch vorausgehende Arbeitserprobungen eingeleitet. Mit den Teilnehmern, die in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, kann eine Nachbetreuungsvereinbarung geschlossen werden. Sie umfasst regelmäßige Gespräche über die Entwicklung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Situation.

    Die enge Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Osnabrück, insbesondere den „Maßnahmepatinnen“ im Fallmanagement, mit den persönlichen Ansprechpartnern und den Mitarbeitenden im Arbeitgeberservice hat sich sehr bewährt. Die vielfältigen Kooperationen tragen zu einem guten Ergebnis zugunsten der Förderung der Teilnehmenden in der Maßnahme „Chancen und Wege“ stark bei.

    Fallbeispiel Herr Z

    Herr Z ist Teilnehmer der Maßnahme „Chancen und Wege“. In seiner Biographie spielte das Thema Alkohol schon seit der Kindheit eine Rolle. Er hat den Hauptschulabschluss gerade eben noch geschafft. Die Arbeitsbiographie ist geprägt von diversen Helfertätigkeiten und Gelegenheitsjobs. Zwischendurch kam es immer wieder zu Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund fehlender Motivation und einer Alkoholabhängigkeit. Neben den geringen beruflichen Kenntnissen bestehen aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums gesundheitliche Beschwerden (kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen im rechten Arm) und hohe Schulden. Weiterhin besteht die Gefahr einer sozialen Exklusion. Nach eigenen Angaben fällt es ihm schwer, außerhalb der Szene Kontakte zu knüpfen. Er ist mittleren Alters und möchte seine Rentenansprüche aufbessern. Es geht hier exemplarisch also um folgende Vermittlungshemmnisse:

    • Gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer Suchterkrankung
    • Hohe Schulden
    • Geringe berufliche Kenntnisse

    Herr Z ist motiviert und nimmt pünktlich und zuverlässig an der Maßnahme teil. Seine kognitiven Fähigkeiten sind ausbaufähig. Seine Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind schwach ausgeprägt, und er wirkt schnell überfordert. Es ist schon längere Zeit her, dass er konzentriert Aufgaben bearbeiten sollte. Durch Gedächtnistraining, Lesen in der Gruppe und selbstständige Bearbeitung von Arbeitsblättern wird er angeregt, diese Fähigkeiten zu trainieren.

    Im Verlauf der nächsten Wochen wird mit Herrn Z der Aktivierungs- und Integrationsfortschrittsplan erstellt. Hier werden die verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, soziales Netzwerk, Arbeit und Ausbildung, Finanzen und Wohnung besprochen. Auch ist es wichtig zu erfassen, ob bereits Unterstützung und Netzwerke an anderer Stelle bestehen (Kontakt zur Suchtberatung, Selbsthilfegruppe, ambulante Assistenz etc.). Gemeinsam verschaffen sich die Sozialpädagogin und Herr Z einen Überblick zu Unterstützungsbedarf und vorhandenen Kompetenzen.

    Mit Herrn Z werden Förderschritte und Ziele vereinbart und schriftlich in seinem Aktivierungs- und Integrationsfortschrittplan festgehalten. Diese müssen für ihn erreichbar, konkret und transparent sein. Außerdem wird verabredet, welche Handlungsschritte vorrangig sind. Es geht also um:

    • Abklärung somatischer Beschwerden
    • Gesundheitliche Stabilisierung
    • Förderung kognitiver Fähigkeiten
    • Sortieren und Vorbereiten seiner Unterlagen für einen Termin bei der Schuldnerberatung
    • Emotionale Entlastung
    • Klärung beruflicher Perspektiven
    • Durchführung einer Arbeitserprobung
    • Steigerung der Leistungsfähigkeit
    • Sinnvolle Freizeitgestaltung
    • Aufbau eines stabilen Netzwerkes

    In den kommenden Wochen geht es um die Erweiterung seiner Kompetenzen und die Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse.

    Herr Z berichtet, dass für ihn die hohen Schulden eine große Belastung darstellen. Ständig erhält er Post von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten. Dies führt zu Stress, den er mit Alkohol kompensiert, um seine Probleme zu verdrängen. Da es unter Alkoholeinfluss bereits zu peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit kam, hat er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Mittlerweile hat er nur noch zwei Bekannte, die ebenfalls suchterkrankt sind. Außerdem berichtet er, dass sein letzter Arztbesuch einige Jahre her ist, da er befürchtet, dass sich seine Leberwerte verschlechtert haben. Hinzu kommen häufige Magenbeschwerden.

    Im Rahmen der Einzelgespräche werden nun folgende Handlungsschritte erarbeitet:

    1) Herr Z wird umfassend über die Angebote der Fachambulanz des Caritasverbandes aufgeklärt. Nach mehreren Gesprächen mit der Sozialpädagogin lässt er sich darauf ein, in der Suchtberatung einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren, um über sein Konsummuster zu sprechen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Herrn Z ist dieser Schritt sehr unangenehm, da er bereits im Suchthilfesystem bekannt ist. Er schämt sich für die Rückfälligkeit und dafür, dass er in der Beratung erneut Hilfe suchen muss.

    2) Gelegentlich kommt es innerhalb der Maßnahme zu Fehlzeiten. Herr Z meldet sich öfter wegen Magenbeschwerden ab. Auch dies wird in den Einzelgesprächen thematisiert. Herr Z war schon seit Jahren nicht beim Hausarzt. Er hat die Befürchtung, dass etwas mit seinem Magen nicht in Ordnung ist und sich seine Leberwerte weiter verschlechtert haben. Diese Ängste werden ausführlich mit der Sozialpädagogin besprochen. Nach mehreren Gesprächen sieht Herr Z ein, dass mit den jetzigen Magenbeschwerden und den daraus resultierenden Fehlzeiten keine beruflichen Perspektiven entwickelt werden können.

    Es wird vereinbart, dass Herr Z in Begleitung der Sozialpädagogin seinen Hausarzt aufsucht. Es stellt sich heraus, dass Herr Z ein Magengeschwür hat, das gut behandelt werden kann. Seine Leberwerte sind erhöht, jedoch noch nicht besorgniserregend. Der Hausarzt empfiehlt ebenfalls eine Kontaktaufnahme zur Suchtberatung und eine abstinente Lebensweise. Außerdem sollte Herr Z alle sechs Monate einen Gesundheitscheck machen, um Veränderungen frühzeitig festzustellen.

    Nach einer mehrwöchigen Medikamenteneinnahme gegen das Magengeschwür fühlt sich Herr Z viel besser. Auch ist er viel gelöster und freudiger, da sich seine Befürchtungen nicht bestätigten. Er fühlte sich entgegen seinen Erwartungen bei dem Arzt gut aufgehoben und ernstgenommen, sodass er sich nun regelmäßige Arztbesuche vorstellen kann.

    Die Suchterkrankung bzw. Leberwerte bleiben weiterhin ein Thema,  Herr Z kann sich mittlerweile auf das Angebot der Suchtberatung einlassen.

    3) Die Schuldenproblematik besteht schon seit Jahren. Herr Z hat den Überblick verloren. Es wird eine Schufaauskunft beantragt. Außerdem bringt Herr Z alle Unterlagen mit, die er finden konnte. An zwei Nachmittagen werden seine Papiere nach Gläubigern und Datum sortiert. Bereits jetzt wirkt Herr Z erleichtert, da er mit den Unterlagen nicht mehr alleine dasteht. Herr Z wird über verschiedene Möglichkeiten wie Vergleichszahlungen und das Verbraucherinsolvenzverfahren informiert. Um fachliche Unterstützung zu erhalten, wird ein Termin in der Schuldnerberatung vereinbart. Herr Z fühlt sich durch die Vorsortierung seiner Unterlagen gut vorbereitet und nimmt den Gesprächstermin alleine wahr.

    4) Herr Z hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In den Einzelgesprächen mit dem Jobcoach werden Fähigkeiten, Stärken und berufliche Kenntnisse erfragt. Herr Z gibt an, dass er Erfahrungen als Helfer in den Bereichen Garten und Landschaftsbau, in der Produktion und im Lagerbereich hat.

    Parallel tauscht sich der Jobcoach mit dem praktischen Anleiter aus, um auch über die Entwicklungen aus den hausinternen Praxisprojekten informiert zu sein. Aufgrund kognitiver Einschränkungen ist es wichtig, dass nach beruflichen Perspektiven geschaut wird, in denen es um einfache und sich wiederholende Abläufe geht. Weiterhin ist die Sensibilitätsstörung im rechten Arm zu berücksichtigen. Er kann diesen nicht schwer belasten und hat gelegentlich Taubheitsgefühle.

    Am Praxistag der Maßnahme ist Herr Z im Holzbereich tätig. Hier wird darauf geachtet, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine schweren Maschinen bedient. Er hat sich für ein Gemeinschaftsprojekt mit einem anderen Teilnehmer entschieden. Sie bauen eine Garderobe für den Gruppenraum. Herr Z übernimmt die Planung (Form, Farbe) und welches Material benötigt wird. Außerdem übernimmt er leichte Schleifarbeiten, die er mit großer Sorgfalt ausführt. Der andere Teilnehmer ist für die Umsetzung (Sägen, Leimen, Schrauben, etc.) zuständig. Hier zeigt sich, dass Herr Z besonders gut im Team arbeiten kann. Er hält sich an Absprachen und ist kompromissbereit.

    Im Verlauf der Maßnahme macht Herr Z eine positive Entwicklung durch. Nachdem er sich gesundheitlich stabilisieren konnte (regelmäßige Arztbesuche) nimmt er weiterhin Gespräche in der Suchtberatung wahr. Parallel geht er wöchentlich zur Orientierungsgruppe Alkohol. Diese wird ebenfalls von der Suchtberatung angeboten. Außerdem hat er sich über das Angebot verschiedener Selbsthilfegruppen informiert. Diese thematisieren nicht nur die Suchtproblematik sondern auch das Freizeitverhalten. Nach der Kontaktaufnahme zur Schuldnerberatung werden weitere Schritte für das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeleitet. Die Selbstorganisation seiner Unterlagen behält Herr Z bei. Der Jobcoach arbeitet mit Herrn Z an seiner beruflichen Perspektive. Zunächst wird er ein weiteres Praktikum absolvieren, um positive Referenzen für seine Bewerbungsunterlagen zu sammeln. Auch gab es Gespräche mit dem zuständigen Fallmanager vom Jobcenter Osnabrück, um Fördermöglichkeiten abzuklären.

    Kontakt und Angaben zu den Autorinnen:

    Monika Schnellhammer
    Geschäftsführerin des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Osnabrück
    MoSchnellhammer@caritas-os.de

    Clarissa Abromeit
    Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., Koordinatorin der Maßnahme „Chancen und Wege“
    CAbromeit@caritas-os.de

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Karl Lesehr

    Psychosoziale Stabilisierung durch Arbeit

    Dass ein drohender Arbeitsplatzverlust für viele Menschen mit Suchtproblemen eine erstmals ernsthaft aufrüttelnde Bedeutung haben kann, kennt wohl jede Fachkraft in der Suchthilfe. Gleichzeitig gilt für die Arbeit mit Suchtkranken aber auch die Erfahrung, dass geregelte Arbeit und Beschäftigung ganz wesentlich zur Stabilisierung von Lebenslagen beitragen können, die durch eine Suchtproblematik in unterschiedlichster Art und Weise beeinträchtigt sind. 1968 wurde Sucht vor Gericht als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt, was von einigen Akteuren schnell als vermeintlich vorrangige Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung verstanden wurde. In der schließlich 1978 – wieder auf gerichtlichen Druck hin – zustande gekommenen Suchtvereinbarung wurde dann eine gemeinsame Leistungszuständigkeit von Kranken- und Rentenversicherung für die damals bekannten Behandlungsangebote bei Abhängigkeitsstörungen geregelt. Diese Entwicklung war keineswegs zufällig: In der aus den ersten Heilstätten entstandenen stationären Suchtrehabilitation war die berufliche Reintegration – anders als in der Rehabilitation bei sonstigen psychiatrischen Erkrankungen – bereits ein zentrales Ziel des Behandlungssystems. Diese durch die Suchtvereinbarung bestätigte medizinische Suchtrehabilitation hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter fachlich ausdifferenziert, um bei suchtassoziierten Teilhabebeeinträchtigungen für ganz unterschiedliche Patientengruppen jeweils qualifizierte und passgenaue Entwicklungsanstöße geben zu können.

    Gerade weil dieses teilhabeorientierte Behandlungsangebot sich insgesamt unstrittig bewährt hat und weltweit als Erfolgsmodell gilt, ist es aber auch notwendig, seine ‚Schwachstellen‘ in den Blick zu nehmen. Dabei interessieren in diesem Beitrag weniger die zahlreichen behandlungs- und teilhaberelevanten ‚Schnittstellen‘, um deren Verbesserung sich die Suchtreha seit langem bemüht. Für das Projekt Su+Ber impulsgebend ist stattdessen die These, dass mit strukturell neuartigen Förder- und Behandlungsformen für langzeitarbeitslose Menschen mit Abhängigkeitsstörungen wesentliche Verbesserungen ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe erreicht werden könnten (teilhaberelevante Versorgungsschwachstellen).

    Schon in den 90er Jahren hat Günther Wienberg (1992) mit dem einprägsamen Begriff der „vergessenen Mehrheit“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein großer Teil der diagnostizierten Abhängigkeitskranken faktisch keinen Zugang zu spezialisierten suchtrehabilitativen Hilfen hat bzw. sie nicht in Anspruch nimmt. In dieser Versorgungsanalyse hat Wienberg verdeutlicht, dass dafür methodische und strukturelle Aspekte des Versorgungssystems mitverantwortlich sind und eben nicht nur eine unzureichende oder fehlende Krankheitseinsicht dieser Menschen, wie es das alte Jellinek-Modell mit seiner „Tiefpunkt-Theorie“ vermeintlich nahelegte.

    Teilhaberelevante Schwachstellen des Suchtbehandlungssystems

    • In der überwiegend wohnort- und alltagsfernen stationären Suchtreha hat sich die Reintegrationsperspektive bei langzeitarbeitslosen Patienten fast zwangsläufig auf die Perspektive einer ‚Teilhabebefähigung‘ verkürzt. Im Wesentlichen gelingt nur in der Drogenrehabilitation, bei der häufig auch ein Wohnortwechsel der Patienten eingeplant wird und längere Behandlungszeiten nutzbar sind, die unmittelbare Verknüpfung von Suchtbehandlung und Arbeitsintegration in nennenswertem Umfang. Die ARA-Studie (Dieter Henkel et al. 2005) hat schon vor Jahren verdeutlicht, wie gering auch nach einer formal erfolgreichen Alkoholrehabilitationsmaßnahme für langzeitarbeitslose Rehabilitanden die Chancen auf eine nachhaltig erfolgreiche berufliche Reintegration und damit auch auf einen Erhalt der erreichten Suchtmittelabstinenz sind. Auch die neu entwickelten Instrumente einer arbeitsorientierten Rehanachsorge bleiben noch zu oft im Beratungssetting und damit auf einer reflektierenden Metaebene stehen und haben dann viel Distanz zum komplexen realen Lebensalltag des Rehabilitanden.
    • Die Regelung des § 16a SGB II wird auch über zehn Jahre nach ihrer Einführung ganz überwiegend nur dafür genutzt, dass Jobcenter Kunden mit vermuteten oder diagnostizierten Abhängigkeitsstörungen an die Suchtberatung verweisen und so möglichst auch in weiterführende Suchtbehandlungen vermitteln. Eine unmittelbare Einbeziehung der Fach- und Steuerungskompetenz der Suchtberatungsstellen in die wohnortnahen Bemühungen um eine konkrete berufliche Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker ist dagegen nur an wenigen Standorten Realität geworden. Dementsprechend sind in den Suchtberatungsstellen das Interesse, aber auch die Handlungskompetenzen für eine direkte suchtkompetente Unterstützung der Klienten bei ihrer nachhaltigen beruflichen Integration in diesem Jahrzehnt kaum gewachsen.
    • Mit der Drogensubstitutionsbehandlung, die sich längst von einer Überbrückungshilfe zu einem grundständigen Behandlungsangebot für Drogenabhängige entwickelt hat, wurde das bislang für die Suchtrehabilitation grundlegende Paradigma einer (zumindest aktuell angestrebten) Suchtmittelabstinenz als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Reintegration auch aus einer medizinischen Perspektive in Frage gestellt. Gleichzeitig entfallen aber für diese durch die Krankenversicherung finanzierte und als ambulante Behandlung im Lebensalltag konzipierte Behandlungsoption aufgrund der für die Suchtrehabilitation bislang geltenden abstinenzorientierten Behandlungskonzepte weitgehend alle in der Suchtvereinbarung seinerzeit für unverzichtbar gehaltenen suchtrehabilitativen Leistungsmöglichkeiten. Langzeitarbeitslose Substituierte (wie im Übrigen auch andere nicht abstinenzwillige oder -fähige Abhängigkeitskranke) sind deswegen für eine berufliche Reintegration fast ausschließlich auf das Leistungsportfolio des SGB II angewiesen. In diesem wurden in den letzten Jahren aber viele Beschäftigungsangebote radikal abgebaut, die angesichts der oft vielfältigen Teilhabebeeinträchtigungen eine wenigstens schrittweise Arbeitsintegration ermöglichen sollen. Außerdem finden im SGB II generell die spezifischen Dynamiken abhängigkeitskranker ‚Kunden‘ nur höchst unzureichend und wenig systematisch Berücksichtigung. So können z. B. aufgrund der leistungsrechtlichen Vorgaben des SGB II die für die suchtkranken Menschen dringend notwendigen Unterstützungsleistungen nach einer Wiedereingliederung an einem Arbeitsplatz im Rahmen einer Arbeitsförderung kaum ermöglicht werden. Aber auch die für alle Fördermaßnahmen im SGB II maßgebliche leistungsrechtliche Definition der „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit ihrem Konstrukt der „schädlichen Unterbrechungen“ wirkt gerade bei Menschen mit Abhängigkeitsstörungen allzu oft als Leistungsbarriere: Bei guter Arbeitsmarktkonjunktur findet nämlich mancher von ihnen relativ leicht einen Arbeitsplatz, scheitert dann aber nach kurzer Zeit aufgrund seines Suchtverhaltens. Diese Krisenerfahrung kann dann aber wegen dieser Regelung oft nicht zeitnah und motivationsfördernd für die Einleitung geeigneter Fördermaßnahmen genutzt werden.

    Systembedingt unzureichende Reintegrationsperspektiven

    Die o. g. Schwachstellen in der aktuellen Versorgungsstruktur haben Auswirkungen für die betroffenen Menschen und für die fachlichen Akteure in den Versorgungsstrukturen:

    • Es gibt bis heute trotz der AOK-Studie (Henkel & Schröder, 2015, 2016) nahezu keine versorgungspolitisch sinnvoll nutzbaren Zahlen über den Anteil der Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen.
    • Aber auch in keiner der an der Suchtbehandlung oder der Arbeitsförderung beteiligten Institutionen wird das maßnahmen- oder förderungsrelevante Ausmaß suchtassoziierter Probleme festgestellt, ebenso wenig wie die aktuelle teilhaberelevante Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft. Gerade bei den oft länger dauernden psychosozialen Betreuungen Substituierter gibt auch der im KDS dokumentierte soziodemografische Eingangsstatus dafür zu wenig aktuelle Informationen.
    • Die vielerorts genutzte Strategie zur Qualifizierung von Jobcenter-Mitarbeitenden für eine sachgerechtere Problemidentifizierung und Problemansprache bei Kunden mit möglichen Suchtproblemen kann zwar die Zuweisung von Kunden nach § 16a SGB II an die Suchtberatung erhöhen und verbessern, löst dort aber keineswegs die für die Zielgruppe (angesichts nur begrenzter Rehaperspektive, v. a. aufgrund der Abstinenzgebundenheit) bestehenden Motivierungs- und Reintegrationsprobleme.
    • Das Konzept ‚erfolgreiche Suchtbehandlung und Abstinenz als notwendige Voraussetzung für eine berufliche Reintegration‘ ist in seiner Ausschließlichkeit hochselektiv. Es nutzt auch zu wenig die differenzierten Erkenntnisse der Motivationsforschung und vor allem nicht die realen Entwicklungsperspektiven betroffener Menschen: Einerseits sind in der Lebensrealität zahlreiche Menschen mit Abhängigkeitsstörungen auch längerfristig relativ unauffällig in Arbeit, andererseits haben aber viele Langzeitarbeitslose aufgrund ihrer Biografie und aktuellen Lebenslage selber kaum mehr ernsthaft Interesse an einer beruflichen Reintegration.
    • Die Ausgrenzung von Betroffenengruppen aus dem suchtrehabilitativen Angebot verstärkt aber auch eine generalisierte Misserfolgserwartung für diese Menschen im Gesamtversorgungssystem. Die Ausgrenzung reduziert das gesellschaftliche Interesse an konstruktiven Fördermaßnahmen und führt mit dazu, dass Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitsstörungen zu den Jobcenterkunden mit den geringsten Chancen auf eine nachhaltige Vermittlung in Arbeit zählen, also auch die schlechteste gesundheitliche Erfolgserwartung haben.
    • Diese ‚Misserfolgserwartung‘ trägt implizit weiter dazu bei, dass sich tradierte Strukturen einer individualisierten Rehavermittlung ohne umfassende Rehagesamtplanung in vielen Suchtberatungsstellen bis heute erhalten können und dass regionale, einrichtungsübergreifende und fallbezogene Kooperationen zwischen Suchtberatungsstellen und Jobcentern zur Verbesserung der Chancen einer beruflichen Reintegration eher Seltenheitswert haben.
    • Der sozialleistungsrechtlich in der Regel nicht abgesicherte Status der Suchtberatungsstellen erschwert vor allem im Bereich der Drogensubstitution eine teilhabeorientierte Behandlungskooperation (im Sinne der alten Suchtvereinbarung) auf Augenhöhe. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass viele Kommunen, die die Suchtberatung (mit)finanzieren, trotz mancher gut gemeinter Steuerungsbemühungen selten nachhaltig teilhabeorientierte Steuerungsimpulse mit ihrer Finanzierung verbinden und dafür dann auch ihre eigene Mitwirkungsbereitschaft einbringen.

    Strukturelle Herausforderungen an das Suchthilfesystem

    Die Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit den o. g. Problemzusammenhängen befasst und dafür auch intensiv das Gespräch mit dem Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Landespolitik gesucht. Als Institution der Suchthilfe hat sich die Landesstelle im Gegensatz zu Wienberg zunächst auf das eigene Handlungsfeld und damit auch auf die dort mögliche Kooperation mit den Jobcentern beschränkt.

    Fachlicher Hintergrund für die Gespräche waren zum einen die schon seit über einem Jahrzehnt gesammelten Erfahrungen aus dem Projekt Q-Train der AG Drogen Pforzheim, in dem sich überwiegend substituierte Drogenabhängige in einer Arbeitsfördermaßnahme im konkreten Arbeitsalltag mit den Beeinträchtigungen durch ihren Suchtmittelkonsum und ihr suchtassoziiertes Sozialverhalten auseinandersetzen können und müssen. Nach Möglichkeit werden sie dann an einen festen Arbeitsplatz vermittelt, wo sie nach Bedarf noch weiter betreut werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation zu diesem Projekt machen deutlich, dass sich durch den unmittelbaren suchttherapeutischen Fokus auf Arbeitsprozess und Arbeitsleistung bei den auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelten Teilnehmern vergleichbare Stabilisierungs- und sogar Abstinenzeffekte erreichen lassen wie über eine traditionelle Drogenrehabilitationsmaßnahme.

    Einen weiteren wichtigen Hintergrundaspekt bildeten zum anderen die Ergebnisse der bereits erwähnten ARA-Studie und die darauf aufbauenden intensiven Bemühungen der AHG-Fachklinik Wilhelmsheim, durch den Aufbau und die Verbesserung einer möglichst nahtlosen Kooperation mit den zuweisenden Suchtberatungsstellen und den Jobcentern die Reintegrationschancen für ihre langzeitarbeitslosen Rehabilitanden spürbar zu erhöhen.

    Und schließlich haben die gegenüber der ambulanten Suchthilfe teilweise durchaus vorwurfsvollen Äußerungen der DRV zum Rückgang der Suchtreha-Antragszahlen und die darauf aufbauenden Strukturdiskussionen mit der DRV Baden-Württemberg mit dazu beigetragen, dass eine Arbeitsgruppe der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg im November 2013 eine Rahmenkonzeption zur beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den ersten Arbeitsmarkt vorgelegt hat. Nach geduldiger und auch hartnäckiger Weiterverfolgung dieser konzeptionellen Ansätze veröffentlichte das Land schließlich im August 2015 den Förderaufruf zur Einreichung von Projektanträgen zur „Förderung der nachhaltigen Wiedereingliederung langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den Arbeitsmarkt nach der Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg (NaWiSu)“. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und richtet sich im Gegensatz zu den meisten anderen ESF-Projekten zur Arbeitsmarktintegration überwiegend an die zu einer Leistungsvernetzung eingeladenen Suchtberatungsstellen. Dieser Förderaufruf bildet den Rahmen für das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht), das im Folgenden vorgestellt wird.

    Ziele des ESF-Förderaufrufs NaWiSu

    Ausgangspunkte für den Förderaufruf waren, wie auch schon für die Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen, folgende Einschätzungen:

    • In der Gruppe der ‚dauerhaft‘ Langzeitarbeitslosen gibt es – übrigens neben gut einem Drittel abstinent lebender Menschen (!) – eine offenbar wachsende Teilgruppe von Menschen, bei denen eine Abhängigkeitsstörung oder ein suchtassoziierter Lebensstil als wesentliches Integrationshindernis festgestellt oder vermutet werden kann. Diese Teilgruppe der Langzeitarbeitslosen ist nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern vor allem sozialpolitisch ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem.
    • Es scheint unstrittig, dass Jobcenter und Arbeitshilfeträger mit ihren aktuellen Leistungsmöglichkeiten weniger in ihrer Qualifikation als vielmehr strukturell bzw. leistungsrechtlich überfordert sind, wenn es um eine nachhaltige berufliche Reintegration von Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen geht. Unabhängig von allen angestrebten Verbesserungen der Arbeitsmarktinstrumente im SGB II können Bemühungen der Jobcenter deshalb nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, störungsspezifische Fachkompetenzen und Interventionsmöglichkeiten besser und unmittelbar in zielgruppenspezifische Reintegrationsmaßnahmen einzubinden.
    • Die Bemühungen, mit Hilfe des § 16a SGB II die Suchtberatungsstellen stärker in Aktivitäten für eine berufliche Reintegration einzubinden, waren bislang bestenfalls insoweit erfolgreich, als es dabei um die verstärkte Vermittlung in klassische Suchtrehamaßnahmen ging. Darüber hinaus ist die Suchtberatung aber angesichts ihrer Finanzierungsstruktur (freiwillige Leistung der öffentlichen Daseinsvorsorge) und der dadurch sehr begrenzten Ressourcen und Leistungsmöglichkeiten bislang kaum in der Lage, aus eigenen Kräften einen ausreichenden, störungsbezogenen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Reintegration suchtkranker Menschen zu leisten.

    Damit strukturelle Verbesserungen der beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Menschen mit Abhängigkeitsstörungen gelingen können, werden daher im Förderaufruf NaWiSu folgende fünf Veränderungen angestrebt:

    • Um wirksame fallbezogene Kooperationen zu ermöglichen, müssen in Ergänzung zu den tradierten stationären und damit in aller Regel wohnort- und v. a. alltagsfernen Behandlungsmodellen wohnortnahe ambulante Behandlungsansätze und Fördermaßnahmen verstärkt werden.
    • Für die Teilnehmer müssen integrierte und zeitlich überschaubare Fördermaßnahmen mit einer klaren Zielperspektive entwickelt werden. Dabei sollte die berufliche Reintegration maßnahmenleitend sein, und auch die suchtbezogene Behandlung sollte vorrangig auf dieses Ziel orientiert sein: Die Behandlung muss für die Teilnehmer einen erkennbaren Gewinn für ihre aktuellen persönlichen Entwicklungsperspektiven haben.
    • Die Suchtberatungsstellen werden für solche integrierten Behandlungs- und Reintegrationsmaßnahmen nur dann einen nennenswerten und stabilen Beitrag leisten können, wenn solche Leistungen wenigstens teilweise als suchtrehabilitative Leistungen eigenständig finanziert werden und die Suchtberatung dem Jobcenter damit auch als gleichwertiger Leistungspartner gegenübertreten kann.
    • Angesichts der seit langem eher stagnierenden Entwicklung der ambulanten Suchtrehabilitation hat die stärkere Einbindung einer wohnortnahen beruflichen Reintegration aber nur dann eine Erfolgsperspektive, wenn die bisher für die Suchtreha verbindlichen Behandlungsgrundsätze zugunsten einer unmittelbaren Orientierung auf eine nachhaltige Arbeitsintegration gelockert und dafür auch neuartige Arbeits- und Interventionsformen ermöglicht werden.
    • Gleichzeitig muss die ambulante Suchtreha die in den letzten Jahren aufgebauten spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen der stationären Suchtreha stärker auch für ihren Arbeitsbereich nutzen. Für die Einrichtungen und Fachkräfte der ambulanten Suchthilfe gilt es zudem, neben den natürlich weiterhin sinnvollen und notwendigen Angeboten der traditionellen stationären oder ambulanten Suchtreha im Bewusstsein der Mitarbeitenden und in den Arbeitsstrukturen ein neues Handlungskonzept aufzubauen und zu implementieren und dann auch klientenorientierte Brücken zwischen den unterschiedlichen Optionen einer nachhaltigen Teilhabeförderung zu nutzen. Diese strukturelle Entwicklung v. a. der Suchtberatungsstellen soll im Aufruf NaWiSu modellhaft gefördert werden.

    Im Rahmen des Förderaufrufs wird seit Jahresbeginn 2016 das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) durchgeführt. Welche Entwicklungsziele und konkrete Maßnahmen es beinhaltet, wird im zweiten Teil des Artikels vorgestellt. Dieser erscheint in Kürze im Rahmen von Teil 2 des Titelthemas „Wege in Arbeit“.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    „Suchthilfe und Arbeit“ ist trotz des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren noch immer ein großes Thema. Das ist merkwürdig, denn bereits 1985 war mit der „Hammer Studie“ (Raschke & Schliehe, 1985) eigentlich schon alles gesagt: „Der Ausstieg aus dem Drogenkonsum steht und fällt mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen“. Gleichzeitig erschwert eine Abhängigkeitserkrankung jedoch immens die berufliche Integration. Das Gleiche gilt auch für psychische Erkrankungen oder andere Hindernisse, die von den Agenturen für Arbeit als Vermittlungshemmnisse beschrieben werden. Vermittlungshemmnisse haben dramatische Folgen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be­rufsforschung (IAB; Achatz & Trappmann) hat im Jahr 2011 den Einfluss multipler Hindernisfaktoren auf die Arbeitsmarktintegration untersucht. Diese Faktoren waren u. a. Alter und Geschlecht, gesundheitliche Einschränkungen, geringe Schulbildung oder Qualifikation, Migrationshinter­grund, langer ALG II-Bezug und schlechte regionale Arbeitsmarktlage. Bei einem Vermittlungshemmnis lag die Wahrscheinlichkeit für den Übergang in eine Erwerbstätigkeit bereits bei nur elf Prozent und sank dann mit jedem weiteren Vermitt­lungshemmnis ab, bis sie bei sechs und mehr Faktoren bei null Prozent angekommen war (Achatz & Trappmann, 2011, S. 30). Damit haben Suchtkranke, die vielfache Vermittlungshemmnisse auf sich konzentrieren, nur eine marginale Integrationschance.

    Seit 30 Jahren steht das Thema Arbeit auch auf der Agenda des Fachverbandes Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+). „Sorgen mit der Nachsorge“ hieß 1986 die Dissertation des damaligen Geschäftsführers des fdr+, Manfred Sohn. Zweimal veröffentlichte der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung Grundsatzpapiere zu diesem Thema: Im Jahr 2012 das sehr gute Konsenspapier „Förderung der Teilhabe Abhängigkeitskranke am Arbeitsleben“ und im Jahr 2016 den Beschluss „Teilhabe am Arbeitsleben“. Das Problem dieser Veröffentlichungen: An theoretischen Herleitungen herrscht kein Mangel. Was fehlt, ist die praktische Umsetzung des Sozialrechtes in Hilfen für abhängigkeitskranke Menschen. Vor diesem Hintergrund rief der fdr+ 2014 eine Arbeitsgruppe „Arbeit und Bildung“ ins Leben, die im Mai 2017 die Handreichung „Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen“ veröffentlicht hat. In dieser Broschüre werden die Leistungen zur Teilhabe an Arbeit für Suchtkranke detailliert beschrieben. Untermauert von erläuternden und heranführenden Texten geben die Autoren eine ausführliche Übersicht zu den Leistungstypen und Leistungsmöglichkeiten, mit denen suchtkranke Menschen an Arbeit herangeführt werden können. Das Bundesteilhabegesetz, das während der Erstellung der Handreichung mit seinen ersten Teilen in Kraft getreten ist, findet ebenfalls angemessen Berücksichtigung. Folgende gesetzliche Finanzierungsmöglichkeiten werden vorgestellt und erklärt:

    1. Betriebsformen und Trägerstrukturen
    2. Individuelle Leistungstypen
    3. Maßnahmen in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker
    4. Weitere Möglichkeiten zur Förderung der Teilhabe an Arbeit

    Teilhabe am Arbeitsleben ist ein identitätsstiftender Faktor, sie ermöglicht positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Im Vorwort der Handreichung stellen die Autoren dar, wieso Integration und Teilhabe als Leitbild in der Suchthilfe betrachtet werden dürfen und müssen – ein Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, sich um Integration und Teilhabe (weiterhin) nachdrücklich zu bemühen, und dass ein erfolgreiches Wirken möglich ist. Im O-Ton heißt es dort:

    Im Jahr 1968 stellte das Bundessozialgericht fest: Sucht ist Krankheit. Seit 1975 ist durch die „Eingliederungshilfeverordnung“ festgelegt, dass Suchtkranke zu den Personen mit einer seelischen Behinderung zählen. Seit 2009 ist die UN Behindertenrechtskonvention in Deutschland verbindlich und geltendes Recht. Sie hat die Umsetzung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zum Ziel. Wenn ein Mensch durch seine Abhängigkeitskrankheit keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung hat oder er arbeitslos ist oder wird, gilt er nicht nur als krank, sondern auch als (vorübergehend) „behindert“ im Sinne der Sozialgesetzbücher IX und XII und hat Anspruch auf sozialrechtliche Leistungen zur Überwindung dieser Situation. Dieser Leistungsanspruch ist mit dem Teilhabekonzept der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) eng verbunden, da er eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigungen erfordert.

    Der Eintritt in Erwerbsarbeit, Tätigkeit oder Qualifizierung soll für die abhängigkeitskranke Person einen Rollenwechsel in die Welt positiver Zuschreibungen und der Anerkennung durch Arbeit einleiten. Damit sind gleichfalls positive Erwartungen verbunden, wie etwa die Wiederentdeckung vermeintlich verschütteter Bildungsressourcen oder auch des Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit und die damit zusammenhängenden Kompetenzen. Die Erarbeitung eines subjektiven wie objektiven „Wertes“ in der Arbeitsgesellschaft und nicht zuletzt die Aussicht auf eine selbstbestimmte, auskömmliche Sicherung der Existenz bilden zentrale Anreize für den beruflichen (Wieder-)Einstieg.

    In unserer modernen Arbeitsgesellschaft bildet Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Qualifikationen, Belohnungen und sozialen Einflussmöglichkeiten eine zentrale Basis für die Zuweisung von sozialem Status und von gesellschaftlichen Partizipationschancen. In den Arbeitsmarkt integriert zu sein, wird mit sozialer Teilhabe zunehmend gleichgesetzt, so dass im Umkehrschluss Arbeitslosigkeit mit sozialem Ausschluss verbunden wird.

    Für Abhängigkeitskranke assoziiert „Arbeit haben“ zudem den Ausstieg aus der Sucht. Es ist die Chance, eine bislang meist krisenhafte Berufsbiographie positiv und selbstbestimmt zu gestalten und einen „eigenen Weg“ zu finden. Dabei benötigen alle Teilhabebemühungen und Hilfeangebote positive Zukunftserwartungen für die Menschen, verbunden mit konkreten Chancen. Deswegen sind auch drogenpolitische Paradigmen alternativ zu etablierten Stigmata neu zu formulieren:

    Teilhabe an Erwerbsarbeit für Abhängigkeitskranke kann mithilfe von berufsbezogenen Unterstützungs-, Bildungs- und Beschäftigungsangeboten auch im Rahmen der Suchthilfe stärker als bisher möglich werden. Die vorliegende Arbeitshilfe wird vom grundlegenden Gedanken getragen, dass eine nachhaltige und selbstbestimmte berufliche Integration für Abhängigkeitskranke möglich ist. Suchthilfe muss ihre Adressaten*innen als aktiv an der Arbeitsgesellschaft teilhabende Menschen wahrnehmen und entsprechende Angebote bereitstellen. Das gibt ihnen auf dieser Basis die Möglichkeit, positive Zukunftserwartungen hinsichtlich Verdienst, Selbstwert, Zugehörigkeit und sinnvoller Tätigkeit zu entwickeln.

    Von der Seite der Arbeitsverwaltung und anderer staatlicher Institutionen wird Abhängigkeitskranken jedoch nicht selten mit einer eher defizitorientierten Perspektive begegnet. Sie sollen etwa ihre „Erwerbsfähigkeit wiedererlangen“ und alles hierbei „Hinderliche“ aus dem Weg räumen. Dadurch werden auch andere Fallbeteiligte dazu aufgefordert, jene Hürden in den Arbeitsmarkt zu identifizieren und mithilfe der „richtigen Instrumente“ abzubauen. So dringt diese Perspektive quasi-diagnostisch in die Biographien der Adressaten*innen ein und codiert dort mehrere Fragmente zu sog. Vermittlungshemmnissen um, etwa die Suchterkrankung, eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit, kein oder ein niedriger Bildungsabschluss, der gesundheitliche Zustand bis hin zur Familiensituation. Dieser Begriff erlangte als Defizitindikator für die Vermittlungswahrscheinlichkeit (vgl. Achatz & Trappmann 2011) eine zentrale Bedeutung; im Rahmen der sog. „Job-Perspektive“ wurde er gar zum diagnostischen Parameter, der den Bezug bestimmter Fördermöglichkeiten begründet.

    Aus Sicht der Betroffenen stellen Vermittlungshemmnisse nichts anderes als Spiegelbilder der Akzeptanzdefizite des Arbeitsmarktes dar, entlang derer die Arbeitsverwaltung den Handlungsbedarf für die jeweiligen Integrationsbemühungen vermisst und die die Grenzen der (regionalen) Integrationskultur zeigen.

    Für den Aufbau beschäftigungsbezogener Hilfeangebote stellt sich für die Suchthilfe die Aufgabe, beide Perspektiven zu reflektieren und in den Hilfeprozess zu integrieren. Denn meistens gehören Abhängigkeitskranke zu den Kunden*innen der Arbeitsverwaltung, denen ein besonders hohes Maß an Vermittlungshemmnissen zugesprochen wird und die damit als „schwer vermittelbar“ gelten.

    Beratungsstellen der Suchthilfe erreichen etwa eine halbe Million Menschen jährlich. Wenn etwa 50 Prozent von ihnen arbeitslos oder Sozialhilfebezieher sind müssen für mindestens 250.000 Menschen Angebote zur Teilhabe an Bildung und Arbeit gemacht werden. (…)

    Das Sozialrecht hat in den vergangenen Jahren den Anspruch abhängigkeitskranker Menschen auf Hilfe verbessert. Eingelöst wird dieser Anspruch jedoch nur zum Teil. Immer noch werden Abhängigkeitskranke diskriminiert und von Leistungen der Teilhabe an Arbeit ausgeschlossen. Insbesondere das Fehlen längerfristiger Perspektiven entmutigt viele Menschen und verschlechtert die Chancen zur Wiedereingliederung in Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Verlust der Arbeit führt zu ‚sinnlos‘ zur Verfügung stehender Freizeit. Dieses Aufweichen der Tagesstruktur wird nicht problemlos bewältigt.

    Die beruflichen Angebote in der Suchthilfe liefern den Hintergrund für die Nachhaltigkeit von bio-psycho-sozialen Hilfen. Sie müssen die Grundlage für Teilhabeplanung sein. (…)

    Literatur bei den Autor/innen

    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.: Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen. Eine Handreichung, fdr+texte Nr. 12, Berlin 2017.
    Die Broschüre kann zum Preis von 7 Euro beim fdr+ bestellt werden: www.fdr-online.info

    Kontakt:

    Jost  Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr)
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    Tel. 030/85 40 04 90
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

  • Wofür brauchen wir BORA?

    Wofür brauchen wir BORA?

    Dr. Andreas Koch
    Dr. Andreas Koch

    Die Entwicklung der „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ ist durch zwei wesentliche Ausgangspunkte geprägt: Zum einen hat die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eine lange Tradition. Schon in den Trinkerheilstätten des 19. Jahrhunderts spielten Arbeit und Beschäftigung eine zentrale Rolle in der Therapie und Tagesstrukturierung. Dieser Schwerpunkt ist in vielen Konzepten in der modernen Suchtrehabilitation bis heute erhalten, er wurde im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt und den aktuellen Anforderungen angepasst. Im Jahr 2000 veranstaltete der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe ein Projektforum mit dem Titel „Therapie und Arbeit“, bei dem es vor allem um die Weiterentwicklung der arbeitstherapeutischen Angebote ging. Die Ergebnisse sind in dem entsprechenden Tagungsband veröffentlicht (Heidegger et al. 2002). 2010 wurden im Rahmen des Fachtages der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen „Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation“ der aktuelle Stand und die Entwicklungsperspektiven in diesem Bereich diskutiert (DHS 2010). Und schließlich veröffentlichte der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe im Jahr 2011 unter dem Titel „Arbeitsmarktintegration – Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!“ Vorschläge für die Strukturierung der Zielgruppen und der entsprechenden Maßnahmen im Hinblick auf das vorhandene Integrationspotential (Heinsohn et al. 2011).

    Zum anderen hat die Deutsche Rentenversicherung nach umfangreichen Vorarbeiten 2012 das MBOR-Konzept (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) veröffentlicht, um in den somatischen und psychosomatischen Indikationsbereichen die Fokussierung auf die Aspekte Arbeit und Beruf zu stärken, insbesondere, wenn bei den Rehabilitanden besondere berufliche Problemlagen (BBPL) vorliegen. Aufgrund des traditionell hohen fachlichen und zeitlichen Stellenwertes arbeitsbezogener Maßnahmen im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen wurde dieser Indikationsbereich von der Umsetzung des MBOR-Konzeptes ausgenommen. Zudem sind besondere erwerbsbezogene Problemlagen bei Suchtkranken eher die Regel als die Ausnahme, und es existieren bereits besondere Leistungsformen in der Suchtrehabilitation zur gezielten Förderung der beruflichen Integration (Adaption als letzte Phase der medizinischen Reha).

    Gemeinsame Arbeitsgruppe BORA

    Vor diesem Hintergrund wurde die gemeinsame Arbeitsgruppe BORA (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) aus Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtfachverbände eingesetzt, die Empfehlungen zur Arbeits- und Berufsorientierung ausschließlich für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickeln sollte. Der Arbeitsprozess erstreckte sich über insgesamt sechs Sitzungen und war von einem außerordentlich hohen fachlichen Niveau sowie einer zielorientierten und konstruktiven Gesprächsatmosphäre geprägt. Damit konnte auch gezeigt werden, dass wichtige konzeptionelle Weiterentwicklungen für den Indikationsbereich Sucht mit hoher Qualität und Effizienz in einer paritätisch besetzen Expertengruppe (Leistungsträger und Leistungserbringer) erarbeitet werden können und durch ein gutes Projektmanagement sowie eine transparente Vorgehensweise auch die Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit verbessert werden kann.

    Die gemeinsam erarbeiteten „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ sind auf der Internetseite der Deutschen Rentenversicherung zu finden. Auf der letzten Seite sind die Koordinatoren und Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA aufgeführt. Die BORA-Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe am 15. April 2015 in einer gemeinsamen Informationsveranstaltung bei der DRV Bund in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung wurden verschiedene Aspekte der Empfehlungen und ihre Auswirkungen auf die Praxis mit Vertreterinnen und Vertretern von Suchtreha-Einrichtungen diskutiert.

    Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA bei der Auftaktveranstaltung am 15.04.2015: Barbara Müller-Simon/DRV Bund, Dr. Volker Weissinger/FVS, Denis Schinner/Fachklinik Release/DHS, Gerhard Eckstein/DRV Schwaben, Peter Missel/AHG Kliniken Daun/FVS, Georg Wiegand/DRV Braunschweig-Hannover, Uwe Hennig/DRV Bund, Dr. Theo Wessel/GVS/DHS, Dr. Andreas Koch/buss/DHS, Dr. Dietmar Kramer/salus klinik Friedrichsdorf/FVS, Dr. Joachim Köhler/DRV Bund (v.l.n.r.) – Fotos©Bildarchiv DRV Bund/Terbach
    Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA bei der Auftaktveranstaltung am 15.04.2015: Barbara Müller-Simon/DRV Bund, Dr. Volker Weissinger/FVS, Denis Schinner/Fachklinik Release/DHS, Gerhard Eckstein/DRV Schwaben, Peter Missel/AHG Kliniken Daun/FVS, Georg Wiegand/DRV Braunschweig-Hannover, Uwe Hennig/DRV Bund, Dr. Theo Wessel/GVS/DHS, Dr. Andreas Koch/buss/DHS, Dr. Dietmar Kramer/salus klinik Friedrichsdorf/FVS, Dr. Joachim Köhler/DRV Bund (v.l.n.r.) – Fotos©Bildarchiv DRV Bund/Terbach

    Relevanz der Empfehlungen für die Praxis

    Bei den BORA-Empfehlungen handelt es sich ausdrücklich um Empfehlungen zur Weiterentwicklung der bestehenden Therapiekonzepte und nicht um zwingend umzusetzende konzeptionelle Vorgaben (wie beispielsweise beim MBOR-Konzept). Sie enthalten zahlreiche Hinweise und Anregungen für die Weiterentwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen im Hinblick auf die Förderung der beruflichen Integration. Die Empfehlungen beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen von Rehabilitanden, für die jeweils sehr unterschiedliche Maßnahmen erforderlich sein können. Dabei sind die beschriebenen Zielgruppen weniger als Fallgruppen zu verstehen, denen die Rehabilitanden im Rahmen der Eingangsdiagnostik als Grundlage für die weitere Therapieplanung und Therapiesteuerung zugeordnet werden sollen. Mit der Unterscheidung der Zielgruppen sollen vielmehr die möglichen therapeutischen Leistungen während der Entwöhnungsmaßnahme strukturiert und übersichtlich dargestellt werden. Die individuelle Indikationsstellung und die Identifikation des spezifischen Unterstützungsbedarfs der einzelnen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sind weiterhin maßgeblich für den Verlauf der Reha.

    Aktuelle Titelbeiträge auf KONTUREN online

    In dem Beitrag von Jörg Heinsohn innerhalb dieses Titelthemas von KONTUREN online werden in Ergänzung zu den BORA-Empfehlungen und mit Bezug zu den fünf Zielgruppen weiterführende Maßnahmen nach der medizinischen Rehabilitation vorgestellt. Gerade in diesem Bereich treten häufig ‚Schnittstellenprobleme‘ mit anderen Sozialleistungsbereichen auf, daher enthalten die BORA-Empfehlungen auch einige Hinweise zur Gestaltung von Kooperationen und Netzwerken.

    Für den Bereich der Drogenrehabilitation stellt sich die Frage, ob die fünf beschriebenen Zielgruppen die Rehabilitandenstruktur angemessen abbilden und die bisherigen Empfehlungen für die Gestaltung der therapeutischen Angebote passend und ausreichend sind. Andreas Reimer stellt in seinem Titelbeitrag einige Überlegungen dazu an und geht näher auf die Zielgruppe der Rehabilitanden mit Abhängigkeit von illegalen Drogen ein, die häufig jünger und ohne wesentliche Arbeits- und Berufserfahrungen sind.

    Für die spezifische Gestaltung des Reha-Verlaufs ist eine sorgfältige und aussagefähige Eingangsdiagnostik erforderlich. In den BORA-Empfehlungen werden einige Instrumente für Screening und Assessment vorgestellt und deren Nutzen erläutert. Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung, eines der genannten Instrumente einzusetzen, auch andere oder in den Einrichtungen selbst entwickelte Verfahren können zum Einsatz kommen. Allerdings muss jede Einrichtung für diesen Bereich der Diagnostik über ein strukturiertes und dokumentiertes Vorgehen verfügen. Diesen Aspekt greift auch der Fachausschuss Arbeit und Rehabilitation des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e.V. (DVE) in seiner Stellungnahme im Titelthema auf.

    Alle weiteren wesentlichen Aspekte aus den BORA-Empfehlungen wie Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung werden im Titelbeitrag von Dr. Andreas Koch und Denis Schinner zusammengefasst. Als Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA waren die beiden Autoren an dem Entwicklungsprozess beteiligt.

    Klinikinterne Dienstleistungen

    Eine hilfreiche Klarstellung ist in den BORA-Empfehlungen zu den so genannten klinikinternen Dienstleistungen zu finden. In den vergangenen Jahren wurde von einzelnen Leistungsträgern gefordert, die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden nicht mehr innerhalb der Einrichtung in den entsprechenden Arbeitsbereichen (beispielsweise Küche, Hauswirtschaft, Garten) einzusetzen, da befürchtet wurde, dass hier der Arbeitsbedarf der Einrichtung und nicht die individuelle Indikationsstellung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im Vordergrund steht. Das hat dazu geführt, dass Beobachtungs- und Erprobungsfelder für einfache Tätigkeiten und Trainingsfelder für die bei vielen Suchtkranken vernachlässigte Selbstversorgung in vielen Einrichtungen weggefallen sind. Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden, wenn eine entsprechende individuelle Indikationsstellung und Zielsetzung vorliegt und eine professionelle therapeutische Begleitung erfolgt.

    Erforderliche Rahmenbedingungen

    Die BORA-Empfehlungen sollen vor allem Anregungen für die konzeptionelle Weiterentwicklung der Einrichtungen geben, beispielsweise wären die eingesetzten diagnostischen Instrumente oder das therapeutische Leistungsspektrum im Hinblick auf den vorhandenen Zielgruppenmix zu überprüfen. Bei diesen Überlegungen sollte jede Einrichtung den federführenden Leistungsträger aktiv mit einbeziehen. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich zu unterstützen und den möglichen Mehraufwand in den Vergütungssätzen abzubilden. Für die Umsetzung von BORA in der Praxis müssen durch die Leistungsträger und Leistungserbringer gemeinsam die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.

    Literatur:
    • Heidegger et al. (2002): Therapie und Arbeit. Suchtspezifische Ansätze, buss-Diskussionsforum Band 1, Gesthacht 2001
    • DHS (2010): Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation – Stand und Entwicklungsperspektiven, Dokumentation DHS Fachtag, Hamm/Westfalen 2010
    • Heinsohn et al. (2011): Arbeitsmarktintegration. Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!, in: KONTUREN. Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen, 5-2011, Jg. 32