Schlagwort: Arbeitstherapie

  • rehapro-Projekte in der Suchtreha

    rehapro-Projekte in der Suchtreha

    Im Rahmen des ersten Förderaufrufs des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ werden seit Herbst 2019 55 Modellprojekte gefördert. Darunter befinden sich auch rund ein Dutzend Projekte, die in der Suchtreha verankert sind. Drei dieser Projekte, die in Mitgliedseinrichtungen des buss durchgeführt werden, sollen hier näher vorgestellt werden. Die zuständigen Mitarbeiter*innen berichten, welche Ziele die Projekte verfolgen und welche Maßnahmen umgesetzt werden.


    Ein rehapro-Projekt im Nordwesten: SEMRES – Mit Lotsen und dem Rehakompass aus rauer See in den richtigen Hafen!

    Projektname: SEMRES – Steuern mit dem Rehakompass: Alle in einem Boot. Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Rehabilitation von Menschen mit Suchterkrankungen

    Dr. Natalie Schüz
    Martina Jährmann-Rittner
    Dr. Ulrich Böhm

    Seit Jahren gehen die Anträge für Suchtrehabilitation zurück. Zudem wissen wir, dass es durchschnittlich mehr als zehn Jahre dauert, bis Suchtkranke in der medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitserkrankte ankommen. Die Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen hat in Kooperation mit der Fachklinik Weser-Ems, dem RehaCentrum Alt-Osterholz sowie der Fachstelle Sucht Oldenburg und der Ambulanten Suchthilfe Bremen über den Fördertopf rehapro einen Antrag beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingereicht, um neue Zugangswege in die Rehabilitation zu kreieren. Die Projektidee wurde bewilligt, das Projekt ist angelaufen und soll zunächst bis Ende 2024 evaluiert und, wenn erfolgreich, verstetigt werden. Die wissenschaftliche Begleitforschung wird über die Hochschule Emden/Leer unter Leitung von Prof. Knut Tielking durchgeführt.

    Was bedeutet SEMRES und was soll konkret erfolgen?

    SEMRES bedeutet: Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Reha bei Suchterkrankungen.

    Die so genannten Lotsen sind angestellte Psycholog*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen der DRV Oldenburg-Bremen. In einem ersten Schritt schulen sie Netzwerkpartner darin, Menschen mit psychischen Belastungen und/oder problematischem Konsum in ihren Lebenswelten anzusprechen und in das Projekt zu vermitteln. Zu den Netzwerkpartnern gehören:

    • Sozialleistungsträger (z. B. Jobcenter, Arbeitsagenturen, Krankenkassen),
    • betriebliche Strukturen (z. B. IHK, Arbeitgeberverband),
    • medizinische Strukturen (Hausärztenetz, Psychotherapeutenkammer, Verband der Betriebs- und Werksärzte) und
    • soziale Strukturen (z. B. Sportvereine, Familienberatungsstellen).

    Die Zielgruppe sind Menschen mit zu erwartenden oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen. Die identifizierten Problemfelder weisen dabei auf eine Abhängigkeitserkrankung oder psychische Beeinträchtigungen hin.

    In einem zweiten Schritt weisen die geschulten Netzwerkpartner Menschen aus der Zielgruppe den Lotsen zu. In einem strukturierten Anamnesebogen werden gezielt Symptome erfragt, die psychische Beeinträchtigungen erfassen, aber auch suchtbedingte Störungen. Bei ausreichenden Hinweisen für eine substanzbedingte Störung vermitteln die Lotsinnen und Lotsen schließlich die betreffenden Personen in den Rehakompass.

    Was findet im „Rehakompass“ statt?

    Die von den Lotsinnen und Lotsen akquirierten Teilnehmer*innen erhalten im Sucht-Rehakompass über zwei Tage im Rahmen von neun Modulen einen Einblick in die Behandlungsangebote und Räumlichkeiten einer Rehabilitationsklinik für Abhängigkeitserkrankte, und sie bekommen Informationen und Empfehlungen bezüglich ihres persönlichen Rehabilitationsbedarfs. Sie begegnen Mitarbeitenden der Fachklinik, der kooperierenden Suchtberatungsstelle und aktuellen Rehabilitanden. Über Psychoedukation erweitern sie ihr Wissen über Suchterkrankungen und werden sensibilisiert, kritisch ihren Umgang mit Suchtmitteln zu betrachten.

    An Tag 1 beginnt die Maßnahme mit einer Vorstellung der verantwortlichen Mitarbeitenden, der Fachklinik sowie der Ziele des Rehakompasses. Die Teilnehmer*innen lernen sich kennen, und ihre Erwartungen werden erfragt (Modul 1). Im Anschluss erfolgt ein Gesundheitscheck, der die Ermittlung von Laborwerten, eine Anamnese und eine fachärztlich orientierende Untersuchung umfasst. Parallel wird eine Psychodiagnostik durchgeführt, die auf die Bereiche berufliche Teilhabe und aktuelle psychische Beschwerden ausgerichtet ist (Modul 2). Am Nachmittag findet je nach aktueller Corona-Situation entweder ein analoger oder ein virtueller Rundgang durch die Einrichtung statt. Idealerweise stellen Mitarbeitende einzelner Berufsgruppen ihr Angebot vor (Modul 3). Im anschließenden Modul 4 wird es durch eine Psychoedukation zum Thema Stress und Belastungen persönlicher. Inhaltlich geht es um die Identifikation des individuellen Stressgeschehens, die Reflexion individueller Stresserfahrungen sowie den individuellen Suchtmittelkonsum als dysfunktionalem Stressbewältigungsmechanismus. Nach kurzer Pause steht das psychische Wohlbefinden im Mittelpunkt. Die Teilnehmer*innen lernen verschiedene Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen kennen (Modul 5). Der erste Tag endet mit einem Rückblick und einem Ausblick auf Tag 2.

    Der zweite Tag startet mit einer Psychoedukation zu den Themen Abhängigkeit, Suchtmittelmissbrauch und deren Folgen. Die Vermittlung allgemeinen Wissens dazu und ein Fragebogen zum individuellen Suchtmittelkonsum sollen zu einer kritischen Reflexion des eigenen Konsumverhaltens anregen (Modul 6). Die verbleibende Zeit am Vormittag ist der Vorstellung des lokalen Hilfesystems sowie der Inhalte und des Ablaufs einer Rehabilitations-/Präventionsmaßnahme vorbehalten (Modul 7). In Modul 8 besteht die Möglichkeit, sich mit aktuellen Rehabilitanden auszutauschen. Am Nachmittag des zweiten Tages führen ein Arzt oder eine Ärztin und ein*e die Maßnahme umfänglich begleitende Sozialarbeiter*in oder Psycholog*in Einzelgespräche mit den Teilnehmenden. Gemeinsam wird die Maßnahme rekapituliert, und die Teilnehmenden erfahren die Ergebnisse des Gesundheitschecks und der Psychodiagnostik. Abschließend wird eine konkrete Empfehlung für eine Weiterbehandlung ausgesprochen. Dies soll in ein organisiertes Übergabeverfahren an die Lotsinnen und Lotsen münden und das Ausfüllen von benötigten Formularen beinhalten.

    Ziel des Projektes SEMRES

    Ziel des Projektes SEMRES ist damit eine konkrete Empfehlung für die Teilnehmer*innen. Im Rehakompass wird die Richtung festgelegt: zum Beispiel die direkte Vermittlung in die Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) oder in eine alternative Unterstützungsmaßnahme, z. B. in einer Suchtberatungsstelle. Das Verfahren ist ergebnisoffen.

    Kontakt:

    rehakompass@drv-oldenburg-bremen.de
    Tel. 0421/34 07-230

    Angaben zu den Autor*innen:

    Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung, Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen
    Martina Jährmann-Rittner, Psychologische Psychotherapeutin, Therapeutische Leitung, Fachklinik Weser-Ems, Diakonisches Werk Oldenburg
    Dr. Natalie Schüz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Umsetzungsberaterin rehapro, Koordinationsmanagement Sozialmedizin, Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen


    Begleiteter Wiedereinstieg in Arbeit – mit dem rehapro-Projekt „BEAS“ neue Wege finden

    Projektname: BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe

    Stephan Peter-Höner
    Erwin Seiser

    Menschen, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind, haben bei der Reintegration ins Arbeitsleben erfahrungsgemäß erhebliche Schwierigkeiten. Die Praxis zeigt, dass sie aufgrund der regional zuletzt sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar einen Arbeitsplatz finden, diesen aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verlieren, sei es aufgrund mangelnder Belastbarkeit oder eines Rückfalls in alte Gewohnheiten. Das führt in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung.

    Eine anspruchsvolle Phase: der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben

    So hören wir in der Fachklinik Fischer-Haus in Gaggenau oftmals in der Entlassphase aus der Reha: „Was erwartet mich, wenn ich nach der Rehabehandlung an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehre?“, „Wie geht mein Chef mit mir um, wie geben sich die Kolleginnen und Kollegen?“, „Das wird sicherlich kritisch, gab es doch zuletzt mehrere schwierige Situationen aufgrund meines Suchtproblems bei der Arbeit.“ Aber auch der Neuantritt eines Arbeitsplatzes bringt Verunsicherung: „Schaffe ich es dieses Mal, Fuß zu fassen?“, „Wie meistere ich kritische Situationen am Arbeitsplatz?“ Dies alles sind zentrale Themen bei der Planung der Zeit nach der Rehabehandlung. Viele gute Vorschläge und  erarbeitete Strategien im Gepäck, verlassen die Rehabilitand*innen die Klinik und gehen hinein ins echte Leben. Aber was ist, wenn es anders kommt, wenn die Planungen sich nicht umsetzen lassen? Wenn das Erlernte nicht ausreicht? In der Regel – so die Rückmeldungen vieler Betroffener – kommt es zum (erneuten) Arbeitsplatzverlust, oft auch begleitend zum Rückfall, eine Abwärtsspirale beginnt oder setzt sich fort.

    Die Projektidee: Unterstützung und Begleitung

    Wie lässt sich das vermeiden oder besser machen? Welche Möglichkeiten gibt es, Übergänge und schwierige Situationen nach einer erfolgreichen Stabilisierungsmaßnahme so zu gestalten, dass Erfolge verstetigt werden? Hier hat unser stark fraktioniertes Sozialsystem sicherlich noch Einiges an Verbesserungspotenzial – aber auch die Sozialverantwortung von Unternehmen bietet Ansatzpunkte, wünschenswert wäre z. B.eine wohlwollendere Herangehensweise mit der Aussicht auf einen langfristigen Erfolg einer (Re-) Integrationsstrategie.

    Erfolgversprechende Ansätze für Projekte gab es schon einige, allerdings fehlte bis dato eine stabile Finanzierung und auch die Gesamtsicht über die unterschiedlichen Beschwerdeebenen. Mit dem Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steht ein Förderprogramm zur Verfügung, das die Durchführung solcher Projeke zur Überwindung von Schnittstellen ermöglicht.

    Im Frühsommer 2017 erreichte uns der 1. Aufruf der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg zur Einreichung von Projektideen für das Bundesprogramm rehapro. Ausgelobt – so war die damalige Information – hatte die Bundesregierung einen Fördertopf für innovative Projekte, die Übergänge an den Schnittstellen zwischen den SGB-Bereichen gestalten sollten. Die Fördersumme wurde mit einer Milliarde Euro festgesetzt.

    Auf Basis der noch ziemlich spärlichen Vorgaben und Informationen setzten wir uns umgehend an eine Projektskizze. Idee war, ein differenziertes neues Unterstützungssystem für Menschen zu entwickeln, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind und damit bei der Reintegration ins Arbeitsleben erhebliche Schwierigkeiten haben. Leitend war dabei auch unsere Erfahrung, dass aufgrund der regional sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar ein Arbeitsplatz gefunden werden konnte, dieser aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verloren ging, was in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung führt. Des Weiteren leitete uns der schon lang vorhandene Wunsch, Suchtrehabilitation konsequent zu Ende zu denken, also die Integration in Arbeit und Gesellschaft in jeder Phase der Rehabilitation als handlungsleitend zu begreifen und somit Interventionen und Strategien aus medizinischer, beruflicher und sozialer Rehabilitation zu verknüpfen.

    Als Projektziel wurde definiert, zunächst im Landkreis Rastatt und im Stadtkreis Baden-Baden eine strukturierte Hilfe für Menschen mit Suchterkrankung bei der Einstellung und (mindestens) im ersten Beschäftigungsjahr zur Verfügung zu stellen. Bei der Definition des Projektzieles wurde uns klar, dass es hierfür eines mehrdimensionalen Hilfeansatzes bedarf. Die Hilfe sollte durch eine sozialtherapeutische Fachkraft erfolgen, die regelmäßige Gespräche mit den Teilnehmenden führt und gegenüber dem Arbeitgeber der betroffenen Person eine Moderatorenfunktion übernimmt.

    Abb. 1: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Rehabilitand*innen

    In das Konzept von „BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe“ flossen unsere Erfahrungen aus den Projekten „Step by Step“ (ein Arbeitsintegrationsprojekt für langzeitarbeitslose Menschen mit Sucht und/oder psychischen Problemen) und „Starthilfe“ (ein unternehmensbezogener Unterstützungsansatz) ein sowie aus dem Förderverein zur Wiedereingliederung für Suchtkranke (in dem konkrete Arbeitsplätze vermittelt und begleitet werden).

    Neu an BEAS sind:

    • die aktiv gesuchten und strukturierten Kontakte und Kooperationen mit Arbeitgebern,
    • die Aufrechterhaltung dieser Kontakte im Hinblick auf Unterstützung in Krisensituation für Mitarbeitende und Unternehmen,
    • weiterhin die verbindliche Begleitung am Arbeitsplatz und
    • die Netzwerkarbeit in arbeitsbezogenen Kontexten.

    Zentrales Ziel ist neben dem Finden eines angemessenen Arbeitsplatzes die nachhaltige Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses.

    Abb. 2: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Unternehmen
    Abb. 3: BEAS Projektregionen

    In BEAS werden neben den erwerbsbezogenen Integrationsschritten (incl. der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) unterstützende Impulse und Leistungen im Bereich der weiteren sozialen Teilhabe  berücksichtigt und verfolgt.

    Als weiteres Projektziel wurde die Übertragung des Ansatzes auf die angrenzenden Landkreise Ortenau, Karlsruhe Stadt und Landkreis sowie Pforzheim Stadt und Enzkreis benannt, da hier schon gute Kontakte zu möglichen Kooperations- und Netzwerkpartnern bestanden.

    Von der Idee zum geförderten Projekt – beteiligte Institutionen

    Für die wissenschaftliche Evaluation wurde von der DRV Baden-Württemberg das Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung (SEVERA), eingebracht, das sich unter Leitung von Prof. Dr. Erik Farin-Glattacker unmittelbar in die Entwicklung mit einschaltete.

    Als Projekttitel wählten wir das Akronym „BEAS“, das für Begleiteter Einstieg ins Arbeitsleben mit Starthilfe steht.

    In mehreren Konkretisierungs- und Verfeinerungsrunden wurde aus dieser Projektskizze gemeinsam mit Ulrich Hartschuh, dem Projektkoordinator bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg, ein detailliertes Projektkonzept entwickelt, das schließlich neben drei weiteren Projektvorhaben der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg von dieser bei der Fachstelle rehapro eingereicht wurde.

    In weiteren Prüf- und Rückkopplungsrunden mit der Fachstelle wurde die Projektidee durchleuchtet und das Umsetzungskonzept mit Klaus Marhoffer, dem Projektleiter bei der DRV Baden-Württemberg, verfeinert. Als Ergebnis wurde BEAS mit Förderbescheid vom 6.12.2019 als eines der bundesweit ca. 60 Umsetzungsprojekte des 1. Förderaufrufs für rehapro ausgewählt und konnte nach ungefähr zweieinhalbjähriger Vorlaufzeit zum 1.1.2020 starten. Die Projektlaufzeit ist auf fünf Jahre bis zum 31.12.2024 festgesetzt. Das Fördervolumen insgesamt beträgt knapp zwei Millionen Euro, davon entfallen auf den Fischer-Haus e.V. für die Durchführung der Projektmaßnahme ca. 1,5 Millionen Euro.

    Nach einer ersten Projektphase mit vorbereitenden Klärungen und Maßnahmen bezüglich der Evaluation und Details der Interventionen ist BEAS mittlerweile gut angelaufen und die ersten Teilnehmer*innen sind ins Projekt aufgenommen. Und schon steht der nächste Meilenstein an, nämlich die Gewinnung der zweiten Kooperationsregion Karlsruhe.

    Kontakt:

    Erwin Seiser
    Fachklinik Fischer-Haus
    Mönchkopfstraße 21
    76571 Gaggenau
    E.Seiser@Fischer-Haus.de

    Angaben zu den Autoren:

    Stephan Peter-Höner, Leiter der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung fachlich
    Erwin Seiser, Verwaltungsleiter und Kaufm. Vorstand der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung administrativ


    Berufliche Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) – ein rehapro-Projekt aus der Perspektive einer Suchtrehabilitationsklinik

    Projektname: BORA-TB – Berufsorientierte Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen

    Elena Herbach
    Ulrike Dickenhorst

    Aufgrund der riskanten Wechselwirkung zwischen einem abhängigen Suchtmittelkonsum und der Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, stellt die berufliche Integration einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen dar (Henkel & Zemmlin 2015). Somit ist erklärtes Ziel der Suchtreha, die berufliche Teilhabe im Sinne des SGB 6 und SGB 9 zu erhalten und/oder wiederherzustellen und eine Erwerbsminderung zu verhindern (Weinbrenner & Köhler 2013).

    Aus den Katamneseergebnissen des Entlassjahres 2018 (N=11.090) des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. wissen wir, dass die Arbeitslosenquote bei den alkoholabhängigen Rehabilitand*innen bei 41,6 Prozent und den drogenabhängigen Rehabilitand*innen bei 58,7 Prozent liegt. Für Rehabilitand*innen, die erwerbstätig sind, jedoch erwerbsbezogene Problemlagen aufweisen (BORA-Gruppe 2), würde eine weitergehende berufliche Stabilisierung auch positive Auswirkungen auf den gesundheitlichen Lebensstil, die intrapsychische Befindlichkeit und die soziale Gemeinschaft sowie das Familienleben haben (Zobel 2017).

    Die Untersuchungsergebnisse von Vollmer und Domma (2020) bestätigen, dass erwerbstätige Rehabilitierte eine höhere Lebenszufriedenheit, eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und ein geringes Rückfallrisiko aufweisen und Rückfälle frühzeitiger stoppen konnten. Die sechsmonatige Abstinenz während der Therapie zeigte eine hohe Relevanz für den Status der Erwerbsfähigkeit, sowie das Alter: Jüngere Arbeitslose hatten eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Jahr nach Therapieende erwerbstätig zu sein. Dagegen hatten ältere Rehabilitand*innen eine höhere Wahrscheinlichkeit, durchgehend abstinent zu leben. Weitere relevante Faktoren, die den Erhalt des Arbeitsplatzes stabilisieren konnten, waren der Berufsabschluss, die Wohnregion, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des Arbeitsentgeltes.

    Berufliche Orientierung in der Reha

    In der stationären Rehabilitation findet seit 2015 – seit die gemeinsamen „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter“ veröffentlicht wurden – eine bedarfsorientierte Förderung statt. Die Rehabilitand*innen werden hierzu in die BORA-Gruppen 1 bis 5 eingeteilt.

    Allerdings finden die in der Rehabilitation erreichten Teilziele im Wiedereingliederungsmanagement der Jobcenter oder in den Angeboten der Agentur für Arbeit zur Erhöhung der „Return to Work“-Quote keine passgenaue Entsprechung. Als besonders problematisch zeigen sich Übergänge und Schnittstellen in den Behandlungs- und Betreuungsphasen sowie unabgestimmte Förderkonzepte. So haben Koch et al. (2020) gezeigt, dass trotz Kontaktoptionen mit nachfolgenden Stellen, diese nur zu 30 Prozent wahrgenommen wurden, 20 Prozent keinen Termin verabredet haben und die Kontaktanbahnung aus der Rehabilitation zu 46 Prozent nicht fortgesetzt wurde.

    An dieser Stelle setzt das Modellvorhaben zur berufsorientierten Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) an. Es wurde federführend von der Deutschen Rentenversicherung Westfalen im Rahmen des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ beantragt. Das rehapro-Förderprogramm ist verankert im §11 SGB 9 und wird gefördert mit einer Milliarde Euro des BMAS. Der erste Förderaufruf wurde am 04.05.2018 ausgesprochen, der zweite am 25.05.2020. Antragsberechtigt sind Leistungsträger nach dem SGB 6 und dem SGB 2, die Projektlaufzeit kann bis zu fünf Jahre betragen. Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes ist möglich, die Gesamtevaluation des Förderprogramms findet durch ein bundesweites Konsortium um das Institut für Arbeit (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen statt.

    Struktur und Inhalt von BORA-TB

    Das Modellvorhaben BORA-TB beinhaltet eine neue Leistung für abhängigkeitserkrankte Rehabilitand*innen: Teilhabebegleiter*innen fungieren als zentrale Ansprechpartner*innen für den gesamten Prozess der Rehabilitation und mindestens sechs Monate bis maximal zwölf Monate, mit dem Ziel, die berufliche Reintegration zu fördern und zu fordern. Das Innovative an diesem Ansatz ist die erstmalige Einführung einer Person in das System, die den Prozess der trägerübergreifenden beruflichen Integration unterstützt, moderiert, stabilisiert usw., besonders um die Nahtlosigkeit bei Systemübergängen zu gewährleisten.

    Das Modellvorhaben wird in zwei Modellregionen durchgeführt. Ein Standort ist die ländliche Region des östlichen Ostwestfalens: Rehabilitand*innen der Bernhard-Salzmann-Klinik des LWL-Klinikums Gütersloh aus den Postleitzahlbereichen 32… und 33… werden in die Studie eingeschlossen und von Teilhabebegleiter*innen des Caritasverbandes Gütersloh und des diakonischen Werkes in Herford begleitet. Der zweite Standort ist der großstädtische Raum Dortmund. Die im LWL-Klinikum Dortmund aufgenommenen Rehabilitand*innen werden von Teilhabebegleiter*innen des Klinikums begleitet.

    Das Modellvorhaben BORA-TB wird durch Prof. Dr. Thorsten Meyer von der Universität Bielefeld an der Stiftungsprofessur für Rehabilitationswissenschaften und Rehabilitative Versorgungsforschung der Fakultät Gesundheitswissenschaften begleitet, u. a. werden die Standortunterschiede zwischen ländlichen und städtischen Versorgungsstrukturen erfasst und bewertet. Des Weiteren werden die Arbeitsbedingungen der zentral oder dezentral eingesetzten Teilhabebegleiter*innen erhoben und Schlussfolgerungen auf die Ergebnisqualität gezogen. Die erfassten Daten werden zum einen summativ statistisch ausgewertet (Ergebnisevaluation) mit der Frage: Welche Effekte zeigen die Interventionen auf die Rehabilitand*innen und Versorgungsprozesse? Zum anderen erfolgt mit qualitativen Methoden eine formative Evaluation, um die Wirkmechanismen der Teilhabebegleitung in den verschiedenen Versorgungskontexten auf Prozess- und Rehabilitandenebene zu verstehen. Die Ergebnisse werden in entsprechende Empfehlungen für eine Projektimplementierung bei einer möglichen Verstetigung einfließen.

    Projektziele

    Die Projektziele beinhalten die Förderung der Motivation der Rehabilitand*innen, eine weiterführende berufliche Teilhabeleistung in Anspruch zu nehmen und eine langfristig berufsorientierte Perspektive zu entwickeln und zu festigen. Die Rate der sich in einem Beschäftigungsverhältnis befindenden Rehabilitand*innen sollte sich erhöhen, und für den Forschungszeitraum sollte eine Beschäftigung von mindestens zwölf Monaten möglich sein. Die AU-Dauer (Arbeitsunfähigkeit) sollte in dem Zeitraum verringert werden. Das Betreuungsverhältnis von Teilhabegleiter*in zu Rehabilitand*in sollte 1:30 nicht überschreiten, um eine gute Betreuung zu gewährleisten. Falls sich das Projekt als zielführend erweist, könnte die zukünftige Finanzierung von Stellen der  Teilhabebegleiter*innen über eine höhere Integrationsquote und eine Reduktion der Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente erreicht werden. Natürlich ist jede Reintegration einer/s Versicherten als Erfolg zu bewerten.

    Im Projektverlauf werden neue Netzwerke dokumentiert, die Rehabilitand*innen werden zur Akzeptanz der Maßnahmen befragt, z. B. anhand von qualitativen Interviews. Besonderes Augenmerk liegt auf den bio-psycho-sozialen Teilhabehemmnissen. Sie werden sensibel erhoben, Hilfebedarfe erfasst und adäquate Maßnahmen eingeleitet. Auch die Gruppe der Rehabilitand*innen, die sich gegen eine Teilnahme entschieden hat, wird zu ihren Motiven befragt. Bei vorliegender Einverständniserklärung werden die soziodemographischen Daten mit in die Teilhabeplanung eingezogen sowie später die Ergebnisse der Ein-Jahres-Katamnese in der Datenbewertung berücksichtigt. In der Regel schließen die Rehabilitand*innen nach der Rehabilitation eine ambulante Weiterbehandlung/‌Fortführung/Nachsorge an, und die Kooperation zwischen Teilhabebegleiter*innen und weiterbehandelnden Suchtberatungsstellen ist regelhaft gewünscht.

    Der erste Kontakt zu den Teilhabebegleiter*innen wird nach drei bis vier Wochen in der Klinik verabredet. Bis zu dem Termin haben die Rehabilitand*innen eine differenzierte sozialmedizinische BORA-Diagnostik durchlaufen und es werden mit ihnen, orientiert am individuellen beruflichen Teilhabebedarf, Therapiepläne erstellt und -interventionen verordnet.

    Folgendes Flow Chart (Abb. 1) bildet den gesamten Prozess in der Bernhard-Salzmann-Klinik ab.

    Abb. 1: Prozess im Projekt BORA-TB

    Vielfach haben die Rehabilitand*innen während der Rehabilitation für die berufliche (Neu-) Orientierung und (Wieder-) Eingliederung eine wechselnde Motivationslage. Die Ambivalenz bzgl. des beruflichen Wiedereinstiegs zeigt sich z. B. in der Unvereinbarkeit von Wunschtätigkeit und realen Arbeitsmarktangeboten, in Ängsten, die beruflichen Erwartungen nicht erfüllen zu können, oder darin, die eigenen körperlichen, psychischen oder sozialen Vermittlungshemmnisse als unüberwindbar zu bewerten oder sich vor konflikthaften Auseinandersetzungen im Berufsalltag zu fürchten.

    Hinzu kommt, dass die Rehabilitand*innen zu Beginn ihrer Behandlung meist andere Themen priorisieren, wie z. B. die Einleitung von existenzsichernden Maßnahmen, Wohnraumsicherung, die Erarbeitung von Therapiezielen, die Behandlung komorbider Störungen, die Bewältigung des Suchtmittelverzichts oder familiäre Problemlagen. Neigt sich die Behandlung dem Ende zu, sind die Rehabilitand*innen motivierter, sich mit dem Thema der beruflichen Orientierung auseinanderzusetzen.

    Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen

    Für eine fachlich hochwertige Teilhabebegleitung ist eine Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen mit praxisrelevantem Wissen notwendig. Die Durchführung der Qualifizierungen obliegt der „Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW“ (LKI) in Paderborn. Vor der praktischen Umsetzung des Modellvorhabens wurden die Teilhabebegleiter*innen in folgenden sechs Basismodulen geschult:

    • Modul 1: Einführung in das neue Aufgabenfeld der BORA-Teilhabebegleitung: Auftrag, Rolle und Ziele
    • Modul 2: Aufgaben und Anforderungen an BORA-TB / Netzwerke aufbauen, gestalten, koordinieren
    • Modul 3: Leistungen und Möglichkeiten der Jobcenter und Agenturen für Arbeit
    • Modul 4: Auswirkungen und Möglichkeiten des Bundesteilhabegesetztes
    • Modul 5: Betriebliche Suchthilfe, Eingliederungsmanagement, juristische Aspekte
    • Modul 6: Aufgaben und Leistungen der Deutschen Rentenversicherung

    Zusätzlich organisiert die Landeskoordinierungsstelle fünf weitere Qualifizierungen zu fachspezifischen Themen:

    • motivierende Gesprächsführung
    • Sucht und Migration
    • Motivieren durch persönliche Präsenz
    • Persönlichkeitsstile/-störungen und die Herausforderungen in der Beratung
    • Genderbezug und Sucht

    In den ersten Qualifizierungen konnten neben den Teilhabebegleiter*innen auch die Kooperationspartner*innen des Modellvorhabens teilnehmen. Insgesamt wurde deutlich, dass die einzelnen Kolleg*innen bereits sehr umfangreiches Fachwissen durch ihre vorherigen Berufserfahrungen in folgenden Fachrichtungen mitbringen: Suchttherapie, rechtliche Betreuung, arbeitsmarkt­orientierte Hilfen, Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst usw. Die bereits vorhandenen Qualifikationen ermöglichten die Bildung eines internen Expertenpools für den fachlichen Austausch. Trotz der unterschiedlichen Standorte in Dortmund, Gütersloh, Herford und Bielefeld sind alle Kollegen und Kolleginnen in einem sehr guten, regelmäßigen und engen Austausch.

    Zur guten Vernetzung aller Mitarbeitenden des Modellvorhabens ist auch die Netzwerkarbeit mit Kostenträgern und anderen Versorgungsschnittstellen essentiell. Um diese Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, werden mithilfe der Koordination der LKI pro Standort dreimal jährlich Netzwerktreffen stattfinden. Die Netzwerktreffen sollen dazu dienen, alle Akteur*innen untereinander bekannt zu machen, Raum für einen fachlichen Austausch zu schaffen und Referent*innen zu wichtigen Themen einzuladen. Die ersten Netzwerktreffen finden bereits dieses Jahr im November an allen drei Standorten statt.

    Für die Gewährleistung eines reibungslosen Übergangs in die BORA-Teilhabebegleitung sind Fallkonferenzen mit den Rehabilitand*innen und allen relevanten Akteur*innen aus der medizinischen Behandlung geplant.

    Akzeptanz der Maßnahme

    In den ersten Monaten hat sich gezeigt, dass ein Teil der Rehabilitand*innen auf das Projekt skeptisch reagiert, u. a. konnte die Datenevaluation der Universität Bielefeld nicht eingeschätzt werden. Grundsätzlich haben die Rehabilitand*innen auch die Möglichkeit, an dem Projekt teilzunehmen, ohne dass Daten zu wissenschaftlichen Zwecken weiter bearbeitet werden. Die Ergebnisse würden dann über die Katamneseerhebung ausgewertet, wenn das Einverständnis dazu vorliegt.

    Aktuell erfolgt die Kontaktaufnahme zu den Rehabilitand*innen durch den/die Teilhabebegleiter*in so früh wie möglich, um zu informieren und eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können. In der ersten Phase der Rehabilitation willigen wenige Rehabilitanden direkt in die Teilhabebegleitung ein. Mit zunehmender Dringlichkeit zum Ende der Behandlung wird erneut Kontakt aufgenommen, um eine berufliche Perspektive zu erarbeiten.

    Durch den Projektstatus haben die Teilhabebegleiter*innen die Möglichkeit, unterschiedliche Formen und Zeitpunkte der Ansprache auszuprobieren. Letztendlich wird die Evaluation durch die Universität Bielefeld aufzeigen, welche Form von BORA-Teilhabebegleitung sich langfristig positiv auf die berufliche Orientierung und Reintegration auswirken wird.

    Kontakt:

    Ulrike Dickenhorst
    Bernhard-Salzmann-Klinik
    Buxelstraße 50
    33334 Gütersloh
    ulrike.dickenhorst@lwl.org

    Angaben zu den Autorinnen:

    Ulrike Dickenhorst, Therapeutische Leitung, Bernhard-Salzmann-Klinik, LWL-Rehabilitationszentrum Ostwestfalen, Gütersloh
    Elena Herbach, Sozialdienst, Bernhard-Salzmann-Klinik, LWL-Rehabilitationszentrum Ostwestfalen, Gütersloh

    Literatur:
    • Henkel, D. & Zemlin, U. (2015). Editorial, in: Themenheft „Arbeitslosigkeit und Suchtrehabilitation“. Suchttherapie 6(4), 153-154.
    • Koch, A. et. al (2020). Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur, Online Zeitschrift KONTUREN 15.06.2020; https://dev.konturen.de/fachbeitraege/erfassung-der-aktivitaeten-zur-verbesserung-der-beruflichen-teilhabe-in-der-suchtrehabilitation-an-der-schnittstelle-zu-jobcenter-und-arbeitsagentur/
    • Vollmer, H. C. & Domma, J., (2020). Erwerbsstatus Alkoholabhängiger nach Therapie, in: SUCHT 66 (3), 133-142.
    • Weinbrenner, S. & Köhler, J. (2013). Der Mensch im Mittelpunkt – Anforderungen und Perspektiven für die Suchtbehandlung aus Sicht der DRV Bund, in: SuchtAktuell 20 (2), 15-20.
    • Zobel, M. (2017). Kinder aus alkoholbelasteten Familien: Entwicklungsrisiken und Chancen. Göttingen: Hogrefe.
  • Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur

    Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur

    Einleitung

    Mit der Entwicklung und Veröffentlichung der BORA-Empfehlungen im Jahr 2015 ist im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen die berufliche Integration im Rahmen der Medizinischen Rehabilitation deutlicher als bisher in den Fokus gerückt, auch wenn das Thema Arbeit bislang schon einen traditionell hohen Stellenwert in der Suchtbehandlung hatte (Köhler, 2009). Die Reha-Einrichtungen waren aufgefordert, durch Ergänzung ihrer Rehabilitationskonzepte die Analyse und Förderung der Integrationspotentiale der Rehabilitand*innen weiterzuentwickeln. Die Einführung von BORA unterstreicht die Notwendigkeit in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker, den Fokus auf die berufliche Wiedereingliederung zu legen, neben den anderen relevanten Teilhabezielen und der Förderung der Abstinenz.

    Die verstärkte berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation darf aber nicht fälschlicherweise mit einer Abkehr von der Psychotherapie gleichgesetzt werden. Allerdings gelingt die Vernetzung mit der regionalen Agentur für Arbeit oder mit den lokalen Jobcentern trotz beeindruckender Abstinenzquoten nicht in allen Fällen (Kobelt et al., 2017). Bei vielen Rehabilitand*innen führt ein möglicherweise biografisch bedingtes Überforderungsgefühl oder eine nicht genügend ausgeprägte Resilienz dazu, dass ein konstruktiver Umgang mit Stresssituationen, Selbstwertproblemen oder mangelnder Gratifikation erschwert wird. Ebenso sind die Auflösung von konkurrierenden Belastungssituationen zwischen Arbeit und Familie, von Konflikten mit Kolleg*innen oder Vorgesetzten sowie eine ausgewogene Selbstorganisation große Herausforderungen. Die differenzierte und individualisierte Therapieplanung in den Einrichtungen trägt diesen Aspekten Rechnung. Persönlichkeitsstrukturelle Anteile der Rehabilitand*innen werden dabei ebenso thematisiert und bearbeitet wie die Kontextbedingungen der bestehenden Arbeitsplatzverhältnisse (Kobelt et al., 2017, Baumeister, 2016, Buruck et al., 2016). Die Realität der Arbeitswelt hat in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten eine wichtige Bedeutung und wird unmittelbar in die Therapie integriert. Die Rehabilitand*innen sollen sich durch den mehrwöchigen Aufenthalt in der Klinik kein schützendes Idyll alternativ zur Suchterkrankung aufbauen, in dem die Probleme des Alltags ausgespart bleiben (Baumeister, 2016).

    In § 42 SGB IX werden die Ziele in ein rein medizinisches Ziel (Abwendung, Beseitigung, Minderung, Ausgleich vorhandener Behinderung/chronischer Krankheiten) und ein Teilhabeziel unterteilt. Drittes Ziel ist dann die möglichst dauerhafte Wiedereingliederung (BSG vom 29.01.2008 B 5a/5 R 26/07 R). Das Rehabilitationsziel soll also mit einer Kombination von medizinisch-therapeutischen Maßnahmen zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit einerseits und der dauerhaften Wiedereingliederung ins Erwerbsleben andererseits erreicht werden.

    Forschungslage zum Wiedereingliederungserfolg nach Entwöhnungsbehandlung

    Obwohl die berufliche Wiedereingliederung ein wichtiges Ziel der Entwöhnungsbehandlung darstellt, gibt es bisher nur wenige Arbeiten, die sich  mit dem Wiedereingliederungserfolg nach der Entwöhnungsbehandlung in Leistungsträgerschaft der Deutschen Rentenversicherung beschäftigen; gleichzeitig finden sich nur wenige empirische Hinweise darauf, welche personen- oder kontextbezogenen Faktoren die berufliche Wiedereingliederung begünstigen. Buschmann-Steinhage und Zollmann (2008) konnten zeigen, dass der Beschäftigungsstatus zum Zeitpunkt der Antragsstellung den Arbeitsstatus zwei Jahre nach Beendigung der Entwöhnungsbehandlung vorhersagen kann, d. h., dass die Erwerbssituation durch die Reha-Maßnahme mindestens stabil gehalten werden kann. Als ergänzende Prädiktoren wurden die Wohnregion, der Bildungsstatus, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des zuletzt erzielten Arbeitsentgeltes identifiziert. Gerade bei abhängigkeitserkrankten Menschen, die aus einem Beschäftigungsverhältnis in die Entwöhnungsbehandlung kommen, ist die Chance im Vergleich zu arbeitslosen Personen um 50% erhöht, dass sie auch nach der Rehabilitation einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen (Kobelt et al., 2019). Bachmeier (2019) konnte zeigen, dass die Quote der Erwerbstätigen im Katamnesezeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung um ca. 8% gegenüber dem Status zu Behandlungsbeginn gesteigert werden konnte (von 46,2% auf 54,3%). Entsprechend sank die Erwerbslosigkeitsquote um über 10% (von 33,3% auf 22,9%). Auch die Arbeitsunfähigkeitszeiten reduzierten sich im Katamnesezeitraum im Vergleich zum Zeitraum vor der Behandlung deutlich.

    Dennoch stellt eine Abhängigkeitserkrankung ein erhebliches Risiko für den Arbeitsplatzverlust dar, wobei der Anteil beruflich gering Qualifizierter in dieser Population besonders hoch ist (Henkel, 2011). Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Entwöhnungsbehandlung auf dem Arbeitsmarkt wieder eingegliedert zu werden, sank für Rehabilitand*innen ohne qualifizierten Berufsabschluss um 83% gegenüber der Vergleichsgruppe mit relevanten Qualifikationen (Bestmann, 2019). Auch in früheren Studien wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Humankapitalinvestitionen, die Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt mitbringen, wie Berufsausbildung und tätigkeitsspezifische Kenntnisse und Erfahrungen, die entscheidende Größe für die Aufnahme bzw. auch monetäre Bewertung einer Arbeitstätigkeit darstellen (Achatz et al., 2011).

    Zudem steigt das Risiko, nach der Entwöhnungsbehandlung erwerbslos zu sein, um 70% an, wenn weitere psychische Erkrankungen bspw. eine Depression vorliegen (Kobelt et al., 2019; Bestmann 2019). Für Arbeitgeber ist die körperliche und psychische Gesundheit eine Versicherung für Stabilität und Leistungsvermögen. Bestehende körperliche, psychische oder Abhängigkeitserkrankungen erschweren so die erfolgreiche Bewerbung auf ein Stellenangebot (Dietz, 2009).

    Werden lediglich versicherungskontenbezogene Katamneseergebnisse berücksichtigt, die die Veränderung der Beitragszeiten aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung widerspiegeln, zeigt sich, dass sich nach einer Entwöhnungsbehandlung die Erwerbstätigkeit der Rehabilitand*innen nur geringfügig verbessert (Kobelt et al., 2019). Auch zwei bzw. drei Jahre nach der letzten Entwöhnungsbehandlung ändert sich an diesem Status wenig (Bestmann, 2019). Je länger die Erwerbslosigkeitszeiten vor der Entwöhnungsbehandlung sind, desto mehr sinkt die Chance auf eine berufliche Wiedereingliederung (Bestmann, 2019). Dabei ist zu beachten, dass diese Entwicklungen keine Bewertung der Leistungsfähigkeit der Entwöhnungsbehandlung zulassen, sondern auf zahlreiche Einflussfaktoren zurückzuführen sind.

    In den wenigen verfügbaren Studien zeigt sich bislang, dass auf der individuellen Ebene vor allem die Schwere der Erkrankung, operationalisiert durch eine vorliegende Komorbidität, und der Erwerbsstatus im Jahr vor der Entwöhnungsbehandlung die wichtigsten Variablen sind, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestimmen.

    Während die Interaktion zwischen Erkrankung und Arbeitsplatzproblematik im Rahmen der in den BORA-Empfehlungen vorgesehenen Interventionsbausteinen behandelt werden kann (Kobelt et al., 2017), sind die Einflussmöglichkeiten auf die Kontextfaktoren, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt blockieren, wie Ausbildungsstatus und/oder fehlender Arbeitsplatz, sehr begrenzt. Achatz und Trappmann (2011) haben festgestellt, dass die Kumulation von Hemmnissen mit jedem zusätzlichen Risiko die Übergangswahrscheinlichkeit aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fast halbiert. Je länger ein Mensch arbeitslos ist, desto mehr verliert der Betroffene psychosoziale Fähigkeiten zur Überwindung der Teilhabeprobleme. Ein Teufelskreis entsteht, aus dessen Erleben neue Belastungen und Misserfolge und damit neue Erkrankungen erwachsen oder sich bestehende Einschränkungen noch weiter intensivieren (Zenger et al., 2013; Mewes et al., 2013). Hinzu kommen Vorbehalte der Arbeitgeber insbesondere gegenüber älteren Langzeitarbeitslosen, die dazu führen, dass Anstrengungen, in eine Anstellung zurückzufinden, immer seltener zum Erfolg führen können. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Grundsicherungsstellen effizienter ist, sich auf die Langzeitarbeitslosengruppen zu konzentrieren, deren Arbeitsaufnahme am wahrscheinlichsten ist (Achatz und Trappmann, 2011). Daher ist der frühzeitige Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten im Anschluss an die Entwöhnungsbehandlung wichtig, um die berufliche Integration zu fördern und Rückfälle zu verhindern, wobei auch die regionale Arbeitsmarktsituation Einfluss auf die beruflichen Integrationschancen hat.

    Wie soll der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden?

    Medizinisch-berufliche Rehabilitationsprogramme (MBOR, BORA) sollen eine kosteneffektive und qualitativ hochwertige Patientenbetreuung hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung gewährleisten. Neben der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit als zentraler Zielsetzung der Entwöhnungsbehandlung stellt die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit (Return to Work) ebenfalls eine wichtige Messgröße und absehbar ein wichtiges Qualitätsmerkmal dar.

    Allerdings gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden sollte. So wird schon kontrovers diskutiert, ob es ausreicht, dass die Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung potentiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also auch, wenn die Beiträge zur Rentenversicherung von der Agentur für Arbeit entrichtet werden. Doch selbst wenn man sich darauf verständigt, dass lediglich Beiträge aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als Erfolgsparameter anerkannt werden, bleibt sowohl die Bemessung der Mindestanzahl der Beitragsmonate sowie der Kumulationszeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung (ein, zwei, fünf Jahre) noch offen (Nübling et al., 2016). Reicht es aus, wenn der Rehabilitand mindestens einen Monatsbeitrag aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung entrichtet hat, oder sollte die Differenz zwischen den Beitragsmonaten im Jahr nach der Rehabilitation zum Jahr vor der Rehabilitation mindestens positiv sein, um eine Verbesserung zu dokumentieren? Als Ausweg aus diesem nicht abschließend geklärten Dilemma schlägt Höder (2019) vor, dass es dem Kostenträger überlassen bleiben sollte, welches Ergebnis als klinisch relevant zu bewerten ist. Diese Alternative ist kritisch zu bewerten, denn letztlich bleibt die Frage ungelöst, wie es Versicherten mit einer Abhängigkeitserkrankung ohne Entwöhnungsbehandlung ergangen wäre, da es keine kontrollierten Untersuchungen mit Vergleichsgruppen gibt.

    Doch auch dieser Weg wirft weitere Fragen auf, vor allem dann, wenn die Ergebnisindikatoren (bspw. Beiträge aus versicherungspflichtiger Beschäftigung) unabhängig von den persönlichen (Psychopathologie, Suchtgeschichte, Berufsausbildung) und kontextuellen (Arbeitsmarkt, Wohnort, Mobilität) Voraussetzungen und Bedingungen der Versicherten und ohne ausreichende Berücksichtigung der Beeinflussbarkeit festgelegt werden (Amelung et al., 2013).

    Wenn zukünftig Kliniken auf der Grundlage der Return-to-Work-Quote als Ergebnisindikator verglichen werden, um zum Beispiel erfolgreiche Behandlungs- und Fallmanagementprogramme zu identifizieren (vgl. Krischak et al., 2018), ist zu erwarten, dass sich Suchtrehakliniken deutlich mehr mit der Agentur für Arbeit, mit den JobCentern oder mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018) vernetzen müssen. So wurde schon vor Jahren eine vertraglich geregelte Kooperation zwischen Entwöhnungseinrichtungen und den Agenturen für Arbeit bzw. den Jobcentern gefordert (Bahemann et al., 2012).

    Die Erwartung, dass vor der Rehabilitationsbehandlung arbeitslose oder arbeitsunfähige Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung eine neue Tätigkeit beginnen oder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, setzt demnach unbedingt voraus, dass die behandelnden stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen direkt auf die kontextuellen Bedingungen des Arbeitsmarktes bzw. des bestehenden Arbeitsplatzes einwirken können, da die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit oder die Reintegration in den Arbeitsmarkt nach längerer Arbeitslosigkeit nur sehr begrenzt von der rehabilitativ-psychotherapeutischen Behandlungsplanung beeinflusst werden kann (Rekowski, 2014). Dazu kann entweder die schon geforderte enge Kooperation mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern dienen, oder die berufliche Reintegration bzw. die Stabilisierung der regelmäßigen Erwerbstätigkeit muss im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung oder Nachsorge verstärkt in den Mittelpunkt gestellt werden, wobei die Rehabilitand*innen kontinuierlich betreut, unterstützt und beobachtet werden müssen (Kulick, 2009).

    Fragestellung

    Weil die Vernetzung mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit vor allem für arbeitslose Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung ist, sollte mit der vorliegenden Studie untersucht werden, wie erfolgreich die Kooperation und Vernetzung mit der Agentur für Arbeit bzw. den örtlichen Jobcentern im Rahmen der stationären Entwöhnungsbehandlung gestaltet werden kann:

    • Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, für die eine Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter notwendig ist?
    • Wie wurde der Kontakt zur Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter hergestellt?
    • Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, die während der Entwöhnungsbehandlung erfolgreich mit der Agentur für Arbeit oder mit den Jobcentern Kontakt aufnehmen konnten?
    • Welche Gründe gab es, dass kein Kontakt zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter hergestellt werden konnte?

    Methoden

    Um wesentliche Indikatoren für die Zusammenarbeit zwischen der Agentur für Arbeit bzw. den Jobcentern und den an der Untersuchung beteiligten Einrichtungen zu dokumentieren, wurde durch eine Gruppe von Expert*innen der Suchtfachverbände (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss), Fachverband Drogen- und Suchthilfe (fdr+) und Fachverband Sucht (FVS)) sowie der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover die Basisdokumentation um zusätzliche Items ergänzt, auf deren Grundlage die Aktivitäten zur Förderung der beruflichen Teilhabe der Einrichtungen im Rahmen von BORA evaluiert werden können (s. Tabelle 1).

    Tabelle 1: Ergänzende Items zur Dokumentation der Vernetzung im Rahmen von BORA

    Die Items wurden als ergänzendes Modul in das Dokumentationssystem PATFAK (Software für stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe von der Fa. Redline Data) integriert.

    Die Erhebung wurde in den Jahren 2017 (n=1.839), 2018 (n=1.961) und 2019 (=1.874) durchgeführt und umfasste ausschließlich Versicherte der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (insgesamt n=5.674). Folgende Fachkliniken, die alle in der Federführung der DRV Braunschweig-Hannover liegen, haben sich an der Datenerhebung beteiligt:

    • Fachklinik Nettetal
    • Fachklinik Hase-Ems
    • Haus Möhringsburg
    • Fachklinik Bassum
    • Haus Niedersachsen
    • Klinik am Kronsberg
    • Fachklink Südergellersen
    • Therapiezentrum OPEN
    • Fachklinik Erlengrund
    • Klinik am Park

    Die Datensätze der einzelnen Entlassungsjahrgänge wurden jeweils im Folgejahr von diesen Einrichtungen zusammen mit den Daten des Deutschen Kerndatensatzes (KDS 3.0) eingesammelt. Die Datensammlung, Auswertung und Ergebnisdarstellung wurde von der Firma Redline Data übernommen. Es wurden lediglich deskriptive Statistiken durchgeführt.

    Ergebnisse

    Bei etwas mehr als der Hälfte der Rehabilitand*innen wurde während der Reha die Kontaktaufnahme zum Jobcenter als erforderliche Maßnahme identifiziert (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Kontaktaufnahme zu Jobcenter / Agentur für Arbeit erforderlich

    79,9% der Rehabilitand*innen, bei denen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter notwendig war, waren unter 50 Jahre alt. In dieser Gruppe waren 53,9% wegen einer Alkoholabhängigkeit in der Entwöhnungsbehandlung, 34,2% wegen einer Abhängigkeit von illegalen Drogen (Opioide, Cannabis, Kokain, Stimulanzien) und 6,4% Prozent waren mehrfachabhängig. 59,1% der Rehabilitand*innen waren zum Zeitpunkt der Befragung bereits Empfänger von Arbeitslosengeld II.

    Die genauere Analyse der erforderlichen Kontaktaufnahme im Verhältnis zum Erwerbsstatus zeigt ein nicht überraschendes Bild: Von den Rehabilitand*innen, bei denen keine Kontaktaufnahme erforderlich war, machen Erwerbspersonen mit 67,5% den größten Anteil aus. Bei den Fällen mit erforderlicher Kontaktaufnahme ist die große Mehrheit (78,1%) arbeitslos (s. Tabelle 3). Die einzelnen Kategorien wurden wie folgt zusammengefasst:

    • Erwerbspersonen = Auszubildende, Arbeiter*innen, Angestellte, Beamt*innen, Selbständige, Freiberufler*innen, berufliche Reha, Elternzeit, Sonstige
    • arbeitslose Personen = ALG I oder ALG II
    • Nichterwerbspersonen = Schüler*innen, Studierende, Hausfrau/Hausmann, Rentner*innen, Pensionär*innen, Sonstige (mit/ohne Leistungen nach SGB XII)
    Tabelle 3: Erwerbsstatus und Kontakterfordernis

    Bei der Frage, ob der Kontakt für die Rehabilitand*innen, bei denen der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur erforderlich war, auch erfolgreich hergestellt werden konnte, zeigt sich, dass das nur bei etwas mehr als der Hälfte der Fälle gelungen ist (52,0%; s. Tabelle 4).

    Tabelle 4: Erfolg der Kontaktaufnahme

    Zur Frage nach den genutzten Kontaktwegen fällt der sehr geringe Anteil „Online“ auf (4,5%). Die übrigen Kontaktoptionen werden zu etwa gleichen Teilen genutzt, wobei die telefonische Kontaktaufnahme etwas überwiegt (38,0%; s. Tabelle 5).

    Tabelle 5: Nutzung verschiedener Kontaktwege

    Bei der Frage nach den Kontaktwegen ist zu beachten, dass hier eine Mehrfachauswahl möglich war. Die Antworten zu den einzelnen Kontaktwegen beziehen sich nur auf 2.054 Rehabilitand*innen (66,3%), die mindestens einen Kontaktweg genutzt haben. 27,7% der Rehabilitand*innen haben mehr als einen Kontaktweg genutzt (s. Tabelle 6).

    Tabelle 6: Anzahl der genutzten Kontaktwege

    Problematisch sind die Fälle, bei denen der Kontakt nicht erfolgreich war (n=1.454; s.a. Tabelle 4). Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Rehabilitand*innen, die keinen Kontakt zur Agentur oder zum Jobcenter herstellen konnten, auch gar nicht erst versucht hat, einen der Kontaktwege zu nutzen (n=1.045; s.a. Tabelle 6). Daraus lässt sich aber auch erkennen, dass bei 409 Fällen trotz Nutzung einer Kontaktoption kein Kontakt zustande kam.

    Wenn die Kontaktaufnahme zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur nicht erfolgreich war, stellt sich die Frage nach den Gründen. Bei der Konzeption der Datenerhebung wurden von der Gruppe der Expert*innen zunächst mehrere mögliche Gründe aus der klinischen Erfahrung zusammengestellt und als Kategorien vorgegeben. Plausibel erscheint das Ergebnis, dass in 16,2% der Fälle das Jobcenter bzw. die Arbeitsagentur die Kontaktherstellung für die Zeit nach der Reha plant, weil erst an dieser Stelle die eigene Zuständigkeit gesehen wird (s. Tabelle 7).

    Tabelle 7: Gründe für nicht erfolgten Kontakt

    Es hat sich gezeigt, dass die Gründe, warum es nicht zu einer Kontaktaufnahme mit der Agentur oder dem Jobcenter kam, sehr unterschiedlich sein können und mit den vorgegebenen Antwortkategorien nur unzureichend erfasst werden konnten. Nach Rücksprache mit den an der Untersuchung teilnehmenden Einrichtungen verbergen sich hinter den „sonstigen Gründen“, die eine erfolgreiche Kontaktaufnahme verhindert haben, z. B. folgende Aspekte:

    • Weiterführende stationäre Maßnahmen (Adaption, Krankenhausaufenthalte, Soziotherapie),
    • Jobcenterwechsel nach Wohnortwechsel kurz vor/nach der Entlassung,
    • Misstrauen gegenüber der Arbeitsverwaltung aufgrund negativer Vorerfahrungen,
    • realistische Möglichkeit, eine Arbeit aufgrund eigener Initiative aufzunehmen,
    • kein Kontakt aufgrund von vorzeitigem Behandlungsende,
    • Rehabilitand*in bevorzugt eigene Lösung und lehnt jede Hilfe ab,
    • Rehabilitand*in verfolgt ein Rentenbegehren und lehnt jede Hilfe ab,
    • negative sozialmedizinische Prognose.

    Für den Entlassungsjahrgang 2019 wurde diese weitergehende Ursachenanalyse ausgewertet (s. Tabelle 8). Hervorzuheben ist hier, dass bei etwa einem Viertel der Fälle die Eigeninitiative der Rehabilitand*innen im Vordergrund steht und ggf. zu einer Arbeitsaufnahme führen kann (Kategorie 4 = 12,5% und Kategorie 6 = 12,1%).

    Tabelle 8: Differenzierte Analyse der Gründe für nicht erfolgten Kontakt

    Wenn der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur hergestellt werden konnte (n=1.613), wurde mit dem letzten Item erfasst, wie der Beratungsprozess weiter verlaufen ist (s. Tabelle 9). Bei etwa einem Drittel der Fälle hat noch während der Reha ein erster Beratungstermin stattgefunden, bei weniger als 20% der Fälle konnte kein Beratungstermin vereinbart werden. Die häufigste Option mit 46,8% (n=755) ist die Vereinbarung eines Termins für die Zeit nach der Reha. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch die Fälle ohne erfolgreiche Kontaktaufnahme, bei denen schon der Erstkontakt auf die Zeit nach der Reha verschoben wurde (n=236; s.a. Tabelle 7).

    Tabelle 9: Vereinbarung eines Beratungstermins

    Zusammenfassung und Diskussion

    Mit der vorliegenden Auswertung der Zusatzitems zur „Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur“ konnten erstmalig Daten zu dieser, für das Rehabilitationsziel der Deutschen Rentenversicherung sehr bedeutsamen Fragestellung vorgelegt werden. Es hat sich gezeigt, dass für mehr als die Hälfte der Rehabilitand*innen in der Entwöhnungsbehandlung ein Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter erforderlich ist, um die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nach erfolgter erfolgreicher Behandlung zu organisieren und umzusetzen. Insbesondere die arbeitslosen Rehabilitand*innen sind am Ende ihrer Behandlung auf eine möglichst engmaschige Betreuung angewiesen, nicht nur, um die verschiedenen persönlichen und arbeitsmarktbedingten Vermittlungshemmnisse überwinden zu können, sondern auch, um nicht schon an der Schwelle zwischen Entlassung und Alltag in Misserfolgserlebnisse zu geraten, die das Rückfallrisiko erhöhen. Diese Betreuung ist vor allem angesichts der Tatsache notwendig, dass ein Großteil der arbeitslosen Rehabilitand*innen unter 50 Jahre alt ist. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass bei nur etwa der Hälfte der ratsuchenden Personen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter erfolgreich war. Bei lediglich 34% der Rehabilitand*innen, die einen Kontakt herstellen konnten, fand noch während der Entwöhnungsbehandlung ein Termin statt, was etwa 17% der betreuungsbedürftigen Rehabilitand*innen entspricht, für die der Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter notwendig war. Bei rund 47% der Rehabilitand*innen mit erfolgreicher Kontaktaufnahme wurde zwar ein Beratungstermin für die Zeit nach der Entwöhnungsbehandlung geplant, es bleibt jedoch offen, ob der Termin tatsächlich von den Versicherten wahrgenommen wurde. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Verteilung auf die einzelnen Kategorien der verschiedenen Items zwischen den Jahrgängen nur unwesentlich unterscheidet.

    Im Rahmen des von der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover angebotenen Fallmanagements (Piegza et al., 2013) hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass die vereinbarten Termine nach Entlassung aus der Entwöhnungsbehandlung nicht mehr zustande kamen. Die Einschränkung, dass sogar die Kontaktherstellung erst nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung erfolgen soll, erschwert die Betreuung der Rehabilitand*innen, für die gerade die Entlassung ein kritischer Zeitpunkt ist, zusätzlich.

    Unsere Untersuchung unterstreicht die Ergebnisse von Henke (2019), die zeigen konnte, dass nur etwa 30% der arbeitslosen Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung nahtlos vom Jobcenter weiterbetreut wurden, 43% nur manchmal und 14% der Rehabilitand*innen fast nie.

    Unsere Untersuchung zeigt aber auch, dass die Vernetzung mit dem nachbetreuenden System zur Wiedereingliederung in eine Arbeitstätigkeit nicht nur von den Kontaktmöglichkeiten der Agentur für Arbeit bzw. der Jobcenter abhängt. Ein nicht unerheblicher Teil der Versicherten, für die eine Beratung durch die Agentur oder das Jobcenter angezeigt wäre, lehnte die Kontaktaufnahme aus persönlichen Gründen, wegen schlechter Erfahrungen oder deswegen ab, weil sie sich selbst um eine Arbeitsaufnahme kümmern wollten. Vor dem Hintergrund, dass es nur wenigen arbeitslosen Rehabilitand*innen nach der Entwöhnungsbehandlung gelingt, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sollte die Zurückweisung von Hilfsangeboten im therapeutischen Prozess kritisch hinterfragt bzw. in der nachstationären Phase engmaschig begleitet werden (Kulick, 2009).

    Die insgesamt nur teilweise erfolgreiche Kooperation mit der Agentur für Arbeit und den Jobcentern auf der einen Seite und die mangelnde bzw. unzuverlässige Inanspruchnahme von Fallmanagementangeboten durch die Rehabilitand*innen nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung auf der anderen Seite erfordern möglicherweise eine Intensivierung bestehender Konzepte des „supported employment“ (Viering et al., 2015) bzw. des therapeutisch begleiteten Fallmanagements, z. B. im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung.

    Es sollte deutlich geworden sein, dass zur Wiedereingliederung der doch erheblichen Anzahl arbeitsloser Abhängigkeitserkrankter eine multiprofessionelle bzw. institutionsübergreifende Betreuung und Begleitung notwendig ist, um erfolgreich sein zu können, vor allem dann, wenn die Versicherten nicht durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation unterstützt werden können. Unsere Ergebnisse zeigen, dass trotz der Bemühungen der Rehabilitationseinrichtungen, die Vernetzung zu initiieren, vermutlich nur ein kleiner Anteil im nachfolgenden System ankommt. Sie zeigen aber auch, dass wenn die Vernetzung nur unzureichend funktioniert, bestehende BORA-Konzepte noch mehr hinsichtlich erfolgreicher beruflicher Wiedereingliederung ausgerichtet sein müssen. Dazu kann die engere Zusammenarbeit mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018; Renkowski, 2014), der bedarfsgerechte Ausbau des Fallmanagements im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung bzw. der Nachsorge, aber auch die Prüfung wohnortnaher Möglichkeiten für die Entwöhnungsbehandlung für Arbeitslose dienen, da sich zeigt, dass die Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter erschwert ist, wenn die medizinische Rehabilitation wohnortfern durchgeführt wird. Möglicherweise relativiert sich dieser Aspekt, wenn die Online-Kontaktaufnahme stärker genutzt wird.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Andreas.Koch@h-brs.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch, ehem. Geschäftsbereichsleitung Suchthilfe / Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Weyarn (bis 30.04.2020); Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef
    PD Dr. Axel Kobelt-Pönicke, Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, Hauptabteilung 1 Leistung, Rehastrategie – Psychische Erkrankungen, Laatzen; Universität Hildesheim, Institut für Psychologie, Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie, Hildesheim
    Dirk Laßeur, Leiter der Stabsstelle Qualitätsmanagement der CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Osnabrück
    Moritz Radamm, Leiter der Klinik am Kronsberg, Fachabteilungsleitung Behandlung, STEP gGmbH, Hannover

    Literatur:
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    • Mewes, R., Rief, W., Martin, A., Glaesmer, H., Brähler, E. (2013). Arbeitsplatzunsicherheit vs. Arbeitslosigkeit: Trotz der Unterschiede im sozioökonomischen Status sind die Auswirkungen auf psychische Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ähnlich. Psychother Psych Med, 63, 138-144.
    • Nübling, R., Kaluscha, R., Krischak, G., Kriz, D., Martin, H., Müller, G., Renzland, J., Reuss-Borst, M., Schmidt, J., Kaiser, U., Toepler, E. (2016). Return to Work nach stationärer Rehabilitation – Varianten der Berechnung auf der Basis von Patientenangaben und Validierung durch Sozialversicherungs-Beitragszahlungen. Phys Med Rehab Kuror, 26, 293-302.
    • Piegza, M., Schwarze, M., Petermann, F., Kobelt, A. (2013). Fallmanagement als innovativer Ansatz in der medizinisch-psychosomatischen Rehabilitation. Phy Med Rehab Kuror, 23, 348-352.
    • Rekowski, A. (2014). Evaluation des Modellprojekts „Berufliche Integration nach Stationärer Suchtbehandlung“ (BISS). Dissertation, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftliche Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. URL: https://www.freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:9378/datastreams/FILE1/content, Abruf: 21.4.2020.
    • Viering, S., Jäger, M., Kawohl, W. (2015). Welche Faktoren beeinflussen den Erfolg von Supported Employment? Psychiat Prax, 42(06), 299-308.
    • Zenger, M., Hinz, A., Petermann, F., Brähler, E., Stöbel-Richter, Y. (2013). Gesundheit und Lebensqualität im Kontext von Arbeitslosigkeit und Sorgen um den Arbeitsplatz. Psychother Psych Med, 63, 129-137.
  • Umsetzung der BORA-Empfehlungen

    Umsetzung der BORA-Empfehlungen

    BORA-Empfehlungen vom 14.11.2014

    In unserem Schwerpunktthema im Mai 2015 stellten wir die Frage „Wofür brauchen wir BORA?“. Zu dieser Zeit waren die BORA-Empfehlungen gerade frisch verabschiedet, und die Einrichtungen gingen daran, Maßnahmen umzusetzen und ihre Konzepte zu überarbeiten. Dies geschah in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß und mit unterschiedlichem Nachdruck durch die Leistungsträger. Dreieinhalb Jahre später werfen wir wieder einen Blick auf Maßnahmen zum Erwerbsbezug in der Suchtreha und fragen „Was hat sich getan?“. Dazu werden zwei Abschlussarbeiten vorgestellt, von denen die eine einen bundesweiten Überblick zur organisatorischen und konzeptionellen Entwicklung gibt und die andere sich auf die konkrete Umsetzung in einer Einrichtung konzentriert.

    Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse

    Bachelorarbeit von Natascha Otten

    Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse

    Am 01.03.2015 sind die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation“ in Kraft getreten. Diese Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe BORA (Beruflich orientierte Rehabilitation Abhängigkeitskranker) erarbeitet, deren Mitglieder Expertinnen und Experten der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtverbände waren. Ziel dieser Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA-Empfehlungen) war es, neue Impulse für eine noch individuellere und an den Teilhabebedarfen der einzelnen Rehabilitandin bzw. des einzelnen Rehabilitanden orientierte Suchtrehabilitation zu geben.

    Im Rahmen der hier vorgestellten Bachelor-Abschlussarbeit setzt sich die Autorin mit dem Stand der Umsetzung dieser Empfehlungen auseinander. Ziel der Arbeit war unter anderem, aufzuzeigen, welche Probleme und Schwierigkeiten bei der Umsetzung auftreten können und welchen Mehrwert diese Empfehlungen für den Bereich der Suchtrehabilitation haben.

    Ausgangslage

    In einem vorausgehenden Forschungsprojekt von Studierenden der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde eine Umfrage zum Stand der Umsetzung der BORA-Empfehlungen durchgeführt. Eine weitere ähnliche Umfrage erfolgte durch den Fachverband Sucht (FVS). Die in beiden Umfragen erzielten Ergebnisse ließen vermuten, dass sich die Umsetzung der BORA-Empfehlungen noch in einem Prozess befindet, da die meisten Kliniken zwar bereits ein BORA-Konzept entwickelt, jedoch noch keine Rückmeldung seitens der Federführer erhalten hatten. Die Mehrheit der Einrichtungen berichtete in den Umfragen von positiven Impulsen und Entwicklungen, lediglich vereinzelte Kliniken empfanden die Empfehlungen als sinnlos.

    Gegenstand der anschließenden Bachelorarbeit war es, die vorliegenden Umfrageergebnisse qualitativ zu evaluieren. Dazu führte die Autorin Experteninterviews durch. Als Interviewpartner wurden Führungskräfte aus Fachkliniken in unterschiedlichen Regionen Deutschlands ausgewählt. Zusätzlich wurden ein Einrichtungsleiter einer Adaptionseinrichtung und zwei Mitverfasser der BORA-Empfehlungen (ein Experte der Deutschen Rentenversicherung und ein Experte aus den Reihen der Suchtverbände) befragt, um einen möglichst guten Überblick zu gewährleisten.

    Fazit der Interviews

    Als eines der aktuellen Hauptprobleme der Umsetzung wurden fehlende finanzielle Ressourcen benannt. Die Ausgangssituationen der einzelnen Kliniken stellten sich als sehr unterschiedlich heraus, sodass auch der Bedarf an finanzieller Unterstützung verschieden groß ist. Für die Umsetzung der BORA-Empfehlungen ist es notwendig, entsprechende Instrumente für Screening- und Assessmentverfahren einzuführen, das vorhandene Personal weiterzubilden und ggf. auch neue berufsbezogene Therapieangebote zu etablieren – alles Maßnahmen, die Geld kosten. Dadurch wird deutlich, dass die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Leistungsträger den Hauptgrund für die uneinheitliche Umsetzung darstellt.

    Auffällig war, dass zum Zeitpunkt der Befragung die Umsetzung und Finanzierung von zusätzlichen Maßnahmen im Norden Deutschlands bereits weit fortgeschritten war. Es zeichnete sich eine Art Nord-Süd-Gefälle ab.

    Auch wenn die BORA-Empfehlungen eher als eine Art Ergänzung der bisherigen Strukturen und Prozesse zu verstehen sind, sehen die befragten Experten in ihnen einen Mehrwert, insbesondere für die Evaluation der bisherigen Rehabilitationsprozesse. Durch BORA werden neue Impulse gegeben, um den Reha-Prozess noch individueller zu gestalten und somit bessere Chancen für eine berufliche Wiedereingliederung zu schaffen. Dieses Ziel sollte gerade von den Leistungsträgern auch finanziell unterstützt werden.

    Ausblick

    Wie der Name schon sagt, handelt es sich aktuell lediglich um Empfehlungen ohne verpflichtende Umsetzung für die Einrichtungen. Allein deswegen kann eine bundesweit einheitliche Umsetzung nicht erwartet werden. Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung haben gezeigt, dass BORA eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der beruflichen Orientierung in der Suchtrehabilitation darstellt. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich der weitere konzeptionelle Umsetzungsprozess gestalten wird. Sinnvoll erscheint, in drei bis vier Jahren eine erneute Umfrage durchzuführen, weil dann davon auszugehen ist, dass der Umsetzungsprozess weitestgehend abgeschlossen ist und eine umfassende Beurteilung vorgenommen werden kann. Am Ende sollte jedoch die Frage diskutiert werden, ob es nicht sinnvoller wäre, BORA als ein verbindliches Rahmenkonzept einzuführen und zu finanzieren.

    Die Bachelorarbeit steht hier zum Download bereit.

    Kontakt:

    Natascha Otten
    N.Otten@bghw.de

    Angaben zur Autorin:

    Natascha Otten, Absolventin der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg im Bereich Sozialversicherung mit dem Schwerpunkt Unfallversicherung, ist Mitarbeiterin der Berufsgenossenschaft Handel- und Warenlogistik in Essen.

    Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein

    Bachelorarbeit von Melanie Zirnsak

    Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein

    Im Januar 2017 wurden in der Fachklinik Hirtenstein fünf Zielgruppen implementiert, welche sich an den „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen; Beckmann u. a. 2014, S. 1) orientieren. Die Implementierung dieser BORA-Zielgruppen stellte den Evaluationsgegenstand einer Pilotstudie dar, welche im Rahmen einer Bachelorarbeit durchgeführt wurde. Da die BORA-Empfehlungen erst 2014 herausgegeben wurden, besitzen sie eine hohe Aktualität und Relevanz für Praxis und Forschung.

    Bei den Empfehlungen der Arbeitsgruppe BORA steht die Förderung der beruflichen Integration im Fokus. Das Augenmerk liegt hierbei nicht auf einer konzeptionellen Neuentwicklung, sondern auf der Weiterentwicklung von bereits bestehenden Therapiekonzepten (vgl. Koch 2015, o.S.). Die BORA-Empfehlungen „beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen“ (ebd., o.S.) von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, welche sehr verschiedene therapiebezogene Bedürfnisse haben können. Abbildung 1 stellt die Aufgliederung in diese fünf Zielgruppen dar.

    Abb. 1: Die fünf BORA-Zielgruppen (Eigene Darstellung in Anlehnung an Beckmann u. a. 2014, S. 11 f.). BBPL = Besondere Berufliche Problemlagen

    Ziel

    Die Arbeit gliedert sich in zwei Bereiche: die theoretische Hinführung zum Thema sowie den Methodenteil. Im theoretischen Teil werden Grundlagen der Suchttherapie, das dynamische Zusammenspiel der einzelnen Therapieziele sowie die Einfluss- und Wirkfaktoren in der Suchttherapie dargestellt. Im Anschluss wird auf die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eingegangen. Neben der geschichtlichen Entwicklung geht es hier vor allem um die Aufbereitung und Erläuterung der BORA-Empfehlungen.

    Ziel ist es, die Auswirkungen der Implementierung der fünf Zielgruppen in der Praxis zu erheben und zu bewerten. Die genaue Fragestellung lautet: Wie wirkt sich aus Sicht der therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Implementierung erwerbsbezugshomogener Bezugsgruppen (ebhB) nach den BORA-Empfehlungen auf die soziale Situation, die Arbeitsweise in den Gruppen und die Gesamtsituation in der Klinik aus?

    Methode

    Die Fragestellung untergliedert sich in fünf Forschungsfragen. So soll evaluiert werden, wie sich die Implementierung auf

    1. die Arbeit in den Bezugsgruppen,
    2. die soziale Situation in den Gruppen,
    3. die soziale Situation zwischen den Gruppen sowie
    4. auf die Gesamtsituation in der Klinik und
    5. die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten

    auswirkt. Aus diesen Forschungsfragen wurden im Rahmen der Operationalisierung Dimensionen erarbeitet, welche wiederrum Grundlage für die Entwicklung von Indikatoren waren (vgl. Schnell u. a. 2013, S. 118). Die möglichen Auswirkungsbereiche sowie deren Aufgliederung in Dimensionen sind in Abbildung 2 dargestellt.

    Abb. 2: Mögliche Auswirkungsbereiche der Implementierung der ebhB

    Für die Evaluation wurde eine quantitative Erhebung mittels zweier Fragebogen durchgeführt. Ein standardisierter Online-Fragebogen wurde durch einen weitgehend standardisierten papiergebundenen Fragebogen ergänzt. Es wurden alle elf therapeutisch tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachklinik Hirtenstein befragt. Hierdurch handelt es sich um eine Vollerhebung. Da mittels der Befragung die Veränderungen durch die Implementierung erhoben wurden, die Erhebung selbst jedoch erst nach der Implementierung stattfand, handelt es sich um eine quasi-indirekte Veränderungsmessung (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 95). Das Erhebungsinstrument wurde einem zweistufigen Pretest unterzogen. Der Erhebungszeitraum betrug 17 Tage.

    Nur Ergebnisse von Personen, die schon mindestens drei Monate in der Fachklinik Hirtenstein beschäftigt sind, gingen in die Bewertung ein, da nur diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl die Vorher- als auch die Nachher-Situationen kennengelernt haben und somit die Auswirkungen in der Fachklinik einschätzen und bewerten können.

    Ergebnisse

    Die Rücklaufquote lag sowohl bei der Online- als auch bei der papiergebundenen Umfrage bei 100 Prozent.

    1. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gaben an, dass die Arbeit in den erwerbsbezugshomogenen Bezugsgruppen die Konzentration, die Zielgerichtetheit und die Beteiligung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden erhöht hat. Zudem hat sich die Anschlussfähigkeit erhöht, und es hat eine Veränderung der Themenschwerpunkte stattgefunden.
    2. In Bezug auf die soziale Situation innerhalb der Bezugsgruppen wurden ebenfalls Veränderungen wahrgenommen. So haben sich hier die Gruppenkohäsion und die wechselseitige Unterstützung erhöht. Auch trug die Implementierung zur Verringerung von Konflikten und zur Erhöhung der Interaktion innerhalb der einzelnen Gruppen bei. Die Befragten äußerten zudem, dass sie eine Erhöhung bei der Übereinstimmung von Themen wahrnehmen. Lediglich bei der Identifizierung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit der Gruppe konnten die Befragten keine Veränderung feststellen.
    3. Im Bereich der sozialen Situation zwischen den einzelnen Bezugsgruppen verringerte sich die Abgrenzung zwischen den Gruppen. Im Hinblick auf die wechselseitige Unterstützung sowie die Interaktion zwischen den Gruppen wurde eine Erhöhung wahrgenommen, eine Bildung elitärer Gruppen wurde nicht beobachtet. Das Konfliktniveau wurde als unverändert eingestuft.
    4. Auf die Gesamtsituation in der Klinik hat sich die Einführung ebenfalls ausgewirkt. So wurde von den Befragten eine Verbesserung der Gesamtatmosphäre festgestellt. Auch werden berufsbezogene Aspekte nun stärker in den Behandlungsprozess eingebunden, und der Stellenwert der erwerbsbezogenen Behandlungsanteile hat sich erhöht. Nach Meinung der Befragten kann nun besser auf arbeitsbezogene Probleme eingegangen werden, und die Erwerbstätigkeit rückt stärker in den Fokus.
    5. Bei den Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten kann festgestellt werden, dass sich die erforderliche Aktivität durch therapeutisch Arbeitende sowie der Aufwand bei der Anwendung therapeutischer Techniken unverändert blieben. Bezüglich der Arbeitsinhalte ist eine Veränderung festzustellen und der allgemeine Arbeits- und Dokumentationsaufwand hat sich durch die Einführung der ebhB erhöht.

    Die Auswirkungen der Implementierung der ebhB werden durch die Forscherin größtenteils als vorteilhaft bewertet. So werden vier der Ergebnisse als neutral eingestuft, und lediglich die Erhöhung des allgemeinen Arbeitsaufwands und des Dokumentationsaufwands wird als negativ eingestuft. Die Bewertung erfolgte auf Grundlage der theoretischen Fundierung.

    Diskussion

    Insgesamt werden die wahrgenommenen Veränderungen überwiegend als positiv eingestuft. Insbesondere kann hier herausgestellt werden, dass die Implementierung der ebhB dem Ziel der BORA-Empfehlungen, der Diversität der Bedürfnisse von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden besser gerecht werden zu können, zuträglich ist (vgl. Beckmann u. a. 2014, S. 17). So deuten die Ergebnisse darauf hin, dass erwerbsbezugshomogene Bezugsgruppen in einigen Bereichen zu einer bedarfsgerechteren Versorgung von Personen mit Abhängigkeitserkrankungen beitragen können. Werden die Ergebnisse der Evaluation in der Fachklinik Hirtenstein betrachtet, so kann die Implementierung aufgrund vielfältiger Verbesserungen nur befürwortet werden und sollte auch von anderen Rehabilitationseinrichtungen in Betracht gezogen werden.

    Aufgrund des eingeschränkten Studiendesigns und der geringen Anzahl partizipierender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten die Ergebnisse äußerst vorsichtig interpretiert werden. Es ist nicht möglich, die Ergebnisse auf andere Kontexte zu übertragen, sie können also nicht für die Allgemeinheit von Rehabilitationseinrichtungen generalisiert werden (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 42). Um ein flächendeckendes Bild zu erhalten, wäre es wünschenswert, dass auch andere Rehabilitationseinrichtungen Studien bezüglich der Auswirkungen durchführen. Auch wäre es sinnvoll, zusätzlich eine Befragung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vorzunehmen, um eine abschließende Bewertung der Implementierung zu ermöglichen (vgl. Döring 2014, S. 171).

    Die Bachelorarbeit kann bei der Redaktion KONTUREN angefordert werden: redaktion@konturen.de

    Kontakt:

    Melanie Zirnsak
    melaniezirnsak@googlemail.com

    Angaben zur Autorin:

    Melanie Zirnsak, Absolventin der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten im Bereich Gesundheitswirtschaft mit dem Schwerpunkt Prävention und Gesundheitsförderung, ist Studentin der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Bereich Public Health.

    Literatur:
    • Beckmann, Ulrike/Eckstein, Gerhard/Hennig, Uwe/Hoffmann, Sabine/Koch, Andreas/Köhler, Joachim u. a. (2014): Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14. November 2014. Deutsche Rentenversicherung Bund. Berlin.
    • Döring, Nicola (2014): Evaluationsforschung. In: Nina Baur und Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167–181.
    • Gollwitzer, Mario/Jäger, Reinhold S. (2014): Evaluation kompakt, 2., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
    • Koch, A., Wofür brauchen wir BORA? – Ausgangssituation und Aufgabenstellung, KONTUREN online, verfügbar unter: http://www.konturen.de/titelthema/wofuer-brauchen-wir-bora, 6. Mai 2015 [letzter Zugriff 29. November 2018]
    • Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung, 10., überarbeitete Auflage. München: Oldenbourg Verlag.
  • Unterstützung für arbeitssuchende Abhängigkeitskranke

    Die gemeinsam zwischen der DRV, der Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Spitzenverbänden geschlossenen Empfehlungen sollen arbeitsuchende abhängigkeitskranke Menschen bei dem Zugang in eine medizinische Rehabilitation und bei der anschließenden beruflichen (Wieder-)Eingliederung unterstützen.

    Die Empfehlungen beschreiben die Verwaltungsabläufe für eine gut abgestimmte Zusammenarbeit und Koordinierung der Beratungs- und Dienstleistungsangebote der beteiligten Leistungsträger in der Zeit vor, während und nach der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker. So werden beispielsweise die Zugangsmöglichkeiten in die medizinische Rehabilitation dargestellt. Neu ist unter bestimmten Voraussetzungen der Zugang ohne den sonst üblichen Sozialbericht. Die Empfehlungen sehen eine entsprechende Möglichkeit vor, nach Begutachtung durch einen Gutachterdienst der Bundesagentur für Arbeit oder eines kommunalen Trägers für den Antritt der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auf die Einschaltung einer Suchtberatungsstelle zu verzichten. Dies soll u. a. dazu beitragen, den Betroffenen frühzeitige Zugänge zur medizinischen Rehabilitation zu ermöglichen. Ferner geht es um Kontakte der Rehabilitanden während und nach der Rehabilitation mit der Arbeitsagentur/dem Jobcenter zur Entwicklung einer nahtlos ansetzenden Eingliederungsstrategie in den Arbeitsmarkt.

    Bei diesen Verfahren ist eine enge Kooperation zwischen Jobcentern, Agenturen für Arbeit, Rentenversicherungsträgern, Suchtberatungsstellen und den Rehabilitationseinrichtungen erforderlich, weshalb eine Umsetzung auf Landesebene vorgesehen ist. Die Empfehlungen treten zum 1. Juli 2018 in Kraft.

    Download von der Website der Deutschen Rentenversicherung:

    Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit, des Deutschen Landkreistages und des Deutschen Städtetages zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen vom 01.Juli 2018

    Quelle: Website der Deutschen Rentenversicherung, 19.07.2018

  • Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Frank Schulte-Derne
    Rita Hansjürgens
    Ulrike Dickenhorst
    Conrad Tönsing

     

    Einleitung

    Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).

    Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.

    Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)

    Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.

    Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.

    Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.

    Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.

    Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.

    Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.

    Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).

    Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.

    Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).

    Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie

    Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.

    Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.

    Angaben zu den Autoren:

    Frank Schulte-Derne
    Dipl.-Sozialpädagoge
    Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
    Vorsitzender der DG-SAS
    Frank.Schulte-Derne@lwl.org

    Rita Hansjürgens
    M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
    Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Ulrike Dickenhorst
    Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
    Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Conrad Tönsing
    Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
    Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.

    Literatur:
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2013): Vereinbarungen im Suchtbereich. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
    • Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
    • Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
    • Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
    • Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
    • Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Die Relevanz von Assessments in der arbeitsbezogenen Ergotherapie

    Die Relevanz von Assessments in der arbeitsbezogenen Ergotherapie

    Petra Köser
    Frank Zamath

    Die arbeitsbezogene Ergotherapie in der Behandlung und Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt. Ihre Hauptaufgabe ist die Diagnostik der Arbeitsfähigkeiten und die Förderung der Produktivität und Teilhabe. Je nach Störungsbild wenden Therapeuten komplexe arbeitsplatzorientierte Verfahren an, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit zu erhalten. Ergotherapeuten und -therapeutinnen behandeln Krankheiten, die mit Veränderungen des Verhaltens, des Gedächtnisses, der Körperfunktionen und des alltäglichen Lebens einhergehen. Sie greifen dabei auf psychosoziale, kognitive und arbeitstherapeutische Interventionen zurück. Sie haben eine staatlich anerkannte Fachschulausbildung mit fachtherapeutischen Weiterbildungen absolviert oder Ergotherapie studiert.

    Ergotherapeuten, deren Behandlungsauftrag auf die Teilhabeproblematik gerichtet ist, sind mit Berufskontexten vertraut. Sie kennen die in Deutschland gebräuchlichsten Messverfahren zur Überprüfung und Dokumentation der kognitiven und funktionellen Leistungsfähigkeit. Diese Verfahren sind nicht nur wichtig für die Wirksamkeitsforschung, sondern auch für die Qualitätssicherung der Behandlung. Die Ergotherapie ist in stationären Rehabilitationseinrichtungen für Abhängigkeitserkrankte fest etabliert und fördert die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft (DRV, 2013).

    Die MBOR-Strategie (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation; Bethge, 2017) stellt den Bezug zur Arbeitswelt stärker als bisher in den Mittelpunkt und verändert die klinischen Versorgungsstrukturen (www.medizinisch-berufliche-orientierung.de). In der Suchtreha erfolgt die Teilhabeförderung nach den „Empfehlungen zur beruflichen Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) in so genannten Basismaßnahmen, Kernmaßnahmen und spezifischen Maßnahmen (Weissinger/Schneider, 2015). Diese werden nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen wie Ergotherapeuten, Ärzten und Psychologen wirksam. Die Ergotherapie als multimodale Funktionstherapie leistet einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Alltags- und Berufsleben der Betroffenen (WFOT, 2012), besonders bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit in den Komponenten Aktivitäten und Partizipation nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; Bickenbach, Cieza et al., 2012).

    Das Spektrum arbeitstherapeutischer Interventionen ist vielfältig (vgl. Höhl, Köser, Dochat, 2015; Storck/Plössl, 2015). Arbeitstherapie wird nicht mehr nur von traditionellen körperfunktionsorientierten Ansätzen dominiert und begleitend als materialgebundenes Gruppenangebot durchgeführt. Mit fortschreitender Professionalisierung gewinnen auch solche Interventionstypen an Bedeutung, die an der Schnittstelle zur ambulanten Versorgung (medizinische Rehabilitation oder Leistungen zu Arbeit und Ausbildung) erbracht werden (Gühne/Riedel-Heller 2015). Solche Leistungen beinhalten beispielsweise aktivierende verhaltenstherapeutische Methoden, die Ergotherapeuten eigenverantwortlich durchführen (Zamath, 2015). Ergotherapeuten erheben Arbeitsanamnesen, Arbeitsplatz- und Ressourcenanalysen, nutzen arbeitsdiagnostische Instrumente und gestalten den therapeutischen Prozess bei der Wiedereingliederung mit. In Gruppen- und Einzelsitzungen werden arbeitsrelevante Fertigkeiten zur Förderung der Kognition, Motivation, Emotionswahrnehmung oder Stressbewältigung vermittelt, vor allem dann, wenn die Frage „nach der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und gegebenenfalls nach der Schaffung eines an die Erkrankung angepassten Arbeitsplatzes“ zu klären ist (Linden/Gehrke, 2013, S. 11).

    Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen leiden häufig unter motorischen, kognitiven und psychosozialen Einschränkungen, die sich auf die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz auswirken. In der MBOR sind sozialmedizinische Aussagen zur Belastbarkeit zu treffen. In diesem Zusammenhang spielt die arbeitsbezogene Ergotherapie eine wichtige Rolle und wirkt mit, das Ziel der Rentenversicherung, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen bzw. zu erhalten (DRV, 2013), zu erreichen. Mit ihren beruflich orientierten Behandlungseinheiten trägt die Ergotherapie dazu bei zu beurteilen, inwieweit abhängigkeitserkrankte Menschen weniger als drei Stunden, zwischen drei und sechs Stunden oder mehr als sechs Stunden pro Tag leistungsfähig sind (vgl. Zamath, 2017a).

    Im Folgenden werden verschiedene Funktions- und Leistungstests, Selbst- und Fremdratings sowie Profil- und Dokumentationsverfahren vorgestellt, die innerhalb der arbeitsbezogenen Ergotherapie Abhängigkeitserkrankter relevant sind.

    IMBA – Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt

    Wenn es darum geht, einen Menschen nach seiner Erkrankung wieder in Arbeit zu bringen, kommt IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) zum Einsatz (www.imba.de). Das Verfahren dient als Entscheidungshilfe im Rehabilitationsprozess und bezieht sich auf die Passung der arbeitsrelevanten Fähigkeiten von Klienten mit den Anforderungen eines Arbeitsplatzes (Zamath, 2017c).

    Neben der Dokumentation vorhandener Schlüsselqualifikationen (vgl. dazu Items Melba®) lassen sich mit IMBA körper- oder umweltbezogene Merkmale wie Körperhaltung, Körperfortbewegung oder physische Ausdauer erheben. In Kombination mit IMBA kann das ELA-Verfahren (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten; Drüke, Zander, Alles, 2010), das weiter unten noch einmal genannt wird, zur Beurteilung der arbeitsrelevanten physischen Leistungsfähigkeit eingesetzt werden (www.iqpr.de).

    Kognitive Leistungsfähigkeit

    Zur Beurteilung des kognitiven Leistungsvermögens im Erwerbsleben nutzen Ergotherapeuten Testverfahren mit hohem Normierungsumfang und zufriedenstellenden Testgütekriterien. So bieten Ibrahimovic und Bulheller (2013) eine umfangreiche Testbatterie zur Beschreibung beruflicher Interessen und Fähigkeiten. Mit ihrem Konzentrationstest kann man etwa die Frage beantworten, ob jemand in der Lage ist, ein bestimmtes Arbeitspensum zu leisten oder unter Zeitdruck eine gute Arbeitsqualität zu erreichen. Dabei müssen Zielsymbole nach einer vorgegebenen Regel markiert werden. Zusätzlich werden häufig computergestützte Kognitionstrainings wie COGPACK® (www.markersoftware.com) oder RehaCom® (www.rehacom.de) eingesetzt. Bei diesen Verfahren geht es hauptsächlich um die Diagnostik und Therapie von Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Exekutivfunktionen. Solche Hirnleistungstrainings gehören neben anderen arbeitstherapeutischen Interventionen zu den Angeboten einer BORA-Kernmaßnahme.

    MELBA – Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in Arbeit

    Mit MELBA (Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in Arbeit) werden bei den Rehabilitanden mit Hilfe verschiedener Informationsquellen Fähigkeiten wie Arbeitsorganisation, Feinmotorik oder Schlüsselqualifikationen eingeschätzt (Kleffmann et al., 2000). Schlüsselqualifikationen wie Auffassung, Konzentration und Kulturtechniken können in der Arbeitsdiagnostik prognostische Hinweise zur Befähigung und Eignung für bestimmte Tätigkeiten liefern. Die Ergebnisse werden mit konkreten Arbeitsplatzanforderungen in Beziehung gesetzt und im Profilvergleich dokumentiert.

    Zur Beurteilung berufsbezogener Fähigkeiten wie Rechtschreibkompetenz oder Rechenfähigkeit eignen sich Arbeitsproben. Beispiele hierfür sind die „Arbeitsprobe zur berufsbezogenen Intelligenz. Büro- und kaufmännische Tätigkeiten“ (Schuler/Klingner, 2005; Görlich/Schuler, 2010) oder die „Arbeitsprobe zur berufsbezogenen Intelligenz. Technische und handwerkliche Tätigkeiten“ (Görlich, Schuler, 2007).

    In DRV-Einrichtungen werden MELBA und IMBA zur Identifikation beruflicher Problemlagen vielfach eingesetzt (BAR, 2016), beispielsweise im Rahmen einer „Verhaltensbeobachtung zur arbeitsbezogenen Leistungsbeurteilung“ (DRV 2015, S. 121). Die noch relativ neue Ergänzung durch das Assessment Melba®+Mai (www.miro-gmbh.de/de/melbamai/) ergänzt das Assessment Melba und ermöglicht auch den Vergleich der körperlichen Fähigkeiten eines Menschen mit den Anforderungen einer Tätigkeit.

    O-AFP – Osnabrücker Arbeitsfähigkeitenprofil

    Das O-AFP (Osnabrücker Arbeitsfähigkeitenprofil; Wiedl, Uhlhorn, 2006) gehört zu den Assessments mit zufriedenstellenden Testgütekriterien, die sich für die Beurteilung psychisch erkrankter Menschen eignen. Damit werden mittels der Skalen „Lernfähigkeit“, „Fähigkeit zur sozialen Interaktion“ und „Anpassung“ die Arbeitsfähigkeiten mit der Bezugsreferenz allgemeiner Arbeitsmarkt gemessen (Zamath, 2017b). Das O-AFP ist ein Instrument zur Selbst- und Fremdeinschätzung. Es wird nach einer Verlaufsbeobachtung, in der Klienten in einer Therapie- oder Arbeitssituation Tätigkeiten ausgeführt haben, angewendet (Köhler, 2011). Fähigkeitsprofile wie MELBA oder O-AFP gehören zu den BORA-Kernmaßnahmen (Weissinger/Schneider, 2015).

    Mini ICF-APP – Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen

    Die Abgrenzung zwischen Symptomen, Fähigkeitsbeeinträchtigungen und Lebensführung bei Abhängigkeitserkrankten ist komplex. Für die sozialmedizinische Begutachtung werden deshalb Rechtsvorschriften neben der ICD-10 ganzheitlich im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ausgelegt (Rose/Köllner, 2016). Mit diesem Ansatz können psychische Erkrankungen über Körperfunktionen hinaus erklärt werden.

    Auch die Arbeitstherapie nutzt die ICF als Bezugsrahmen, um den Zusammenhang zwischen Gesundheitsstörungen und der Leistungsfähigkeit zu verstehen (Hucke/Poss, 2015). So können sich in Rehabilitationskliniken tätige Ergotherapeuten nach den „Praxisempfehlungen für die (Arbeits-)Fähigkeitsbeurteilung bei psychischen Erkrankungen“ weiterbilden (Zamath, 2017a). In der Arbeitsdiagnostik nutzen sie das Mini-ICF-APP (Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen; Linden, Baron, Muschalla, 2009) als Kurzinstrument zur Fremdbeurteilung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen, das besonders von Fachgesellschaften empfohlenen wird. Damit wird eingeschätzt, in welchem Ausmaß ein Rehabilitand in seiner Leistungsfähigkeit bei der Durchführung arbeitsbezogener Aktivitäten beeinträchtigt ist. Im Fremdrating werden so Fähigkeiten wie „Flexibilität und Umstellungsfähigkeit“, „Kompetenz und Wissensanwendung“, „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ oder „Gruppenfähigkeit“ beurteilt.

    AVEM – Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster

    Das Assessment AVEM (Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster; Schaarschmidt/Fischer, 2003) wird regelhaft in DRV-Kliniken eingesetzt (BAR, 2016). Ergotherapeuten erfassen damit die Einstellung zur Arbeit und klären gesundheitliche berufsbezogene Risiken ihrer Klienten ab (Kegler, 2014). Aus der Einschätzung lassen sich etwa Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ableiten. Kooperationen mit anderen Rehabilitationsträgern werden als spezifische Maßnahmen für BORA-Rehabilitanden durchgeführt, wenn ein weiterer Bedarf an Unterstützung zur beruflichen Wiedereingliederung festgestellt wurde (Weissinger/Schneider, 2015). Dies erfolgt häufig, wenn die Arbeitsfähigkeit für einen bestimmten Beruf auch bei gutem Verlauf nicht innerhalb von sechs Monaten und nach langandauernder Arbeitsunfähigkeit erreichbar ist. Dies ist etwa der Fall, wenn die Prognose für eine berufliche Wiedereingliederung wegen gesundheitsschädigender Verhaltensmuster durch den AVEM negativ bewertet wird (Rose/Köllner, 2016). Darüber hinaus kann das Verfahren zur Individualisierung der Rehabilitationsmaßnahme und zur Erfolgskontrolle des Rehabilitationsprozesses herangezogen werden.

    DIAMO – Fragebogen zur Diagnostik von Arbeitsmotivation

    Der Erfassung motivationaler Faktoren zu Beginn einer Rehabilitation kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Der DIAMO (Fragebogen zur Diagnostik von Arbeitsmotivation) wurde entwickelt, um Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen nach ihrer arbeitsbezogenen Motivation zu unterscheiden. Dies verschafft diagnostische Ansatzpunkte für eine differenzierte Zuweisung zu bestimmten Behandlungsformen auch innerhalb der arbeitsbezogenen Ergotherapie. Beispielsweise ist es möglich, Rehabilitanden mit mangelnder Motivation psychosoziale Interventionen und Beratungen zur Motivationsförderung anzubieten. Rehabilitanden mit resignativer Haltung hinsichtlich beruflicher Zielperspektiven können frühzeitig identifiziert werden. Die Auswertung des Fragebogens ermöglicht einen Abgleich von Selbst- und Fremdeinschätzung zur Arbeitsmotivation, sie kann auch als Einstieg für die Auseinandersetzung mit den arbeitsbezogenen Motiven genutzt werden.

    Der Therapeutin bzw. dem Therapeuten wird mit dem DIAMO ermöglicht, gemeinsam mit den Rehabilitanden motivationsfördernde und -hemmende Faktoren im Arbeitstherapie-Setting zu berücksichtigen (Ranft et al., 2009). Der DIAMO wird als Basismaßnahme durchgeführt (Weissinger/Schneider, 2015).

    WAI – Work Ability Index

    International ist der WAI (Work Ability Index) ein anerkanntes Verfahren, um Arbeitsfähigkeit zu messen (Ilmarinen, 2009). Mit diesem Fragebogen wird eingeschätzt, inwiefern sich eine Person durch ihren Gesundheitszustand zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen in der Lage sieht (Zamath, 2017b). Laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Beschäftigung (BAUA, 2013) ist der WAI ein Instrument, mit dem die aktuelle und künftige Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit verschiedener Altersgruppen bewertet werden kann.

    Nach einer Studie (Bethge et al., 2012) hat der WAI prognostische Bedeutung für eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Teilhabe nach einer MBOR. So ermöglicht die WAI-Erhebung die Vorhersage erwerbsminderungsbedingter Rentenanträge. Für das MBOR-Stufenkonzept kann der WAI als ein Indikator dienen, um die Zuordnung zu den Stufen B und C zu unterstützen. Die Stufen sind mit den oben beschriebenen BORA-Maßnahmen (Kern und spezifische Maßnahmen) vergleichbar (Weissinger/Schneider, 2015).

    Ergotherapeuten können mit dem Assessment Therapieverläufe in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit darstellen, um den Aufbau von Motivation und Selbstwirksamkeit zu unterstützen (Mathiaszyk, 2013). Der WAI ist über ein Netzwerk frei zugänglich (http://www.arbeitsfaehig.com/de/work-ability-index-(wai)-382.html).

    FCE-Verfahren – Functional Capacity Evaluation

    „Die interne Belastungserprobung wird als Leistungserprobung mit diagnostischem Schwerpunkt unter idealen Standardbedingungen gesehen, um die persönliche psychische und physische Leistungsfähigkeit der Klienten einzuschätzen. Ziel hierbei ist, frühzeitig die Möglichkeiten einer Wiedereingliederung oder die Einleitung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu planen“ (Mallach, 2015, S. 272). Zur objektiven Erfassung der individuellen arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit wurden spezielle FCE-Systeme (Functional Capacity Evaluation) entwickelt, die Einzug in die medizinische Rehabilitation gefunden haben. Hierunter fallen zum Beispiel die Verfahren EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit) und ELA (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten).

    Das EFL-Verfahren nach Susan Isernhagen (1992), bei dem Work Hardening oder die physische Konditionierung zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit eine entscheidende Rolle spielt, ist weit verbreitet. Darüber hinaus können nach dem Evaluationsverfahren Ala® (Arbeitstherapeutische Leistungsanalyse) Belastungserprobungen mit standardisierten WorkPark-Therapiegeräten durchgeführt werden. Damit werden etwa die Lastenhandhabung, Gangleistung oder verschiedene Arbeitspositionen getestet. FCE-Instrumente sollen nach den BORA-Empfehlungen auch in Einrichtungen der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter zum Einsatz kommen.

    WRI – Worker Role Interview

    „Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges“ (Köser et al., 2015). Ein geeignetes Assessment aus ergotherapeutischer Sicht stellt hierzu das WRI (Worker Role Interview; Velozo, Kielhofner, Fisher, 2007) dar. Es ermöglicht im Rahmen eines semistrukturierten Interviews mit anschließender Auswertung die Identifizierung von psychosozialen und Umweltfaktoren in den Bereichen Selbstbild, Werte, Interessen, Rollen, Gewohnheiten und Umwelt, die die Rückkehr in den Arbeitsprozess gefährden oder fördern können (Köller Looser, 2009).

    HiPRO – Hildesheimer-Projekt-Assessment

    Das Hildesheimer-Projekt-Assessment (HiPRO) erfasst Ressourcen und Defizite und bezieht Klienten als Experten für ihre Lebenswelt in die psychosoziale Ergotherapie ein (Düchting, 2008). In der Praxis tätige Ergotherapeuten mit Schwerpunkt Arbeitstherapie nutzen das Instrument, um die Kompetenzen in den Bereichen berufsübergreifende Grundfähigkeiten, soziale und emotionale Fähigkeiten zu erfassen. Dabei werden objektive Ergebnisse aus der Arbeits- und Leistungsdiagnostik berücksichtigt und mit den Rollenerwartungen im Arbeitsleben wie etwa Konzentration, Ausdauer und Arbeitsplanung verknüpft. Die Gütekriterien wurden für unterschiedliche Diagnosegruppen untersucht.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Frank Zamath ist nach einem Lehramtsstudium und Ergotherapie-Examen in Münster seit 2002 am Alexianer Krankenhaus Köln angestellt. Neben der Koordination und Konzeption der teilstationären Arbeitstherapie ist er im Bereich der Leistungsdiagnostik tätig. Seit 2010 ist er Mitglied im Leitungsteam des DVE-Fachausschusses Arbeit und Rehabilitation (DVE = Deutscher Verband der Ergotherapeuten) mit Vorträgen und Veröffentlichungen zu diesem Thema. Frank Zamath ist Mitglied der DGPPN – Referat Gesundheitsfachberufe (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) und der DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie). Kontakt: f.zamath@alexianer.de

    Petra Köser ist Ergotherapeutin seit 1984. Sie verfügt über langjährige berufliche Erfahrung in der psychiatrischen Arbeitstherapie. Seit 1997 ist sie als Lehrkraft mit den fachlichen Schwerpunkten Arbeit und Rehabilitation tätig – aktuell an der ETOS Ergotherapieschule Osnabrück. Nebenberufliche Tätigkeit als Referentin und Autorin. Seit 1999 ist Petra Köser für den buss aktiv, zurzeit im Rahmen des Qualitätszirkels „Arbeitsbezogene Maßnahmen“ als Moderatorin und fachliche Begleiterin. Seit 2008 ist sie Vorsitzende des Fachausschusses Arbeit und Rehabilitation des DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten). Kontakt: petrakoeser@aol.com

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    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Arbeitsmotivation in der Rehabilitation

    Arbeitsmotivation in der Rehabilitation

    Dr. Jens Hinrichs
    Andrea Christoffer
    Univ.-Prof Dr. Dr. Gereon Heuft
    Dr. Rolf Fiedler

     

     

     

     

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Was sind die Gründe dafür, dass sich Menschen im Arbeitsleben engagieren, Weiterbildungen besuchen, einen außergewöhnlichen Einsatz zeigen oder sich ständig für Sonderaufgaben oder Überstunden melden, während andere einfach ihr „Soll“ auf der Arbeit verrichten, Arbeit vermeiden oder gar nach Möglichkeiten suchen, aus dem Erwerbsleben auszusteigen bzw. nicht mehr zurückzukehren? Das Erfordernis der Existenzsicherung durch ein Einkommen ist sicherlich ein wichtiger Einflussfaktor, dennoch engagiert sich jeder Einzelne bei der Arbeit unterschiedlich. Hier rücken die persönlichen Motive und Einstellungen in den Vordergrund, die Menschen zu Leistungen im Arbeitsleben bewegen.

    Erwerbslosigkeit geht häufig mit einer Verlangsamung des Lebensrhythmus einher und führt zu einer nachteiligen Auflösung von Zeit- und Alltagsstruktur, so dass Betroffene Probleme bekommen, in der verbleibenden Zeit ihre Aufgaben zu bewältigen (Kastner et al. 2005). Eine erfolgreiche Reintegration von lange arbeitsunfähigen Rehabilitanden kann oftmals entlastend auf die dahinterliegende Symptomatik wirken (Bengel et al. 2003). Arbeit erfüllt somit unterschiedliche Funktionen: Sie strukturiert den Lebensablauf, sorgt für soziale Kontakte, befriedigt ein allgemeines Bedürfnis nach Beschäftigung, beeinflusst das Selbstwerterleben und Wohlbefinden positiv und kann identitäts- und im Idealfall auch sinnstiftend sein. Daher liefert die berufliche Integration die günstigsten Perspektiven, langfristig und effizient die Auswirkungen von Krankheit und Behinderung positiv zu beeinflussen.

    Dies unterstreicht die Wichtigkeit rehabilitativer Bemühungen, die Krankheitsfolgen so weit zu minimieren, dass die Wiederherstellung und der Erhalt der Erwerbsfähigkeit gesichert werden können. Bei dem Ziel, eine Ein- oder Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu erreichen, müssen auch berufliche Perspektiven, Einstellungen zur Arbeit und die Arbeitsmotivation berücksichtigt werden.

    Aus diesem Zusammenhang sind die Entwicklung des Assessments zur Diagnostik von Arbeitsmotivation (DIAMO) und das Gruppentraining zur Förderung arbeitsbezogener Motivation (ZAZO) hervorgegangen. Die Entwicklung dieser Instrumente war ein langjähriger, durch die Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e.V. Nordrhein-Westfalen geförderter Forschungsschwerpunkt an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster.

    Arbeitsmotivation

    Der Begriff Motivation stellt in der wissenschaftlichen Psychologie eines der zentralen Konzepte zur Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens von Menschen dar. Motivation determiniert das Handeln und gibt Antworten auf die Frage, warum eine Person sich gegenwärtig so und nicht anders verhält. Nach Lewin (1936) resultiert Motivation aus einem dynamischen Prozess aus dem Wechselspiel zwischen subjektiv wahrgenommenen inneren Zuständen (Motive, Antrieb, Bedürfnisse, Wünsche, Streben) und situativen Einflussfaktoren (äußere Anreize, Normen, Werte). Als motivationales Resultat dieses Wechselspiels werden Richtung, Intensität und Ausdauer des Handelns definiert. Somit soll das psychologische Konzept der Motivation Antworten auf die Fragen geben:

    • Warum habe ich dieses oder jenes Ziel ausgesucht?
    • Warum nähere ich mich dem Ziel (oder entferne mich von ihm)?
    • Wie schnell erreiche ich ein Ziel?

    Hier unterscheidet man zwischen personenseitigen (intrinsisch) und situativen (extrinsisch) motivationalen Einflussfaktoren. Intrinsische Motivation ist unabhängig von situativen Faktoren, d. h., jemand handelt aus eigenem Antrieb, z. B. weil eine bestimmte Tätigkeit Spaß macht, und nicht etwa, weil man die Ergebnisfolgen oder einen bestimmten äußeren Anreiz, z. B. Geld, Prestige oder Anerkennung, erreichen will (Rheinberg et al. 2012).

    Was allgemein zur Motivation gesagt werden kann, trifft ebenso auf Arbeitsmotivation zu. Dabei geht es konkret um den Kontext Arbeit und Beruf und somit um einen definierten Zielbereich. Im Kontext der Erwerbsarbeit stehen häufig fremdgesetzte Ziele und Anforderungen (z. B. Unternehmensziele, Arbeit zur Existenzsicherung) im Vordergrund, die wiederum mit persönlichen Zielen und Bedürfnissen (z. B. leistungsgerechte Bezahlung, Anerkennung) korrespondieren können. Somit liegt hier ein komplexeres Wechselspiel aus persönlichen Motiven, eigenen und fremdgesetzten Zielen vor, auf das gleichzeitig auch verschiedene soziale Faktoren wie Normen, Status oder regionale Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage Einfluss nehmen. Letztlich wird jede einzelne Person in ihrem individuellen Arbeitsverhalten von den unterschiedlichsten Gründen beeinflusst. Arbeitsmotivation ist somit ein außerordentlich komplexer Forschungsgegenstand.

    Diagnostik von Arbeitsmotivation (DIAMO)

    Der DIAMO-Fragebogen erfasst arbeitsbezogene Motive, Einstellungen und personengebundene Verhaltensmuster in der Selbstauskunft (Fiedler et al. 2005; Ranft et al. 2009). Der DIAMO beinhaltet die Konzepte Motivationales Selbstbild, Motivationale Handlungsentwürfe und Motivationale Passung. Den drei zentralen Konzepten sind zehn Skalen (Themenbereiche) mit insgesamt 57 Items zugeordnet. Die Antworten ermöglichen es, einen differenzierten Einblick in die arbeitsbezogene Motivationsstruktur von Rehabilitanden zu gewinnen. So können Stärken und Schwächen identifiziert und als diagnostische Ansatzpunkte für ggf. notwendige motivationale Interventionen oder Beratungen zur Motivationsförderung genutzt werden (Abb. 1).

    Abb. 1: Konzepte, Merkmale und Dimensionen des DIAMO-Fragebogens

    Das Motivationale Selbstbild erfasst personenseitige Aspekte, Dispositionen und Einstellungen zur Arbeit. Hierzu gehören  z. B.: das Neugiermotiv, das die Personen dazu anhält, Neues zu entdecken und durch explorierendes Verhalten sich neues Wissen anzueignen, das Anschlussmotiv, bei dem die sozialen Verbindungen und Kontakte zu den Kollegen im Vordergrund stehen, oder auch die Misserfolgsvermeidung, die motivationshemmende Aspekte erfasst. Die Motivationalen Handlungsentwürfe erfassen annähernde und vermeidende Verhaltensweisen, z. B. den Einsatz aktiver Problemlösungsstrategien und Merkmale wie „Anpacken“ und „Auf die Dinge Zugehen“ oder Verhaltensweisen wie Abwarten, Resignieren und Vermeiden. Das Konzept der Motivationalen Passung richtet den Fokus auf individuelle Erfahrungen und die subjektive Bewertung der Arbeitssituation am letzten bzw. aktuellen Arbeitsplatz. Die Fragen dienen primär einem Screening, um z. B. festzustellen, ob eine Passung zwischen den Bedürfnissen eines Rehabilitanden und den tatsächlichen Bedingungen am Arbeitsplatz vorliegt bzw. vorlag.

    Interpretation der DIAMO-Ergebnisse

    Für die Gesamtauswertung des DIAMO empfiehlt sich die Betrachtung der Skalenprofile, die sich auf das Motivationale Selbstbild und die Motivationalen Handlungsentwürfe beziehen. Die Ergebnisse werden mit clusteranalytisch gewonnenen Normprofilen verglichen, die ein Normal- und ein Risikoprofil unterscheiden.

    Das Normalprofil zeigt hohe Werte auf den motivationsförderlichen Skalen Einstellung zur Arbeit, Neugiermotiv, Einflussmotiv, Anschlussmotiv und Ziel-Aktivität sowie niedrige Werte bei den motivationshemmenden Skalen Misserfolgsvermeidung und Ziel-Inhibition. Das Risikoprofil zeigt hingegen niedrigere Werte auf den motivationsförderlichen Skalen und hohe Werte auf den motivationshemmenden Skalen. Für das Normal- und das Risikoprofil liegen Vergleichsdaten aus der medizinischen Rehabilitation (ohne Sucht) und auch aus der stationären Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten vor. Letztere wurden im Rahmen einer vor kurzem gemeinsam mit dem Deutschen Orden Ordenswerke Weyarn und dem MZG Bad Lippspringe durchgeführten DIAMO-Sucht-Studie erhoben (Christoffer et al. 2016).

    Im Folgenden sind exemplarisch zwei Profilverläufe aus der DIAMO-Sucht-Studie für den Bereich Motivationale Handlungsentwürfe (Annäherung vs. Vermeidung) gegenübergestellt. Die Abb. 2 zeigt einen Studienteilnehmer mit einem Ergebnisverlauf, der eher dem Normalprofil (grüne Punkte) entspricht. In der Selbstbeurteilung ist er im Arbeitsverhalten eher aktiv und aufgeschlossen und zeigt nur geringe Vermeidungstendenzen. Hier ist als Therapeut anzunehmen, dass sich der Rehabilitand in der Arbeitstherapie eher engagiert und motiviert zeigen wird.

    Abb. 2: Beispiel eines Rehabilitanden aus der DIAMO-Sucht-Studie mit hohem Annäherungs- und geringem Vermeidungsverhalten im Vergleich mit Normal- und Risikoprofil

    Im Gegensatz hierzu zeigt die Abb. 3 eine motivationshemmende Ausprägung, die dem Risikoprofil entspricht bzw. dieses noch unterschreitet (rote Punkte). Dieser Studienteilnehmer schätzt sich sehr gering zielaktiviert ein, was darauf hindeutet, dass er wenig Engagement und Aktivität zeigen wird, um seine Ziele zu erreichen. Ebenfalls erreicht er signifikant höhere Werte bei Ziel-Inhibition, was deutlich auf Resignation und Vermeidungsverhalten hinweist. Er wirkt also eher wie ein Mensch, der sich nicht (mehr) aktiv in Arbeit einbringt und sich aus dem Arbeitskontext zurückgezogen hat. Hier stellt sich als Therapeut die Frage, ob und mit welchen Zielen dieser Rehabilitand eigentlich noch verbunden ist.

    Abb. 3: Beispiel eines Rehabilitanden aus der DIAMO-Sucht-Studie mit geringem Annäherungs- und hohem Vermeidungsverhalten im Vergleich mit Normal- und

    An diesen kurzen Beispielen soll deutlich werden, dass ein Profilverlauf an sich informativ ist, da er einen Teil der arbeitsbezogenen motivationalen Selbstbeurteilung des Rehabilitanden darstellt und schon die motivationalen Grundtendenzen wie Vermeidungs- und Annäherungsmotivation sichtbar macht. Gleichzeitig werden aber im therapeutischen Kontext weitere Fragen mit Klärungsbedarf aufgeworfen.

    Implikationen für die therapeutische Beratung

    Der DIAMO-Fragebogen (57 Items) und eine Auswertungshilfe sind im Internet (www.zazo-i.de) frei zugänglich. Aufgrund seiner relativen Kürze, der vorhandenen Vergleichsprofile und Interpretationshilfen ist er in der Praxis ökonomisch einsetzbar (Durchführung und Auswertung ca. 15 Minuten). Bei der Bewertung der DIAMO-Ergebnisse eines Klienten ist es sinnvoll, die gewonnenen Informationen aus der Selbstbeurteilung mit der Einschätzung der Behandler in Beziehung zu setzen. Der Berater/Therapeut kann bezüglich der Motivationslage der Klienten entweder zu einer übereinstimmenden oder aber aufgrund von Beobachtungen während der Behandlung auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung kommen. Der Abgleich kann als eine Orientierung für weiterführende, ressourcenorientierte Interventionen im Behandlungssetting bzw. für den Prozess der beruflichen Eingliederung genutzt werden (Tab. 1 und 2; in Anlehnung an Flückiger & Wüsten 2015).

    Tab. 1: Motivationsförderliche Skalen: Neugier, Anschluss, Einfluss, Arbeitseinstellung, Ziel-Aktivität
    Tab. 2: Motivationshemmende Skalen: Misserfolgsvermeidung, Ziel-Inhibition

    Bestehen zwischen Fremd- und Selbstbeurteilung seitens Therapeut und Rehabilitand kongruente Einschätzungen, kann dies in der Arbeitstherapie offen zurückgemeldet und bestärkt bzw. bei ungünstiger Motivlage (z. B. hohes Vermeidungsverhalten) validiert werden. Bestehen Abweichungen in der Fremd- und Selbsteinschätzung, z. B. wenn sich ein Rehabilitand als stark anschlussmotiviert erlebt, jedoch auf den Arbeitstherapeuten zurückgezogen und in der Gruppe isoliert wirkt, besteht hier ein Einstiegsfenster, um mit dem Rehabilitanden über das Thema Arbeit und Arbeitsumfeld (Motivationale Passung) ins Gespräch zu kommen. Diese Rückmeldeprozesse haben ressourcenaktivierende Elemente, da Stärken des Rehabilitanden gespiegelt werden und mögliche Schwierigkeiten thematisiert und ggf. problemlöseorientiert angegangen werden können.

    Die im Rahmen der DIAMO-Sucht-Studie befragten Klinikmitarbeiter schätzten auch die grafische Aufbereitung der Ergebnisse als eine praktikable Möglichkeit ein, um die individuellen Angaben im DIAMO-Fragebogen schnell und verständlich an den Rehabilitanden zurückzumelden. Als besonders förderlich wurde u. a. angemerkt, dass auffällige Werte auf den ersten Blick erkennbar waren und als Ansatzpunkte dafür dienten, die arbeitsbezogenen Motivlagen mit den Patienten zu besprechen.

    In der Evaluationsstudie zeigten ca. 30 Prozent der antwortenden Rehabilitanden eine erhöhte arbeitsbezogene Vermeidungsmotivation. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein (z. B. schlechte Erfahrungen mit Kollegen und Vorgesetzten, geringe Gratifikation, hohe Arbeitsbelastung, Krankheit usw.), was aber trotzdem die Frage aufwirft, wie verbunden sich diese Gruppe noch mit ihren derzeitigen beruflichen Zielen fühlt. Bekannt ist, dass fehlende Zielverbundenheit (Commitment) dazu führt, dass die Zielverfolgung nach Misserfolg schneller aufgegeben wird und in ein Vermeidungsverhalten führen kann (Brunstein 1995). Auf Grundlage dieser Beobachtungen im DIAMO wurde das Motivationstraining Zielanalyse und Zieloperationalisierung, kurz: ZAZO entwickelt, um persönliche arbeitsbezogene Ziele systematisch mit Rehabilitanden zu klären und ggf. neue Ziele zu entwickeln (Abb. 4).

    Abb. 4: Konzeptioneller Ansatzpunkt des ZAZO-Gruppentrainings

    Das ZAZO-Gruppentraining

    Das Motivationstraining ZAZO stellt ein ressourcenorientiertes Gruppentraining dar, das die Klärung individueller berufsbezogener Ziele und die Unterstützung zur Umsetzung dieser Ziele anstrebt (Fiedler et al. 2011).

    Das ZAZO-Gruppentraining basiert auf vier interaktiven und aufeinander aufbauenden Modulen zu je ca. 90 bis 100 Minuten. Die aus der Praxis bewährte Gruppengröße für einen Trainer liegt zwischen sechs und acht Teilnehmern. In der praktischen Durchführung haben sich jeweils zwei Sitzungen pro Woche etabliert, jedoch lässt sich das Training inhaltlich wie auch zeitlich variabel kürzen oder aufteilen.

    Die Teilnehmer werden während des Trainings zu einer multidimensionalen Bearbeitung und Auseinandersetzung mit ihren persönlich gesetzten arbeitsbezogenen Zielen angeleitet. Das Training zielt auf die Generierung neuer beruflicher Perspektiven und Anliegen ab und fördert motivationale und volitionale (Wille zur Umsetzung) Kompetenzen, so dass eine berufliche Reintegration realistischer wird (Abb. 5). Durch die Vermittlung von Strategien zur Zielverfolgung und Zielbindung wird ein konstruktiver Umgang mit Hürden und Schwierigkeiten auf dem Weg zur Zielerreichung ermöglicht. Die konkrete Zielanalyse steigert die Motivation, die Ziele, die mit einem höheren Wohlbefinden und einer besseren Lebenszufriedenheit verknüpft sind, umzusetzen.

    Abb. 5: Ablauf des ZAZO-Gruppentrainings

    Folgende Inhalte werden im Training vermittelt und bearbeitet:

    • Entwicklung berufsbezogener Wünsche und Anliegen,
    • Setzen von Zielen,
    • Aufbau von Commitment (Selbstverpflichtung) und Zielverfolgungsstrategien,
    • Umgang mit Hindernissen,
    • Ablösen von unrealistischen Zielen,
    • Erkennen von Zielkonflikten,
    • Entwerfen von Zielhierarchien und
    • Adaption an die positiven und ggf. negativen Zielkonsequenzen.

    Zusätzlich erhalten die Teilnehmer Schulungsmaterial, welches sie bei der Durchführung anleitet und zur aktiven Mitarbeit anregt, welches zur Protokollierung der persönlichen Zielstrukturen dient und später zum Nachschlagen genutzt werden kann.

    In der Überprüfung der Wirksamkeit konnte gezeigt werden, dass das Training die berufliche Motivation fördert und insbesondere die subjektive Prognose der Erwerbsfähigkeit verbessert (Hanna et al. 2010). Rehabilitanden aus der psychosomatischen und orthopädischen Rehabilitation wurden direkt nach dem Training und nach sechs Monaten befragt, wie sie den Mehrwert der ZAZO-Maßnahme einschätzten und ob sie die im Training entwickelten Ziele noch verfolgten bzw. bereits umgesetzt hätten (Hinrichs et al. 2014). Circa 60 Prozent der Teilnehmer konnten klarere berufsbezogene Zielvorstellungen im Training entwickeln, und etwa 65 Prozent der Teilnehmer stimmten dem Nutzen des ZAZO-Trainings eher bzw. voll zu (Abb. 6).

    Abb. 6: Einschätzung der ZAZO-Teilnehmer direkt nach dem Training (N=174)

    Nach sechs Monaten berichteten etwa 30 Prozent der antwortenden ZAZO-Teilnehmer, dass sie ihre Ziele aus dem Training vollständig und etwa 40 Prozent, dass sie ihre Ziele teilweise realisiert hätten. Circa 70 Prozent der Teilnehmer verfolgten nach eigenen Angaben weiterhin ihre gesetzten Ziele (Abb. 7).

    Abb. 7: Einschätzung der ZAZO-Teilnehmer nach sechs Monaten (N=75)

    Fazit

    Es besteht Einigkeit darüber, dass im rehabilitativen Kontext die Auseinandersetzung mit Arbeitsmotivation ein wichtiger Baustein in der Arbeitstherapie ist. Durch eine geeignete Diagnostik lassen sich hemmende und förderliche Motivlagen identifizieren, die in der Behandlung gezielt ressourcenaktivierend genutzt oder problemlöseorientiert bearbeitet werden können. Zu bedenken ist aber, dass Arbeitsmotivation zwar eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass Rehabilitanden sich mit arbeits- und berufsbezogenen Themen auseinandersetzen, sie entscheidet jedoch aufgrund ihrer Komplexität und Abhängigkeit von psychosozialen und sozialmedizinischen Faktoren nicht alleine darüber, ob ein Rehabilitand erfolgreich in Arbeit kommt. Es ist wichtig, die Förderung von Arbeitsmotivation nicht als isolierte Maßnahme zu verstehen, sondern immer in das gesamte arbeitstherapeutische Behandlungskonzept zu integrieren.

    Aufgrund der positiven Ergebnisse in den Evaluationsstudien zum ZAZO-Training werden von der  Arbeitsgruppe, die ZAZO entwickelt hat, auch nach Abschluss der Projektförderphase weiterhin train-the-trainer-Workshops zu den Themen Diagnostik und Förderung von Arbeitsmotivation angeboten.

    Sobald der Geist auf ein Ziel gerichtet ist, kommt ihm vieles entgegen.
    J. W. von Goethe

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. rer. medic. Jens Hinrichs, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    jens.hinrichs@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de
    http://zazo-i.de

    Dr. Jens Hinrichs (*1972) schloss 2005 das Studium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Osnabrück ab. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster. Er promovierte zum Thema berufsspezifischer Belastungen von Polizeibeamten in NRW. In der Rehabilitationsforschung liegen seine Schwerpunkte in den Bereichen Arbeitsmotivation und Ressourcen sowie in der Entwicklung von Workshops zur Förderung der Ressourcenorientierung von Mitarbeitern und Rehabilitanden im Behandlungsprozess.

    Andrea Christoffer, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    andrea.christoffer@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de

    Andrea Christoffer (*1987) schloss 2013 das Diplomstudium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück ab. Seitdem befindet sie sich in der fünfjährigen berufsbegleitenden Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin an der Universität Osnabrück. Seit 2013 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster tätig. Sie arbeitet im Kontext rehabilitationswissenschaftlicher Forschungsprojekte zu den Themen der Diagnostik von Arbeitsmotivation und der Förderung ressourcenaktivierender Behandlungsmethoden im Reha-Kontext.

    Univ.-Prof. Dr. Dr. med. Gereon Heuft
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    gereon.heuft@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de

    Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft (*1954) ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychoanalytiker (Lehr- und Kontrollanalytiker der DGPT). Seit 1999 Lehrstuhlinhaber für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Er ist der ärztliche Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (WBP) Bundesärztekammer/Bundespsychotherapeutenkammer, Schriftleiter der „Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ sowie in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen und berufspolitischen Funktionen. Forschungsschwerpunkte sind die Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie, die Rehabilitationsforschung und die Psychotraumatologie.

    Dr. rer. medic. Rolf G. Fiedler, Dipl.-Psych.
    Psychologischer Psychotherapeut
    Psychotherapeutische Praxis
    Marktstraße 15
    48607 Ochtrup
    www.therapier.bar

    Dr. Rolf G. Fiedler (*1967) war wissenschaftlicher Mitarbeiter, Promovend und postdoktoral an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, 2002 bis 2008 angestellt; 2009 bis heute als Honorarkraft. 2006 bis 2011 Tätigkeit in der LWL-Klinik Münster im psychologischen Dienst der Suchtambulanz. 2011 bis 2016 im psychologischen Dienst bei Mediant GGZ, Enschede (Niederlanden), am Centrum voor Ontwikkelingsstoornissen (COS Twente), Schwerpunkt Begleitung, Coaching und Psychotherapie von Menschen mit AD(H)S und Autismus-Spektrum-Störungen. Seit Anfang 2017 ist er in eigener psychotherapeutischer Privatpraxis tätig (www.therapier.bar). Berufs- und Heilerlaubnis (BIG-Registrierung) als Psychotherapeut und Gesundheitspsychologe (www.bigregister.nl). Approbation als Psychologischer Psychotherapeut mit Fachkunde in Verhaltenstherapie, eingetragen im Arztregister der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (www.kvwl.de).

    Literatur:
    • Bengel J, Beutel M, Broda M, Haag G, Härter M, Lucius-Hoene G, Muthny FA, Potreck-Rose F, Stegie R, Weis J (2003). Chronische Erkrankungen, psychische Belastungen und Krankheitsbewältigung – Herausforderungen an eine psychosoziale Versorgung in der Medizin. Psychother Psych Med.; 53: 83-93.
    • Brunstein, JC (1995). Motivation nach Mißerfolg – Die Bedeutung von Commitment und Substitution. Göttingen: Hogrefe.
    • Christoffer A, Fiedler R, Heuft G; Reimer A, v. Einsiedel R, Hinrichs J (2016). Diagnostik von Arbeitsmotivation: Eine indikationsspezifische Validierung des DIAMO-Fragebogens im Bereich der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten. 25. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium: 29.02.-02.03.2013 in Aachen. DRV-Schriften, Bd. 109, S. 60-61.
    • Fiedler RG, Ranft A, Schubmann C, Heuft G, Greitemann B (2005). Diagnostik von Arbeitsmotivation in der Rehabilitation – Vorstellung und Befunde zur faktoriellen Struktur neuer Konzepte. Psychother Psych Med, 55, 476-482.
    • Fiedler RG, Hanna R, Hinrichs J, Heuft G. (2011). Förderung beruflicher Motivation – Ein Trainingsprogramm für die Rehabilitation. Weinheim: Beltz.
    • Flückiger C, Wüsten G (2015). Ressourcenaktivierung. Ein Manual für Psychotherapie, Coaching und Beratung. Bern: Huber.
    • Hanna R, Fiedler RG, Dietrich H, Greitemann B, Heuft G. (2010). Zielanalyse und Zieloperationalisierung (ZAZO): Evaluation eines Gruppentrainings zur Förderung beruflicher Motivation. Psychother Psych Med, 60:316-325.
    • Hinrichs J, Fiedler RG, Hawener I, Greitemann B, Heuft G (2014). Förderung beruflicher Motivation: Das ZAZO-Gruppentraining in der Routineversorgung der medizinischen Rehabilitation. Ergebnisse aus der Implementierungsstudie. 23. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium: 10.03.-12.03.2014 in Karlsruhe. DRV-Schriften, Bd. 103, S. 226-228.
    • Kastner M, Hagemann T, Kliesch G (2005). Arbeitslosigkeit und Gesundheit – Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Lengerich: Pabst Science Publishers.
    • Lewin K (1936). Principles of topological psychology. New York: McGraw-Hill.
    • Ranft A, Fiedler RG, Greitemann B, Heuft G (2009). Optimierung und Konstruktvalidierung des Diagnostikinstruments für Arbeitsmotivation (DIAMO). Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 59, 21-30.
    • Rheinberg F, Vollmeyer R (2012). Motivation (8. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Wofür brauchen wir BORA?

    Wofür brauchen wir BORA?

    Dr. Andreas Koch
    Dr. Andreas Koch

    Die Entwicklung der „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ ist durch zwei wesentliche Ausgangspunkte geprägt: Zum einen hat die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eine lange Tradition. Schon in den Trinkerheilstätten des 19. Jahrhunderts spielten Arbeit und Beschäftigung eine zentrale Rolle in der Therapie und Tagesstrukturierung. Dieser Schwerpunkt ist in vielen Konzepten in der modernen Suchtrehabilitation bis heute erhalten, er wurde im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt und den aktuellen Anforderungen angepasst. Im Jahr 2000 veranstaltete der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe ein Projektforum mit dem Titel „Therapie und Arbeit“, bei dem es vor allem um die Weiterentwicklung der arbeitstherapeutischen Angebote ging. Die Ergebnisse sind in dem entsprechenden Tagungsband veröffentlicht (Heidegger et al. 2002). 2010 wurden im Rahmen des Fachtages der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen „Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation“ der aktuelle Stand und die Entwicklungsperspektiven in diesem Bereich diskutiert (DHS 2010). Und schließlich veröffentlichte der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe im Jahr 2011 unter dem Titel „Arbeitsmarktintegration – Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!“ Vorschläge für die Strukturierung der Zielgruppen und der entsprechenden Maßnahmen im Hinblick auf das vorhandene Integrationspotential (Heinsohn et al. 2011).

    Zum anderen hat die Deutsche Rentenversicherung nach umfangreichen Vorarbeiten 2012 das MBOR-Konzept (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) veröffentlicht, um in den somatischen und psychosomatischen Indikationsbereichen die Fokussierung auf die Aspekte Arbeit und Beruf zu stärken, insbesondere, wenn bei den Rehabilitanden besondere berufliche Problemlagen (BBPL) vorliegen. Aufgrund des traditionell hohen fachlichen und zeitlichen Stellenwertes arbeitsbezogener Maßnahmen im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen wurde dieser Indikationsbereich von der Umsetzung des MBOR-Konzeptes ausgenommen. Zudem sind besondere erwerbsbezogene Problemlagen bei Suchtkranken eher die Regel als die Ausnahme, und es existieren bereits besondere Leistungsformen in der Suchtrehabilitation zur gezielten Förderung der beruflichen Integration (Adaption als letzte Phase der medizinischen Reha).

    Gemeinsame Arbeitsgruppe BORA

    Vor diesem Hintergrund wurde die gemeinsame Arbeitsgruppe BORA (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) aus Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtfachverbände eingesetzt, die Empfehlungen zur Arbeits- und Berufsorientierung ausschließlich für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickeln sollte. Der Arbeitsprozess erstreckte sich über insgesamt sechs Sitzungen und war von einem außerordentlich hohen fachlichen Niveau sowie einer zielorientierten und konstruktiven Gesprächsatmosphäre geprägt. Damit konnte auch gezeigt werden, dass wichtige konzeptionelle Weiterentwicklungen für den Indikationsbereich Sucht mit hoher Qualität und Effizienz in einer paritätisch besetzen Expertengruppe (Leistungsträger und Leistungserbringer) erarbeitet werden können und durch ein gutes Projektmanagement sowie eine transparente Vorgehensweise auch die Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit verbessert werden kann.

    Die gemeinsam erarbeiteten „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ sind auf der Internetseite der Deutschen Rentenversicherung zu finden. Auf der letzten Seite sind die Koordinatoren und Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA aufgeführt. Die BORA-Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe am 15. April 2015 in einer gemeinsamen Informationsveranstaltung bei der DRV Bund in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung wurden verschiedene Aspekte der Empfehlungen und ihre Auswirkungen auf die Praxis mit Vertreterinnen und Vertretern von Suchtreha-Einrichtungen diskutiert.

    Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA bei der Auftaktveranstaltung am 15.04.2015: Barbara Müller-Simon/DRV Bund, Dr. Volker Weissinger/FVS, Denis Schinner/Fachklinik Release/DHS, Gerhard Eckstein/DRV Schwaben, Peter Missel/AHG Kliniken Daun/FVS, Georg Wiegand/DRV Braunschweig-Hannover, Uwe Hennig/DRV Bund, Dr. Theo Wessel/GVS/DHS, Dr. Andreas Koch/buss/DHS, Dr. Dietmar Kramer/salus klinik Friedrichsdorf/FVS, Dr. Joachim Köhler/DRV Bund (v.l.n.r.) – Fotos©Bildarchiv DRV Bund/Terbach
    Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA bei der Auftaktveranstaltung am 15.04.2015: Barbara Müller-Simon/DRV Bund, Dr. Volker Weissinger/FVS, Denis Schinner/Fachklinik Release/DHS, Gerhard Eckstein/DRV Schwaben, Peter Missel/AHG Kliniken Daun/FVS, Georg Wiegand/DRV Braunschweig-Hannover, Uwe Hennig/DRV Bund, Dr. Theo Wessel/GVS/DHS, Dr. Andreas Koch/buss/DHS, Dr. Dietmar Kramer/salus klinik Friedrichsdorf/FVS, Dr. Joachim Köhler/DRV Bund (v.l.n.r.) – Fotos©Bildarchiv DRV Bund/Terbach

    Relevanz der Empfehlungen für die Praxis

    Bei den BORA-Empfehlungen handelt es sich ausdrücklich um Empfehlungen zur Weiterentwicklung der bestehenden Therapiekonzepte und nicht um zwingend umzusetzende konzeptionelle Vorgaben (wie beispielsweise beim MBOR-Konzept). Sie enthalten zahlreiche Hinweise und Anregungen für die Weiterentwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen im Hinblick auf die Förderung der beruflichen Integration. Die Empfehlungen beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen von Rehabilitanden, für die jeweils sehr unterschiedliche Maßnahmen erforderlich sein können. Dabei sind die beschriebenen Zielgruppen weniger als Fallgruppen zu verstehen, denen die Rehabilitanden im Rahmen der Eingangsdiagnostik als Grundlage für die weitere Therapieplanung und Therapiesteuerung zugeordnet werden sollen. Mit der Unterscheidung der Zielgruppen sollen vielmehr die möglichen therapeutischen Leistungen während der Entwöhnungsmaßnahme strukturiert und übersichtlich dargestellt werden. Die individuelle Indikationsstellung und die Identifikation des spezifischen Unterstützungsbedarfs der einzelnen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sind weiterhin maßgeblich für den Verlauf der Reha.

    Aktuelle Titelbeiträge auf KONTUREN online

    In dem Beitrag von Jörg Heinsohn innerhalb dieses Titelthemas von KONTUREN online werden in Ergänzung zu den BORA-Empfehlungen und mit Bezug zu den fünf Zielgruppen weiterführende Maßnahmen nach der medizinischen Rehabilitation vorgestellt. Gerade in diesem Bereich treten häufig ‚Schnittstellenprobleme‘ mit anderen Sozialleistungsbereichen auf, daher enthalten die BORA-Empfehlungen auch einige Hinweise zur Gestaltung von Kooperationen und Netzwerken.

    Für den Bereich der Drogenrehabilitation stellt sich die Frage, ob die fünf beschriebenen Zielgruppen die Rehabilitandenstruktur angemessen abbilden und die bisherigen Empfehlungen für die Gestaltung der therapeutischen Angebote passend und ausreichend sind. Andreas Reimer stellt in seinem Titelbeitrag einige Überlegungen dazu an und geht näher auf die Zielgruppe der Rehabilitanden mit Abhängigkeit von illegalen Drogen ein, die häufig jünger und ohne wesentliche Arbeits- und Berufserfahrungen sind.

    Für die spezifische Gestaltung des Reha-Verlaufs ist eine sorgfältige und aussagefähige Eingangsdiagnostik erforderlich. In den BORA-Empfehlungen werden einige Instrumente für Screening und Assessment vorgestellt und deren Nutzen erläutert. Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung, eines der genannten Instrumente einzusetzen, auch andere oder in den Einrichtungen selbst entwickelte Verfahren können zum Einsatz kommen. Allerdings muss jede Einrichtung für diesen Bereich der Diagnostik über ein strukturiertes und dokumentiertes Vorgehen verfügen. Diesen Aspekt greift auch der Fachausschuss Arbeit und Rehabilitation des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e.V. (DVE) in seiner Stellungnahme im Titelthema auf.

    Alle weiteren wesentlichen Aspekte aus den BORA-Empfehlungen wie Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung werden im Titelbeitrag von Dr. Andreas Koch und Denis Schinner zusammengefasst. Als Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA waren die beiden Autoren an dem Entwicklungsprozess beteiligt.

    Klinikinterne Dienstleistungen

    Eine hilfreiche Klarstellung ist in den BORA-Empfehlungen zu den so genannten klinikinternen Dienstleistungen zu finden. In den vergangenen Jahren wurde von einzelnen Leistungsträgern gefordert, die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden nicht mehr innerhalb der Einrichtung in den entsprechenden Arbeitsbereichen (beispielsweise Küche, Hauswirtschaft, Garten) einzusetzen, da befürchtet wurde, dass hier der Arbeitsbedarf der Einrichtung und nicht die individuelle Indikationsstellung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im Vordergrund steht. Das hat dazu geführt, dass Beobachtungs- und Erprobungsfelder für einfache Tätigkeiten und Trainingsfelder für die bei vielen Suchtkranken vernachlässigte Selbstversorgung in vielen Einrichtungen weggefallen sind. Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden, wenn eine entsprechende individuelle Indikationsstellung und Zielsetzung vorliegt und eine professionelle therapeutische Begleitung erfolgt.

    Erforderliche Rahmenbedingungen

    Die BORA-Empfehlungen sollen vor allem Anregungen für die konzeptionelle Weiterentwicklung der Einrichtungen geben, beispielsweise wären die eingesetzten diagnostischen Instrumente oder das therapeutische Leistungsspektrum im Hinblick auf den vorhandenen Zielgruppenmix zu überprüfen. Bei diesen Überlegungen sollte jede Einrichtung den federführenden Leistungsträger aktiv mit einbeziehen. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich zu unterstützen und den möglichen Mehraufwand in den Vergütungssätzen abzubilden. Für die Umsetzung von BORA in der Praxis müssen durch die Leistungsträger und Leistungserbringer gemeinsam die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.

    Literatur:
    • Heidegger et al. (2002): Therapie und Arbeit. Suchtspezifische Ansätze, buss-Diskussionsforum Band 1, Gesthacht 2001
    • DHS (2010): Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation – Stand und Entwicklungsperspektiven, Dokumentation DHS Fachtag, Hamm/Westfalen 2010
    • Heinsohn et al. (2011): Arbeitsmarktintegration. Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!, in: KONTUREN. Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen, 5-2011, Jg. 32
  • BORA kompakt

    BORA kompakt

    Denis Schinner
    Denis Schinner
    Dr. Andreas Koch

    In diesem Beitrag werden alle wesentlichen Aspekte der BORA-Empfehlungen zusammengefasst. Dazu gehören Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung. Die Autoren Dr. Andreas Koch und Denis Schinner waren selbst Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA und haben die Empfehlungen mitentwickelt.

    Zielgruppen

    Um die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der Suchtrehabilitation“ praxisnah strukturieren zu können, wurde eine Unterscheidung von Zielgruppen vorgenommen, an der sich die weiteren Ausführungen zur Diagnostik und insbesondere zur Therapie orientieren. Grundsätzlich werden dabei Rehabilitanden mit Arbeit von arbeitslosen Rehabilitanden unterschieden. Bei den Erstgenannten geht es im Rahmen der Behandlung um den Erhalt des Arbeitsplatzes und die konkrete berufliche Wiedereingliederung. Bei der zweitgenannten Gruppe stehen eher die Entwicklung einer allgemeinen erwerbsbezogenen Perspektive sowie das Training der entsprechenden Kompetenzen im Vordergrund. Ein weiteres Kriterium zu Differenzierung der Zielgruppen ist das Vorhandensein von besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen, die durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren gekennzeichnet sind:

    • lange oder häufige Fehlzeiten
    • eine negative subjektive Prognose hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft
    • drohender Arbeitsplatzverlust
    • Arbeitslosigkeit
    • eine sozialmedizinische Notwendigkeit für berufliche Veränderungen

    Auf dieser Grundlage wurden fünf Zielgruppen definiert:

    • BORA-Zielgruppe 1 = Rehabilitanden mit Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 2 = Rehabilitanden mit Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 3 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III (ALG I). Dieser Zielgruppe werden auch Erwerbstätige zugeordnet, die während einer Krankschreibung arbeitslos geworden sind, und Erwerbstätige, die langzeitarbeitsunfähig sind und nach 18 Monaten von der Krankenkasse ausgesteuert werden (Arbeitsplatz noch vorhanden, Bezug von ALG I oder II).
    • BORA-Zielgruppe 4 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II (ALG II)
    • BORA-Zielgruppe 5 = Nicht-Erwerbstätige

    Diagnostik

    Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges. Die BORA-Empfehlungen bieten den Praktikern in den Rehabilitationseinrichtungen einen umfangreichen Baukasten für Screening-, Diagnostik- und Assessmentverfahren sowie die Therapie- und Teilhabeplanung bezogen auf die oben genannten BORA-Zielgruppen.

    Vorliegende oder neu erhobene Erkenntnisse können und müssen mittels einer ergänzenden Diagnostik untermauert werden. Der diagnostische Fokus richtet sich u. a. auf die Aspekte Gedächtnisleistung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planungs- und Problemlösefunktionen, Impulskontrolle, Persönlichkeitsfaktoren sowie komorbide Störungen.

    In den Empfehlungen wird angeregt, dass das zu Beginn der Rehabilitation erfolgende Screening und die daraus resultierende Zuordnung zu den BORA-Zielgruppen durch die Leistungserbringer erfolgen. Dies soll einer einseitigen Zuweisungspraxis durch die Leistungsträger entgegenwirken. Dabei steht außer Frage, dass es bereits heute Einrichtungen mit einer vorherrschenden Gruppe von Rehabilitanden (spezifischer Zielgruppenmix) und damit einhergehenden besonderen Anforderungen und Leistungsangeboten gibt.

    Werden durch das Screening Risiken hinsichtlich der Entwicklung von arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen entdeckt, sollen diese durch eine anschließende ausführlichere Diagnostik spezifiziert werden. Ausführliche Informationen zu den meisten Diagnostikinstrumenten sind auf der Internetseite www.medizinisch-berufliche-orientierung.de zu finden. An Screening-Instrumenten können die folgenden zum Einsatz kommen: Das Würzburger Screening ist ein Fragebogen für den Einsatz in Rehabilitationseinrichtungen mit neun Fragen zu den Themenbereichen „Subjektive Erwerbsprognose“, „Berufliche Belastung“ und „Interesse an berufsbezogenen Therapieangeboten“. SIBAR (Screening-Instrument für Beruf und Arbeit) ist ein kurzer Fragebogen mit elf Items. SIMBO-C (Screening-Instrument zur Erkennung des Bedarfs an Medizinisch-beruflich orientierter Rehabilitation) berücksichtigt sieben Indikatoren beeinträchtigter beruflicher Teilhabe

    Es können weitere Instrumente und Verfahren zur Analyse der Ausgangsbedingungen in Frage kommen und genutzt werden. Hierzu gehören Assessmentverfahren wie die FCE-Systeme (functional capacity evaluation). Diese messen die individuelle Fähigkeit (capacity) eines Rehabilitanden, Anforderungen einer bestimmten Arbeitstätigkeit zu erfüllen, und beinhalten standardisierte körperlich orientierte Testaufgaben. Zu den FCE-Systemen gehört z. B. EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit). WorkPark-Therapiegeräte können ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden.

    Weiterführend können neben MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) auch IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und/oder Ida (Instrumentarium zur Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten) zum Einsatz kommen.

    Nicht alle diese Verfahren sollen in allen Rehabilitationseinrichtungen eingesetzt werden, es können auch andere Instrumente genutzt werden. Bei konzeptionellen Veränderungen sollen sich die Einrichtungen jedoch der in den BORA-Empfehlungen vorgestellten Instrumente bedienen.

    Therapieplanung

    Wenn die Ergebnisse der Analyse der beruflichen Ausgangsbedingungen und der Eingangsdiagnostik vorliegen, erfolgt die an dem individuellen Integrationspotential und Rehabilitationsbedarf ausgerichtete Entwicklung von Therapiezielen (unter Berücksichtigung der ICF). Die Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Rehabilitanden und interdisziplinär in Abstimmung mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im therapeutischen Team festgelegt werden. Bei Bedarf werden sie im Laufe der Behandlung angepasst. Primäres Ziel einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Ergänzt wird dies um die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Seiten der Rehabilitandin/des Rehabilitanden.

    In der klinikinternen Prozesssteuerung der beruflichen Orientierung sind alle therapeutischen Leistungen als Rehabilitationsmodule untereinander zu vernetzen. So ist bei der Psychotherapie die berufliche Teilhabeplanung stets als fester Bestandteil zu integrieren. Zudem werden in diesem Kontext entsprechende Erfahrungen aus anderen Therapiebereichen (z. B. Arbeits-, Ergo- und Sporttherapie) reflektiert und gegebenenfalls vertieft. Alle im Rahmen der Rehabilitation angebotenen Therapiebausteine müssen einen Beitrag zur Teilhabe und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leisten. Weiterführend ist die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker nicht mehr nur Psychotherapeut/-in, sondern auch Koordinator/-in der Gesamtrehabilitation und der beruflichen Teilhabeplanung.

    Mit der Arbeits- und Ergotherapie, der klinischen Sozialarbeit und weiteren Interventionen zur beruflichen Wiedereingliederung besteht in den Einrichtungen ein oft seit Jahrzehnten etabliertes Therapieangebot, das eine Verknüpfung zum Arbeitsleben herstellt. In den Einrichtungen werden medizinisch-arbeitsorientierte Leistungen unter Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Einschränkungen gezielt eingesetzt. Hierbei kann es auch um das Training von Grundarbeitsfähigkeiten in individuell bestimmten teilhabebezogenen Handlungsfeldern gehen. Die teilhabeorientierten Handlungsfelder werden in drei Bereiche unterteilt:

    • Grundarbeitsfähigkeiten: Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Flexibilität, Arbeitstempo, Konzentration und Merkfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten: Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit, Umgang mit Autoritäten, Umgang in der Gruppe
    • Selbstbild: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Selbsteinschätzung, Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit

    Grundsätzlich dürfen die erwerbsbezogenen Behandlungsanteile in allen Phasen der medizinischen Rehabilitation nicht mehr nachrangig sein, sondern sind – wie die medizinische und psychotherapeutische Behandlung – von zentraler Bedeutung. Die Teilnahme an entsprechenden Angeboten muss verbindlichen Charakter haben. Die Inhalte, Auffälligkeiten, Schwierigkeiten und Ergebnisse dieses Bereichs müssen in die Gesamtrehabilitation einfließen und vom gesamten therapeutischen Team professionsübergreifend berücksichtigt werden.

    Therapieleistungen

    Folgende Therapieleistungen, ausgehend von der KTL 2015, sind grundsätzlich sinnvoll und sollten in den Einrichtungen angeboten werden: Problembewältigung am Arbeitsplatz, Motivierung zur Wiederaufnahme einer Arbeit, Umgang mit Ängsten, Gespräche mit Vertretern des Arbeitgebers sowie dem Reha-Fachberater, interne und externe Belastungserprobung (auch am bisherigen Arbeitsplatz), PC-Schulungskurse, Bewerbungstraining und Sozialberatung. Weiterhin gehören die Arbeitstherapie, die Ergotherapie und die Einleitung weiterführender Maßnahmen zu den im Einrichtungskonzept zu beschreibenden relevanten therapeutischen Leistungen. Die BORA-Empfehlungen enthalten außerdem eine ausführliche Darstellung, welche therapeutischen Leistungen für welche Zielgruppen besonders sinnvoll sein können.

    Bei jungen Rehabilitanden erschwert häufig ein fehlender Schulabschluss die weitere berufliche Integration. Parallel zur Rehabilitation durchgeführte Beschulungsprojekte oder Maßnahmen mit dem Ziel, einen schulischen Abschluss zu erlangen, ob integriert oder in Kooperation, sind grundsätzlich sinnvoll.

    Bezüglich der so genannten klinikinternen Dienstleistungen konnte mit BORA Klarheit geschaffen werden: Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden. Zu beachten ist dabei aber stets, dass dieser Einsatz sich am primären Ziel der medizinischen Rehabilitation orientieren muss. Dazu bedarf es einer gezielten Indikation, einer therapeutischen Zielsetzung und Begleitung. Zudem ist eine zeitliche Begrenzung zu beachten.

    Bei der personellen und räumlich-apparativen Ausstattung der medizinischen Rehabilitationseinrichtungen gelten die Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung. Darin sind Zielgrößen für einzelne Berufsgruppen beziehungsweise Funktionsgruppen beschrieben, die konzeptionell begründet auch nach oben und unten abweichen können. Sie stellen somit kein Dogma dar, sondern lassen Raum für regionale Besonderheiten und konzeptionelle Einrichtungsschwerpunkte. In konzeptionelle Weiterentwicklungen durch die Einrichtungen und Einrichtungsträger sollen die Leistungsträger aktiv einbezogen werden. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich und auch durch Abbildung in den Pflegesätzen zu unterstützen.

    Spezielle Leistungsformen

    BORA muss in allen Leistungsformen Anwendung finden, nicht nur in der stationären Entwöhnung. Für die ambulante Rehabilitation gilt dies genauso wie für die adaptive Behandlung oder die Nachsorge.

    Bereits das gemeinsame Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 3. Dezember 2008 bezeichnet die ambulante Rehabilitation als ein Instrument zum Erhalt bzw. zur Erreichung der Eingliederung in Arbeit und Beruf. Für die Zielgruppen BORA 1 bis 4 kommt ein unterschiedlich umfangreiches Leistungsspektrum in Betracht. Die Leistungen umfassen beispielsweise sozialrechtliche Beratung, Berufsklärung unter Einbeziehung geeigneter Screening-Instrumente, soziale Gruppenarbeit (insbesondere Umgang mit beruflichen Themen), Training sozialer Kompetenzen und Belastungserprobung.

    Eine Adaptionsbehandlung als Spezifikum in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten kann die letzte Phase der stationären Rehabilitation bilden. In den Adaptionseinrichtungen wird seit jeher der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und einem zu erreichenden Erwerbsbezug eine besondere Bedeutung beigemessen. Viele Leistungen und Erfahrungen aus den adaptiven Behandlungen finden heute Einzug in die Konzepte der Entwöhnungen. Man kann also vereinfacht formulieren: Adaption ist BORA. Adaptionsbehandlungen werden v. a. von Rehabilitanden der BORA-Zielgruppe 4 (vereinzelt auch 2, 3 und 5) in Anspruch genommen. Die Leistungen umfassen u. a. die Fortsetzung der medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung, die externe Arbeits- und Belastungserprobung, die Festigung der Abstinenz sowie die persönliche Stabilisierung bei auftretenden Krisen im privaten und beruflichen Alltag. All diese Leistungen zielen insgesamt auf die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration ab. Die Adaptionseinrichtungen erbringen den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Praxis und berücksichtigen den Lebensalltag der Rehabilitanden.

    Auch in den Nachsorgeangeboten müssen und werden im Zuge der Implementierung der BORA-Empfehlungen die erwerbsbezogenen Interventionen einen wachsenden Anteil an den Beratungs- und Unterstützungsprozessen ausmachen. Auch bei geringer Kontaktfrequenz zu den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden muss der (Re-)Integration in das Erwerbsleben bzw. dem Erhalt erwerbsbezogener Strukturen eine größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.

    Kooperationen

    Eine frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der medizinischen Reha ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitanden, die arbeitsbezogenen Ressourcen, die individuellen Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten. Im Verlauf der Rehabilitation können diese Kontakte dafür genutzt werden, dass die Rehabilitanden praktische Erprobungen oder berufliche Orientierungsmaßnahmen absolvieren. Möglichst frühzeitig sollte ein zeitnaher Übergang zu weiteren Leistungen sichergestellt werden – z. B. in eine Adaption, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, in eine berufliche Wiedereingliederung – oder zumindest die erforderlichen Vermittlungsbemühungen. Abhängig vom Einzelfall kommen u. a. folgende Kooperationspartner in Betracht:

    • Arbeitgeber, Werks- und Betriebsärzte, betriebliche Sozial- und Mitarbeiterberatung
    • Arbeitsagenturen, Jobcenter
    • behandelnde Ärzte, Hausärzte, Psychotherapeuten
    • berufliche Rehabilitationseinrichtungen, Bildungsträger, Betriebe
    • gemeinsame Servicestellen der Rehabilitationsträger
    • Integrationsämter, Integrationsfachdienste
    • Reha-Fachberater der Rentenversicherungsträger
    • sozialmedizinischer Dienst der Rentenversicherungsträger
    • Suchtberatungsstellen, Fachstellen, (Sucht-)Selbsthilfegruppen

    Konkrete Kooperationsvereinbarungen sollen neben einer Zielformulierung möglichst auch feste Ansprechpartner enthalten. Rahmenbedingungen der Kooperation sollen so konkret wie möglich benannt werden, z. B. wie der Austausch zwischen den Partnern erfolgt und ob es Evaluations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt. Nur wenn Kooperationen gepflegt werden, können sie erfolgreich sein.

    Zukünftig werden Steuerungsmodelle im Sinne eines Case Management gefragt sein, die Leistungen aus unterschiedlichen Segmenten koordinieren. Erste Pilotprojekte gibt es dazu. Ziel muss sein, dass alle Bemühungen – von der Erstberatung über die Vermittlung in ambulante und stationäre Hilfen und nachsorgende Angebote – vernetzt und zielführend gestaltet werden. Eine Anamnese muss nicht viermal erhoben werden, aber berufliche Erprobungen können mehrfach durchgeführt werden und so die Rehabilitanden in ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen stärken.

    Dokumentation und Qualitätssicherung

    Daten zum Bereich Arbeit, Beruf und Erwerbstätigkeit werden in verschiedenen Systemen dokumentiert:

    • In der Basisdokumentation werden zu Beginn der Behandlung verschiedene Informationen erfasst und am Ende der Behandlung erste Ergebnisindikatoren festgehalten.
    • Die dokumentierten Ergebnisse der Eingangs- und Abschlussdiagnostik stellen eine Grundlage für die Therapieplanung und die Veränderungsmessung dar.
    • In der Patientenakte werden alle wesentlichen Informationen zum Behandlungsverlauf dokumentiert.
    • Die einrichtungsinterne Leistungserfassung erfolgt mit der KTL, deren neue Version 2015 durchaus verbesserte Möglichkeiten zur Dokumentation der arbeits- und berufsbezogenen therapeutischen Leistungen bietet.
    • Im Reha-Entlassungsbericht (neuer Leitfaden der DRV vom September 2014) werden alle wesentlichen Informationen zum Verlauf und zum Ergebnis der Reha zusammengefasst. Von zentraler Bedeutung ist hier die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, die im freien Text (Blatt 2) möglichst gut begründet werden soll.

    Die in der medizinischen Rehabilitation etablierten Systeme für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beinhalten verschiedene Vorgaben für die Leistungsgestaltung und die Struktur von Ergebnisindikatoren. Die externe Qualitätssicherung erfolgt im Rahmen des Reha QS-Programms der Deutschen Rentenversicherung und umfasst folgende Instrumente:

    • Rehabilitandenbefragung mit einzelnen Fragen zur Arbeits- und Berufsorientierung (insbesondere zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit)
    • Peer Review-Verfahren (Checkliste und Manual in neuer Version vom Dezember 2014) zur Überprüfung der inhaltlichen Qualität der Reha-Entlassungsberichte mit dem Fokus Reha-Prozess und Reha-Ergebnis
    • Therapeutische Versorgung (KTL) mit Kennzahlen zu Häufigkeit, Dauer und Differenziertheit der dokumentierten Leistungsdaten (Leistungsverteilung, Leistungsmenge, Leistungsdauer) und einer gesonderte Auswertung der therapeutischen Leistungen im Bereich Arbeits- und Berufsorientierung
    • Reha-Therapiestandards (RTS) mit Anforderungen in einzelnen ETMs (Evidenzbasierte Therapiemodule) mit speziellen therapeutischen Anforderungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit
    • Visitationen nach einer einheitlichen Checkliste, die auch die Aspekte „arbeitsbezogene Leistungen“, „Sozialmedizin“ und „Sozialdienst“ umfasst
    • Rehabilitandenstruktur mit soziodemografischen (z. B. Alter, Bildungsniveau, Erwerbsstatus) und krankheitsbezogenen Merkmalen (z. B. Diagnosen, Leistungsfähigkeit)
    • Sozialmedizinischer Verlauf zum Verbleib der Rehabilitanden im Erwerbsleben mit Bezug zur Beitragszahlung an die gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur aus Erwerbstätigkeit resultieren kann (Ab 2011 haben sich die gesetzlichen Grundlagen für Hartz-IV-Empfänger geändert, d. h., es werden für diese Personengruppe keine RV-Beiträge mehr gezahlt, was aufgrund der hohen Langzeitarbeitslosigkeit im Indikationsbereich Sucht zu einer deutlichen Verschlechterung dieser Kennzahlen führen kann.)

    Zu den genannten Instrumenten und Indikatoren werden regelmäßig einrichtungsspezifische QS-Berichte erstellt, die Grundlage für einen Qualitätsvergleich der Einrichtungen und deren Qualitätsentwicklung sein sollen.

    Im Bereich der internen Qualitätssicherung werden von den Reha-Einrichtungen verschiedene Instrumente zur Analyse von Indikatoren und Kennzahlen im Zeitverlauf und zum Einrichtungsvergleich eingesetzt. Dazu zählen insbesondere:

    • Patientenbefragungen zur Erhebung der Zufriedenheit am Behandlungsende oder am Stichtag, u. a. mit Fragen zu den Leistungen im Bereich Arbeits- und Ergotherapie
    • Basisdokumentation mit Erhebung des Erwerbsstatus vor und nach der Rehabilitation. Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen und in der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS).
    • Katamnesen nach dem Standard des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) nach einem Jahr zum Behandlungserfolg (insbesondere Abstinenz, Erwerbstätigkeit und Kontextfaktoren). Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen.

    Zum internen Qualitätsmanagement besteht für alle stationären Reha-Einrichtungen eine Zertifizierungspflicht nach § 20 Abs. 2a SGB IX (BAR-Vereinbarung von 2009). Der entsprechende Anforderungskatalog umfasst auch Qualitätskriterien, die die Struktur- und Prozessqualität im Bereich arbeits- und berufsbezogene Leistungen betreffen. Für die relevanten Kernprozesse ist ein Prozessmanagement zu etablieren, die Teilnahme an einem Verfahren der externen QS ist vorgeschrieben, und es müssen Verfahren für die interne Messung und Analyse von Ergebnissen eingesetzt werden.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den bestehenden QM- und QS-Systemen bislang nur wenige oder eher globale Indikatoren zur Analyse der Arbeits- und Berufsorientierung enthalten sind. Verschiedene Weiterentwicklungen im QS-Programm der DRV wären denkbar: Im Rahmen der Rehabilitandenbefragung könnten die Leistungen in der Einrichtung, die sich auf Beruf und Arbeit beziehen, differenzierter abgefragt werden. Bei der Analyse der Rehabilitandenstruktur könnten die BORA-Zielgruppen explizit dargestellt werden. Und bei der im Jahr 2015 laufenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards könnten die ETMs, die die Arbeits- und Berufsorientierung betreffen, zusammengefasst und stärker an den BORA-Empfehlungen ausgerichtet werden.

    Aktuell wird auch die Erhebung einer ‚Integrationsquote‘ diskutiert, die den Anteil der konkret in Erwerbstätigkeit gebrachten Rehabilitanden (für jede Reha-Einrichtung) messen soll. Auch wenn das auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, ist Vorsicht geboten, denn der Auftrag der Reha-Einrichtungen bezieht sich primär auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Bei der Integration in eine Erwerbstätigkeit spielen viele Einflussfaktoren und Leistungen außerhalb bzw. vor und nach der medizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Zudem kann eine einzelne Einrichtung weder für ihr regionales Umfeld und die entsprechende Arbeitsmarktsituation verantwortlich gemacht werden noch alle Schwierigkeiten ausgleichen, die aufgrund der konzeptionell bedingten Rehabilitandenstruktur (Zielgruppenmix) bestehen.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Denis Schinner
    Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption
    Merschstraße 49
    59387 Ascheberg-Herbern
    dschinner@netzwerk-suchthilfe.org
    www.netzwerk-suchthilfe.org
    www.facebook.com/fachklinik.release

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Denis Schinner ist Verwaltungsleiter der Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption, Ascheberg-Herbern.

  • Drogenpatienten sind anders

    Drogenpatienten sind anders

    Andreas Reimer
    Andreas Reimer

    Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.

    Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen

    In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    • sind im Durchschnitt deutlich jünger,
    • sind häufiger arbeitslos,
    • sind häufiger Schulabbrecher,
    • haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
    • sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
    • haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
    • sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.

    Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.

    In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.

    Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.

    Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern

    Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.

    In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.

    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)

    Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.

    Die BORA-Empfehlungen

    Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.

    Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.

    Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil

    In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte  der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur  Zielerreichung können sein:

    • interne und externe Arbeitserprobung (Training),
    • Festlegung eines Trainingsbereiches,
    • Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
    • Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
    • PC-Schulung,
    • Bewerbungstraining,
    • Sozialberatung,
    • Vorstellung im Berufsförderungswerk.

    Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.

    In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

    Interne Trainingsfelder

    Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.

    Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).

    Anpassung der Personalausstattung

    Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.

    Kontakt:

    Andreas Reimer
    Deutscher Orden Ordenswerke
    Geschäftsbereich Suchthilfe
    Klosterweg 1
    83629 Weyarn
    andreas.reimer@deutscher-orden.de
    www.deutschordenswerke.de

    Angaben zum Autor:

    Andreas Reimer ist leitender Arzt im Geschäftsbereich Suchthilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, und Mitherausgeber von KONTUREN online.