Schlagwort: Behindertenhilfe

  • Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prof. Dr. Knut Tielking
    Julia Klinkhamer

    Einleitung

    Während Suchtprävention als Gesundheitsthema in der Gesellschaft bereits etabliert ist, steht sie bezogen auf Menschen mit geistiger Beeinträchtigung noch vor besonderen Herausforderungen. Die zunehmende Verselbstständigung führt dazu, dass Menschen mit geistiger Beeinträchtigung vermehrt Suchtmittel wie Alkohol und Tabak konsumieren (Jung/Nachtigal 2018). Sie benötigen spezielle Präventionsangebote, da herkömmliche Programme oft nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingehen (Tielking/Rabes 2022). Aufgrund ihrer Beeinträchtigung weisen sie ein erhöhtes Risiko für einen problematischen Konsum auf. Es besteht daher die Notwendigkeit, ein neues Bewusstsein für den Konsum zu schaffen und dieser Zielgruppe die erforderlichen Werkzeuge und Strategien zur Verfügung zu stellen, um eine gesunde und bewusste Entscheidungsfindung zu unterstützen.

    Der Caritasverband für den Landkreis Emsland hat es in Angriff genommen, diese entscheidende Versorgungslücke mit dem Selbstkontrolltraining „Suchtprävention inklusiv (SUPi)“ zu schließen. SUPi geht neue Wege im Hinblick auf Inklusion und Partizipation und ermöglicht den Menschen den Zugang zur Suchtprävention in Form eines bundesweit einmaligen Gruppenangebotes. Eine innovative, zielgruppenadäquate Wirkungsevaluation durch die Hochschule Emden/Leer begleitet die Teilnehmenden und Trainer:innen im Trainingsprozess.

    Problemhintergrund

    Anforderungen aus Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention

    Die Anerkennung und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sowie die damit einhergehende Inklusion stärkten die Position von Menschen mit Beeinträchtigung. Die Kernpunkte Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Teilhabe sollen umgesetzt werden (BMAS 2011). Erklärtes Ziel dieser Konvention ist die „gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben“ (ebd. S. 10). Im März 2009 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Infolgedessen ist sie verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen Zugang zu Gesundheitsdiensten und gesundheitlicher Rehabilitation erhalten (BMAS 2011).
    Auch das im Jahr 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) verfolgt das Ziel, die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft [für Menschen mit Beeinträchtigungen] zu fördern“ (§ 1 SGB IX) und Benachteiligungen für diesen Personenkreis zu vermeiden. Gemäß § 118 SGB IX des BTHG sollen sich die Instrumente zur Bedarfsermittlung an der ICF orientieren. Dies legt bundesweit die Grundlage für das bio-psycho-soziale Modell sowie für ethische Leitlinien im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen fest (BMAS 2023).

    Anforderungen aus Sicht des Präventionsgesetzes

    Am 18. Juni 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz, PrävG). Ziel dieses Gesetzes ist es, der Prävention in unserer Gesellschaft einen angemessenen Stellenwert zuzuweisen. Der Gesetzesansatz beinhaltet die Unterstützung aller Menschen, gesundheitsförderliche Lebensweisen in ihren individuellen Lebensumgebungen zu entwickeln und im täglichen Leben umzusetzen (BMG 2023). Insbesondere in der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zeigt sich, dass diese Forderung bisher schwierig umzusetzen ist. Zielgruppenadäquate Angebote in Form eines Gruppentrainings zur Suchtprävention gibt es derzeit nicht (Feldmann 2020).

    Anforderungen aus Sicht der Gesundheitspolitik

    Die zunehmende Verselbstständigung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führt neben individuellen Herausforderungen zu veränderten, ambulanten Wohnformen in der Behindertenhilfe. Aufgrund der Intelligenzminderung kann dies zu Problemen im Konsumverhalten führen, da der Konsum nicht realistisch eingeschätzt werden kann und die Selbstreflexion nur eingeschränkt möglich ist (Feldmann 2020; Sandfort 2022). Insbesondere im Bereich der Prävention müssen Instrumente entwickelt und angewendet werden, um diese spezielle Zielgruppe, ebenso wie alle anderen Bürger:innen, zu befähigen, ihren Konsum frühzeitig zu überprüfen. Es herrscht ein akuter Mangel an entsprechenden Angeboten, der – sofern er nicht behoben wird – zu einem Anstieg der Zahl suchtmittelabhängiger Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führen könnte (Jung/Nachtigal 2018).

    Studienlage

    Laut dem Bundesministerium für Gesundheit existieren auf Bundesebene keine Studien zu den Prävalenzen des Suchtmittelkonsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Verfügbare Informationen basieren auf regionalen Untersuchungen, die nahelegen, dass der missbräuchliche oder problematische Suchtmittelkonsum in dieser Zielgruppe ähnlich ausgeprägt ist wie in der restlichen Gesellschaft (BMG 2017).

    Im Rahmen des Modellprojektes „Vollerhebung Sucht und geistige Behinderung in NRW“ wurde im Jahr 2011 eine Umfrage unter Mitarbeiter:innen in Einrichtungen für Behinderten- und Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Ziel war es, valide Aussagen über den Suchtmittelkonsum bei erwachsenen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu erhalten. Zwei Drittel der Befragten (66,7 %; N=780) gaben an, dass aufgrund von riskantem oder abhängigem Substanzkonsum Probleme in der jeweiligen Einrichtung aufgetreten seien. Die Häufigkeit des problematischen Substanzkonsums bei den Betreuten wurde wie folgt eingeschätzt (Kretschmann-Weelink 2013):

    1. Nikotinkonsum: 32,5 %,
    2. Alkoholkonsum: 15,7 %,
    3. verhaltensbezogene Störungen (insbesondere Computerspiele): 14,2 %

    Im Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurde 2019 eine regionale Bedarfsanalyse im nördlichen Emsland durchgeführt. Mitarbeiter:innen einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen (St. Lukas Papenburg) wurden zur Substanznutzung der Betreuten befragt (N=506). Drei Viertel (76 %) betrachteten es als wichtig, sich mit dem Thema des problematischen Konsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu befassen. Bei 21,8 % der Betreuten wird der Konsum von Suchtmitteln als problematisch eingestuft. Es ergab sich folgendes Ranking der von den Betreuten konsumierten Suchtmittel (Feldmann et al. 2020):

    1. Nikotin (53,3 %)
    2. Alkohol (27,3 %)
    3. Computer-/Handynutzung (20,9 %)
    4. Cannabis (5,9 %)
    5. Glücksspiel (3,7 %)
    6. Sonstige Drogen (7,0 %)

    Das Trainingsprogramm SUPi

    Die Zielgruppe: Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Zielgruppe des SUPi-Angebotes sind Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Erwachsenenalter, die durch Angebote der kooperierenden Einrichtungen unterstützt werden. Über diese Einrichtungen erfolgt zugleich der Zugang zur Zielgruppe. Ein wichtiges Kriterium ist eine mögliche Auffälligkeit im Konsumverhalten (Feldmann 2020).

    Unter „geistiger Beeinträchtigung“ ist ein andauernder Zustand zu verstehen, der durch deutlich unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten und die damit verbundenen Einschränkungen des affektiven Verhaltens gekennzeichnet ist (Theunissen 2011). Diese Beeinträchtigung kann sich auf die intellektuelle Entwicklung, die Lernfähigkeit und die allgemeine Lebensführung auswirken. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben unterschiedliche Grade von Einschränkungen in der kognitiven Funktionalität. Ihre Fähigkeit, Informationen zu verstehen, zu verarbeiten und zu kommunizieren, wird dadurch unterschiedlich stark beeinflusst. In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird diese Erkrankung als „Intelligenzminderung“ (F70-79) klassifiziert.

    Vorerfahrung des Caritasverbandes für den Landkreis Emsland

     Im Rahmen des Projektes „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurden in Kooperation mit St. Lukas Papenburg Maßnahmen entwickelt, die als Grundlage zur Förderung der Gesundheit der benannten Zielgruppe dienen können sollten. Ein Baustein war das Selbstkontrolltraining „SKOLL“, welches nach § 20 SGB V als Leistung der Primären Prävention und Gesundheitsförderung anerkannt ist. In der Umsetzung stellte sich heraus, dass das bestehende Trainingsmanual aufgrund der Beeinträchtigungen der Zielgruppe nicht zum Einsatz kommen kann (Feldmann 2020).

    Besondere Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Das SUPi-Training wurde entwickelt, um den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gerecht zu werden. Dabei wurde besonders darauf geachtet, die Inhalte an die individuellen Erfahrungen und die Lebenswelt der Teilnehmenden anzupassen (Moisl 2017). Die eingesetzten Materialien sind in Leichter Sprache verfasst und auf die kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmenden abgestimmt. Die Leichte Sprache ist eine spezielle Form der sprachlichen Darstellung, um Informationen barrierefrei verständlich und zugänglich zu machen. Komplizierte Grammatikstrukturen werden reduziert und einfache Wörter anstelle von Fachbegriffen verwendet. Zudem werden unterstützende visuelle Elemente wie Symbole und Zeichnungen auf Arbeitsblättern eingesetzt, um die relevanten Inhalte zu vermitteln (Ahlers et al. 2023).

    Um bestmöglich auf die Zielgruppe einzugehen, wird das Training von Tandems ausgebildeter Fachkräfte aus der Sucht- und Behindertenhilfe durchgeführt. Beide Bereiche bringen spezifisches Fachwissen mit: Die Suchthilfe bietet Kenntnisse über Suchtprävention und Suchtbehandlung, während die Behindertenhilfe sich auf die Bedürfnisse und Unterstützung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung spezialisiert hat. Die Kombination dieser Hilfesysteme stellt sicher, dass die Zielgruppe bei ihrer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung im Hinblick auf einen gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtmitteln optimal begleitet und unterstützt wird (Feldmann 2020).

    Der SUPi-Aufbau

    Das SUPi-Training zielt darauf ab, zu einem gesundheitsbewussten Umgang mit den von den Teilnehmenden genannten Suchtmitteln zu motivieren. Es besteht aus zwölf wöchentlichen Sitzungen. In den 90-minütigen Kurseinheiten werden verschiedene didaktische Methoden und Materialien eingesetzt, um wiederholt über die Auswirkungen des Konsums zu informieren und das Wissen darüber zu vertiefen. Durch dieses Vorgehen sollen sich die Teilnehmenden Informationen besser aneignen können (Sandfort 2022) und ein tieferes Verständnis für den eigenen Konsum, insbesondere von Alkohol und Tabak, erlangen. Die Teilnehmenden erhalten während des Trainings Hilfestellung für die Entwicklung individueller Strategien, mit denen sie ihren Konsum reduzieren und ihre Impulskontrolle verbessern können (Feldmann 2020; Ahlers et al. 2023).

    Es wird ein individueller Plan erstellt, in dem jedes Gruppenmitglied sein persönliches Ziel festlegt. Dieser Plan erfasst den aktuellen Status, den die Teilnehmenden verändern möchten, und formuliert einen angestrebten Zielzustand. Um diese Ziele zu erreichen, werden Strategien zur Umsetzung mit den durchführenden Fachkräften besprochen (Ahlers et al. 2023). Die Trainer:innen stehen den Gruppenmitgliedern während des Umsetzungsprozesses ihrer Ziele kontinuierlich unterstützend zur Seite (Feldmann 2020). Folgende Übersicht zeigt die inhaltlich aufeinander aufbauenden Kurseinheiten (Abb. 1).

    Abb. 1: SUPi-Kurseinheiten. Eigene Darstellung.

    Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung

    Es wird eine Zertifizierung des SUPi-Trainings als qualitativ hochwertige Präventionsmaßnahme durch die Zentrale Prüfstelle Prävention sowie die Aufnahme in die Grüne Liste Prävention angestrebt. Dies dient dem übergeordneten Interesse, dass Krankenkassen das Training gemäß § 20 SGB V in ihr Leistungsangebot aufnehmen und damit die Implementierung in weiteren Einrichtungen erleichtern. Voraussetzung für die Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung ist der wissenschaftliche Wirkungsnachweis (Feldmann 2020).

    Wirkungsevaluation

    Die wissenschaftliche Wirkungsevaluation erfolgt durch das Team der Hochschule Emden/Leer unter der Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking und wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Ziel ist es festzustellen, ob das SUPi-Training den Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht wird, zu einer positiven Veränderung im Konsumverhalten der Teilnehmenden führt und damit einen nachweislichen Beitrag zur Suchtprävention bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leisten kann. Insbesondere Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen werden durch Vorher-Nachher-Messungen (Döring/Bortz 2016) überprüft. Die quantitative Befragung der Studieneilnehmenden erfolgt zu drei Messzeitpunkten mit identischen Fragen, um Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Zeitverlauf herstellen zu können: Mithilfe eines standardisierten Fragebogens in Leichter Sprache wird der Zustand der Trainingseilnehmenden (Interventionsgruppe) vor Beginn des Trainings (T1) erfasst. Die Ausgangssituation beleuchtet das Wissen und die Einstellung in Bezug auf den Suchtmittelkonsum sowie das Konsumverhalten der Zielgruppe vor der Intervention. Es schließen sich zwei weitere Befragungen, unmittelbar nach Trainingsabschluss (T2) und drei Monate nach Trainingsabschluss (T3), an. Durch diese strukturierten Messungen werden Langzeiteffekte des SUPi-Trainings dargestellt. Den Ergebnissen der Interventionsgruppe werden Ergebnisse einer Kontrollgruppe gegenübergestellt, die ebenfalls zu drei Messzeitpunkten mit einem zeitlichen Abstand von drei Monaten den identischen Fragebogen beantwortet.

    Herausforderung

    Unter Berücksichtigung der Möglichkeiten und Einschränkungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mussten die wissenschaftlichen Anforderungen spezifiziert werden – sowohl methodisch als auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung. Die Evaluation stellt sich damit der Herausforderung eines simplifizierenden Verfahrens mit dem gleichzeitigen Ziel, valide Daten zu generieren, die den Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention (GKV Spitzenverband 2022) und der Grünen Liste Prävention (Groeger-Roth/Hasenpusch 2011) entsprechen. Vor diesem Hintergrund wurden die Erhebungsinstrumente partizipativ, unter Einbezug der Zielgruppe, entwickelt.

    Methode: Partizipative Evaluation

    Die partizipative Evaluation zeichnet sich durch die aktive Einbindung aller am Projekt beteiligten Personen von Anfang bis Ende des Evaluationsprozesses aus (Hartung et al. 2020). Dieses Vorgehen erfordert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen, den Fachkräften und den Projektverantwortlichen. In den einzelnen Kurseinheiten wurden in enger Abstimmung von Wissenschaft und Praxis kompetenzorientierte Ziele gesetzt.

    Fragebogenentwicklung

    Die Fragen wurden in Anlehnung an standardisierte Formulierungen aus Studien aus der Sucht- und Präventionsforschung ausgestaltet. Inhalte aus validierten Studien wurden mit den kompetenzorientierten Zielen der SUPi-Kurseinheiten abgeglichen. Um ein zielgruppenadäquates Messinstrument zu entwickeln, wurde der Fragenpool reduziert. Durch dieses Vorgehen sollte die Beantwortung für die Zielgruppe erleichtert sowie Demotivierung und Überforderung vermieden werden.

    Der Fragebogen wurde in Leichte Sprache transferiert, ohne von der inhaltlichen Bedeutung abzuweichen. Anstelle von fachspezifischen Begriffen fanden einfache Wörter Anwendung. Lange Sätze wurden in verständliche Abschnitte unterteilt. Der Fragebogen wurde durch das Büro für Leichte Sprache (Andreaswerk Vechta) zertifiziert. Zusätzlich wurde die Formatierung des Fragebogens durch klare, sich wiederholende Strukturen und eine große, deutliche Schrift vereinfacht. Farbliche Hervorhebungen von Rot bis Grün und visuelle Elemente verdeutlichen den Inhalt der Fragen und Antworten und erleichtern die Orientierung bei der Beantwortung. Die Praxistauglichkeit des Fragebogens wurde in einem Pretest mit neun Personen aus der Zielgruppe auf Verständlichkeit, Akzeptanz und Durchführbarkeit überprüft. Der Pretest bestätigte die Angemessenheit des Fragebogens für die Zielgruppe.

    Durchführung der Befragung

    Aufgrund der kognitiven Einschränkung der Zielgruppe liegt eine weitere Herausforderung in der Evaluationsdurchführung. Es bedarf einer besonderen Beziehungsgestaltung, um bestehende Ängste hinsichtlich einer schriftlichen Befragung abzubauen. Über diesen Zugangsweg gelingt es, die Bereitschaft der Betroffenen zur Mitarbeit zu fördern.

    Die Teilnahme an der Evaluation erfolgt auf freiwilliger Basis. Um eine freiwillige Entscheidung zu gewährleisten, ist die hinreichende barrierefreie Aufklärung der Studienteilnehmenden über die Evaluationsziele, die Freiwilligkeit an der Teilnahme und die Sicherstellung der Anonymität entscheidend. Potenzielle Studienteilnehmende werden dazu befähigt, sich anhand der dargestellten Informationen autonom und selbstbestimmt für bzw. gegen eine Teilnahme zu entscheiden.

    Aussagemöglichkeiten

    Für die Wirkungsevaluation sollen unter Berücksichtigung der Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention sowie der Grünen Liste insgesamt 50 Personen für die freiwillige Teilnahme an dem SUPi-Training gewonnen werden. Bis April 2024 wurden 44 Personen mit geistiger Beeinträchtigung in das SUPi-Training involviert. Weitere 40 Personen bilden die Kontrollgruppe.

    Durch fortlaufende Akquisetätigkeiten der kooperierenden Einrichtungen, darunter St. Lukas in Papenburg, das Christophorus-Werk in Lingen und das St. Vitus-Werk in Meppen, wird erwartet, dass im zweiten Quartal 2024 die angestrebte Stichprobengröße von je 50 Teilnehmenden in der Interventions- und Kontrollgruppe erreicht werden kann. Die darauffolgende Analyse lenkt den Fokus, neben der Überprüfung der persönlichen Zielerreichung, auf folgende Rubriken (Abb. 2):

    Abb. 2: Bestandteile der Wirkungsanalyse. Eigene Darstellung.

    Die Wirkungsevaluation involviert zudem die SUPi-Trainer:innen, die mithilfe kursbegleitender Fragebögen dokumentieren, welche Gruppeninhalte erarbeitet und welche kompetenzorientierten Ziele erreicht wurden. Zudem bewerten sie die eingesetzten Materialien und Hilfsmittel sowie die Motivation und Gruppendynamik pro Kurseinheit. Es ist zu erwarten, dass diese umfassenden Bewertungen der einzelnen Kurseinheiten dazu beitragen, erfolgreiche Einheiten, effektive Kursmaterialien und bedarfsgerechte pädagogische Methoden für die Zielgruppe zu identifizieren. So lassen sich jene Faktoren erkennen, die besonders förderlich für das Training sind. Gleichzeitig werden Einblicke in Bereiche ermöglicht, in denen das SUPi-Training Verbesserungspotenzial aufweist. So dient diese Analyse dazu, sowohl Stärken als auch Schwächen des Trainings zu erkennen und dieses gezielt weiterzuentwickeln.

    Diskussion und Ausblick

    Im vierten Quartal 2024 sollen repräsentative Aussagen über die Wirksamkeit des SUPi-Trainings bezüglich des Wissens, der Einstellung und des Verhaltens der Teilnehmenden in Bezug auf den Konsum von Suchtmitteln sowie über die Kursdynamik und das verwendete Trainingsmaterial vorliegen.

    Das SUPi-Training trägt das Potenzial, eine bedeutende Versorgungslücke in der Suchtprävention zu schließen. Durch seine Implementierung soll eine maßgeschneiderte Intervention für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bereitgestellt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten dieser Personengruppe berücksichtigt. Dies gilt es, durch die Wirkungsanalysen zum SUPi-Training nachzuweisen. Gelingt dies, soll die Anerkennung des Trainings seitens der Krankenkassen und die Aufnahme in die Grüne Liste zu einer bundesweiten Verbreitung und damit zur besseren Versorgung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung beitragen.

    Kontakt:

    Julia Klinkhamer (M.A.)
    Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
    Hochschule Emden/Leer
    Constantiaplatz 4
    26723 Emden
    julia.klinkhamer(at)hs-emden-leer.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Wirkungsevaluation des Selbstkontrolltrainings SUPi – Suchtprävention – inklusiv für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung“ (2022-2024).
    Julia Klinkhamer (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer und Geschäftsführerin der Firma PRINOR Statistik.

    Literatur
    • Ahlers, L./Clavée, M./Hopster, T. (2023): Konzept SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2011): Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2023): Bundesteilhabegesetz (BTHG). Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2017): Richtlinie zur Förderung von Forschung auf dem Gebiet „Geistige Behinderung und problematischer Substanzkonsum“. Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2023): Präventionsgesetz (PrävG). Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/praevg.html (06.12.2023).
    • Döring, N./Bortz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. 5. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer Verlag.
    • Feldmann, M. (2020): Konzept zur Entwicklung eines Gruppentrainings zum gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtstoffen/ Reduzierung des Alkoholkonsums für erwachsene Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Feldmann, M./Veld, M./Schomaker, K./Speller, B. (2020): Abschlussbericht zum Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Papenburg.
    • GKV Spitzenverband (2022): Kriterien zur Zertifizierung von Kursangeboten in der individuellen verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Abs. 4 Nr. 1 SGB V, Stand 22.11.2023. Online verfügbar unter: https://www.zentrale-pruefstelle-praevention.de/wp-content/uploads/2023/11/20231122_Leitfaden_Praev_Kap_5_Kritierien_zur_Zertifizierung.pdf   (17.04.2024)
    • Groeger-Roth, F./Hasenpusch, B. (2011): Grüne Liste Prävention. Auswahl und Bewertungskriterien für die CTC Programm-Datenbank. Landespräventionsrat Niedersachsen. Fassung v. 01.11.2011. Online verfügbar unter: https://www.gruene-liste-praevention.de/communities-that-care/Media/_Grne_Liste_Kriterien.pdf (17.04.2024)
    • Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (2020): Partizipative Forschung – ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. In: Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (Hrsg.): Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.
    • Jung, F./Nachtigal, P. (2018): Suchtselbsthilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Praxisbericht. Bremen.
    • Kretschmann-Weelink, M. (2013): Prävalenz von Suchtmittelkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen. Gevelsberg.
    • Moisl, D. (2017): Methoden zur Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung. Public Health Forum, 25(4), 312-323. https://doi.org/10.1515/pubhef-2017-0051
    • Sandfort, G. (2022): SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für die Diözese Osnabrück. Osnabrück.
    • Theunissen, G. (2011): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Lehrbuch für die Schule, Heilpädagogik und außerschulische Behindertenhilfe. 4. Auflage, Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB.
    • Tielking, K./Rabes, M. (2022): Niedersächsisches Suchtpräventionskonzept. Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Hannover.
  • BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    Stefan Bürkle

    Seit der Verkündung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 29.12.2016 tritt stufenweise bis 2023 ein neues Reha- und Teilhaberecht in Kraft. Die Umsetzung der jeweils in Kraft getretenen Teilbereiche des BTHG ist sehr komplex und mit vielen Veränderungen verbunden.

    Die Komplexität des Vorhabens entspringt u. a. der Idee des radikal geänderten Hilfeansatzes, der die Partizipation Betroffener und die personenzentrierte und individualisierte Leistungserbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe in den Mittelpunkt stellt. Damit verbunden sind eine grundlegende Veränderung der Haltung in der Leistungserbringung sowie weitreichende gesetzliche Neuregelungen, die sich deutlich auf das Leben der Hilfebedürftigen und die Praxis der Leistungserbringung auswirken.

    Die Besonderheit des Bundesteilhabegesetzes ist auch in seiner Anlage begründet: Es ist ein Artikelgesetz bzw. Gesetzgebungsverfahren, durch das Regelungen in verschiedenen bestehenden Sozialgesetzbüchern und weiteren Gesetzen verändert werden. Zudem tritt das Bundesteilhabegesetz zeitversetzt in Teilen in Kraft, so dass die Umsetzung einen prozesshaften Charakter erhält und die Ergebnisse im Vorfeld nicht endgültig bestimmbar sind. Das zeigt sich beispielsweise in der Neugestaltung des Zugangs zur Eingliederungshilfe und der damit verbundenen Frage nach dem leistungsberechtigten Personenkreis, dessen Neubestimmung erst zum 01.01.2023 in Kraft tritt.

    Der prozesshafte Charakter zeigt sich in den derzeit noch nicht vollständig absehbaren Auswirkungen für Betroffene und Leistungserbringer durch die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen, die zum 01.01.2020 in Kraft treten soll. Deutlich wird er auch bei der Umsetzung eines trägerübergreifenden Teilhabeplans zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft, wenn verschiedene Leistungsgruppen oder mehrere Rehabilitationsträger an der Hilfeleistung beteiligt sind, und bei der Einführung eines Gesamtplanverfahrens in der Eingliederungshilfe. Beide Regelungen sind bereits seit dem 01.01.2018 in Kraft. Damit sind einige Bereiche benannt, in denen das BTHG Auswirkungen insbesondere für suchtkranke Menschen und Einrichtungen der Suchthilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe hat.

    Ziel dieses Artikels ist eine Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz der sukzessiven Umsetzung des BTHG im Bereich der Suchthilfe. Hierzu haben wir bundesweit Praktiker*innen mit demselben Fragenkatalog nach ihrer Einschätzung gefragt. Die Fragen lauteten:

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?
    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?

    Auch ein Vertreter eines Leistungsträgers hat aus seiner Sicht eine Zwischenbilanz gezogen. Sein Statement findet sich am Ende des Artikels.

    Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf www.partnerschaftlich.org. Dort sind unter dem Titel „Das Bundesteilhabegesetz im Blick: Partizipation abhängigkeitskranker Menschen per Gesetz?!“ die Beiträge des gleichnamigen Fachtags aus dem Oktober 2019 und weitere Fachartikel erschienen.

    Stefan Bürkle, Geschäftsführer Caritas Suchthilfe (CaSu), Mitglied im Fachbeirat KONTUREN online

    Antworten der Expert*innen zum Fragenkatalog

    Janina Tessloff

    Janina Tessloff

    Geschäftsführung Therapiehilfe Bremen gGmbH, Bremen

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?.
    Das BTHG hat zum Ziel, Menschen mit Beeinträchtigungen so weit als möglich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen und sie zu befähigen, mit dem richtigen Maß an Unterstützung für die eigenen Belange selbst eintreten zu können. Suchthilfe hat sich von jeher mit den Themen Autonomie und Abhängigkeit auseinanderzusetzen. Daher ergeben sich für die inhaltliche Arbeit zunächst einmal wenige Veränderungen.
    Der Assistenzbegriff wird den Betreuungsbegriff ablösen. Damit müssen sich die Fachkräfte auseinandersetzen und ihre Haltungen hinterfragen. Im Bereich Verwaltung ergibt sich zukünftig weitgehend Mehrarbeit, siehe Pkt.3. Die Vorbereitung auf die Umstellung im Jahr 2020 bindet im Vorfeld sehr viel Energie und Arbeitszeit.

    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Das Zugrundelegen der ICF-Kriterien und ‑Kodierungen bietet eine hervorragende Grundlage für Diagnostik sowie Ziel- und Maßnahmeplanung. In der vorgeschalteten Teilhabeplanung kommen die unterschiedlichen Akteur*innen der Hilfeplanung an einen Tisch (EGH, Reha, Berufsförderung etc.). Damit ist ein passgenaueres Angebot möglich.
    Die Themen „Verantwortung“, „mündige*r Bürger*in“ etc. bekommen ein größeres Gewicht, was im Assistenzprozess von Nutzen sein kann.

    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Insbesondere die vormals stationären Einrichtungen werden ab 2020 ein weitaus größeres Risiko in der Gegenfinanzierung haben als noch heute: Die bisher im Kostensatz eingepreisten (und für die Klienten bis dato selbstverständliche) Leistungen sind nun direkt von den Klient*innen zu zahlen, was zu Verwerfungen im Alltag führen kann. Dies führt in der Verwaltung zu einem höheren Aufwand in Buchhaltung und Mahnwesen, in der Einrichtung direkt zu einem höheren Kontrollaufwand. Betreuer*innen bekommen dadurch eine erweiterte Rolle, indem sie kontrollieren müssen, ob der/die Klient*in auch bezahlt hat, was er/sie bekommt. Dieser neue Kontrollbedarf könnte sich negativ auf den Aufbau einer betreuerischen und bindenden Beziehung auswirken. Klient*innen bekommen durch ihr Mietverhältnis eine andere Rolle als Mieter*in, was u. U. zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen kann.

    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    Die Verwaltung hat einen erheblich höheren Aufwand (siehe Pkt.3). Mitarbeitende erfahren eine Veränderung in ihrer Rolle und müssen sich mit Anforderungen der Assistenz und den veränderten Bedingungen in der Gesamt- und Teilhabeplanung auseinandersetzen und neu finden.

    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?
    Natürlich werden die Verwaltungsprozesse entsprechend aufgestellt, die Verträge entsprechend der Vorgaben neu gefasst. In Bezug auf die Mitarbeitenden laufen schon seit längerem Schulungen und Informationsveranstaltungen zu den Themen ICF und BTHG. Bewohner*innen werden informiert und auf die sie betreffenden Veränderungen vorbereitet.

    Rodger Mahnke

    Rodger Mahnke

    Einrichtungsleitung Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Facheinrichtung für Suchterkrankungen, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg

    1. Zunächst ist das ganze Vorhaben ja noch Theorie. Aktuell sind Leistungserbringer und Leistungsträger mit der Erarbeitung der Handlungsstrukturen beschäftigt – in sehr unterschiedlicher Qualität und mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Auswirkungen aktuell sind eher Verunsicherung und Sorge um die Erträge und Arbeitsabläufe.

    2. Den Nutzen haben wir noch nicht erkannt.

    3. Die bisherige Finanzierung über einen Pflegesatz wird im Bereich der Eingliederungshilfe auf drei Kostenpositionen aufgeteilt, die von jeweils unterschiedlichen Leistungsträgern bedient werden. Das führt zu einem erheblichen Mehraufwand in der Verwaltung in den Einrichtungen, der sich dadurch noch steigert, dass die Betreuungszeiten mit ca. drei Monaten sehr kurz sind. Darüber hinaus wird die Realisation der Einnahmen für Lebensunterhaltsleistungen und Wohnen auf die Leistungserbringer übertragen – mit allen Risiken im Verhältnis zu den betreuten Klient*innen.

    4. Es ist ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand mit der entsprechenden Personalressource umzusetzen bei nur geringer Bereitschaft zu einer Gegenfinanzierung durch den Leistungsträger. Dadurch müssen in den Einrichtungen Personalressourcen von der sozialtherapeutischen Betreuung in den Verwaltungsbereich verlagert werden. Das hat Auswirkungen auf die Betreuungsqualität.

    5. Wir erarbeiten neue Prozesse für die Abwicklung der Leistungserbringung und des Vertragswesens mit den Klient*innen. Wir schulen das Personal für diese neuen Prozesse. Wir erproben die neuen Prozesse mit Leistungsträgern und Klient*innen.

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Fachabteilungsleitung stationäre und ambulante Eingliederungshilfe, STEP gGmbH, Hannover

    1. Erste Auswirkungen sind spürbar. Es gibt inzwischen in Niedersachsen eine geregelte und fundierte Bedarfsfeststellung für Leistungsnehmer*innen. Die Anwendung der Bedarfsermittlung Niedersachen (B.E.Ni) ist regional unterschiedlich. In Hannover und der Region ist sie eingeführter Standard. Bei den örtlichen Sozialhilfeträgern anderer Landkreise und Kommunen hat sich das Instrument noch nicht umfänglich durchgesetzt.
    Aufgrund der Veränderungen im Beantragungsprozess zeigt sich unsere Klientel – nach unseren Beobachtungen – vielfach verunsichert. Im Vorfeld der Bedarfsermittlungsgespräche ist es daher sinnvoll, die Leistungsnehmer*innen auf das neue Verfahren gut vorzubereiten. Bei der ambulanten Eingliederungshilfe und den Einrichtungen für besondere Wohnformen sind derzeit überall dort, wo B.E.Ni angewendet wird, die Bearbeitungszeiträume ab Beantragung einer Leistung deutlich länger. Dieses gilt für alle Einrichtungstypen. Dauerte es früher vier bis sechs Wochen, bis Leistungsnehmende ihren „Bescheid“ bekamen, liegen die Fristen derzeit bei drei bis sechs Monaten. Dies ist auf die umfassende Befragung und Prüfung zurückzuführen.

    2. Vorweg und deutlich formuliert: Das BTHG bringt Vorteile für betroffene Menschen – um ein Anrecht auf Eingliederungshilfe zu bekommen, müssen suchtkranke Menschen mit Behinderungen künftig nicht mehr mittellos sein, da die Einkommens- und Vermögensfreibeträge sowie der Schonbetrag für Barvermögen für Bezieher von SGB XII-Leistungen deutlich angehoben wurden.
    Die Selbstbestimmungsfreiräume für Leistungsnehmende werden deutlich gestärkt. Ihre persönlichen Ziele finden umfassende Beachtung. Individuelle Unterstützungs- und Hilfsangebote, die auf die jeweilige Situation der von Sucht betroffenen Menschen passen, rücken deutlicher in den Vordergrund. Gut ist auch, dass ein neuer und moderner Beeinträchtigungsbegriff eingeführt wurde, der sich am biopsychosozialen Modell des ICF orientiert. Funktionale Beeinträchtigungen werden nicht mehr als Eigenschaft oder Defizit, sondern im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen betrachtet.
    Auch für unsere Mitarbeiter*innen eröffnet das BTHG neue Möglichkeiten. Die verschiedenen Bedürfnisse unserer Klient*innen suchen ihre Spiegelung in noch individualisierteren Einrichtungsangeboten. Das ist eine Chance für positive Veränderungen und zugleich eine konzeptionelle Herausforderung.

    3. Menschen mit einer Suchterkrankung sind häufig in ihrem Wirkungskreis massiv eingeschränkt. Ohne Unterstützung bewältigen sie das notwendige Verfahren oft nicht. Für die Umsetzung des BTHG brauchen sie eine intensive Begleitung und die entsprechende Beziehungsarbeit durch Dritte, um Leistungen des BTHG überhaupt abrufen zu können.
    Dieses Unterstützungssystem ist jedoch meistens nicht vorhanden bzw. für potentielle Leistungserbringende nicht gegenfinanziert. Leistungen, auf die grundsätzlich Anspruch bestünde, werden daher noch zu häufig nicht wahrgenommen.
    Die institutionell seit 2017 neu eingerichtete „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ wird von unseren Leistungsnehmenden nach unseren Erkenntnissen bisher kaum genutzt und ist im Umkreis der Suchthilfe nur wenig bekannt.

    4. Für die Einrichtungen der Suchthilfe stehen zukünftig die personenzentrierte Ausrichtung und die ganzheitliche Bedarfsermittlung, Planung, Steuerung, Dokumentation sowie Wirkungskontrolle im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Umsetzung des BTHG für uns als Leistungserbringer eine große Herausforderung dar. Es entsteht ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand. Dieser beinhaltet den Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge mit den Bewohner*innen und die zukünftige Erstellung von Nebenkostenabrechnungen.
    Eines ist bereits jetzt klar: Träger in der Eingliederungshilfe müssen künftig noch mehr als bisher ihr Profil als Dienstleister schärfen. Das heißt, mit einer diversifizierten Angebotsvielfalt aufwarten, so dass für Leistungsnehmende die Versprechungen des BTHG greifbar werden. Bisherige Arbeitsroutinen innerhalb unserer Einrichtungen werden momentan aufgelöst. Denn aktuell sind amtliche Zuständigkeiten und anzuwendende Verfahren oftmals intransparent. Bewährte Abläufe werden erschwert oder kommen zum Stillstand. Die Veränderungen im Antragsverfahren und bei den Leistungsnachweisen fordern von unseren Mitarbeiter*innen Verständnis und Geduld. Um die organisatorischen Herausforderungen zu bewältigen und wirtschaftliche Risiken für uns als Träger auszuschließen, ist ein enger Austausch zwischen allen Beteiligten derzeit das Wichtigste. Wir spüren deutlich das gemeinsame Ringen um konstruktive Lösungen in Umsetzungsfragen. Das gilt für Leistungserbringer und Leistungsträger gleichermaßen.

    5. In Niedersachsen konnte inzwischen eine Übergangsregelung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vereinbart werden, so dass hier für die nächsten zwei Jahre Rechtssicherheit besteht. Folgende Schritte sind momentan zu bearbeiten und zu beachten:

    1. Aufgrund der Systemumstellung (Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen) für besondere Wohnformen ist der Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz erforderlich. Hier werden die Bewohner*innen derzeit von uns umfassend über die Veränderungen informiert.
    2. Bewohner*innen bzw. deren rechtliche Betreuer*innen müssen über ein eigenes Girokonto verfügen, da die Leistungen der Grundsicherung nicht mehr direkt an die besondere Wohnform, sondern an die Bewohner*innen gezahlt werden.
    3. Die Leistungen der Grundsicherung müssen gegebenenfalls genauso wie die Eingliederungshilfeleistungen (Fachleistungen) von unseren Klient*innen für den Zeitraum ab 2020 neu beantragt werden.

    Bei diesen sehr praktischen Schritten unterstützen wir unsere Klient*innen. Trägerintern bauen wir Verwaltungsstrukturen auf, die diese Vorgänge erfassen und sicherstellen, dass alles korrekt und zeitnah umgesetzt werden kann.

    Martina Tranel

    Martina Tranel. Foto©Tranel

    Einrichtungsleitung Theresienhaus Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

    1. Unsere Erfahrungen sind vielfältig: Im Gesamtplanverfahren ist unsere Beteiligung als potentieller Anbieter und Vertrauensperson nicht vorgesehen, so dass der Assessment- und Hilfeplanprozess bei uns „von vorne“ beginnt. „Hilfen wie aus einer Hand“ stelle ich mir anders vor, unsere Vorleistungen in der Suchthilfe durch Beratung und Behandlung der Adressaten werden in diesen Fällen nicht gewürdigt. Wir haben auch bereits erlebt, dass an dieser Schnittstelle Adressaten im System „verloren“ gegangen sind. Besser läuft es dort, wo wir als Experten „rechtzeitig“ beteiligt werden, so dass eine gemeinsame Wissensbasis entsteht und ein wirksamer Leistungsprozess fortgesetzt werden kann.
    Bei der Überprüfung der personenbezogenen Wirksamkeit unserer Leistungen sind die negativen Erfahrungen im Moment noch selten. Eine neue Misstrauenskultur mit Blick auf die Zielerreichung und Wirtschaftlichkeit hat bereits zu Enttäuschung bei Leistungsberechtigten geführt – Enttäuschung dadurch, dass der individuelle, positive Befähigungsprozess nicht gewürdigt wird und die inzwischen vertraute Betreuungsperson wieder „abgezogen“ und z. B. durch einfache Assistenz ersetzt werden soll. Unsere Überzeugung ist, dass die Wirkungskontrolle im Gesamtplanverfahren gegenüber dem Leistungsträger Transparenz und Vertrauen in den Arbeitsprozess herstellen kann. So wird auch der Wert der Sozialen Arbeit besser sichtbar.

    2. Das BTHG steht für personenzentrierte, wirkungsorientierte und vielfältige Leistungen ein. Das entspricht den bereits langjährig angewandten Standards der Suchthilfe in der Prävention, Beratung, Behandlung und Betreuung. Die Beteiligung der Adressat*innen hat in der Suchthilfe eine lange Tradition, auch in der engen Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeverbänden. Die Finanzierung von Leuchtturmprojekten, die später in Regelangebote übergegangen sind, war stets mit erheblichem Einsatz von Trägermitteln verbunden. Es ist zu wünschen, dass mit der Umsetzung des BTHG die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, damit wir weiterhin den individuellen Bedarfslagen und Erwartungen unserer Adressat*innen entsprechende Leistungen anbieten können. Dem steht der haushaltspolitische Anspruch einer Begrenzung der Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe entgegen.

    3. Die ursprüngliche Formulierung des § 99 Personenkreis (so genannte „5 aus 9“-Formel) hätte viele chronisch Suchtkranke von wirksamen Betreuungsleistungen ausgeschlossen. Diese Kuh ist seit der Studie von Prof. Welti und Kollegen hoffentlich vom Eis. Irritiert bin ich über den erheblichen bürokratischen Aufwand und damit verbundene Kosten. Das betrifft sowohl die Erforschung der Wirksamkeit des Artikelgesetzes und dessen Umsetzung. An bestimmten Schnittstellen werden Doppelstrukturen aufgebaut, die eigentlich vermieden werden sollten.
    Die Trennung der Leistungen soll zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen beitragen. Ich bin allerdings skeptisch, welchen Wert das für die Adressaten hat, deren Hilfebedarf beispielsweise im Umgang mit Geld liegt. Was für einen Menschen mit einer Körperbehinderung und der Fähigkeit zum Management diverser Leistungsbestandteile sinnvoll ist, stellt für einen chronisch mehrfach beeinträchtigten Suchtkranken mit Korsakow-Syndrom eine Überforderung dar. Die Nutzer*innen unserer Angebote stellen mir zunehmend die Frage nach dem Sinn des BTHG.
    Die Suchthilfe hat schon immer Gesetzgebung aus der Praxis heraus mitgestaltet. Ich bin überzeugt, dass dieses Engagement auch weiter notwendig ist, damit die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich auch bei den Menschen mit Behinderung ankommt.

    4. Bei unserem ambulanten Betreuungsangebot ändert sich erstmal nichts, hier sind wir bereits seit 2004 „BTHG-konform“ unterwegs und bauen das Angebot weiter aus. Das Konzept der besonderen Wohnform, also das Theresienhaus als Wohnheim mit interner Tagesstruktur, verfügt bereits seit der Gründung über eine Binnendifferenzierung und ermöglicht individuelle Lösungen für individuelle Bedarfe. Statt eines zentralen Leistungsträgers haben wir zukünftig mehrere Stellen, von denen das Geld für unsere gute Arbeit kommt. Diese Umwege sind den Nutzer*innen nur schwer zu vermitteln, da reicht keine einfache Sprache. Die Adressaten haben einen Anspruch auf gesicherte Leistungen und unsere Mitarbeiter*innen auf ihr wohlverdientes Gehalt.

    5. Die Berechnungen der einzelnen Leistungskomponenten liegen vor. Die Nutzer*innen, Betreuer*innen und Heimaufsicht wurden informiert, die neuen Verträge liegen bald vor. Die Grundsicherungsanträge laufen. Das ist ein echter Kraftakt. Ansonsten arbeiten wir wie gewohnt an der Weiterentwicklung unserer Leistungen. Im Bereich Qualitätsmanagement sind wir sehr gut aufgestellt, so dass wir uns hoffentlich bald wieder auf das Kerngeschäft konzentrieren können, die Adressat*innen bei der Erreichung ihrer Ziele zu begleiten.

    Joachim Messer

    Joachim Messer

    Wolfgang-Winckler Haus, Entgiftungsstation und Übergangseinrichtung, Kelkheim-Eppenhain

    1. Das BTHG sowie das Gesetz zur Umsetzung des BTHG in Hessen haben bereits jetzt erhebliche Auswirkungen. Die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen ist für besondere Wohnformen bereits erfolgt. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage der „doppelten Miete“ in Übergangseinrichtungen. Pflegeeinrichtungen, die bisher Vergütungsvereinbarungen mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) hatten, sollen nun mit den Örtlichen Trägern der Sozialhilfe Vereinbarungen abschließen, ohne dass hierfür bei den Kommunen finanzielle Spielräume vorhanden wären.

    2. Der Nutzen liegt vor allem darin, dass eine noch stärkere Personenorientierung realisiert werden muss und damit überholte Vorstellungen hinsichtlich der Rollenzuordnung von betreuter Person und betreuender Person verändert werden müssen

    3. Die Nachteile liegen eindeutig im erhöhten Risiko für die Träger: Nutzungskosten für den Wohnraum und der Verpflegung in besonderen Wohnformen werden voraussichtlich häufiger nicht bezahlt werden. Der vom LWV Hessen anerkannte Mietausfall beträgt zwei Prozent – das ist für die Suchthilfe unrealistisch. Hinsichtlich der Fachleistung gilt das Nettoprinzip. Auch hier werden sich Mindereinnahmen ergeben, die sich de facto als Pflegesatzkürzung auswirken werden.

    4. Wie bereits beschrieben sind einige für die Einrichtungen existenzielle Fragen noch nicht geklärt. In hessischen Übergangseinrichtungen mit hoher Fluktuation wegen der kurzen Aufenthaltsdauer erzwingt das BTHG ein vollständig geändertes Aufnahmeverfahren. Der administrative Aufwand, auch für die Klientel, ist dabei erheblich geworden. Hieraus können sich im Alltag Probleme ergeben. Wir verkaufen künftig im Prinzip Hotelfunktionen und werden vermutlich damit auch anders wahrgenommen.

    5. Wir haben alle notwendigen Formulare und Verträge entwickelt und können intern die notwendigen Prozesse ab 01.01.2020 umsetzen. Es bleiben die oben erwähnten Unsicherheiten, die im Wesentlichen juristischer Natur sind, und da es juristisches Neuland ist, gilt: zwei Juristen – drei Meinungen! Es steht zu befürchten, dass wir sehr viel öfter über Geld reden müssen und sich damit der Charakter des Beziehungsangebotes ändert.

    Jürgen Häuser

    Jürgen Häuser

    Einrichtungsleitung Haus im Niederfeld und Haus Kleyerstraße, Darmstadt

    1. Für die Bewohner unserer stationären Einrichtung sind bisher kaum Auswirkungen erkennbar. Lediglich die Eröffnungen eigener Bankkonten sind erste Anzeichen der anstehenden Veränderungen. Für uns als Träger hingegen wächst die Anspannung, da wir vermehrt Anfragen von gesetzlichen Betreuern nach Mietbescheinigungen erhalten, die für die Anträge auf KdU (Kosten der Unterkunft und Heizung) beim örtlichen Sozialhilfeträger benötigt werden. Diese konnten wir jedoch bisher nicht ausstellen, da sich auf Kostenträgerseite die notwendigen Vorarbeiten zeitlich verzögert haben.

    2. Für den Bereich, für welchen ich Verantwortung trage, eine soziotherapeutische Einrichtung für chronisch mehrfach beeinträchtigte suchtkranke Frauen und Männer, fällt es mir ehrlich gesagt schwer, einen Nutzen für unsere Bewohner zu erkennen, und fürchte eine Überforderung. Ich hoffe, ich werde eines besseren belehrt und die Bewohner können von dem Mehr an Selbstbestimmung profitieren.

    3. Bewohner erhalten zukünftig ihre existenzsichernden Leistungen direkt ausbezahlt und begleichen damit die in diesem Bereich erbrachten Leistungen. Nicht jeder ist jedoch in der Lage, mit diesen finanziellen Mitteln angemessen und zweckbestimmt umzugehen. Kommt es zu Forderungsausfällen, wird dies das Verhältnis zwischen uns und dem Bewohner belasten und verändern. Ein produktiver soziotherapeutischer Prozess wäre unter diesen Vorzeichen nur erschwert möglich.
    Ich erwarte ein Zunahme von Verschuldungen der Bewohner, vermehrte Abbrüche und eine Verschiebung der Hilfen in Richtung der Wohnungslosenhilfe.

    4. Für die soziotherapeutischen Einrichtungen als Teil der Eingliederungshilfe wird sich der Verwaltungsaufwand ganz erheblich erhöhen. Es steht zu erwarten, dass es zu Ausfällen bzw. Verzögerungen bei den Kostenerstattungen kommen wird. Insbesondere zu Beginn der Umstellung kann es zu Liquiditätsengpässen kommen. Es ist nicht klar, ob wir alle Qualitäten unseres Angebotes aufrechterhalten können (z. B. unsere eigene Küche).
    Insgesamt wird unser Angebot noch einen stärkeren ambulanten Charakter erhalten. Dies ist für einige unserer Bewohner sicher von Vorteil, für die Mehrzahl jedoch nicht.

    5. Wir besuchen so viele Veranstaltungen zu diesem Thema wie möglich, um alle Informationen und Entwicklungen möglichst frühzeitig zu erhalten. Gleichzeitig haben wir die Bewohner und ihre gesetzlichen Betreuer zeitnah über die anstehenden Veränderungen informiert. Im Bereich der Verwaltung sind wir dabei, zusätzliche Ressourcen aufzubauen. Für die ersten Monate der Umstellung und die dann zu erwartenden Verzögerungen in der Rechnungsbegleichung haben wir finanzielle Rückstellungen gebildet.

    Michael Strotmann

    Michael Strotmann und Bella

    Einrichtungsleitung Soziotherapieverbund Spessart, Partenstein

    1. In meinem Tätigkeitsfeld bemerke ich bereits folgende Auswirkungen durch das BTHG:

    • viel Unsicherheit und Unklarheit bzgl. der praktischen Umsetzung
    • Skepsis bzgl. einer termingerechten Umsetzung zum 01.01.2020 (z. B. in Hessen, wo es keine bayerische Übergangsregelung gibt)
    • einen erheblichen Mehraufwand in der täglichen Arbeit bzgl. Information und Aufklärung von Bewohnern und deren Betreuern sowie Kostenträgern und Wohngeldstellen

    2. Ich sehe folgenden Nutzen des BTHG für die Suchthilfe:

    • Ermöglichung von ggf. neuen finanzierten Arbeitsformen/-bereichen (Budget für Arbeit)
    • im Idealfall Rückerlangung von mehr Selbstachtung und Würde für den Einzelnen

    3. Ich sehe folgende Nachteile des BTHG für die Suchthilfe:

    • Die Möglichkeit zur eigenen Verwaltung von recht hohen Geldsummen verstärkt die Tendenz zur Selbstüberschätzung und unrealistischer Haushaltsplanung.
    • Der Einblick in genauere Kostenstrukturen z. B. bzgl. Unterkunft und Verpflegung kann ein häufig vorhandenes unrealistisches Anspruchsdenken ungut befördern und zu vielen unfruchtbaren Diskussionen in den Einrichtungen führen.
    • Die Möglichkeit zur Auszahlung des gesamten Lebensmittelgeldes und zum möglichen Selbsteinkauf/-versorgung kann sehr negative Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten, die Hygiene und die therapeutische Gemeinschaft haben, die sich auch durch gemeinsame Mahlzeiten ausdrückt.

    4. Folgende Veränderungen ergeben sich für meine Einrichtungen durch das BTHG:

    • ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand aufgrund eines zukünftig nicht mehr alleinigen und einzigen Kostenträgers
    • die Notwendigkeit eines Mahn- und Risikomanagements zum Eingang vereinbarter Monatszahlungen
    • Wohn- und Verpflegungsangebote müssen sich zukünftig noch stärker und regelmäßiger den Wünschen der Bewohner gegenüber verändern und verbessern, da mehr Kostentransparenz und Vergleich möglich ist.

    5. So bereiten wir uns auf die Veränderungen vor:

    • Auf- und Ausbau eines guten Fehler- und Beschwerdemanagements in der Einrichtung
    • Sensibilisieren der Mitarbeiter für die vom Gesetzgeber gewollte Eigenverantwortung und Eigenständigkeit auch von Menschen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung, ohne suchtrelevante Grenzziehungen und Verhaltensspiegelungen zu unterlassen
    • Erarbeitung von neuen Wohn- und Betreuungsverträgen, die sowohl ausreichende Refinanzierung als auch notwendige Handlungsspielräume im täglichen Betreiben einer Einrichtung mit Suchtkranken ermöglichen

    Michael Thiem

    Michael Thiem

    Einrichtungsleitung Laufer Mühle, Geschäftsführung Soziale Betriebe der Laufer Mühle gGmbH, Adelsdorf

    Jede Neuerung bringt Verunsicherung mit sich. So auch im Mitarbeiterteam unserer Einrichtung, in dem wir uns seit geraumer Zeit intensiv mit den Anforderungen des BTHG – und damit auch mit dessen Chancen und Risiken – auseinandersetzen.

    Chancen und Risiken – und damit einhergehend auch Hoffnungen und Ängste – ergeben sich durch die Vorgaben des BTHG in allen therapeutischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und personellen Prozessen und Bereichen. So wird eben auch die Umsetzung weitreichende Auswirkungen und Folgen nicht nur für die Nutzer („Kunden“) haben, sondern auch für die Menschen, die die gesetzlichen Bestimmungen auszuführen haben.

    Die Umsetzung des BTHG wird, blickt man auf die Seite der Mitarbeiter in der Suchthilfe, vor allem auch beschäftigungsrelevante und arbeitskulturelle Bedeutung haben, obwohl dies nicht primäre Absicht, sondern nur die Folge des Gesetzes ist. So werden sich die zu erbringenden „Arbeitsleistungen“ und die „Arbeitsziele“ in wesentlichen Punkten im Arbeitsfeld „soziotherapeutische Suchthilfe“ verändern. Von den Beschäftigten werden dann teilweise andere Arbeitsergebnisse und ‑gewichtungen erwartet, als es bisher gefordert war. Somit bedarf auch die suchttherapeutische (Grund-)Haltung der einzelnen Mitarbeiter einer umfassenden Transformation, da der Mitarbeiter „in Zukunft etwas anderes machen soll, als das, wofür er einmal angetreten ist und wovon er überzeugt war“ (Zitat eines Mitarbeiters).

    Verständlich, dass diese neuen Anforderungen an Mitarbeiter auch Unsicherheiten in Bezug auf den Arbeitsplatzerhalt und auch auf die Bewertung der Arbeitsleistungen, die zukünftig erbracht werden müssen, erzeugen. Dies wurde und wird in der aktuellen Diskussion nicht weiter problematisiert und lässt damit die Menschen, die dieses Gesetz „alltagstauglich“ machen sollen, „außen vor“.

    Soziotherapeutische Einrichtungen der Suchthilfe betrachteten bisher den Heilungserfolg (Rehabilitation und Resozialisation = Überwindung der Krankheit und Etablierung einer Lebenswelt, die das erneute Ausbrechen der Krankheit verhindert) als das Ziel all ihrer therapeutischen/betreuerischen Maßnahmen. Der klassische Handlungsansatz ist/war die „Betreuung“. Betreuung schließt Fürsorge ebenso mit ein wie die Verantwortung für die vorgeschlagene Betreuungsmaßnahme. Der Begriff „Betreuung“ wird nun im BTHG durch „Assistenz“ ersetzt. „Assistenz“ ist die Unterstützung einer Maßnahme, die der Betroffene vorgibt und die durchaus auch einem (vom Betreuer / Angehörigen / Arzt / von der Krankenkasse / der Gesellschaft)  gewünschten Therapieerfolg zuwiderlaufen kann. Der Gesetzgeber hat damit ganz eindeutig die persönliche Wahlfreiheit über das ehemalige Gesundheitsziel gestellt.

    Bisher empfahlen die Mitarbeiter aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrungen den suchtkranken Menschen therapeutische Hilfsangebote, die diese dann in ihre verbindliche therapeutische Zielplanung mitaufnahmen und die dann gemeinsam von Betreutem und Therapeut verfolgt wurde. Diese „therapeutische Partnerschaft“ definierte u. a. die Pflichten, die der Betroffene auf sich nahm, um so die gemeinsam vereinbarten Ziele (= berufliche und soziale Integration, Suchtfreiheit) zu erreichen. Der Mitarbeiter nahm dabei nicht nur die die Rolle des Wegbegleiters, sondern auch des Trainers und eben auch des „Controllers“ ein, der auch darüber wachte, ob die gemeinsamen Vereinbarungen, die den späteren Erfolg erst ermöglichen können, auch eingehalten werden.

    Die „Mitwirkungspflicht“ bzw. „Compliance“ ist Dreh- und Angelpunkt jeder Heilbehandlung, ob somatisch oder psychosomatisch, da sie den Betroffenen aktiv mit einbindet und somit dessen Selbstheilungskräfte aktiviert und mobilisiert. Die Verantwortung für eine „Heilung“ wird dabei nicht an Ärzte, Therapeuten, Medikamente oder Methoden delegiert. Heilung ist in der Summe das Erfolgsergebnis eines verpflichtenden Zusammenspiels vieler Akteure, in dessen Mittelpunkt der Betroffene selbst steht.

    Beim BTHG (bezogen auf die Suchthilfe) steht nun also nicht mehr die Krankheit im Mittelpunkt. Es geht also nicht in erster Linie um Gesundung. Vielmehr geht es um Rechte und gesellschaftliche Gleichstellung eines Menschen, der krank ist oder eben auch Defizite hat. Weder Krankheit noch Defizite sollen den Betroffenen hindern, die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen wahrnehmen zu können. Diesem Anliegen gilt es hier auch nicht zu widersprechen. Es wird lediglich kritisiert, dass es einen (sucht-)kranken Menschen von der Pflicht zur Mitwirkung entbindet.

    Selbstverständlich ergeben sich auch neue Ansätze, Perspektiven und dementsprechend auch Hilfsangebote durch das BTHG in der Soziotherapie für Suchtkranke. Gerade im Bereich des „peer counceling“, also des Hilfsansatzes der „Beratung/ Betreuung/ Begleitung von Betroffenen für Betroffene“, werden hohe Nachfragen (= „Kundenwünsche“) entstehen.

    Die langjährigen Erfahrungen in der Behindertenarbeit, speziell Suchtkrankenbehandlung, zeigen nämlich, dass ehemals Betroffene sehr gute Ratgeber und Wegbegleiter sind, dem Betroffenen geeignete und gangbare Wege aus der Krankheit/ Behinderung aufzuzeigen. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus können sie glaubhaft vermitteln, dass Krankheit/ Behinderung überwunden bzw. mit der Krankheit selbstbestimmt gelebt werden kann. Als Stärken des „Peer Counceling“ werden gesehen:

    • Mut zur Veränderung aufzeigen
    • Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln
    • Fähigkeit aufzeigen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen
    • Vermittlung der Grundhaltung, durch eigene Kraft Lösungen, Krisen, Krankheiten, etc. überwinden zu können
    • Einfühlungsvermögen/ Empathie für die Gefühlslage des Betroffenen aufgrund der eigenen Lebensgeschichte

    Durch den Einsatz von Betroffenen wird die Gefahr der „Distanz“ zwischen professionellem Helfer und behindertem Menschen abgebaut. Die Interaktion findet auf Augenhöhe statt, was wiederum den Zugang zu Hilfsangeboten und die Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen wesentlich erleichtert.

    Gerade der Einsatz von ausgebildeten Ex-Usern (vgl. Konzept Laufer Mühle, soziotherapeutische Assistenten/IHK) in der Soziotherapie hat sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin bewährt und zu beachtlichen Rehabilitations- und Sozialisationserfolgen geführt. Allerdrings wurden diese wichtigen Lebensberater und -begleiter von den Kostenträgern bis heute nicht als professionelle Unterstützer anerkannt.

    Unter anderem hat nun die die Diskussion um das BTHG dazu geführt, „Betroffene“ (in der Suchthilfe sind es die „Ex-User“) nach einer fundierten Qualifikation als Genesungsbegleiter anzuerkennen und ihnen einen dementsprechenden Stellenwert im Heilungsprozess von kranken Menschen zuzuweisen. Die eingeleiteten Schritte sind erfolgsversprechend.

    Leah Schreiner

    Leah Schreiner

    Projektmanagement/Risikomanagement, Geschäftsbereich Sucht-/ Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Hauptgeschäftsstelle, Weyarn

    1. Ja! Zurzeit nehmen die Aufgaben, die das BTHG betreffen, mind. 50 Prozent meiner Arbeitszeit ein. Die Vorbereitungen auf die Umstellungen zum 01.01.2020 bedeuten sehr viel Fleißarbeit, sowohl für die Einrichtungen als auch für unser Team in der Hauptgeschäftsstelle (Flächenberechnungen, Kostenkalkulationen, neue Zahlungswege, neue Heimverträge etc.).

    2. Für einen Teil unserer Bewohner/innen wird die finanzielle Leistungsgewährung in Zukunft fairer abgebildet, z. B. werden einige Bewohner zukünftig einen Teil ihrer Rente erhalten und auch selbst verwalten können. Das finde ich schön, wenn man bedenkt, dass viele ihr Leben lang dafür gearbeitet haben. Es wird insgesamt deutlich, dass die seelisch behinderten Menschen in den Suchthilfe-Einrichtungen mehr Autonomie ausüben sollen/können.

    3. Da die Suchthilfe-Einrichtungen nur einen ganz kleinen Teil der gesamten Eingliederungshilfe einnehmen, können teilweise die Besonderheiten der „Suchthilfeklientel“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das zeigt sich vor allem am zukünftigen „leistungsberechtigten Personenkreis“ (Zugangsvoraussetzungen). Es könnte sein, dass dadurch einige unserer Bewohner/innen in Zukunft Schwierigkeiten haben, Eingliederungshilfeleistungen zu erhalten.

    4. Für unseren Träger wird es hauptsächlich Veränderungen in den Verwaltungsprozessen geben. Diese werden umfangreicher und komplizierter. Es wird sich möglicherweise die Atmosphäre in den Einrichtungen verändern, welche bislang stark vom Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt waren.

    5. Wir versuchen immer auf einem aktuellen Informationsstand bzgl. der jeweiligen Umsetzung auf Landesebene zu sein. Das sind bei unserem Träger fünf Bundesländer, und es gibt in jedem Bundesland verschiedene Regelungen. Bisher konnten wir gut Schritt halten und alle notwendigen Umsetzungsschritte einleiten.

    Karl-Heinz Schön

    Karl-Heinz Schön

    Leitung Fachbereich für Menschen mit seelischen Behinderungen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Darmstadt

    1. Welchen Nutzen hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Der Nutzen des BTHG geht über die Orientierung an einer Zielgruppe hinaus. Im LWV Hessen orientieren wir uns vorrangig am Willen eines behinderten Menschen und seinen Ressourcen. Mit dem Budget für Arbeit, der Ausgestaltung der künftigen Assistenzleistungen und der Beteiligung der Betroffenen an der Planung ihres Teilhabebedarfes werden dem behinderten Menschen (Sucht) Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung zur Verfügung stehen. Lohnenswerte Ziele zur Teilhabe in den Bereichen Arbeit, Wohnen, soziale Beziehungen und Freizeitgestaltung bieten Anreize, den Suchtmittelkonsum einzuschränken oder zu beenden. Die Orientierung am Sozialraum bietet die Chance, Individualisierung zu überwinden. Die Reduzierung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen erleichtert die Inanspruchnahme von Unterstützung.

    2. Welche Nachteile hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Längerfristige Nachteile des BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden, sehen wir keine. Kurzfristig kann es durch die Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen und das Nettoprinzip zu Verunsicherungen kommen. An diese Veränderungen müssen sich die behinderten Menschen, ihre gesetzlichen Betreuer, die Träger der Grundsicherung bzw. der Hilfe zum Lebensunterhalt und die Leistungserbringer in besonderen Wohnformen in den nächsten beiden Jahren anpassen. Das kann vorübergehend im Einzelfall dazu führen, dass Personen in Angebote nicht aufgenommen oder aufgrund von offenen Forderungen der Leistungserbringer entlassen werden. Auch bei der Beratung und Bedarfsermittlung gab es zu Beginn der Umstellung in Hessen Anpassungsprobleme, die wir Zug um Zug durch Praxiserfahrung verbessern. Unser Bestreben als Leistungsträger ist es, allen erforderlichen Angeboten einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen und damit ein zukunftsorientiertes Angebot für behinderte Menschen sicherzustellen.

    3. Welche wesentlichen Veränderungen durch das BTHG ergeben sich für die Suchthilfe aus Ihrer Sicht als Leistungsträger?
    Wir werden als Leistungsträger darauf drängen, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen. Im Bereich der Suchthilfe sind das z. B. die Angebote der medizinischen Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant und stationär), die Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege. Die Teilhabekonferenzen bieten dazu Möglichkeiten. Wir werden auch die nichtprofessionellen, sozialräumlichen Unterstützungsmöglichkeiten und verbindliche Kooperationen unterschiedlicher Unterstützungsangebote (be)fördern. Wir werden darauf hinarbeiten, Menschen in normalen Wohnformen und normalen Arbeitsplätzen zu unterstützen. Wir hoffen dabei auf eine partnerschaftliche Kooperation mit den Leistungserbringern in der Suchthilfe, so wie wir das in der Vergangenheit auch in vielen Fällen erlebt haben.