Schlagwort: Bio-psycho-sozial

  • Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Mathias Speich

    Public Health gilt in vielen Bereichen der modernen Arbeit im Gesundheitswesen als „der“ Lösungsansatz. Doch woher kommt dieser Gedanke und warum ist er auch für die Suchthilfe entscheidend? Ist dieser Ansatz wirklich neu? Um es vorwegzunehmen: nicht neu, aber interessant. Und er erklärt, warum aktuelle Entwicklungen die Qualität der Suchthilfe und Suchtprävention gefährden könnten. Natürlich kann in einem relativ kurzen Artikel wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Aber vielleicht macht er ein wenig neugierig und lädt zum Diskutieren ein: über das Thema öffentliches Gesundheitswesen, die Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, bestehende Strukturen und die sich daraus ergebenden Chancen.

    Perspektivwechsel

    Die Suchthilfe und Suchtprävention in Deutschland ist in vielen Bereichen, vermutlich ohne ihr Wissen, ein schönes Beispiel dafür, wie der Grundgedanke von Public Health in den Praxisalltag des Sozial- und Gesundheitssystems Einzug gehalten hat. Die Suchthilfe mit all ihren Facetten ist ein Tätigkeitsfeld, welches seit Jahren die „öffentliche Gesundheit“ prägt. Viele Faktoren, die Public Health ausmachen, werden hier gelebt. Vereinfacht dargestellt versucht der Public Health-Ansatz, den Erhalt der Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, wohingegen die Medizin das Erkennen und die Behandlung einer Krankheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.

    Dies ist ein relativ einfacher Perspektivwechsel, der aber einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Public Health bezieht sich dabei auf die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat bereits im Jahr 1948 ihre Sichtweise auf das Thema Gesundheit deutlich erweitert. Damals und auch mit Blick auf die verheerende Geschichte musste man anerkennen, dass es neben den medizinischen und biologischen Faktoren deutlich mehr Einflüsse gibt, die zum Erhalt der Gesundheit und zum Entstehen von Erkrankungen beitragen. Umweltbedingungen, die soziale Lebenswelt, der Lebensstil und die Zugänge zu einem funktionierenden Gesundheitssystem gehören beispielsweise primär dazu.

    Es blieb nicht bei der Definition der WHO, denn die daraus gefolgerten Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit führten im Jahr 1986 zur Ottawa-Charta. Darin wird Gesundheitsförderung als Prozess definiert, der Menschen befähigt, ihre Gesundheit zu verbessern und mehr Kontrolle darüber zu erlangen. In der Charta wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich zu betrachten ist. Sie entsteht in einem partizipativen Prozess zwischen den Menschen und dem Sozial- und Gesundheitssystem. Politik hat den Auftrag, diesen Raum zu gestalten, wozu viele professionelle und interdisziplinäre Ansätze benötigt werden. Dabei werden individuelle, aber auch soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Deutschland hat sich den Zielen der Ottawa-Charta angeschlossen (vgl. Kaba-Schönstein, 2018), und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versuchte, diese bis Ende 2023 auch umzusetzen (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Die Formulierung von Gesundheitszielen, eine interdisziplinäre Gesundheitsförderung, Aktionspläne der Länder und Kommunen sowie Forschung und die Evaluation von Maßnahmen beruhen auf dieser Charta und ließen Hoffnung aufkommen. Viele Professionen konnten seitdem aus ihrer Perspektive das Thema Gesundheit erforschen, Erkenntnisse gewinnen und das Gesundheitssystem stetig weiterentwickeln.

    Ein Baustein von vielen

    Die WHO setzte mit ihrem erweiterten Blickwinkel deutlich früher an, als eine einzelne Profession das gekonnt hätte. Sie „beschränkte“ sich dabei nicht mehr auf die Behandlung einzelner Erkrankungen und ihrer Symptome. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Das Erkennen und Behandeln von Erkrankungen ist eine große Wissenschaft und genießt zu Recht höchste Anerkennung. Im gesamten Gesundheitswesen ist die Medizin aber ein Baustein von vielen. Es zeigte sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz deutlich effektiver war. Wenn im Fachbereich Public Health von Gesundheit gesprochen wird, geht es um die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe. Die Suchthilfe praktiziert dies in vielen Bereichen schon seit Jahrzehnten. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Fachbereiche Soziale Arbeit, Pflege, Pädagogik, Therapie, Medizin, aber auch Pharmakologie erwähnt, die gut ineinandergreifen. Über viele Jahre hinweg wurde unter Beteiligung einer Reihe von Professionen (und vor allem durch die Partizipation der Betroffenen) ein vielseitiges professionelles und ehrenamtliches Hilfesystem aufgebaut und stetig weiterentwickelt. Natürlich ist dies weiterhin deutlich ausbaufähig, und allein der Blick auf die aktuelle Zahl der Drogentoten und die sich stark verändernden Konsumgewohnheiten zeigt, dass sich dieses System in einem dauerhaften Wandel befindet und befinden muss. Ohne dieses interdisziplinäre Hilfesystem würden viele Veränderungen viel zu spät erkannt.

    Erhalt von Lebensqualität

    Der Perspektivwechsel stellt nicht nur die Gesundheit in den Vordergrund, sondern definiert auch neue Ziele. Eines davon ist der Erhalt und im besten Falle auch die Steigerung der Lebensqualität trotz bzw. mit einer bestehenden Erkrankung. Der Suchthilfe ist dieser „akzeptierende“ Gedanke durchaus bekannt. Trotz einer Diagnose geht das Leben in den meisten Fällen glücklicherweise weiter, aber wie geht man mit dieser Einschränkung um? Ab wann gilt ein Mensch als „krank“, ab wann als „gesund“? Circa 40 Prozent (vgl. Stiftung Gesundheitswissen, 2022) aller Deutschen leben mit einer chronischen Erkrankung, die wenigsten von ihnen werden sich im Alltag als dauerhaft „krank“ bezeichnen. Vor allem Leser:innen mit „mehr Lebenserfahrung“ werden dies gut nachvollziehen können. Das subjektive Empfinden bei vielen Erkrankungen ist, dass diese zwar als störend und unangenehm wahrgenommen werden, viele Menschen es aber schaffen, dies im Alltag zu kompensieren. Vor allem die Stärkung der positiven Faktoren reduziert die Wahrnehmung der Beeinträchtigung deutlich. Dies ist selbstverständlich immer abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung. Aber auch bei schwerstkranken Menschen trägt jede einzelne Minute, in der die Erkrankung ihre Dominanz verliert, positiv zur subjektiven Lebensqualität bei. Deutlich sollte werden: Es gibt einen gestaltbaren Raum zwischen „krank“ oder „gesund“. Wie ein Mensch seine gesundheitliche Situation erlebt, ist sehr individuell und temporär bedingt.

    Da die Lebensqualität subjektiv wahrgenommen wird, liegt es an den betroffenen Menschen selbst, diese auch zu definieren. Selbst wenn eine Person sehr schwer erkrankt ist, bestimmt sie das Ziel, die Geschwindigkeit und die damit verbundenen Hilfen. Der Ansatz von Public Health besteht darin, die vielen Einflussfaktoren zu identifizieren und mit den Betroffenen selbst Strategien zu entwickeln, das Positive zu stärken und die negativen Auswirkungen zu reduzieren. In der Suchthilfe wird dies seit Jahren unter dem Begriff Akzeptanzorientierung und Harm Reduction praktiziert, gleichzeitig bleibt die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bestehen. Das entlastet die betroffenen Menschen und eröffnet neue Möglichkeiten. Denn gleichzeitig können nun auch die Beratungs- und therapeutischen Angebote der Suchthilfe versuchen, mit den Betroffenen gemeinsam die Konsumanlässe zu reduzieren. Drohender Wohnungsverlust, Schulden, bestehende Strafverfahren, Konflikte in der Familie – es gibt viele Auslöser für einen unkontrollierten Konsum. Vom Erkennen eines Problems bis zur Lösung und deren Aufrechterhaltung (vgl. Transtheoretisches Modell der Veränderung, TTM) ist es ein weiter Weg. Hier zeigt sich, wie wichtig dieser interdisziplinäre Gedanke ist.

    Prävention und Salutogenese

    Betrachtet man Public Health allgemein in Bezug auf die Gesellschaft, so steht natürlich die Vermeidung von Erkrankungen, die Förderung und letztendlich der Erhalt der Gesundheit im Fokus. Das gilt besonders für Suchterkrankungen. Sie haben eine enorm hohe Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Substanzen lösen nachweislich schwere Erkrankungen aus. Dazu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Krebs, psychische Störungen u.v.a. Die Liste ist lang, die Fallzahlen sind hoch, und für die Suchthilfe ist es keine neue Erkenntnis.

    Für die Prävention stellt sich die Frage, wie die vielen Formen potenzieller Schädigungen vermieden werden können. Ein einfacher Hinweis auf den Verzicht ist in einer Konsumgesellschaft bei Weitem nicht ausreichend. Dem Konzept der Salutogenese (vgl. Faltermaier, 2023) entsprechend richtet der Public Health-Ansatz auch hier den Fokus auf den Erhalt der Gesundheit und nicht auf eine der vielen potenziell möglichen schweren Erkrankung, die in einen Zeitraum von vielen Jahren auftreten können. Aus der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher ist eine Gefahr in ferner Zukunft kaum greifbar. Neue Präventionsansätze gehen deshalb gezielt auf Zielgruppen zu und versuchen, mit ihnen gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um beispielweise mit Stressoren besser umgehen zu können. Anstatt sich auf zukünftige Risiken zu konzentrieren, werden Ressourcen und Stärken von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist u. a., das Kohärenzgefühl und die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken, damit eine Suchterkrankung und die sich daraus ergebenden sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden nach Möglichkeit vermieden werden. Moderne Präventionsprojekte wie beispielweise MOVE, FreD und HaLT basieren fast alle auf diesem Ansatz.

    Unterschiedliche Präventionsansätze für unterschiedliche Zielgruppen

    Neben der Verschiebung der Perspektive wurden auch die Zielgruppen präziser gefasst. Klaus Hurrelmann unterteilte schon vor vielen Jahren in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Heute wird bevorzugt von universeller, selektiver und indizierter Prävention gesprochen. Wie werden Zielgruppen angesprochen, in welchem Alter, mit welchen Hintergrund, wann und wo? Wir wissen, dass schlecht gemachte Informationskampagnen auch Schaden anrichten können. Vor allem bei der Primärprävention besteht ein schmaler Grat zwischen Informationskampagne und Neugierig-Machen. Nicht ohne Grund gibt es mittlerweile Suchtpräventionsfachkräfte, die mit pädagogischen Interventionen und Sozialer Arbeit Zielgruppen und Risikofaktoren identifizieren und geeignete Maßnahmen bereitstellen. Dabei ist bei vielen erfolgreichen Projekten ein Methodenmix z. B. aus den Bereichen der Pädagogik, Sozialen Arbeit und der Psychologie entstanden.

    Nicht nur die Verhaltensprävention wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich präzisiert, auch wurde der Bereich der Verhältnisprävention gestärkt. Die soziale Umwelt hat einen massiven Effekt auf die Entstehung einer Suchterkrankung. Die Steuererhöhung bei den Alkopops und der erschwerte Zugang zu Nikotin zeigten deutliche Effekte, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Möglichkeiten, hier mit wenigen Veränderungen viel zu bewegen, sind enorm. Dabei geht es nicht um Prohibition, was gerne unterstellt wird, sondern um den gezielten Schutz von vulnerablen Gruppen. Die sinkenden Fallzahlen bei Alkohol- und Nikotinkonsum bei Kindern und Jugendlichen machen Hoffnung (vgl. Alkoholsurvey der BZgA 2022 und Drogenaffinitätsstudie der BZgA 2023). Gleiche Effekte über gezielte Verhaltensprävention zu erreichen, wäre mit den bestehenden Ressourcen praktisch unmöglich.

    Aktuelle Entwicklungen führen in die Vergangenheit

    Umso spannender wurde es Ende 2023, als aus dem BMG ein erster Arbeitsentwurf zur Errichtung eines Bundesinstituts mit Schwerpunkt Prävention auftauchte. Durch den Koalitionsvertrag war bekannt, dass Veränderungen kommen würden. Hier wurde das neue Institut als „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ bezeichnet, mit direktem Bezug zu Aktivitäten im Public Health-Bereich (vgl. „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 65). Dieser Prozess war im Vorfeld relativ still verlaufen, und grundsätzlich gab es gegen mehr Prävention und Public Health in Deutschland keine Einwände. Die durch das BMG schließlich erfolgte Namensgebung „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) überraschte jedoch und ließ Zweifel aufkommen, denn der Schwerpunkt wurde nun auf eine einzige Profession gelegt. Der Widerspruch zum oben beschriebenen Gesundheitsbegriff und Präventionsansatz liegt schon im Titel. Dennoch sparte man bei der öffentlichen Ankündigung nicht mit Schlagwörtern wie „Public Health“, „interdisziplinär“ und „Primärprävention“. Dem Beauftragten für die Errichtung des „Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ wurde zudem die Leitung der BZgA übertragen (vgl. Interview mit Dr. Johannes Nießen auf KONTUREN online). Es ist anzunehmen, dass dies deutliche Auswirkungen auf die bisherige mehrdimensionale Sichtweise von Gesundheit haben wird.

    Die Fachöffentlichkeit reagierte darauf mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, den fachübergreifend über 150 Organisationen und Professionen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung unterzeichneten. Darin begrüßen sie die Gründung eines zentralen Instituts für öffentliche Gesundheit ausdrücklich, fordern aber eine andere Strategie, „eine ganzheitliche, krankheitsübergreifende, an einem dynamischen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtete Strategie, die […] eine Institution befähigt, in dynamischen, komplexen Systemen zu denken und zu handeln und die sich daher nicht auf medizinische Sachverhalte beschränkten darf.“ (Götz & Rosenbrock, 2023, S. 3) Die bisherige Reaktion des BMG ist überschaubar.

    Eigentlich könnte man mit guten Gewissen auf die Suchthilfe als Vorbild verweisen. Das bio-psycho-soziale Modell wird in der Praxis seit vielen Jahren professionsübergreifend gelebt. Als problematisch stellt sich aber die Vielzahl der Kostenträger im deutschen Gesundheitssystem und der Suchthilfe mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten und Qualitätskriterien heraus. Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin (EbM). Während EbM in der medizinischen Behandlung und Forschung als Gold-Standard gehandelt wird, greift sie bei der Bewertung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Gesundheit zu kurz, da pädagogische und therapeutische Interventionen nur sehr aufwendig quantitativ zu messen sind. Statistisch ist dies zwar möglich, aber um wirklich (hoch) signifikante Aussagen treffen zu können, ist der Forschungsaufwand um ein Vielfaches höher. Das beinhaltet die Gefahr, dass Projekte oder neue Arbeitsansätze allein aufgrund des deutlich höheren Aufwandes bei der Evaluation bei der notwendigen Förderung oder anschließenden Refinanzierung weniger Beachtung finden. In Erinnerung sollte aber auch gebracht werden, dass die sehr gute Methode der evidenzbasierten Medizin in der Form vermutlich nie für diesen breiten professionsübergreifenden Einsatz vorgesehen war.

    Die Suchthilfe hat aber mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) ein interessantes Evaluationstool als Ass im Ärmel. Dieser wird aktuell angepasst und könnte vor allem aus dem Blickwinkel von Public Health viele Potenziale beinhalten. Optimierungsbedarf besteht aktuell noch in der Unterscheidung der einzelnen Arbeitsgebiete. So wird im KDS primär von Behandlung und Betreuung gesprochen, obwohl die ambulante Suchthilfe mit großem Abstand die meisten Fallzahlen in der Beratung (vgl. Schwarzkopf et al., 2023, Abbildung 1., S. 9) vorweist (ca. 68 Prozent; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18). Diagnosen, die in der stationären Suchthilfe und Therapie eine zentrale Rolle spielen, sind in der ambulanten Beratung weniger relevant (ca. 5 Prozent aller Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe verfügen über eine entsprechende Qualifikation; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18) und in der Suchtprävention kaum von Bedeutung. Zurzeit wird noch wenig deutlich, dass je nach Setting der Kontakt zu den Klient:innen zwischen Tagen und Jahren beträgt. Auch ist der KDS bisher wenig dynamisch in der Erfassung von Beratungs- und Behandlungsverläufen. Die zunehmende Digitalisierung der Suchthilfe und auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beinhaltet große Potenziale. Mit dem KDS steht ein flächendeckendes gutes Instrument zur Verfügung, welches nur an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.

    Im Sinne von Public Health und der Ottawa-Charta sollte zukünftig aber ein sehr großes Interesse darin bestehen, die geleistete Arbeit professionsübergreifend zu begleiten und zu bewerten. Immerhin geht es hier um die Entwicklung von passenden kurz-, mittel- und langfristigen bio-psycho-sozialen Angeboten für die betroffenen Menschen. Die Datengrundlage dient an entscheidenden Stellen als Argument in Verhandlungen zu Förderung und Forschung, und natürlich werden hier Impulse für die Verwaltung und Politik gesetzt (siehe Ottawa-Charta). Ganz direkt geht es auch um Definitionshoheiten und um die Verteilung von knappen Ressourcen (vgl. Notruf Suchtberatung, 2019).

    Doch bei aller – konstruktiv gemeinter – Kritik: Es sind Feinheiten, die es zukünftig zu optimieren gilt. Die Suchthilfe ist mit der Deutschen Suchthilfestatistik und vielen evaluierten Projekten in der Lage, schon jetzt die Betroffenen und die Wirksamkeit der Hilfen wissenschaftlich evaluiert sichtbar zu machen (vgl. Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS)). Damit sind die Suchthilfe und Suchtprävention vielen anderen Bereichen im Sozial- und Gesundheitswesen weit voraus.

    Fazit

    Abschließend: Der Public Health-Ansatz hatte sich in den letzten Jahrzenten bewusst oder unbewusst als gute, konstruktive Perspektive im Gesundheitssystem, der Suchthilfe und Suchtprävention herausgestellt. Die interdisziplinäre Sichtweise und der Perspektivwechsel eröffneten im Praxisalltag neue Ideen, die unterschiedlichen Positionen und Professionen ergänzen sich gegenseitig. Dass das in der Suchthilfe und Suchtprävention nicht immer nur ein „harmonieorientierter“ Diskurs war und ist, weiß jeder/jede, der/die schon länger in dem Bereich tätig ist. Veränderung ist auch hier ein Prozess. Dennoch, es zählt das Ergebnis: Die Lebensqualität von vielen betroffenen Menschen hat sich verbessert, die Suchtprävention hat sich deutlich weiterentwickelt und erreicht in höherem Maße und präziser ihre Zielgruppen. Das gute Netzwerk der ehrenamtlichen und professionellen Suchthilfe ist in der Lage, schnell auf Veränderungen in der Suchtmittelszene zu reagieren. Das BMG kann man nur ermutigen, nicht nur über Public Health zu reden, sondern es vor dem Hintergrund der vielen nationalen und internationalen positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Sinne der WHO konsequenter umzusetzen.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Kontakt:

    Mathias Speich
    Der Paritätische NRW
    Marienstraße 12
    33332 Gütersloh
    Speich(at)paritaet-nrw.org

    Angaben zum Autor:

    Mathias Speich: Master of Public Health, Dipl.-Sozial- und Umweltpädagoge. Seit über 20 Jahren aktiv in der Suchthilfe und Suchtprävention. Fachreferent der Suchthilfe und der Hilfen nach § 67 SGB XII des Paritätischen NRW. Mitglied im Arbeitsausschuss Drogen und Sucht NRW, im Beirat der Suchtkooperation NRW, im Fachausschuss Gefährdetenhilfe und aktiv in vielen weiteren kleinen und großen engagierten Gremien der Suchthilfe, landes- und bundesweit.

    Literatur:
  • Sucht ist divers

    Sucht ist divers

    Prof. Dr. Rebekka Streck

    Dass Sucht als Krankheit zu verstehen ist, scheint in der deutschsprachigen Fachwelt unstrittig. Ein solches Krankheitsverständnis beruht auf einem Diagnosesystem, in dem Symptome einer Diagnostik untergeordnet werden. Diese Praxis hat Vorteile – aber auch Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Diversität eines Phänomens aus dem Blick gerät.

    Im Folgenden fokussiere ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens Sucht. Ich setze das Wort „Sucht“ kursiv. Dies soll verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Deutungsmuster handelt. Zugleich soll diese Schreibweise zeigen, dass Sucht ein offenes Konzept ist, das von Menschen – so wie den im Folgenden zitierten Gesprächspartner:innen – individuell genutzt wird. Ich spreche nicht von Abhängigkeit, weil dieser Begriff (jenseits von diagnostischen Setzungen) alltagsweltlich weniger präsent und in seiner Wortbedeutung unspezifisch ist, denn Menschen sind von sehr vielen Handlungsweisen und Stoffen abhängig.

    Nach einer kurzen kritischen Diskussion geläufiger Suchtdiagnostik werde ich einen lebensweltlichen Blick auf Sucht vorstellen, der Diversität zulässt, sogar nach ihr sucht. Hierzu werde ich anhand der Analyse von Interviews mit suchterfahrenen Menschen exemplarisch Unterschiede herausarbeiten und diese drei Kategorien zuordnen. Im Anschluss lege ich dar, welche Vorteile in einem solchen auf Diversität bezogenen Suchtverständnis liegen, im Gegensatz zu einem Verständnis, das nach Eindeutigkeit strebt. Dieser Artikel versteht sich als Teil der Wissenschaft Soziale Arbeit. Lebensweltorientierung (Thiersch u. a. 2012) ist eine der zentralen Theorien Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum.

    1. Das Deutungsmuster „Sucht als Krankheit“ als Reduktion der Komplexität und Diversität

    Psychiatrisch-medizinisch geprägte Suchtdiagnostik ist gekennzeichnet durch Subsumtion (= Unterordnung). Ein Leiden, eine Beschreibung, ein Gefühl oder die Ergebnisse eines Tests werden einer Oberkategorie zugeordnet. Durch quantitative Forschung gestützte Diagnostikmanuale wie ICD-11 oder DSM-5 sollen das Diagnostizieren erleichtern, indem sie wahlweise unterschiedlich viele Aspekte benennen und festlegen, dass, wenn eine bestimmte Anzahl davon mit Ja beantwortet wird, eine Abhängigkeit oder substance use disorder vorliege (bei DSM-5 in unterschiedlicher Ausprägung). So ist medizinische Diagnostik erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Komplexität reduziert wird, um Kategorisierungen vorzunehmen. Dass diese Reduktion an Komplexität herausfordernd ist, wenn ein in sich konsistentes Diagnoseschema entwickelt werden soll, verdeutlicht eine rege Diskussion sowie eine kontinuierliche Veränderung von Diagnostiksystemen (vgl. bspw. Rumpf u. a. 2011, Heinz u. a. 2022).

    Ein solcher Prozess der Subsumtion prägt auch das alltagsbezogene Verständnis von Sucht. Menschen nehmen fremdes oder eigenes Handeln als abweichend und problematisch wahr und ordnen dieses dem Deutungsmuster Sucht zu. Diese alltägliche Typisierung eines Handelns als süchtig geschieht erheblich chaotischer und stärker subjektiv und kulturell geprägt, als es in der disziplinären Debatte in Psychologie und Medizin der Fall scheint. So begegnet uns Sucht ständig, im Gespräch mit der Freundin, die sich über das Computerspielverhalten ihres Freundes erregt, genauso wie in unterschiedlichsten medialen Formaten.

    Sucht ist also erstmal ein Deutungsmuster, mit dem diverse Phänomene in einen Container gepackt werden. Ein solches Deutungsmuster dient der alltäglichen oder auch der fachdisziplinären Kommunikation (vgl. Schmidt-Semisch 2010). Im sozialstaatlichen verwalterischen Umgang mit abweichendem Handeln dient es auch dazu, Zugänge zu öffentlich finanzierten Hilfemaßnahmen zu gewähren oder zu begrenzen. Es kann auch hilfreich sein, um das eigene oder fremde Handeln zu verstehen, ihm eine beispielsweise durch Medizin und Psychologie abgesegnete Bedeutung zu geben. Zugleich können solche vereinheitlichenden Deutungsmuster aber auch irreführend sein, weil möglicherweise auf subjektiver Ebene sehr unterschiedliche Erfahrungen gleichgesetzt werden. Vereinheitlichende Deutungsmuster können als einengend und stigmatisierend empfunden werden, weil die eigene Geschichte durch mächtigere Deutungen überschrieben wird (vgl. Boyd u.a. 2020).

    Eine solche Subsumtion kann auch den fachlichen Blick verstellen, so dass beispielsweise Sozialarbeiter:innen oder auch Ärzt:innen voreilig ihre Schlüsse ziehen, ohne den Einzelfall angemessen zu würdigen. Schütze (1992, S. 148 f.) sieht in dieser Paradoxie professionellen Handelns ein Risiko für Stigmatisierung und fachliche Fehleinschätzungen. In der Typisierung klammern Fachleute „sehr häufig – eigentlich empirisch durchaus vorliegende – konkrete, ‚schwierige‘ Informationen des Einzelfalls aus, die ein genaueres differenzierendes Hinsehen erforderlich machen und die automatische Anwendung von Typenkategorien verbieten würden“ (Schütze 1992, S. 149).

    2. Den lebensweltlichen Blick auf Diversitäten zulassen

    Auch wenn Sozialarbeiter:innen sich punktuell auf bio-medizinische Krankheitsverständnisse beziehen, bestimmen diese nicht ihre alltägliche Praxis. So wird in der Sozialen Arbeit eine lebensweltliche, soziale Diagnostik präferiert, die sich bspw. auf die ICF, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, bezieht (vgl. Hansjürgens/Schulte-Derne 2020). Darüber hinaus möchte ich im Folgenden diesem diagnostizierenden Blick einen lebensweltlichen Blick zur Seite stellen. Hier geht es um die Frage, wie Menschen, die selbst sagen, dass sie süchtig sind oder süchtige Phasen durchlebt haben, Sucht beschreiben.

    Füssenhäuser (2016, S. 214) entsprechend verstehe ich Sucht als „ein spezifisches Deutungs- und Handlungsmuster, in und mit dem Menschen/Subjekte ihr Leben gestalten“. Dieses Deutungs- und Handlungsmuster kann im Kontext der Bewältigung alltäglicher Aufgaben Handlungsoptionen eher eröffnen oder eher schließen. Funktionalität und Dysfunktionalität können auch gleichzeitig bestehen oder sich in einer dynamischen Entwicklung abwechseln.

    Diversität von Sucht kann mindestens auf vier Ebenen betrachtet werden: Erstens kann das Deutungsmuster über verschiedene Zeiten und sozio-kulturelle Orte hinweg verglichen werden. Zweitens kann es aus einer intersektionalen Perspektive analysiert werden. Wie beeinflussen bestimmte Ungleichheitskategorien (bspw. Geschlecht, ökonomische Ressourcen oder Staatsbürgerschaft) die Klassifikation eines Handelns als süchtig oder auch das Erleben und Bewältigen von süchtigen Phasen? Drittens kann Diversität auch bezogen auf die präferierten Substanzen und ihre bio-medizinischen und sozialen Eigenschaften untersucht werden. So unterscheiden sich beispielsweise Praxen und das Erleben von Alkohol-, Crack- oder Tabakkonsum oder gar exzessivem Glücksspiel erheblich. Ich werde im Folgenden eine vierte Ebene in den Fokus nehmen: Welche Unterschiede zeigen sich in den Erzählungen von suchterfahrenen Menschen?

    Mit dem Ziel, ein lebensweltliches Suchtverständnis zu entwickeln, begann ich im Oktober 2022 ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Studierende führten zehn problemzentrierte Interviews mit suchterfahrenen Menschen. Die Kontaktaufnahme erfolgte unsystematisch über das private Umfeld der Studierenden, über Praxisstellen Sozialer Arbeit sowie über Selbsthilfegruppen. Es wurden neun Männer und eine Frau interviewt. Vornehmlich konsumierten die Befragten illegale Substanzen (Cannabis, Amphetamine, Kokain oder Heroin). Sie waren zwischen 19 und 60 Jahre alt. Die Analyse wurde gemeinsam mit den Studierenden angestoßen und schließlich allein fortgesetzt und orientiert sich an dem Forschungsstil der Grounded Theory.*

    Die Interviewtexte unterschieden sich stark voneinander und waren schwer unter ein lebensweltliches Suchtverständnis zusammenzufassen. Vielmehr wurden Unterschiede deutlich, die ich im Folgenden anhand von drei Kategorien darstellen werde: Motive für fortgesetzten Konsum (1), Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum (2) sowie Prozessverläufe (3). Ziel der folgenden Darstellung ist es nicht, Unterscheidungskategorisierungen zu fixieren. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Weiterführung der Forschung. Ich möchte die Bandbreite von Erfahrungen, die mit dem Deutungsmuster Sucht verbunden werden, darstellen. Zudem ist es mir wichtig, Menschen mit Suchterfahrungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn ein Blick in die deutschsprachige Forschungslandschaft verdeutlicht, dass Menschen, die von sich sagen würden, dass sie süchtig sind oder waren, bisher kaum in den Diskurs zur Frage, was Sucht ist, einbezogen werden.

    3. Suchterfahrene Menschen erzählen

    3.1 Motive für fortgesetzten Konsum: Sucht als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit

    Menschen berauschen sich mit legalen wie illegalen Substanzen. Die Gründe für den Konsum variieren: gemeinsam eine gute Zeit verbringen, Entspannung am Abend oder Intensivierung eines Erlebnisses (vgl. auch Barsch/Leicht 2014, S. 230). Auch suchterfahrene Menschen berichten von solchen Motiven. Bei den Motiven, den Konsum fortzusetzen und zu intensivieren, können mindestens zwei Begründungen unterschieden werden: Konsum als Bewältigung schwieriger Lebenssituationen einerseits und Konsum als Teil der Identitätsentwicklung andererseits.

    Daniel ist beim Interview ungefähr 30 Jahre alt. Wir haben ihn über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous für ein Interview gewinnen können. Er erzählt, dass er mit 19 Jahren begonnen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen, um sich „dicht zu machen. Das heißt, die Realität war mir zu viel.“ Er sagt: „Das Cannabis habe ich funktional genutzt, […] um mich zu betäuben.“ Er habe eine „hohe Grundanspannung“, und Cannabis habe ihm dabei geholfen, sich zu entspannen. Mit der Wirkung von Cannabis gelang es ihm, sich „freier zu fühlen und um auch tanzen zu können“ und auch „soziale Ängste“ zu bewältigen. Insofern erweitert der Konsum von Cannabis zunächst seine Handlungsmöglichkeiten, weil er sich in Situationen bewegen kann, die ihm zuvor verschlossen geblieben waren. Das Rauchen von Cannabis hilft ihm, soziale und emotionale Komplexität zu reduzieren. Der Konsum kann somit als Anpassungsversuch an soziale Anforderungen gedeutet werden.

    Konträr zu dieser Beschreibung erzählt Andreas, dass er derjenige gewesen sei, der immer „ins Extrem und dann noch einen Schritt weiter“ gegangen sei. Andreas ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Ein Student hat über eine gemeinsame Freundin zu ihm Kontakt aufgenommen. Andreas beginnt das Interview folgendermaßen: „Also es ist relativ früh schon sichtbar geworden, 14, 15, 13 um den Dreh. Extrem extrovertiertes Verhalten. Immer so ein bisschen ins Extreme gehen müssen und so, um Aufmerksamkeit zu generieren.“ Andreas stellt seinen Drogenkonsum in den Kontext einer Selbstbeschreibung. Dieser hilft ihm aber nicht – wie Daniel –, sich sozialen Anforderungen anzupassen, sondern ermöglicht ihm, sich als besonders darzustellen. Im weiteren Verlauf des Interviews bringt er die Funktion des Drogenkonsums auf den Punkt: „Also so blöd das klingt, es war halt ein Stück von mir sozusagen, wie ich mich gegeben habe. Ich war halt Andreas, so ein bisschen das Sorgenkind. Andreas der Süchtige, was weiß ich, um den man sich kümmert und der ja voll lieb ist und den wir voll gern haben und so.“

    Sowohl Daniel als auch Andreas leben mittlerweile weitgehend abstinent. Sie beschreiben, dass sie ihren Konsum verändert haben, als diese Strategien im Kontakt zu anderen Menschen zunehmend dysfunktional wurden. Für Daniel behindert der Konsum zunehmend das angestrebte integrierte Leben (bspw. Kritik von Freund:innen, Probleme beim Lernen für die Universität). Andreas befürchtet, an einem Punkt seine Familie zu verlieren, die ihn lange begleitet hat. Sucht wird in beiden Fällen sozial kontextualisiert: als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit.

    3.2 Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum: Sucht als soziale Eingebundenheit oder radikales Ausblenden sozialer Einflüsse

    Eine Vielzahl von Unterschieden im Erleben des Konsums psychoaktiver Substanzen und im Erzählen davon zeigt sich auf einer zweiten Ebene. Diese Ebene entspricht dem, was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als „Attachements“ bezeichnet werden kann (vgl. Gertenbach 2019, Streck 2022). Menschen stellen in ihrem Alltag unterschiedliche Verknüpfungen zwischen Substanzen, Zeiten, Orten oder auch sozialen Beziehungen her. Diese Verknüpfungen prägen auch die Möglichkeiten der Veränderungen des Konsums.

    Denise ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Eine Studentin hat über ein Jugendberufshilfeprojekt zu ihr Kontakt aufgenommen. Denise erzählt, dass sie auf der Straße gelebt hat, nachdem sie aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „abgehauen“ war. Im Interview gibt es mehrere Passagen, in denen Denise das Leben auf der Straße, ihre soziale Eingebundenheit und ihren Drogenkonsum (v. a. Kokain, Speed und Ecstasy) miteinander verknüpft. So antwortet sie auf die Frage, welche Rolle ihre Freundinnen und Freunde bezogen auf den Konsum spielen: „Also dieses Motto, nach dem Motto, wenn du Drogen nimmst, geht‘s ja wieder gut so, und du bist halt so in deiner Welt so und du bist halt nicht alleine so.“ Sie stellt die Erfahrung von Gemeinsamkeit heraus: „Auch die Freunde, die dabei waren so. Die waren alle genauso verballert wie ich so. Aber es hat mir irgendwie auch gefallen, so irgendwie, dass wir alle zusammen auf demselben Film waren.“ Denise bearbeitet ihre Einsamkeitsgefühle, indem sie mit anderen Menschen illegale Substanzen konsumiert. Beides, die Wirkung der Drogen und das gemeinsame Handeln, helfen ihr bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase. Zugleich bietet die Gruppe auf der Straße einen Zufluchtsort in einer Zeit, in der andere Möglichkeiten der Einbindung (Jugendhilfe oder auch Kontakte zu den Eltern) konflikthaft sind.

    Denises ambivalente Haltung gegenüber dieser Eingebundenheit und ihre Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße auch mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht, nimmt dieser biografischen Erfahrung nicht ihre emotionale Bedeutung und die damit erfahrene Sicherheit. Im Interview erzählt Denise, dass sie kein Verlangen hat, Drogen zu nehmen, wenn sie bei ihrem Vater ist. Für sie gibt es somit Menschen und Orte, die mit dem Konsum von Drogen verknüpft sind, und andere Menschen und Orte, mit und an denen sie keine Drogen nimmt.

    Während solche Verknüpfungen in Denises Erzählungen sehr bedeutsam sind, spielen sie in Roberts Erzählungen keine Rolle. Ihm scheint es stärker um die Wirkung der Substanz selbst und die damit einhergehenden Handlungen zu gehen. Eine Studentin hat den Kontakt zu Robert über gemeinsame Freund:innen hergestellt. Er ist 33 Jahre alt und erzählt, dass er zwischen 19 und 21 Jahren exzessiv Amphetamine genommen hat. Diese Phase, in der er „eigentlich bloß noch für die Drogen gelebt“ habe, mündete in die Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer psychotischen Episode, nachdem er sieben Tage wach gewesen sei.

    Seine Konsumphasen beschreibt Robert so: „Wenn man dann halt relativ viel nach einer Zeit, irgendwie so eins, zwei Gramm, wenn der Körper halt mehr aushält sozusagen. Ähm ja, wird es halt trotzdem irgendwie, ja man kriegt einen Art Tunnelblick, sowas habe ich oft beim Zocken dann gehabt, dass ich dann halt voll den Tunnelblick hatte und konnte halt wirklich die ganze Zeit irgendwie halt eine und dieselbe Sache machen. Ich habe dann zum Schluss irgendwie, drei Stunden am Stück, ohne mich zu bewegen, Solitär gezockt auf dem Handy. Das war dann halt irgendwie total der Film, ja.“

    Aus Roberts Schilderungen kann geschlossen werden, dass im Verlauf der Steigerung seines Amphetaminkonsums für ihn andere Menschen weitgehend unbedeutend waren. In diesem Ausschnitt verbindet er den Konsum mit dem Spielen eines relativ simplen Computerspiels. Beides zusammen führte zu einem „Tunnelblick“, der es ihm ermöglichte, alle andere Dinge auszublenden. Auch er verknüpft den Konsum mit einer anderen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Denise, für die der Konsum mit sozialer Eingebundenheit einher geht, hebt Robert stärker die Bindung an die Wirkung der Substanz selbst hervor. Der Konsumkontext scheint für ihn weniger relevant.

    Mit der Hilfe eines Freundes distanziert sich Denise von ihrem sozialen Umfeld und reduziert ihren Konsum illegaler Substanzen. Robert wird nach mehreren Nächten ohne Schlaf ins Krankenhaus eingewiesen. Das Fehlen einer sozialen Eingebundenheit von Roberts Konsum begünstigt die exzessivere Konsumdynamik. In der situativen Verengung des Alltagslebens auf den Substanzkonsum zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Denises Suchtverhalten.

    Neben den Merkmalen von Substanzen (bspw. legal oder illegal, betäubend oder aufputschend) sind somit auch die Verknüpfungen der Konsumsituation und des sozialen Gefüges von großer Bedeutung, um spezifische Suchtdynamiken, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen zu verstehen, in deren Leben phasenweise der Konsum psychoaktiver Substanzen eine große Rolle spielt. Je nachdem, welche Aspekte miteinander verknüpft werden, kann es sein, dass Konsumveränderung begünstigt (bspw. wenn man aus einem Milieu herauswächst) oder auch erschwert wird (bspw. wenn ein Aufenthaltsort mit dem Konsum verknüpft ist).

    3.3 Prozessverläufe: Sucht als persönlicher Veränderungs- oder Normalisierungsprozess

    „Klassische“ Ergebnisse der Suchtforschung wie beispielsweise die „Subspecies of Alcoholism“ von Jellinek aus den 1960er Jahren (vgl. Kelly 2018, S. 3) oder die Analyse von Prozessen des „Herauswachsen aus der Sucht“ von Weber und Schneider (1997) zeigen, dass sich Konsummuster und Prozesse unterscheiden. Studien zu solchen Unterschieden sind jedoch immer noch marginal. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf Sucht hervorzuheben, stelle ich die Erzählungen von Igor und Bernd dar.

    Igor ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Der Kontakt konnte über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous hergestellt werden. Er beschreibt, dass er mit 13 angefangen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen. Er sagt, dass es seine „erste Liebe“ gewesen sei, weil es ihm in einer Phase des Hin und Her zwischen Jugendhilfe und seiner Mutter half abzuschalten. Zugleich erleichterte das gemeinsame Kiffen eine Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter. „Das hat son bisschen die Spannung rausgenommen.“

    Mit Mitte zwanzig merkt er, dass das Kiffen das Lernen für die Ausbildung und das Fachabitur erschwert. Eine Entgiftung sowie eine Drogentherapie folgen. Erst nach der Drogentherapie, in der er neue Kontakt knüpft, beginnt er, andere illegale Substanzen auszuprobieren. Er bezeichnet diese Phase als „Experimentierorgie“. Er habe in einer recht kurzen Zeit das „Ende der Spirale schnell durchlaufen, um dann zu verstehen, dass es keine Substanz gibt, die mich irgendwie ja hält“. Es folgen die Kontaktaufnahme zu den Narcotics Anonymous und verschiedene stationäre und ambulante Therapien. „Es waren so viele Runden, dass ich das manchmal gar nicht so richtig rekapitulieren kann.“ Er stellt schließlich heraus: „Und ich würd sagen, dieses Kapitel Drogen ist auch irgendwann abgehakt für mich gewesen so. Ich hab mich jetzt ausgelebt mit der Sache und ähm bin ja jetzt auch 33.“ Rückblickend sagt er, dass seine Sucht „mein Lebensretter“ war. „Weil es war irgendwie meine intelligenteste Form, irgendwie mit dem Leben klar zu kommen.“ Zugleich sei es aber auch „Selbstzerstörung auf Raten“ gewesen, weil der Drogenkonsum seine Situation langfristig nicht verbessert habe.

    Igor erzählt seine Konsumgeschichte als Prozess, in dem der Konsum die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen erleichtert und zugleich andere Aspekte erschwert. Im Verlauf seiner Konsumgeschichte hat er sich mit den Wirkungen verschiedener Substanzen auseinandergesetzt. Phasen des Ausprobierens, Stabilisierens, Destabilisierens und Reflektierens wechselten sich ab. Sucht scheint hier Teil eines biografisch-dynamischen Veränderungsprozesses zu sein, dessen retrospektive Bewertung ambivalent ist und damit auch als bedeutsam für die eigene Entwicklung eingeschätzt wird.

    Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews ungefähr 50 Jahre alt und wird von einem Studenten in einer Tagesstätte für Menschen in Substitution interviewt. Bernd erzählt, dass er als junger Mann verschiedene Substanzen im Partykontext aus Neugier probiert habe. „Sucht selber ist erst viele Jahre später durch Heroin entstanden.“ Mit ca. 30 Jahren bietet ihm ein Freund Heroin an, und dann habe sich der regelmäßige Konsum so „eingeschlichen“. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er seit ca. 20 Jahren Opiate konsumiert. Mit ca. 40 Jahren entscheidet er sich für eine Substitutionsbehandlung.

    Das Interview mit Bernd unterscheidet sich deutlich von anderen Interviews. Bernd redet ruhig und abgeklärt über seinen Drogenkonsum. Zugleich scheint es kaum größere Krisen aufgrund des Konsums gegeben zu haben. Er berichtet von kürzeren Phasen, in denen er versucht habe, nicht zu konsumieren, letztlich aber wegen der Entzugserscheinungen wieder angefangen habe. Das Rauchen von Heroin begleitet ihn durch sein Leben. Die körperliche Abhängigkeit von Opiaten stellt er schließlich als Normalität in seinem Leben heraus, mit der er sich abgefunden habe. So sagt er: „Turn selber hat man nicht mehr, sondern nur, dass man aufm normalen Level ist.“ Im Gegensatz zu Igor berichtet Bernd nicht von Therapien oder Selbsthilfegruppen, auch die Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld scheint konfliktarm. Die biografische Erzählung lässt sich so deuten, dass der Drogenkonsum in einem Prozess der Normalisierung zum alltäglichem Begleiter wird.

    Hier zeigt sich die Bandbreite der biografischen Prozesse mit und durch den Konsum illegaler Substanzen. Sucht kann eine zeitlich begrenzte biografische Phase beschreiben, genauso wie eine lebenslange Bindung an eine Substanz. Die Deutung von Drogenkonsum als Sucht kann das Resultat eines Prozesses der Bewusstwerdung oder die Interpretation körperlicher Reaktionen als Entzugserscheinungen sein. Genauso können süchtige Phasen als konflikthaft, eruptiv und als Grenzerfahrungen beschrieben werden, sie können aber auch relativ unauffällig auftreten und konfliktarm in die Arbeit am eigenen Alltag integriert werden.

    4. Chancen eines Suchtverständnisses, das Vielfalt zulässt

    Die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben kann Forschung und Praxis dazu anstoßen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und das Erleben von Menschen und deren Erzählungen ernst zu nehmen.

    Für die Suchtforschung heißt das, weniger nach typisierenden Mustern oder Regeln zu suchen, als Unterschiede hervorzuheben. Diese Perspektive ermöglicht auch eine komplexere Analyse von Einflussfaktoren auf Suchterleben und -verläufe.

    Für die Suchthilfe heißt das, dass subjektbezogen und dialogisch gearbeitet wird. Es geht weniger darum, die eine Behandlungsform für diese oder jene Gruppe zu finden, als für jede Person erneut zu schauen, was bezogen auf ihre biografischen Erfahrungen, Deutungsmuster und ihren Alltag Unterstützung bedeuten kann. So fühlen sich Menschen in ihrer konkreten Einzigartigkeit sowie in den spezifischen sozialen Kontexten ihrer Erlebnisse ernst genommen.

    Für in der Suchthilfe beruflich tätige Menschen bedeutet die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben auch, sich immer wieder überraschen zu lassen und nach dem Besonderen, Neuen und Erstaunlichen Ausschau zu halten. Brown und MacDonald (2022, S. 405) plädieren für das Zulassen, Fördern und Wertschätzen von „Counternarratives“. Solche Gegenerzählungen fordern gängige Sucht-Narrative heraus und wären somit elementarer Teil einer kritischen und stigmasensiblen klinischen Sozialen Arbeit.

    Und für suchterfahrene Menschen heißt das, dass ihnen eine eigene, mitunter widersprüchlich, eigensinnige Deutung ermöglicht wird. Ihnen wird die Anstrengung erspart, sich mit den dominanten Deutungen anderer auseinandersetzen zu müssen. Die Arbeit mit lebensweltlichen Deutungen ermöglicht das Herstellen eigener Kohärenz und die Aneignung des süchtigen Erlebens unter eigenen, und nicht fremden Konditionen.

    *Ich danke den Ko-Forschenden L. Beyer, J. Bürgel, F. Dürr, L. Fink, M. Gollnick, A. Heckert, S. Hofer, A. Janz, R. Kaiser, G. Kalayeh, H. Kiesewetter, S. Kuhn, K. Müller, R. Neumann, S. Pfitzner, V. Rakow, L. Sawatzki, C. Strauß, M. Vogt, J. Wockenfuß.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rebekka Streck
    Studiengang Soziale Arbeit
    Evangelische Hochschule Berlin
    rebekka.streck(at)eh-berlin.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rebekka Streck hat eine Professur für Sozialpädagogik und die Studiengangsleitung des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

    Literaturverzeichnis:
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    • Brown, Catrina/MacDonald, Judy E. (2020). Counterstorying for Social Justice. In: Catrina Brown/Judy E. MacDonald (Hg.). Critical clinical social work: Counterstorying for social justice. Toronto, Vancouver, Canadian Scholars, 405–409.
    • Boyd, Susan/Ivsins, Andrew/Murray, Dave (2020): Problematizing the DSM-5 cirteria for opioid use disorder: A qualitative analysis. In: International Journal of Drug Policy (78), 1-10.
    • Füssenhäuser, Cornelia (2016). Lebensweltorientierung und Sucht. In: Klaus Grunwald/Hans Thiersch (Hg.). Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. 3. Aufl. Weinheim, Beltz Juventa, 212–220.
    • Gertenbach, Lars (2019). Die Droge als Aktant. Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Robert Feustel/Henning Schmidt-Semisch/Ulrich Bröckling (Hg.). Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden, Springer VS, 263–277.
    • Hansjürgens, Rita/Schulte-Derne, Frank (2020) (Hrsg.). Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
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    • Kelly, John F. (2019). E. M. Jellinek’s Disease Concept of Alcoholism. Addiction 114 (3), 555–559.
    • Rumpf, Hans-Jürgen/Kiefer, Falk (2011). DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. Sucht 57 (1), 45–48.
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    • Schütze, Fritz (1994). Strukturen des professionellen Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision. Supervision 26, 10–39.
    • Streck, Rebekka (2022). Parkbank, Schnaps und Spritze – ethnografische Einblicke in Relationierungen von Alkohol- und Drogenkonsum mit dem Schlafen auf der Straße. In: Dierk Borstel/Jennifer Brückmann/Laura Nübold et al. (Hg.). Handbuch Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wiesbaden, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.
    • Thiersch, Hans; Grunwald, Klaus; Köngeter, Stefan 2012: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag. S. 175-196.
    • Weber, Georg/Schneider, Wolfgang (1997). Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen: Selbstausstieg, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg. Berlin, VWB Verl. für Wiss. und Bildung.
  • Sucht und Sexualität

    Sucht und Sexualität

    Joachim J. Jösch

    Sexualität ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen. Sie ist für jeden mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden. Sie ist geprägt von Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft und dem Lebensumfeld, in dem jemand aufwächst und lebt. Vater und Mutter sind die frühesten und wichtigsten Bindungspersonen eines Kindes. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind legt die Grundlagen für die Bindungsfähigkeit und beeinflusst das spätere (Beziehungs-)Leben. Kinder brauchen gute Vorbilder, um später selbst erfolgreich Bindungen eingehen zu können.

    Im Fachkrankenhaus Vielbach, einer Rehaklinik zur Behandlung alkohol- und medikamentenabhängiger Männer, wurde im Rahmen einer Klausur zur Weiterentwicklung der Behandlungskonzeption deutlich, dass dem wichtigen Lebensbereich der Sexualität bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es wurde beschlossen, die Rehabilitanden zu dem Thema zu befragen und die Behandlungsangebote entsprechend der Ergebnisse zu verändern. In diesem Artikel soll beschrieben werden, wie das Thema Liebe und Sexualität im Fachkrankenhaus Vielbach Einzug gehalten hat und welche Aktivitäten sich daraus entwickelt haben – ein Praxis- und Erfahrungsbericht, der eine neue Perspektive in der Behandlung von Suchtkranken aufzeigen möchte.

    Mehr als jeder zweite der Vielbacher Rehabilitanden ist nicht durchgehend mit seinen leiblichen Eltern aufgewachsen. Bald jeder zweite, der mit seinem Vater (zumindest zeitweise) aufgewachsen ist, glaubt nicht, dass er von ihm geachtet und geliebt wird oder wurde. Die durchgängige und zeitweilige Entbehrung des Vaters und das damit einhergehende Fehlen des männlichen Vorbildes haben im Hinblick auf Beziehungsfähigkeit bei vielen Patienten problematische männliche Rollenbilder entstehen lassen. Dies stellt eine Herausforderung für eine Rehabilitationsbehandlung dar, die Grundlagen für ein gelingendes Leben mit Liebe, Freundschaft und Emotionalität schaffen will.

    Gut 80 Prozent der Vielbacher Rehabilitanden erwartet beim Verlassen der Klinik zunächst ein Leben ohne Partnerin/Partner. Viele Patienten wünschen sich jedoch eine Partnerschaft. Dabei ist abzusehen, dass viele dieser Patienten erhebliche Probleme bei der Realisierung ihres Wunsches haben werden. (Das ist durch die Auswertung der regulären Behandlungsstatistik bekannt.) Dennoch wurde das Thema nur in wenigen Fällen therapeutisch bearbeitet.

    Für eine nachhaltige Stabilisierung der Abstinenz der Patienten spielen Liebe, Sexualität und Partnerschaft eine wichtige Rolle. Die gewünschte Partnerschaft, der Umstand, zu lieben und geliebt zu werden, sowie eine befriedigende Sexualität sind Quellen von Glück und Wohlbefinden, Anerkennung und Selbstwerterleben. Trotzdem waren diese elementaren zwischenmenschlichen Empfindungen und Interaktionen weder als Erfahrung noch als Zukunftskonzept der Rehabilitanden in dieser expliziten Form regelhaft Themen der Suchtbehandlung in Vielbach.

    Ergänzend zu den im Rahmen der Konzept-Klausur erarbeiteten Diskussionsergebnissen und Ideen beschäftigten sich Klinikleitung und therapeutisches Team mit zahlreichen Statements, die Patienten schon 1988 (!) zum Schwerpunktthema „Sexualität in der Suchttherapie“ in der Vielbacher Patientenzeitschrift SuchtGlocke geäußert hatten. Vielfältige Erfahrungen, Sorgen und Wünsche waren dort abgedruckt. Als Basis für konzeptionelle Neuerungen und die Einführung neuer Behandlungselemente waren sie jedoch nicht ausreichend, u. a. weil ihnen die Aktualität fehlte. Die Sichtung der Fachliteratur brachte Leitung und Team auch nicht weiter, da sich 90 Prozent der identifizierten Publikationen auf sexuelle Störungen und deren körperliche und psychische Ursachen beschränkten.

    Was wir unsere Patienten schon immer mal fragen wollten – Die Befragungswelle 2015

    2014 fassten Klinikleitung und therapeutisches Team den Entschluss, die Patienten zum Themenkomplex „Partnerschaft und Sexualität“ zu befragen. Zur Vorbereitung wurden alle Rehabilitanden zu einem Vortrag eingeladen, in dem der Ärztliche Leiter über die Relevanz dieser menschlichen Bedürfnisse für ein zufriedenes Leben informierte. Im zweiten Teil der Veranstaltung warb er bei den Zuhörern dafür, an einer nachfolgenden Befragung zum Thema teilzunehmen. Ziel der Befragung sei es, sowohl die somatische als auch die psychotherapeutische Behandlung stärker an den Bedürfnissen der Patienten im Bereich Liebe und Sexualität auszurichten. Anschließend diskutierten die Patienten ausgiebig über die angebotenen Informationen. Deutlich wurde hier eine große Zustimmung zu der Klinikinitiative, das Thema Sexualität angemessen in das ‚offizielle‘ Therapiegeschehen zu integrieren. Ein Patient formulierte treffend: „Wir haben das immer im Kopf, reden auch untereinander drüber – aber eher nicht mit den Therapeuten.“

    Dass die Patienten großes Interesse an der angekündigten Therapie-Innovation hatten, zeigte sich bei der Befragung. Nur wenige Patienten beteiligten sich nicht. Auf Anonymität, freiwillige Teilnahme und Durchführung außerhalb der Therapiezeiten wurde dabei strikt geachtet.

    Patienten berichten in der SuchtGlocke

    Noch bevor die Auswertung abgeschlossen war, startete die ausschließlich aus Patienten bestehende Redaktion der Klinikzeitung SuchtGlocke (SG) eine eigene Umfrage zu dem Schwerpunktthema „Sucht & Sexualität“. 84 sehr persönliche Beiträge wurden in der SG-Ausgabe Nr. 55 abgedruckt. Die Redaktion entschied sich, den Themenbereich zu vertieften. „Liebe und Geborgenheit“ war das Schwerpunktthema in der nachfolgenden SG-Ausgabe Nr. 56. Hier wurden 51 Beiträge von Mitpatienten und Ehemaligen, die auf die abgedruckten „Sucht & Sexualität“-Beiträge reagiert hatten, zusammengetragen. Folgende Aspekte spielen in den abgedruckten Beiträgen eine wichtige Rolle:

    Sexuelle Störungen

    In ihren Beiträgen zum Thema Sexualität in der SuchtGlocke thematisieren Patienten immer wieder sexuelle Störungen, die sie mit ihrem permanenten Konsum von Alkohol in Verbindung bringen. Einige sprechen sexuelle Versagensängste, Schüchternheit und Unerfahrenheit an. Andere sprechen von Stressreaktionen auf sexuelle Wünsche der Partnerin, die sie überfordern.

    Immer wieder berichten Patienten von exzessivem Alkoholkonsum als Reaktion auf scheinbar nicht lösbare Konflikte in der Partnerschaft. Und davon, wie in der Folge die „gegenseitige Liebe und Wertschätzung gestorben“ seien. Am Ende sei man „mit der Flasche verheiratet“ gewesen. Der tiefe „Wunsch nach Liebe“ sei „ertränkt“ worden. Gegen das Alleinsein nach gescheiterter Beziehung und die damit verbundenen schmerzhaften und deprimierenden Gefühle habe „nur der Konsum von Alkohol und Drogen geholfen“ oder zumindest für Schmerzlinderung gesorgt.

    Triebabfuhr und Gewalt

    Wenn auch die Partnerin abhängigkeitskrank war, habe es kein Korrektiv mehr zum materiellen und gesundheitlichen Scheitern gegeben. Das Leben im Rausch sei zur alltäglichen Normalität geworden. Sexualität habe, wenn überhaupt, auch nur noch im Rausch stattgefunden. Meist eher mechanisch, als sexuelle Triebabfuhr, die aber nicht die gewünschte Befriedigung verschafft habe.

    Meist verbunden mit intensiven Schuld- und Schamgefühlen, bekennen nicht wenige der Schreiber, unter starkem Alkoholeinfluss auch gewalttätig gegenüber ihrer – inzwischen meist ehemaligen – Partnerin geworden zu sein. In einigen Fällen sei aber auch die ebenfalls Suchtmittel konsumierende Partnerin ihnen gegenüber gewalttätig geworden. Keiner der Patienten schreibt davon, dies in der derzeitigen Therapie thematisiert zu haben.

    Gefühle

    In den Patientenbeiträgen wird deutlich, wie schwer es vielen fällt, über ihre Gefühle zu schreiben. Verschiedenste Erfahrungen mit Sexualität werden – zum Teil ausführlich – geschildert. ‚Liebe‘ taucht meist nur als Sehnsucht auf.

    Einige Patienten bedauern das Fehlen von Mitpatientinnen in der Therapie. Vorteile einer Therapie in einer Männerklinik werden jedoch häufiger benannt. „Von Frauen unbeobachtet“, könne man sich unter Männern „echter“ und „authentischer“ verhalten. Dann ginge es auch „ehrlicher“ zu – nicht nur bei den patienteninternen Schilderungen von sexuellen Erfahrungen.

    Pornographie

    Viele Patienten schauen sich während der Zeit ihres Klinikaufenthaltes Pornographie an. Die häufige Erwähnung des Themas lässt auf einen recht hohen Stellenwert schließen. Doch für die meisten ist es offenbar nur eine Notlösung, die bloße Triebabfuhr ohne wirkliche Befriedigung ermöglicht. Durchgängig deutlich wird der dahinter liegende Partnerschaftswunsch vieler Patienten. Ähnlich verhält es sich wohl auch mit wiederholt geschilderten Bordellbesuchen während des Therapieaufenthaltes.

    Masturbation

    Der Konsum von Pornos dient den Patienten meist als sexuell stimulierende Vorlage zur geschlechtlichen Selbstbefriedigung. Das Thema Masturbation taucht in einer Vielzahl von Beiträgen auf. „Tut gut“, „erleichtert“, „Notbehelf“, „besser als nix“, „schales Gefühl danach“, „wie ein kurzer Sonnenschein, der kurz durch dunkle Wolken dringt“ und „ich schäme mich“ sind angeführte Bewertungen.

    Sexuelle Orientierung

    Mehrfach wird angesprochen, wie in der Vielbacher Männerklinik mit nicht-heterosexueller Orientierung umgegangen wird. Aus den Berichten homosexueller Patienten lässt sich schließen, dass diese hinsichtlich der Toleranz, die ihnen ihre heterosexuell orientierten Mitpatienten entgegenbringen, unsicher sind. Wiederholt werden Hemmungen angesprochen, sich während der Therapie zur eigenen Homosexualität zu bekennen. Die Angst davor, nach dem ‚Outen‘ von der eigenen Bezugsgruppe ausgegrenzt zu werden, scheint groß zu sein.

    Für Suchtkranke ist es besonders wichtig, selbstbewusst zu ihrer Sexualität wie auch zu ihrer sexuellen Orientierung stehen zu können. Ein selbstbestimmtes Leben mit sozialer Teilhabe, frei von Sucht, ist nicht vereinbar mit permanenter sexueller Selbstverleugnung. Ein wichtiges Thema für entsprechende neu zu konzipierende Schulungs- und Therapieangebote.

    Die beschriebenen Patientenaussagen machten dem Klinikteam – ergänzend zu den zuvor schon gewonnenen Erkenntnissen – deutlich, wie wichtig eine Einbeziehung der Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft in den Therapieprozess für eine gelingende und nachhaltige Rehabilitation der Patienten ist.

    ‚Normale‘ Wünsche, ‚unnormale‘ Verwirklichungschancen – Die Befragungswelle 2016

    Im Frühjahr 2016 startete die Klinik eine neue Befragungsrunde. An dieser zweiten Befragung nahmen 69 Patienten teil. Zusammen mit den 63 Teilnehmern der ersten Befragung wurde so eine Gesamtteilnehmerzahl von 132 erreicht.

    Der Fragebogen umfasste 64 Fragen. Zwei Psychologie-Studentinnen nahmen anschließend die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials vor. Die Ergebnisse beeindrucken in ihrer Deutlichkeit, auch hinsichtlich der Patientenwünsche und -ängste für die Zeit während und nach der Rehabilitation. Partnerschaft und Sexualität sind für viele Patienten ähnlich wichtig wie Abstinenz. Patienten wollen ‚Teilhabe‘ – auch in sozialen Beziehungen und in Bezug auf Sexualität.

    Hervorzuheben ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit:

    • 80 % der Patienten leben nicht in einer Partnerschaft!
    • 82 % der Partnerlosen wünschen sich eine
    • 85 % der Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein Leben ohne Suchtmittel.
    • 92 % der Patienten ist Sexualität wichtig bis sehr wichtig.

    Weitere aus Kliniksicht interessanteste Ergebnisse sind:

    Sexualleben

    • 72 % der Patienten sind mit ihrem Sexualleben derzeit unzufrieden. 4,4 % sind manchmal zufrieden.
    • 75,8 % der Patienten masturbieren mehrmals in der Woche, 34,8 % täglich.
    • 51,5 % der Patienten haben schon einmal eine Prostituierte aufgesucht.
    • 47,1 % der Patienten haben während der Therapie schon einmal eine Prostituierte aufgesucht oder beabsichtigen dies.
    • 31,8 % der Patienten nutzen häufig bis immer erotische oder pornographische Produkte (Bilder, Filme). 40,9 % geben an, diese manchmal zu nutzen.
    • 25,5 % der Patienten geben an, eine „sexuelle Störung“ zu haben.
    • 62,1 % der Patienten möchten über gesundheitliche Störungen, die negative Auswirkungen auf die männliche Sexualität haben, und deren Behandlung informiert werden.

     Einsatz von Suchtmitteln

    • 47,7 % der Patienten fällt es schwer, ohne vorherigen Konsum von Suchtmitteln eine Frau bzw. einen Mann anzusprechen.
    • 59,6 % der Patienten haben Sex in den letzten Jahren meistens unter dem Einfluss von Suchtmitteln erlebt.
    • 54,8 % der Patienten haben schon einmal Drogen oder ähnliche psychoaktive Substanzen eingesetzt, um ihr erotisches Erleben anzuregen.

    Partnersuche im Internet

    • 53 % der Patienten haben schon einmal überlegt, im Internet auf Partnersuche zu gehen.
    • 36,8 % der Patienten haben mit Partnersuche im Internet schon Erfahrungen gemacht.
    • 65,2 % der Patienten möchten in der Therapie über Partnersuche im Internet (Verfahren, Kosten und Risiken) informiert werden.

    Beziehung zu Klinikmitarbeiter/innen

    • 78 % der Patienten haben schon einmal Gefühle von Verliebtheit in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Keiner von ihnen hat das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.
    • 40,7 % der Patienten haben schon einmal sexuelle Phantasien in Bezug auf Klinikmitarbeiter/innen gehabt. Lediglich 1,5 % von ihnen haben das Thema schon einmal in einem therapeutischen Gespräch angesprochen.

    Gewalterfahrungen und familiärer Hintergrund

    • 51,6 % der Patienten sind bis zum 18. Lebensjahr nicht durchgehend mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen.
    • 57,4 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene körperliche Gewalt angetan.
    • 28 % der Patienten wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch die Eltern oder andere Erwachsene sexuelle Gewalt angetan.

    Feed back

    • 86,4 % der Patienten bewerteten die Befragung als gute Idee.
    • 90 % der Patienten begrüßten es, nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen in Bezug auf Liebe und Sexualität gefragt zu werden. 

    Aus der Befragung geht hervor, dass sich die Patienten bei den Themen sexuelle Gesundheit, Partnersuche und Beziehungsanbahnung Beratung und Hilfe von Seiten der Klinik wünschen. Dem anonym geäußerten übergroßen Wunsch nach Partnerschaft und Sexualität scheint eine große Hilflosigkeit der Patienten hinsichtlich der Realisierung entgegenzustehen. Nicht nur in den therapiefreien Zeiten sind immer wieder Sprüche wie „Wahre Liebe gibt’s nur unter Männern“ und Frauen abwertende Äußerungen zu hören. Dem Umstand, dass ersehntes sexuelles und Liebesglück nicht oder nur schwer erreichbar scheinen, versuchen viele Patienten mittels Rationalisierung und Kompensation zu begegnen.

    Beeindruckend war, wie viele Patienten sich während und nach der Befragung für die Klinikinitiative bedankten. Deutlich wurde, dass die Patienten sich und ihre Interessen wahr- und ernstgenommen fühlen.

    Fachtagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“

    Um die Fachöffentlichkeit für Liebe und Sexualität als Thema in der Suchtbehandlung zu sensibilisieren und die eigenen Aktivitäten vorzustellen, veranstaltete das Fachkrankenhaus Vielbach im September 2016 die Tagung „Sucht & Sexualität – Mann (S)sucht Liebe“. Fast 200 Fachkräfte der Suchthilfe aus ganz Deutschland, der Schweiz und Luxemburg diskutierten zusammen mit Experten darüber, wie wichtig gelingende Partnerschaft und erfüllende Sexualität für ein Leben frei von Sucht sind. Es ging u. a. um die Fragen: Wie wirkt es sich auf die Abstinenz aus, wenn sich keine Partnerin/kein Partner findet? Können in einer Suchtrehabilitation die Chancen auf Verwirklichung des Wunsches nach einer Partnerin/einem Partner und entsprechende Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, und wenn ja, wie?

    Die Fachtagung stieß auf sehr großes Interesse. Aus den Diskussionen im Plenum und den Arbeitsgruppen gingen viele Impulse für die therapeutische Praxis hervor.

    „Nicht ohne uns über uns“ – Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung

    In Vielbach diskutieren Klinikleitung und therapeutisches Team über Ergänzungen des Behandlungskonzeptes, die einen sehr privaten Lebensbereich ihrer Rehabilitanden betreffen. Mit der umfangreichen Befragung der Betroffenen entspricht die Klinik dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nicht ohne uns über uns“. Gleichberechtigte soziale Teilhabe von sozial benachteiligten Abhängigkeitskranken setzt Partizipation und konsequente Personenzentrierung auch in der Rehabilitation voraus. Das fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ganz aktuell von den Reha-Trägern. In die Überlegungen zu Neuerungen in der Behandlung, die den Bereich Liebe, Sexualität und Partnerschaft betreffen, werden die Patienten regelmäßig einbezogen.

    Entsprechende neue therapeutische Interventionen werden sukzessive vereinbart und in Therapieplanung und -struktur eingepasst. Die konkrete Umsetzung wird durch Mitarbeitende des therapeutischen Teams vorgenommen. Hier gilt es zu beachten, dass diese Mitarbeitenden eine von ganz persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen geprägte Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität haben. Deshalb sollten für diese Aufgaben besonders geeignete Mitarbeitende ausgewählt werden. Themenspezifische Fort- und Weiterbildungen sind hilfreich. Insbesondere in der Anfangszeit dieser neuen Angebote sollten die Mitarbeitenden bei der Reflexion und Verbesserung ihres therapeutischen Handelns durch Supervision unterstützt werden.

    Angebote der Klinik

    Neue Angebote finden nun im Rahmen von Beratungen, medizinischen Untersuchungen und Behandlungen sowie Schulungen statt. Mit und ohne therapeutische Anleitung tauschen sich Patienten darüber aus, wie sie Liebe, Lust und Leidenschaft in ihrer ‚nassen‘ Zeit erlebt haben. Und sie reden über Freude, Neugier, Unsicherheit und Angst, die sie bei dem Gedanken empfinden, diese intensiven sexuellen Gefühle zukünftig mit klarem Kopf erleben zu wollen.

    Das MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“

    Alle Patienten nehmen jetzt während ihres Reha-Aufenthaltes an dem dreitägigen MännerCamp „Fit fürs L(i)eben“ teil. An diesen fest im Therapieplan verankerten Tagen werden in verschiedenen Modulen ganz konkrete Themen zum Bereich „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“ bearbeitet, z. B. „Die Sache mit der Liebe“, „Frauen verstehen lernen“, „Was Frauen erwarten“, „Wie präsentiere ich mich?“, „Der erste Kontakt“, „Vorsicht beim Dating“, „Sex und Leistungsdruck“, „Pornos“, „ Fremdgehen“, „Was es für eine dauerhaft gelingende Partnerschaft braucht“ und „Was tun, wenn keine Partnerschaft zustande kommt?“.

    Bevor die Klinik das Angebot „Fit fürs L(i)eben“ einführte, wurden die Inhalte vom therapeutischen Team geclustert. An diesem Prozess waren auch die Patienten beteiligt. Themenauswahl und Schwerpunktsetzung wurden nach der vorgesehenen Evaluierung im Hinblick auf Wirksamkeit und Teilnehmerakzeptanz optimiert. Zentrales Ziel, das die die Klinik mit dem MännerCamp anstrebt, ist die Erweiterung von Handlungsbefähigung und damit die Verbesserung von Verwirklichungschancen hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität für die Rehabilitanden.

    Rolle der Mitarbeiter/innen

    Eine große Zahl an Patienten gibt in der Befragung Gefühle von Liebe und sexuellem Begehren gegenüber Klinikmitarbeiter/innen an. In einer gemischtgeschlechtlichen Klinik wäre diese Zahl vermutlich deutlich geringer. Hier muss die therapeutische Leitung sehr aufmerksam – auch mit supervisorischer Unterstützung – dafür Sorge tragen, dass insbesondere die Bezugstherapeuten professionell mit dieser Thematik umgehen.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von männlichen Therapeuten gilt es, zwischen einem konstruktiven Arbeitsbündnis und unangemessener Solidarität zu differenzieren. Vater-Sohn-Übertragungen, Vermischungen mit eigenen schmerzhaften Erfahrungen mit Frauen sowie eventuell die eigene belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität u. ä. müssen beachtet werden.

    Bei Beratungs-/Therapiegesprächen von Therapeutinnen gilt es, darauf zu achten, nicht in mögliche Fallen zu geraten wie: die Mutter-Rolle zu übernehmen, Ersatz-Partnerin zu sein, in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten, Beziehungsmuster des Klienten zu Frauen unhinterfragt zu wiederholen oder durch die eigene eventuell belastete Einstellung zum Thema Partnerschaft und Sexualität beeinflusst zu werden.

    Ärztliche Untersuchung

    Bei der ärztlichen Untersuchung der Patienten wird in Vielbach jetzt darauf geachtet, Fragen nach sexuellen Störungen regelhaft durch einen Arzt, nicht eine Ärztin, zu stellen. Hier gilt es, sich früh zu entscheiden, für welche der festgestellten Störungen welche Therapie (somatisch oder/und psychotherapeutisch) angezeigt ist und welche Störungen während der stationären Rehabilitation oder vielleicht anschließend behandelt werden sollten. Entscheidend sind die Wünsche des von den Klinikmitarbeiter/innen – eventuell auch von Konsiliarärzten – fachlich gut beratenen Patienten.

    Liegt eine entsprechende medizinische Indikation (erektile Dysfunktion) vor, kann Patienten „Viagra“, „Cialis“ o. Ä. verordnet werden. Der Verordnung wird ein Beratungsgespräch zwischen Patient und Bezugstherapeut/in regelhaft vorgeschaltet.

    Psychotherapie

    Traumatisierende Ereignisse, die negativen Einfluss auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit eines Patienten genommen haben, sollen regelhaft im Rahmen der psychotherapeutischen Befunderhebung festgestellt und behandelt werden.

    Neun von zehn Patienten nehmen an, eine Partnerschaft erleichtere ihnen ein suchtmittelfreies Leben. Nicht wenige Patienten machen die/den potenziellen Partner/in quasi für ihr Wohlergehen und damit ihre Abstinenz verantwortlich. Eine solche Einstellung in Gruppen- und Einzeltherapiegesprächen therapeutisch zu bearbeiten, ist lohnenswert. Dieser Prozess unterstützt die Patienten auf ihrem Weg in die Eigenverantwortlichkeit und stärkt ihre Abstinenzfähigkeit.

    Tiergestützter Behandlungsansatz

    Erfahrungen, die in Vielbach im Rahmen des tiergestützten Behandlungsansatzes gesammelt wurden, helfen ebenfalls bei der Umsetzung von therapeutischen Interventionen in diesem Themenbereich. Die Referentin Sonja Darius traf bei der Fachtagung Sucht & Sexualität zur Rolle von Tieren bei der Heilung von Bindungs- und Beziehungsstörungen die Feststellung: „Ohne das Knüpfen neuer, gelingender Beziehungen wird den meist alleinstehenden Patienten nach der Therapie ein Neustart in ein gutes, suchtfreies Leben nur schwer gelingen. Tiergestützte therapeutische Angebote wie im Fachkrankenhaus Vielbach können gute Voraussetzungen für neue, gelingende Beziehungsaufnahmen schaffen und stellen damit einen wertvollen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Suchtrehabilitation dar.“

    Auch die Erfahrungen externer Kolleginnen und Kollegen fließen in die Weiterentwicklung des Vielbacher Konzeptes ein. Im Rahmen verschiedener Suchtkongresse stellt die Klinik ihr Sucht & Sexualität-Projekt vor und diskutiert es mit den Teilnehmenden.

    (Zwischen-)Resümee

    Mit der offenen Thematisierung des privaten Lebensbereiches „Liebe, Sexualität und Partnerschaft“, der auch in der Therapie angemessen Platz finden soll, hat das Fachkrankenhaus Vielbach unbeabsichtigt ‚Zauberlehrling‘ gespielt. Die Mitarbeiter/innen waren erst erschrocken, dann erstaunt über die vielfältigen klinikinternen wie externen Reaktionen.

    Die Patienten haben der Klinik mit ihren Beiträgen in der SuchtGlocke und ihren Antworten im Rahmen der Befragung einen ‚Schatz’ anvertraut. Sie haben den Mitarbeiter/innen mitgeteilt, was sie in einem sehr intimen Bereich ihres Lebens bewegt. Ihre Erfahrungen und Fragen, ihre Probleme und Ängste, ihre Wünsche und Träume. Leitung und Team der Klinik wollen auf möglichst viele Fragen Antworten geben, Ängste nehmen, Hoffnung stiften und zusammen mit ihnen realistische Zugänge zu gelingender Partnerschaft und Sexualität schaffen.

    Wie weit gehend? Das werden sie zusammen ausprobieren.

    Kontakt:

    Joachim J. Jösch
    Fachkrankenhaus Vielbach
    Nordhofener Str. 1
    56244 Vielbach
    Tel. 02626/9783-25
    joachim.joesch@fachkrankenhaus-vielbach.de

    Angaben zum Autor:

    Joachim J. Jösch leitet das Fachkrankenhaus Vielbach seit 2006. Zusammen mit der stationären Vorsorge „Neue Wege“ und der „Nachsorge Ambulante Integrationshilfe“ bildet das Fachkrankenhaus das Sucht-Hilfe-Zentrum Vielbach.

    Weiterführende Literatur:
    • Fachklinik Bad Tönisstein (Hrsg.) (1993): Bad Tönissteiner Blätter. Beiträge zur Suchtforschung und ‑therapie. Bd. 5, H. 2. Bad Tönisstein
    • Patienten des Fachkrankenhaus Vielbach (2017): Wann ist Mann eine Mann? In: Patientenzeitschrift SuchtGlocke, Jg. 32, H. 57, S. 14-23
    • Robert Koch Institut (Hrsg.) (2014): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Berlin
    • Stiftung Männergesundheit (Hrsg.) (2017): Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht. Gießen

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa

    In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.

    Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)

    Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).

    Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit

    Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).

    Strategien gegen Stigmatisierung

    Das Stigma-Memorandum

    Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.

    Psychologische Forschung

    Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.

    Öffentlicher Diskurs

    Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.

    Behandlung

    Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen,  Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.

    Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention

    Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.

    Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.

    Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich

    Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:

    Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.

    Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.

    Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.

    Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.

    Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.

    Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.

    Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“

    Partizipative Theaterarbeit

    Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.

    Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
    Kontakt:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa
    Gesundheitsakademie Nord e.V.
    Holstenstraße 68a
    24103 Kiel
    regina.kostrzewa@gesundheitsakademie-nord.de
    www.gesundheitsakademie-nord.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.

    Literatur:
    • Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
    • Bottlender, R. & Möller, H.-J. (2005): Psychische Störungen und ihre sozialen Folgen. In: Gaebel, W., Möller, H.-J.& Rössler, W. (Hrsg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart: Kohlhammer. S. 7-17.
    • Brooks, M./Kay-Lambkin, F./Bowman, J./Childs, S. (2012): Self-Compassion Amongst Clients with Problematic Alcohol Use. Springer Science Media, DOI 10.1007/s12671-012-0106-5.
    • Corrigan, P./Schomerus, G./Shuman, V./Kraus, D./Perlick, D./Hamish, A./Kulesza, M./Kane-Willis, K./Qin, S./Smelson, D. (2016): Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict.
    • Dishion, T. J. (1999): When Interventions harm. Peer Groups and Problem Behavior. In: American Psychologist, 54, 755-764.
    • Finzen, A. (2001): Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen. 2. korrigierte Auflage. Bonn: Psychiatrieverlag.
    • Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). In: Nervenarzt 85, 77 – 87.
    • Schomerus, G. (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? Psychiatrische Praxis, 38, 109 – 110.
    • Schomerus, G./Holzinger, A./Matschinger, H. et al. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiatrische Praxis. DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1223438.
    • Schomerus, G. et al. (2010): Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy. In: Drug and Alcohol Dependence, 1 – 6.
    • Vogt, I. (2017): Nobody’s perfect: Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe zu psychisch Kranken. Ein Überblick über die Forschungsergebnisse. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 49 (2), 307 – 323.
    • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit BAG: Suchtforschung des BAG 1996 – 98, Band 2/4: Prävention, 2 – 13.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Frank Schulte-Derne
    Rita Hansjürgens
    Ulrike Dickenhorst
    Conrad Tönsing

     

    Einleitung

    Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).

    Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.

    Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)

    Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.

    Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.

    Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.

    Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.

    Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.

    Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.

    Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).

    Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.

    Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).

    Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie

    Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.

    Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.

    Angaben zu den Autoren:

    Frank Schulte-Derne
    Dipl.-Sozialpädagoge
    Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
    Vorsitzender der DG-SAS
    Frank.Schulte-Derne@lwl.org

    Rita Hansjürgens
    M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
    Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Ulrike Dickenhorst
    Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
    Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Conrad Tönsing
    Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
    Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.

    Literatur:
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2013): Vereinbarungen im Suchtbereich. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
    • Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
    • Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
    • Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
    • Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
    • Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Die Relevanz von Assessments in der arbeitsbezogenen Ergotherapie

    Die Relevanz von Assessments in der arbeitsbezogenen Ergotherapie

    Petra Köser
    Frank Zamath

    Die arbeitsbezogene Ergotherapie in der Behandlung und Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt. Ihre Hauptaufgabe ist die Diagnostik der Arbeitsfähigkeiten und die Förderung der Produktivität und Teilhabe. Je nach Störungsbild wenden Therapeuten komplexe arbeitsplatzorientierte Verfahren an, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit zu erhalten. Ergotherapeuten und -therapeutinnen behandeln Krankheiten, die mit Veränderungen des Verhaltens, des Gedächtnisses, der Körperfunktionen und des alltäglichen Lebens einhergehen. Sie greifen dabei auf psychosoziale, kognitive und arbeitstherapeutische Interventionen zurück. Sie haben eine staatlich anerkannte Fachschulausbildung mit fachtherapeutischen Weiterbildungen absolviert oder Ergotherapie studiert.

    Ergotherapeuten, deren Behandlungsauftrag auf die Teilhabeproblematik gerichtet ist, sind mit Berufskontexten vertraut. Sie kennen die in Deutschland gebräuchlichsten Messverfahren zur Überprüfung und Dokumentation der kognitiven und funktionellen Leistungsfähigkeit. Diese Verfahren sind nicht nur wichtig für die Wirksamkeitsforschung, sondern auch für die Qualitätssicherung der Behandlung. Die Ergotherapie ist in stationären Rehabilitationseinrichtungen für Abhängigkeitserkrankte fest etabliert und fördert die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft (DRV, 2013).

    Die MBOR-Strategie (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation; Bethge, 2017) stellt den Bezug zur Arbeitswelt stärker als bisher in den Mittelpunkt und verändert die klinischen Versorgungsstrukturen (www.medizinisch-berufliche-orientierung.de). In der Suchtreha erfolgt die Teilhabeförderung nach den „Empfehlungen zur beruflichen Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) in so genannten Basismaßnahmen, Kernmaßnahmen und spezifischen Maßnahmen (Weissinger/Schneider, 2015). Diese werden nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen wie Ergotherapeuten, Ärzten und Psychologen wirksam. Die Ergotherapie als multimodale Funktionstherapie leistet einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Alltags- und Berufsleben der Betroffenen (WFOT, 2012), besonders bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit in den Komponenten Aktivitäten und Partizipation nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; Bickenbach, Cieza et al., 2012).

    Das Spektrum arbeitstherapeutischer Interventionen ist vielfältig (vgl. Höhl, Köser, Dochat, 2015; Storck/Plössl, 2015). Arbeitstherapie wird nicht mehr nur von traditionellen körperfunktionsorientierten Ansätzen dominiert und begleitend als materialgebundenes Gruppenangebot durchgeführt. Mit fortschreitender Professionalisierung gewinnen auch solche Interventionstypen an Bedeutung, die an der Schnittstelle zur ambulanten Versorgung (medizinische Rehabilitation oder Leistungen zu Arbeit und Ausbildung) erbracht werden (Gühne/Riedel-Heller 2015). Solche Leistungen beinhalten beispielsweise aktivierende verhaltenstherapeutische Methoden, die Ergotherapeuten eigenverantwortlich durchführen (Zamath, 2015). Ergotherapeuten erheben Arbeitsanamnesen, Arbeitsplatz- und Ressourcenanalysen, nutzen arbeitsdiagnostische Instrumente und gestalten den therapeutischen Prozess bei der Wiedereingliederung mit. In Gruppen- und Einzelsitzungen werden arbeitsrelevante Fertigkeiten zur Förderung der Kognition, Motivation, Emotionswahrnehmung oder Stressbewältigung vermittelt, vor allem dann, wenn die Frage „nach der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und gegebenenfalls nach der Schaffung eines an die Erkrankung angepassten Arbeitsplatzes“ zu klären ist (Linden/Gehrke, 2013, S. 11).

    Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen leiden häufig unter motorischen, kognitiven und psychosozialen Einschränkungen, die sich auf die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz auswirken. In der MBOR sind sozialmedizinische Aussagen zur Belastbarkeit zu treffen. In diesem Zusammenhang spielt die arbeitsbezogene Ergotherapie eine wichtige Rolle und wirkt mit, das Ziel der Rentenversicherung, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen bzw. zu erhalten (DRV, 2013), zu erreichen. Mit ihren beruflich orientierten Behandlungseinheiten trägt die Ergotherapie dazu bei zu beurteilen, inwieweit abhängigkeitserkrankte Menschen weniger als drei Stunden, zwischen drei und sechs Stunden oder mehr als sechs Stunden pro Tag leistungsfähig sind (vgl. Zamath, 2017a).

    Im Folgenden werden verschiedene Funktions- und Leistungstests, Selbst- und Fremdratings sowie Profil- und Dokumentationsverfahren vorgestellt, die innerhalb der arbeitsbezogenen Ergotherapie Abhängigkeitserkrankter relevant sind.

    IMBA – Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt

    Wenn es darum geht, einen Menschen nach seiner Erkrankung wieder in Arbeit zu bringen, kommt IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) zum Einsatz (www.imba.de). Das Verfahren dient als Entscheidungshilfe im Rehabilitationsprozess und bezieht sich auf die Passung der arbeitsrelevanten Fähigkeiten von Klienten mit den Anforderungen eines Arbeitsplatzes (Zamath, 2017c).

    Neben der Dokumentation vorhandener Schlüsselqualifikationen (vgl. dazu Items Melba®) lassen sich mit IMBA körper- oder umweltbezogene Merkmale wie Körperhaltung, Körperfortbewegung oder physische Ausdauer erheben. In Kombination mit IMBA kann das ELA-Verfahren (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten; Drüke, Zander, Alles, 2010), das weiter unten noch einmal genannt wird, zur Beurteilung der arbeitsrelevanten physischen Leistungsfähigkeit eingesetzt werden (www.iqpr.de).

    Kognitive Leistungsfähigkeit

    Zur Beurteilung des kognitiven Leistungsvermögens im Erwerbsleben nutzen Ergotherapeuten Testverfahren mit hohem Normierungsumfang und zufriedenstellenden Testgütekriterien. So bieten Ibrahimovic und Bulheller (2013) eine umfangreiche Testbatterie zur Beschreibung beruflicher Interessen und Fähigkeiten. Mit ihrem Konzentrationstest kann man etwa die Frage beantworten, ob jemand in der Lage ist, ein bestimmtes Arbeitspensum zu leisten oder unter Zeitdruck eine gute Arbeitsqualität zu erreichen. Dabei müssen Zielsymbole nach einer vorgegebenen Regel markiert werden. Zusätzlich werden häufig computergestützte Kognitionstrainings wie COGPACK® (www.markersoftware.com) oder RehaCom® (www.rehacom.de) eingesetzt. Bei diesen Verfahren geht es hauptsächlich um die Diagnostik und Therapie von Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Exekutivfunktionen. Solche Hirnleistungstrainings gehören neben anderen arbeitstherapeutischen Interventionen zu den Angeboten einer BORA-Kernmaßnahme.

    MELBA – Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in Arbeit

    Mit MELBA (Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in Arbeit) werden bei den Rehabilitanden mit Hilfe verschiedener Informationsquellen Fähigkeiten wie Arbeitsorganisation, Feinmotorik oder Schlüsselqualifikationen eingeschätzt (Kleffmann et al., 2000). Schlüsselqualifikationen wie Auffassung, Konzentration und Kulturtechniken können in der Arbeitsdiagnostik prognostische Hinweise zur Befähigung und Eignung für bestimmte Tätigkeiten liefern. Die Ergebnisse werden mit konkreten Arbeitsplatzanforderungen in Beziehung gesetzt und im Profilvergleich dokumentiert.

    Zur Beurteilung berufsbezogener Fähigkeiten wie Rechtschreibkompetenz oder Rechenfähigkeit eignen sich Arbeitsproben. Beispiele hierfür sind die „Arbeitsprobe zur berufsbezogenen Intelligenz. Büro- und kaufmännische Tätigkeiten“ (Schuler/Klingner, 2005; Görlich/Schuler, 2010) oder die „Arbeitsprobe zur berufsbezogenen Intelligenz. Technische und handwerkliche Tätigkeiten“ (Görlich, Schuler, 2007).

    In DRV-Einrichtungen werden MELBA und IMBA zur Identifikation beruflicher Problemlagen vielfach eingesetzt (BAR, 2016), beispielsweise im Rahmen einer „Verhaltensbeobachtung zur arbeitsbezogenen Leistungsbeurteilung“ (DRV 2015, S. 121). Die noch relativ neue Ergänzung durch das Assessment Melba®+Mai (www.miro-gmbh.de/de/melbamai/) ergänzt das Assessment Melba und ermöglicht auch den Vergleich der körperlichen Fähigkeiten eines Menschen mit den Anforderungen einer Tätigkeit.

    O-AFP – Osnabrücker Arbeitsfähigkeitenprofil

    Das O-AFP (Osnabrücker Arbeitsfähigkeitenprofil; Wiedl, Uhlhorn, 2006) gehört zu den Assessments mit zufriedenstellenden Testgütekriterien, die sich für die Beurteilung psychisch erkrankter Menschen eignen. Damit werden mittels der Skalen „Lernfähigkeit“, „Fähigkeit zur sozialen Interaktion“ und „Anpassung“ die Arbeitsfähigkeiten mit der Bezugsreferenz allgemeiner Arbeitsmarkt gemessen (Zamath, 2017b). Das O-AFP ist ein Instrument zur Selbst- und Fremdeinschätzung. Es wird nach einer Verlaufsbeobachtung, in der Klienten in einer Therapie- oder Arbeitssituation Tätigkeiten ausgeführt haben, angewendet (Köhler, 2011). Fähigkeitsprofile wie MELBA oder O-AFP gehören zu den BORA-Kernmaßnahmen (Weissinger/Schneider, 2015).

    Mini ICF-APP – Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen

    Die Abgrenzung zwischen Symptomen, Fähigkeitsbeeinträchtigungen und Lebensführung bei Abhängigkeitserkrankten ist komplex. Für die sozialmedizinische Begutachtung werden deshalb Rechtsvorschriften neben der ICD-10 ganzheitlich im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ausgelegt (Rose/Köllner, 2016). Mit diesem Ansatz können psychische Erkrankungen über Körperfunktionen hinaus erklärt werden.

    Auch die Arbeitstherapie nutzt die ICF als Bezugsrahmen, um den Zusammenhang zwischen Gesundheitsstörungen und der Leistungsfähigkeit zu verstehen (Hucke/Poss, 2015). So können sich in Rehabilitationskliniken tätige Ergotherapeuten nach den „Praxisempfehlungen für die (Arbeits-)Fähigkeitsbeurteilung bei psychischen Erkrankungen“ weiterbilden (Zamath, 2017a). In der Arbeitsdiagnostik nutzen sie das Mini-ICF-APP (Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen; Linden, Baron, Muschalla, 2009) als Kurzinstrument zur Fremdbeurteilung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen, das besonders von Fachgesellschaften empfohlenen wird. Damit wird eingeschätzt, in welchem Ausmaß ein Rehabilitand in seiner Leistungsfähigkeit bei der Durchführung arbeitsbezogener Aktivitäten beeinträchtigt ist. Im Fremdrating werden so Fähigkeiten wie „Flexibilität und Umstellungsfähigkeit“, „Kompetenz und Wissensanwendung“, „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ oder „Gruppenfähigkeit“ beurteilt.

    AVEM – Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster

    Das Assessment AVEM (Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster; Schaarschmidt/Fischer, 2003) wird regelhaft in DRV-Kliniken eingesetzt (BAR, 2016). Ergotherapeuten erfassen damit die Einstellung zur Arbeit und klären gesundheitliche berufsbezogene Risiken ihrer Klienten ab (Kegler, 2014). Aus der Einschätzung lassen sich etwa Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ableiten. Kooperationen mit anderen Rehabilitationsträgern werden als spezifische Maßnahmen für BORA-Rehabilitanden durchgeführt, wenn ein weiterer Bedarf an Unterstützung zur beruflichen Wiedereingliederung festgestellt wurde (Weissinger/Schneider, 2015). Dies erfolgt häufig, wenn die Arbeitsfähigkeit für einen bestimmten Beruf auch bei gutem Verlauf nicht innerhalb von sechs Monaten und nach langandauernder Arbeitsunfähigkeit erreichbar ist. Dies ist etwa der Fall, wenn die Prognose für eine berufliche Wiedereingliederung wegen gesundheitsschädigender Verhaltensmuster durch den AVEM negativ bewertet wird (Rose/Köllner, 2016). Darüber hinaus kann das Verfahren zur Individualisierung der Rehabilitationsmaßnahme und zur Erfolgskontrolle des Rehabilitationsprozesses herangezogen werden.

    DIAMO – Fragebogen zur Diagnostik von Arbeitsmotivation

    Der Erfassung motivationaler Faktoren zu Beginn einer Rehabilitation kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Der DIAMO (Fragebogen zur Diagnostik von Arbeitsmotivation) wurde entwickelt, um Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen nach ihrer arbeitsbezogenen Motivation zu unterscheiden. Dies verschafft diagnostische Ansatzpunkte für eine differenzierte Zuweisung zu bestimmten Behandlungsformen auch innerhalb der arbeitsbezogenen Ergotherapie. Beispielsweise ist es möglich, Rehabilitanden mit mangelnder Motivation psychosoziale Interventionen und Beratungen zur Motivationsförderung anzubieten. Rehabilitanden mit resignativer Haltung hinsichtlich beruflicher Zielperspektiven können frühzeitig identifiziert werden. Die Auswertung des Fragebogens ermöglicht einen Abgleich von Selbst- und Fremdeinschätzung zur Arbeitsmotivation, sie kann auch als Einstieg für die Auseinandersetzung mit den arbeitsbezogenen Motiven genutzt werden.

    Der Therapeutin bzw. dem Therapeuten wird mit dem DIAMO ermöglicht, gemeinsam mit den Rehabilitanden motivationsfördernde und -hemmende Faktoren im Arbeitstherapie-Setting zu berücksichtigen (Ranft et al., 2009). Der DIAMO wird als Basismaßnahme durchgeführt (Weissinger/Schneider, 2015).

    WAI – Work Ability Index

    International ist der WAI (Work Ability Index) ein anerkanntes Verfahren, um Arbeitsfähigkeit zu messen (Ilmarinen, 2009). Mit diesem Fragebogen wird eingeschätzt, inwiefern sich eine Person durch ihren Gesundheitszustand zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen in der Lage sieht (Zamath, 2017b). Laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Beschäftigung (BAUA, 2013) ist der WAI ein Instrument, mit dem die aktuelle und künftige Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit verschiedener Altersgruppen bewertet werden kann.

    Nach einer Studie (Bethge et al., 2012) hat der WAI prognostische Bedeutung für eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Teilhabe nach einer MBOR. So ermöglicht die WAI-Erhebung die Vorhersage erwerbsminderungsbedingter Rentenanträge. Für das MBOR-Stufenkonzept kann der WAI als ein Indikator dienen, um die Zuordnung zu den Stufen B und C zu unterstützen. Die Stufen sind mit den oben beschriebenen BORA-Maßnahmen (Kern und spezifische Maßnahmen) vergleichbar (Weissinger/Schneider, 2015).

    Ergotherapeuten können mit dem Assessment Therapieverläufe in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit darstellen, um den Aufbau von Motivation und Selbstwirksamkeit zu unterstützen (Mathiaszyk, 2013). Der WAI ist über ein Netzwerk frei zugänglich (http://www.arbeitsfaehig.com/de/work-ability-index-(wai)-382.html).

    FCE-Verfahren – Functional Capacity Evaluation

    „Die interne Belastungserprobung wird als Leistungserprobung mit diagnostischem Schwerpunkt unter idealen Standardbedingungen gesehen, um die persönliche psychische und physische Leistungsfähigkeit der Klienten einzuschätzen. Ziel hierbei ist, frühzeitig die Möglichkeiten einer Wiedereingliederung oder die Einleitung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu planen“ (Mallach, 2015, S. 272). Zur objektiven Erfassung der individuellen arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit wurden spezielle FCE-Systeme (Functional Capacity Evaluation) entwickelt, die Einzug in die medizinische Rehabilitation gefunden haben. Hierunter fallen zum Beispiel die Verfahren EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit) und ELA (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten).

    Das EFL-Verfahren nach Susan Isernhagen (1992), bei dem Work Hardening oder die physische Konditionierung zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit eine entscheidende Rolle spielt, ist weit verbreitet. Darüber hinaus können nach dem Evaluationsverfahren Ala® (Arbeitstherapeutische Leistungsanalyse) Belastungserprobungen mit standardisierten WorkPark-Therapiegeräten durchgeführt werden. Damit werden etwa die Lastenhandhabung, Gangleistung oder verschiedene Arbeitspositionen getestet. FCE-Instrumente sollen nach den BORA-Empfehlungen auch in Einrichtungen der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter zum Einsatz kommen.

    WRI – Worker Role Interview

    „Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges“ (Köser et al., 2015). Ein geeignetes Assessment aus ergotherapeutischer Sicht stellt hierzu das WRI (Worker Role Interview; Velozo, Kielhofner, Fisher, 2007) dar. Es ermöglicht im Rahmen eines semistrukturierten Interviews mit anschließender Auswertung die Identifizierung von psychosozialen und Umweltfaktoren in den Bereichen Selbstbild, Werte, Interessen, Rollen, Gewohnheiten und Umwelt, die die Rückkehr in den Arbeitsprozess gefährden oder fördern können (Köller Looser, 2009).

    HiPRO – Hildesheimer-Projekt-Assessment

    Das Hildesheimer-Projekt-Assessment (HiPRO) erfasst Ressourcen und Defizite und bezieht Klienten als Experten für ihre Lebenswelt in die psychosoziale Ergotherapie ein (Düchting, 2008). In der Praxis tätige Ergotherapeuten mit Schwerpunkt Arbeitstherapie nutzen das Instrument, um die Kompetenzen in den Bereichen berufsübergreifende Grundfähigkeiten, soziale und emotionale Fähigkeiten zu erfassen. Dabei werden objektive Ergebnisse aus der Arbeits- und Leistungsdiagnostik berücksichtigt und mit den Rollenerwartungen im Arbeitsleben wie etwa Konzentration, Ausdauer und Arbeitsplanung verknüpft. Die Gütekriterien wurden für unterschiedliche Diagnosegruppen untersucht.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Frank Zamath ist nach einem Lehramtsstudium und Ergotherapie-Examen in Münster seit 2002 am Alexianer Krankenhaus Köln angestellt. Neben der Koordination und Konzeption der teilstationären Arbeitstherapie ist er im Bereich der Leistungsdiagnostik tätig. Seit 2010 ist er Mitglied im Leitungsteam des DVE-Fachausschusses Arbeit und Rehabilitation (DVE = Deutscher Verband der Ergotherapeuten) mit Vorträgen und Veröffentlichungen zu diesem Thema. Frank Zamath ist Mitglied der DGPPN – Referat Gesundheitsfachberufe (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) und der DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie). Kontakt: f.zamath@alexianer.de

    Petra Köser ist Ergotherapeutin seit 1984. Sie verfügt über langjährige berufliche Erfahrung in der psychiatrischen Arbeitstherapie. Seit 1997 ist sie als Lehrkraft mit den fachlichen Schwerpunkten Arbeit und Rehabilitation tätig – aktuell an der ETOS Ergotherapieschule Osnabrück. Nebenberufliche Tätigkeit als Referentin und Autorin. Seit 1999 ist Petra Köser für den buss aktiv, zurzeit im Rahmen des Qualitätszirkels „Arbeitsbezogene Maßnahmen“ als Moderatorin und fachliche Begleiterin. Seit 2008 ist sie Vorsitzende des Fachausschusses Arbeit und Rehabilitation des DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten). Kontakt: petrakoeser@aol.com

    Literatur und Links:
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    • Bethge M, Radoschewski FM, Gutenbrunner C (2012). The Work Ability Index as a screening tool to identify the need for rehabilitation: longitudinal findings from the Second German Sociomedical Panel of Employees. J Rehabil Med, 44: 980-987
    • Bickenbach J, Cieza A, Rauch A, Stucki G (Hrsg.) (2012). Die ICF-Core-Sets. Manual für die klinische Anwendung. 1. Aufl. Bern: Huber
    • Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) (2013). Why WAI? – Der Work Ability Index im Einsatz für Arbeitsfähigkeit und Prävention. Erfahrungsberichte aus der Praxis. 5. Auflage. Dortmund
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) (Hrsg.) (2016). ICF-Praxisleitfaden 4 Trägerübergreifende Informationen und Anregungen für die praktische Nutzung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) bei den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation). Frankfurt am Main: BAR
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    • Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) (2015). KTL – Klassifikation therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation. 6. Auflage. Deutsche Rentenversicherung. Berlin: DRV Bund
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    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz

    Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO, 2005) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/WHO) erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen. Mit der ICF liegt ein personenzentriertes und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt berücksichtigendes Instrument der Hilfeplanung vor, mit dem sich alltagsrelevante Fähigkeiten und Einschränkungen in vereinheitlichter Sprache konkret beschreiben lassen.

    Durch eine detaillierte Klassifikation von Beeinträchtigungen ist es möglich, den Bedarf an professioneller Hilfe konkret zu beschreiben und eine passgenaue Hilfeplanung einzuleiten. Die ICF berücksichtigt individuelle Ressourcen und hat gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel, zwei Aspekte, denen auch in der Arbeit mit Suchtkranken eine entscheidende Bedeutung zukommt. Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen erreichen nicht zuletzt aufgrund einer besseren medizinischen und psychosozialen Betreuung ein durchschnittlich höheres Lebensalter. Abhängigkeitserkrankungen gehen oftmals mit funktionalen Problemen und Einschränkungen im Bereich der Alltagsbewältigung, der sozialen Beziehungen und der Erwerbstätigkeit einher (Schuntermann, 2011). Mit der Dauer der Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden physischen und psychischen Begleiterscheinungen steigen auch die Beeinträchtigungen von individuellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten. Im Bereich der Suchthilfe ist eine ausschließlich auf Psychodiagnostik basierende Betreuung/Behandlung in der Regel nicht ausreichend, da der Hilfebedarf der Klientel nicht adäquat abgebildet wird. Die Diagnose Sucht sagt alleine wenig über die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen aus. Selbst beim Vorliegen weiterer Diagnosen bei derselben Person lassen sich nur schwer valide Aussagen hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ableiten. Instrumente wie der Addiction Severity Index (ASI), der lange Zeit zur Standarddokumentation des Suchthilfeträgers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) in Frankfurt am Main zählte, liefern zwar Hinweise auf Belastungen und Beeinträchtigungen, jedoch keine auf den konkreten Hilfebedarf.

    ICF in der Suchthilfe

    Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen, die die Sucht auf das Leben eines Betroffenen ausübt, also auf die Mobilität, die Kommunikation, die Selbstversorgung, das häusliche Leben, die Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und das Erwerbsleben. Die Gesamtheit der Auswirkungen sowie das Zusammenwirken von Aktivitätsbeeinträchtigungen und Rollenanforderungen sollten im Rahmen einer professionellen Hilfeplanung berücksichtigt werden. Eine wirksame Rehabilitation benötigt umfassende Daten, um die Betreuung/Behandlung planen zu können. „Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen.“ (Fleischmann, 2011)

    Es geht nicht darum, nur Defizite zu lokalisieren, sondern auf der Grundlage der individuellen Ressourcen des Beurteilten die soziale Reintegration und gesellschaftliche Teilhabe unter Berücksichtigung der aktuellen Fähigkeiten zu fördern. Eine „Beeinträchtigung“ wird im Rahmen des ICF-Gesundheitsbegriffes nicht als Eigenschaft der Person interpretiert, sondern als funktionale Störung im Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt, was die Veränderbarkeit (gesundheits-)politischer und sozialer Verhältnisse miteinschließt.

    Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung, einem der zentralen Ziele der medizinischen Rehabilitation, wie es auch in den Empfehlungen zur „Beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) dargestellt wird (Koch, 2015). Wenn von Erwerbsbezug in der Rehabilitation die Rede ist, dann spielen berufsspezifische Fähigkeitsprofile eine wichtige Rolle, die sich mithilfe der ICF in sehr konkreter Weise abbilden und für den beruflichen Wiedereingliederungsprozess nutzbar machen lassen.

    Von Vorteil ist die ICF weiterhin in professionstheoretischer Hinsicht. Die einheitliche Sprache ermöglicht eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Einrichtungen, Disziplinen und Versorgungsbereichen sowie die Evaluation der Hilfemaßnahmen hinsichtlich der Zielerreichung und der Verringerung des Schweregrades der Beeinträchtigungen. Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden ‚Sprache‘ mit der Möglichkeit, das medizinische, suchtpsychiatrische und suchthilfespezifische Versorgungssystem stärker zu integrieren. Damit lässt sich eine bessere Nutzung von Synergien erreichen statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen.

    Vor diesem Hintergrund wird seit April 2015 in den Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) der ICF-basierte Fremdratingbogen Mini-ICF-APP („Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen“; Linden, Baron, Muschalla, 2009) eingesetzt. Erste Erfahrungen mit diesem Instrument werden im Folgenden vorgestellt.

    Datenerhebung und Auswertung

    Ziel des Einsatzes des Mini-ICF-APP ist es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Teilhabe- und Aktivitätsbeeinträchtigungen im Vordergrund der betreuten/behandelten Klientel stehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, individuelle und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung weiterzuentwickeln.

    Zudem soll festgestellt werden, ob zwischen unterschiedlichen Einrichtungstypen (stationäre Rehabilitation, ambulante Betreuung/Behandlung, Betreutes Wohnen), unterschiedlichen Konsummustern und den Konsument/innen verschiedener Hauptsuchtmittel (Cannabis, Opiate, Stimulanzien) signifikante Unterschiede hinsichtlich der im Alltag auftretenden Beeinträchtigungen deutlich werden. Am Ende des Artikels werden die Ergebnisse mit Blick auf die Suchthilfepraxis zur Diskussion gestellt.

    Das Instrument: Mini-ICF-APP

    Zwischenzeitlich liegen einige ICF-basierte Instrumente für den Indikationsbereich psychische Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen vor (Breuer, 2015). Eines dieser Instrumente ist das Mini-ICF-APP, ein Fremdbeurteilungsinstrument mit 13 Items zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. Die maßgebliche Bewertung des jeweiligen Klienten bzw. der Klientin in den 13 Fähigkeitsdimensionen findet durch den geschulten Bezugsbetreuer/die geschulte Bezugsbetreuerin statt. Beim Ausfüllen des Fragebogens werden alle zur Verfügung stehenden Informationen genutzt: anamnestische Angaben, fremdanamnestische Angaben, psychologische und testpsychologische Befunde ebenso wie Beobachtungen der Bezugsbetreuer/innen oder Mitteilungen durch den Klienten/die Klientin. Das Verfahren ermöglicht die einfache Erfassung des Hilfebedarfs in wesentlichen Bereichen. So kann mit dem Instrument eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß die betreffende Person in ihrer Fähigkeit zur Ausübung lebens- und berufsrelevanter Tätigkeiten beeinträchtigt ist.

    Das Mini-ICF-APP liefert neben der Erfassung des Hilfebedarfs auch die Möglichkeit, über eine Wiederholungsmessung die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu überprüfen. Die Skalierung zur Einschätzung der Fähigkeitseinschränkungen ist wie folgt strukturiert: 0 = keine Beeinträchtigung, 1 = leichte Beeinträchtigung, 2 = mittelgradige Beeinträchtigung, 3 = erhebliche Beeinträchtigung, 4 = vollständige Beeinträchtigung. Zusätzlich zum Mini-ICF-APP wird ein Deckblatt eingesetzt, das von JJ extra für den Arbeitsbereich der Suchthilfe entwickelt wurde. Mit dem Deckblatt werden soziodemografische Angaben, Angaben zum Erwerbsleben und zum Suchtmittelkonsum erfasst.

    Beschreibung der Stichprobe

    Seit Mitte 2015 wird in allen Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) das Mini-ICF-APP eingesetzt. Dazu zählen stationäre und ambulante Suchthilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen des Betreuten Wohnens. Der Rücklauf verwertbarer Fragebögen lag bis zum September 2016 bei N=1.243. Alle Bögen wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es gab keine Ausschlusskriterien.

    Die ICF-basiert beurteilten Klient/innen aller JJ-Einrichtungen sind im Durchschnitt 35,3 Jahre alt. 78,1 Prozent sind männlich, 21,9 Prozent weiblich. Nur 26,4 Prozent gingen im letzten Jahr einer beruflichen Tätigkeit nach. Eine psychiatrische Zusatzdiagnose liegt bei 31,2 Prozent der Personen vor. Die durchschnittliche Dauer der Abhängigkeit beträgt 14,9 Jahre. 38,4 Prozent der Befragten wurden zum Zeitpunkt der Messung substituiert. Das am häufigsten genannte Hauptsuchtmittel ist Heroin (45,9 Prozent), gefolgt von Cannabis (20,6 Prozent), Alkohol (13,9 Prozent), Amphetaminen (7,3 Prozent), Kokain (5,3 Prozent) und Sonstige (2,5 Prozent).

    Ergebnisse

    Im Folgenden (Tabelle 1) werden die Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen dargestellt (N=1.243).

    Tabelle 1: Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen

    Die Mittelwerte liegen größtenteils zwischen einer leichten und mittelgradigen Beeinträchtigung. Das impliziert, dass bei einem Teil der untersuchten Gruppe deutliche Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, die in vielen Fällen interventionsbedürftig sind. Am höchsten sind die Beeinträchtigungen in den Bereichen „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „ Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“. Vergleicht man die Beeinträchtigungswerte mit den Daten von Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken (N=213; Linden et al., 2015), die in den empirischen Studien zur Entwicklung des Mini-ICF-APP untersucht wurden, so treten die hohen Fähigkeitsbeeinträchtigungen der Klientel aus den Suchthilfeeinrichtungen von JJ noch deutlicher hervor. Während der Globalwert der 13 Items in der JJ-Untersuchung bei 1,58 liegt, ist er in der genannten Vergleichsgruppe mit 0,84 nur etwa halb so hoch.

    Beispiel: Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    Am Beispiel des Items „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, das am höchsten geratet wurde, lässt sich aufzeigen, wie schwer die Beeinträchtigungen konkret eingeschätzt wurden (Tabelle 2).

    Tabelle 2: Einschätzung des Items Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    34,6 Prozent der beurteilten Klient/innen sind in diesem Bereich mittelgradig beeinträchtigt, 21,5 Prozent sogar erheblich bzw. 3,7 Prozent vollständig. Die Einschätzung „mittelgradige Beeinträchtigung“ verweist auf „deutliche Probleme, die beschriebenen Fähigkeiten/Aktivitäten auszuüben“ (Linden et al., 2015, S. 5). Erhebliche und vollständige Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen bedeuten, dass die Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung so auffällig sind, dass die Unterstützung von Dritten notwendig ist.

    Bezogen auf das Item „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ bedeutet eine mittelgradige Beeinträchtigung nach der Definition der Autor/innen des Mini-ICF-APP: „Der Proband kann keine volle Leistungsfähigkeit über die ganze Arbeitszeit hin zum Einsatz bringen. Sein Durchhaltevermögen ist deutlich vermindert. Durch Nichterfüllung von Aufgaben ergibt sich ein reduziertes Leistungsniveau und gegebenenfalls Ärger mit dem Arbeitgeber oder Partner.“ Eine erhebliche Beeinträchtigung (21,5 Prozent der Klient/innen) bedeutet: „Um die Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, ist immer wieder Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder vom Partner erforderlich, die ihn auffordern oder ermutigen, bei der Sache zu bleiben oder weiterzumachen, oder die selbst gelegentlich eingreifen und zeitweise Arbeiten von ihm übernehmen.“ (Linden et al., 2015, S. 14)

    Folglich besteht in vielen Fällen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des individuellen Leistungsvermögens und vor allem auch hinsichtlich der Eigeninitiative. Dieser Unterstützungsbedarf ist in der individuellen Hilfeplanung zu berücksichtigen. Die Kenntnis solcher Fähigkeitsbeeinträchtigungen soll nicht nur zur Auswahl adäquater Hilfemaßnahmen führen, sondern auch zur realistischen Einschätzung der Fähigkeiten des Betreffenden beitragen, um zu verhindern, dass durch zu hohe Erwartungen – insbesondere im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung – strukturelle Überforderungssituation entstehen, die ihrerseits neue negativen Auswirkungen nach sich ziehen.

    Eine interne JJ-Untersuchung (N=189) mit dem ICF-basierten Selbstrating-Instrument ICF AT 50-Psych (Nosper, 2008), das ebenfalls die Dimensionen der Aktivität und Partizipation abbildet, zeigt ferner, dass die befragten Patient/innen sich selbst als deutlich weniger beeinträchtigt einschätzen. Mit Blick auf den therapeutischen Alltag bietet sich an, die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Patient/innen und der Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen zu thematisieren und die unterschiedlichen Einschätzungen der Fähigkeitsdimensionen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.

    Gruppenunterschiede

    Das Geschlecht und das Alter haben auf den Mini-ICF-Globalwert keinen signifikanten Einfluss, lediglich in einzelnen Bereichen: Männer sind im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ (1,47 vs. 1,17) sowie „Planung und Strukturierung von Aufgaben“ (1,71 vs. 1,43) höher belastet. Ältere haben höhere Beeinträchtigungen im Bereich „Selbstpflege“ und „Mobilität und Verkehrsfähigkeit“. Jüngere haben im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ größere Schwierigkeiten. Der Zusammenhang beschränkt sich auf einzelne Items. Einen globalen Einfluss auf den Schweregrad hat die Dauer der Abhängigkeit. Zwölf der 13 Items korrelieren in signifikanter Weise. Lediglich beim Item „Selbstbehauptungsfähigkeit“ ist die Dauer der Abhängigkeit nicht entscheidend.

    Tabelle 3: Einfluss der Dauer der Abhängigkeit auf den Beeinträchtigungsgrad

    Einfluss auf den Globalwert hat auch der Berufsstatus: Diejenigen, die während der letzten zwölf Monate vor Behandlungsbeginn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, weisen signifikant höhere Beeinträchtigungswerte auf. Ferner korrelieren die BORA-Stufen, denen insbesondere im Rahmen der stationären Rehabilitation eine wachsende Bedeutung zukommt, mit dem Schweregrad der ICF-spezifisch gemessenen Beeinträchtigungen.

    Globalwerte nach Einrichtungstypen

    Der Einsatz ICF-basierter Instrumente soll zur verbesserten Hilfeplanung beitragen. Insofern wurde auch untersucht, ob in verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und Hilfsangeboten spezifische Beeinträchtigungen festzustellen sind (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Globalwerte in verschiedenen JJ-Einrichtungen

    Die Werte entsprechen den Erwartungen und zeigen, dass die Einschätzungen in realistischer Weise erfolgen, was auch hohe Interrater-Reliabilität bestätigt. Ambulant betreute Klient/innen sind weniger beeinträchtigt als stationär Behandelte, was der Indikationsstellung entspricht. Besonders hoch sind die Beeinträchtigungswerte im Drogennotdienst, einer Einrichtung mit ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten, und in der Tagesstätte Rödelheimer Bahnweg. Zur Zielgruppe dieser Einrichtung zählen suchtkranke Männer und Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die in einem schlechten Allgemeinzustand und/oder chronisch krank sind und bei denen auf Grund der chronifizierten Suchtmittelabhängigkeit die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit meist nicht mehr möglich erscheint.

    Praktisch hilfreich wird das Ganze, wenn man sich die Einrichtungswerte in den einzelnen Fähigkeitsdimensionen anschaut. Unterschiede in den einzelnen Items zeigen an, wo der einrichtungsspezifische Hilfebedarf am größten ist. In der Einrichtung Rödelheimer Bahnweg mit dem höchsten Globalwert (2,18) liegt die Beeinträchtigung im Bereich „Proaktivität und Spontanaktivität“ bei 2,32. Dies verdeutlicht nicht nur, in welchem Bereich große Schwierigkeiten bestehen, sondern verweist zugleich darauf, dass Unterstützungs- und Förderungsleistungen im Bereich der Eigeninitiative, der häuslichen Aktivitäten und der Freizeitgestaltung anstehen.

    Im Betreuten Wohnen ist der Beeinträchtigungswert im Bereich „Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen“ mit 1,85 am höchsten. Der Verlust stützender familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und fortwährende gesellschaftliche Isolation prägen nicht selten die Lebenslage von langjährig Abhängigen. Im Betreuten Wohnen soll solchen Vereinsamungstendenzen entgegengewirkt und die gesellschaftliche Reintegration bewerkstelligt werden. Entsprechende Hilfsangebote sind zu forcieren.

    In der stationären Rehabilitation wurden die höchsten Beeinträchtigungswerte im Bereich „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ (2,06) festgestellt, was auf die Ambivalenz in Bezug auf Abstinenzbemühungen verweist. Bei der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit geht es darum, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, rational zu urteilen und unter Abwägung der Sachlage differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen – Fähigkeiten also, die im Falle einer Abhängigkeitserkrankung stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die anspruchsvolle und mitunter von Rückschlägen begleitete Aufgabe, sich gegen die Sucht und für ein abstinentes Leben zu entscheiden, scheint hier zum Ausdruck zu kommen.

    Hauptsubstanz

    Untersucht wurde außerdem, ob sich im Zusammenhang mit dem Hauptsuchtmittel Unterschiede hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades feststellen lassen (Tabelle 4). Verglichen wurden die Konsument/innen der Hauptsuchtmittel Opiate, Cannabis und Stimulanzien (Amphetamine und Kokain).

    Tabelle 4: Einfluss des Hauptsuchtmittels auf den Beeinträchtigungsgrad

    Auffällig ist zunächst, dass sich die Globalwerte kaum unterscheiden. Diese liegen bei 1,47 (Opiate), 1,44 (Cannabis) und 1,35 (Stimulanzien). Überraschend sind die Ergebnisse, weil in der Bezeichnung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen die Vorstellung mitschwingt, dass Cannabis eine in den Auswirkungen zu vernachlässigende Droge sei. Dies ist nach den hier angegebenen Werten nicht der Fall, im Gegenteil: Mehrere Beeinträchtigungen der Cannabiskonsument/innen werden im Vergleich mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit sogar höher eingeschätzt (s. Markierung in Tabelle 4).

    Verlaufsmessungen

    Das Mini-ICF-APP ermöglicht die Evaluation der Hilfemaßnahmen. Durch Verlaufsmessungen kann festgestellt werden, ob es zu Veränderung des Beeinträchtigungsgrades in den jeweiligen Fähigkeitsdimensionen kommt. Sofern der Klient/die Klientin längere Zeit in der Einrichtung betreut oder behandelt wird, findet drei bis fünf Monate nach der Ersterhebung eine Wiederholungsmessung statt. Eine erste Auswertung der Verlaufsmessung zeigt positive Veränderungen (Tabelle 5). Bei denjenigen, die eine längere Behandlung/Betreuung in Anspruch nehmen, bilden sich in allen Bereichen positive Trends ab, die – bis auf die Verkehrsfähigkeit – signifikant sind.

    Tabelle 5: Auswertung der Wiederholungsmessung

    Zusammenfassung

    Als Resümee der Einführung des Mini-ICF-APP ist zunächst festzuhalten, dass es einen erfreulich hohen Rücklauf von Fragebögen gibt. Das spricht nicht nur für die Akzeptanz des Instruments, sondern auch für seine Praktikabilität. Die Bögen sind weitgehend korrekt ausgefüllt, es gibt wenig Datenverlust.

    Die untersuchte Gruppe zeigt deutlich höhere Beeinträchtigungswerte als die Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken ohne Suchtdiagnose. Die Beeinträchtigungen sind in den Bereichen „Widerstand- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ am höchsten. Geschlechts- und altersspezifische Differenzen gibt es keine wesentlichen. Die Dauer der Abhängigkeit beeinflusst den Schweregrad der gemessenen Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen in direkter Weise. Berufsstatus und Schweregrad der Beeinträchtigung korrelieren ebenfalls. Auffällig hoch waren die Beeinträchtigungswerte der Cannabiskonsument/innen, was sich mit anderen Untersuchungen in diesem Bereich deckt. In den Einrichtungstypen lassen sich unterschiedliche Belastungen feststellen. Verlaufsmessungen zeigen, dass es zu Verbesserungen während der Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt.

    Diskussion

    1.) Das ICF-basierte Instrument Mini-ICF-APP ist im Suchtbereich einfach anwendbar, das bestätigen die Rückläufe sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen. Insgesamt bietet die Implementierung des Mini-ICF-APP ein positives Beispiel der ICF-Umsetzung im Suchtbereich. Die standardisierte Routinebeschreibung der funktionalen Gesundheit stellt eine sinnvolle Ergänzung zur medizinischen und psychologischen Diagnostik dar.

    2.) Der Hilfebedarf kann konkret beschrieben werden. Es werden Fähigkeitsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Aktivitäten und Teilhabe erfasst, beschrieben und bei der Betreuung bzw. Behandlung berücksichtigt, die bei einer rein medizinischen oder psychologischen Diagnostik nicht im Fokus stehen. Es kann auf der Grundlage des umfangreichen Datenmaterials differenziert werden nach:

    • Konsummustern
    • Dauer der Abhängigkeit
    • Einrichtungstypen
    • BORA-Stufen

    Die Aufbereitung der vereinsweit gesammelten Daten ermöglicht den Datenvergleich zwischen verschiedenen Behandlungsgruppen und Gesundheitsbereichen.

    3.) Die Beschreibung und Differenzierung des Hilfebedarfs erleichtert nicht nur die individuelle Hilfeplanung, sondern ermöglicht es auch, diesen Hilfebedarf bei der Etablierung schwerpunktmäßiger Angebote zu berücksichtigen. Mittelfristiges Ziel ist eine verbesserte Zuweisungspraxis bei der Weitervermittlung in passgenaue Behandlungsangebote. ICF-basierte Instrumente sollten bei der Feststellung des adäquaten Behandlungsbedarfs standardmäßig eingesetzt werden.

    4.) Mit Blick auf die zunehmend wichtiger werdende Erwerbsorientierung und berufliche Wiedereingliederung der Klientel in der Suchthilfe lassen sich mit dem Mini-ICF-APP die aus einer Krankheit resultierenden Fähigkeits- und Aktivitätsstörungen – im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen einer beruflichen Tätigkeit – konkret beschreiben. Dadurch, dass die Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF abgebildet wird, können Fähigkeiten beurteilt werden, die im Erwerbsleben zentral sind.

    5.) Die Aktivitäten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen eines Suchtkranken hängen stark mit seinem Konsumstatus zusammen. Dadurch, dass das Mini-ICF-APP keine explizit suchtspezifischen Items beinhaltet, kann der Einfluss des Konsumverhaltens auf die aktuellen Aktivitäten nicht abgebildet werden. Abhilfe schafft das zusätzlich eingesetzte JJ-Deckblatt. Außerdem entwickelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitarbeiter/innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der Suchtverbände ein „Core Set Sucht“. Einige Items lassen sich insbesondere bei neu betreuten Klient/innen im Fremdrating nur schwer beurteilen, der zusätzliche Einsatz von Selbstbeurteilungsinstrumenten wird empfohlen.

    6.) Die Verlaufsmessungen zeigen, dass Hilfemaßnahmen zur Verringerung des Schweregrades der Fähigkeitsbeeinträchtigungen führen. Die Evaluation und der Wirksamkeitsnachweis der durchgeführten Maßnahmen werden von den Leistungs- und Kostenträgern zunehmend erwartet. Die international anerkannte und standardisierte ICF-Diagnostik stellt eine große Hilfe dabei dar, durchgeführte Maßnahmen zu evaluieren.

    Literatur:
    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13

  • Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Dr. Peter Degkwitz

    In diesem Artikel werden ausgewählte Ergebnisse einer Evaluation der Eingliederungshilfe Sucht in Hamburg vorgestellt. Die Studie wurde von der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) in Hamburg in Auftrag gegeben und vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) realisiert. Der entsprechende Studienbericht liegt seit April 2016 vor (Degkwitz et al. 2016).

    Eingliederungshilfe als Versorgungsbereich bei Abhängigkeitserkrankungen

    Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) für Menschen mit Suchterkrankungen erhalten Personen, „die durch eine Behinderung (…) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (SGB XII, §53). Diese Leistungen werden nach § 54, SGB XII, nachrangig zu Rehabilitationsmaßnahmen der Kranken-, Renten- und Unfall­versicherung (als den vorrangig verpflichteten Kostenträgern) gewährt. Die EGH Sucht hat sich ab Mitte der 1970er Jahre als spezialisierter Leistungsbereich für Abhängigkeitserkrankte mit kooperierenden Einrichtungen in Hamburg und Umgebung als eine wichtige Säule der Hamburger Sozial- und Gesundheitspolitik etabliert. Die Angebote der EGH Sucht dienen als Vorbereitungsmaßnahmen zur medizinischen Rehabilitation (Vorsorge) sowie als sich anschließende Übergangsmaßnahmen nach einer Rehabilitation bzw. Adaption (Nachsorge). Unter die EGH fallen auch langfristige stationäre, teilstationäre und ambulante Maßnahmen für chronisch be­einträchtigte Abhängigkeitserkrankte, sofern der Anspruch auf medizinische Rehabilitation nicht oder nicht mehr besteht (BGV 2014).

    Fragestellung und Design

    Die Zunahme an Personen pro Jahr, die Neu- bzw. Weiterbewilligungen erhalten, der Anstieg der Gesamtdauer bewilligter Maßnahmen sowie die generelle Kostensteigerung der EGH für Suchtkranke sind der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Die Studie sollte Hintergründe der genannten Entwicklungen klären sowie die Zielerreichung der Maßnahmen der Eingliederungshilfe Sucht untersuchen.

    Die besondere Aufgabe oder Zielsetzung der Eingliederungshilfe besteht darin, „den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen“ (SGB XII, §53) und dabei „möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände“ zu lassen und Selbstbestimmung zu fördern (SGB IX, §9, Abs. 3). Das zeigt sich an Kriterien wie finanzieller Unabhängigkeit, eigenem Wohnraum, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und dem Nachgehen einer Beschäftigung. Bei Klientinnen und Klienten mit multiplen und chro­nischen Problemlagen, die sich häufig in Maßnahmen der Eingliederungshilfe befinden, nachdem vorrangige Kostenträger ausgeschieden sind, ist die Erreichung dieser Ziele allerdings nicht in einem Schritt, sondern nur koordiniert in der Versorgungskette möglich. Bei der Evaluation der Maßnahmen der EGH gelten daher die folgenden Verläufe am Ende einer Maßnahme als wichtige Indikatoren von Zielerreichung: der dauerhafte Maßnahmeabschluss (ohne Wiedereintritt), die Vermittlung in Maßnahmen vorrangiger Träger sowie die Vermittlung in Maßnahmen, die den Übergang in eine selbstbestimmte Lebensführung unterstützen.

    Die Fragestellungen zur Zielerreichung in der EGH sowie zu maßnahme- und personenbezogenen Faktoren der Zielerreichung wurden insbesondere durch den Vergleich von Gruppen mit unterschiedlich intensiver Inanspruchnahme (gemessen in Tagen der Nutzung von EGH-Maßnahmen über fünf Jahre) retrospektiv un­tersucht.

    In einer zusätzlichen prospektiven Untersuchung von Klientinnen und Klienten, die neu in Maßnahmen der EGH eingetreten sind, geht es vorrangig um die Wirksamkeit bezogen auf vereinbarte Ziele der Maßnahmen innerhalb eines 6-Monats-Zeitraums.

    Die Evaluation der Eingliederungshilfe erfolgt anhand dreier Untersuchungsmodule: retrospektiv auf Grundlage der Dokumentation aller Maßnahmen der Eingliederungshilfe der letzten fünf Jahre (A), vertiefend aufgrund einer Aktenanalyse intensiverer Nutzer (B) sowie prospektiv für Neuaufnahmen in Maßnahmen der EGH (C).

    A) Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe Sucht über fünf Jahre (Gesamtübersicht)

    Die Untersuchung des Versorgungsgeschehens erfolgte retrospektiv über einen 5-Jahres Zeit­raum (2010 bis 2014). In dieser Zeit wurden in Hamburg fast 10.000 Maßnahmen der Eingliederungshilfe von etwa 3.000 unterschiedlichen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung in Anspruch ge­nommen. Dabei wurden pro Jahr knapp 2.000 Maßnahmen der EGH von 1.100 bis 1.200 verschiedenen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung genutzt (Abbildung 1). Die Anzahl der Personen erhöht sich, aber noch stärker steigt die Anzahl an Tagen, die pro Per­son pro Jahr insgesamt in EGH-Maßnahmen verbracht wurden. Die durchschnittliche Maßnahmedauer pro Person steigt im 5-Jahresverlauf von 148 auf 181 Tage an.

    Abbildung 1: Entwicklung der Maßnahmedauer in Tagen (MW) pro bewilligter Maßnahme und pro Person sowie Entwicklung der Anzahl von Maßnahmen und Personen über die Jahre 2010 bis 2014

    Hinsichtlich der Art der Beendigungen von Maßnahmen wird insgesamt, bezogen auf den 5-Jahres-Zeitraum, ein Drittel der Maßnahmen regulär beendet, und bei einem weiteren Drittel folgen fortgesetzte Maßnahmen in der Eingliederungshilfe. Das übrige Drittel der EGH-Maßnah­men wird abgebrochen (durch den Klienten oder durch die Einrichtung). Im Verlauf der fünf Jahre geht der Anteil regulärer Beendigungen zurück, und es steigt der Anteil an Maßnahmen, die in der EGH fortgesetzt bzw. verlängert werden.

    Die Fortsetzung von Maßnahmen konzentriert sich auf be­stimmte Maßnahmetypen. Die Typen von Maßnahmen werden in der Eingliederungshilfe Sucht traditionell unterteilt nach dem Inhalt, und zwar nach Vorsorge, Nachsorge, Übergang sowie nach der Art der Erbringung: stationär, teilstationär oder ambulant. Bei den fortgesetzten Maßnahmen handelt es sich eher um Maßnahmen am Ende der Versorgungskette der Ein­gliederungshilfe, bei denen, wenn der Übergang in eine selbstbe­stimmte Lebensführung oder die Vermittlung an vorrangige Kostenträger noch nicht gelingt, weitere Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgen, die längerfristig angelegt sind. Ein fortlaufender, dauernder Verbleib in Maßnahmen der Eingliederungshilfe betrifft etwa ein Zehntel des Personenkreises mit Abhängigkeitsstörungen in der EGH.

    B) Merkmale intensiver Nutzer der Eingliederungshilfe

    Die Frage nach personenbezogenen Merkmalen von Menschen, die EGH intensiver in Anspruch nehmen, sollte durch eine Analyse von Personenakten untersucht werden. Die vorliegenden Akten wurden konsekutiv nach folgenden Kriterien einem Screening unterzogen: innerhalb der letzten fünf Jahre mindestens zwei Jahre ununterbrochen in Maßnahmen oder im selben Zeitraum mehr als dreimalige Inanspruchnahme von Maßnahmen in Einrichtungen der EGH.

    Es wurden 302 Akten nach den genannten Kriterien zufällig ausgewählt. Die betroffenen Personen waren im Durchschnitt in den letzten fünf Jahren 902 (±538) Tage in EGH-Maßnahmen. Bei den Personen, deren Akten nicht in die Analyse einbezogen wurden, waren es 221 (±294) Tage, woraus erkennbar wird, dass sich die hier untersuchten intensiven Nutzerinnen und Nutzer im Ver­gleich zu der übrigen Klientel seit 2010 viermal länger in EGH-Maßnahmen befanden.

    Die intensiven Nutzer wurden nochmal anhand des Kriteriums über/unter 730 Tage (also zwei Jahre) Inanspruchnahme im Verlauf von fünf Jahren in zwei Gruppen „intensive“ und „sehr intensive Nutzer“ unterteilt. Damit sollten personen- und maßnahmebezogene Aspekte identifiziert werden, die mit einer besonders intensiven Inanspruchnahme assoziiert sind.

    Die „sehr intensiven Nutzer“ waren bei einer Gesamtzahl von 1.312 Auf­enthaltstagen seit 2010 (das sind mehr als drei von fünf Jahren) gegenüber den „intensiven Nutzern“ mit durchschnittlich 404 Tagen (etwas über einem Jahr) erheblich länger in EGH-Maßnahmen (Tabelle 1). Sie sind im Durchschnitt fast fünf Jahre älter. Andere personenbezogene Faktoren, darunter Primärdroge, Störungsbeginn und ‑dauer, Komorbiditäten (psychiatrisch, körperlich), Kinder sowie Partnerbeziehung, differenzieren nicht zwischen den Gruppen, d. h., bezogen auf diese Aspekte haben beide Gruppen gleich problematische Ausgangsbedingungen. Nur in gesetzlicher Betreuung sind die „sehr intensiven Nutzer“ signifikant häufiger.

    Die letzte Maßnahme in der Eingliederungshilfe dauerte bei der Klientel, die sich durch eine „sehr intensive“ Inanspruchnahme auszeichnet, mit durchschnittlich 29 Monaten (also 2,5 Jahren) deutlich länger als in der Vergleichsgruppe (ein halbes Jahr). Während „intensive“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger zuletzt Maßnahmen der stationären Vorsorge und Nachsorge wahrgenom­men haben, befinden sich die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger in teilstationären Übergangsein­richtungen und ambulanten Maßnahmen, in denen vermehrt die längerfristig angelegten Betreuungen erfolgen.

    Unter den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern beträgt der Anteil derer, die die Maßnahme dauerhaft beenden („Beendigung der Maßnahme“) 30 Prozent und ist damit geringer als bei den „intensiven“ Nutzern (70 Prozent). Das heißt, die Maßnahme wird mehrheitlich über den letzten Bewilligungszeitraum hinaus verlängert. Bei diesem Verbleib der „sehr intensiven“ Nutzer in Maßnahmen handelt es sich, wie oben angedeutet, häufig um Aufenthalte in längerfristig angelegten teilstationären und ambulanten Maßnah­men wie z. B. die Betreuung im eigenen Wohnraum.

    Hinsichtlich der zu erreichenden Zielsetzungen zeigen sich in den wiederholten längerfristigen Maßnahmen positive Effekte. Das gilt z. B. für funktionale Beeinträchtigungen nach ICF, die zu Beginn und am Ende von Maßnahmen dokumentiert werden. Das Ausmaß an „funktionalen Beeinträchtigungen insgesamt“ bezogen auf die letzte Maßnahme nimmt im Verlauf in bei­den Gruppen signifikant ab. Dabei verbessern sich die „sehr intensiven Nutzer“ etwas weniger (Tabelle 1).

    Die vereinbarten Zielsetzungen der beiden Gruppen unterscheiden sich kaum. Am häu­figsten werden in beiden Gruppen suchtmittelbezogene Ziele zur Einleitung bzw. Sicherung der Abstinenz vereinbart. Inhaltlich geht es für die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger um gesundheitsbezogene Ziele und um Ziele im Hinblick auf die grundlegende Bewältigung von Alltag und Haushalt. Bei den „intensiven Nutzern“ geht es häufiger um Ziele, die sich auf das eigenständige Wohnen beziehen. Eine Verbesserung in den Zielbereichen Sucht und Alltagsbewältigung ist im Rahmen des letzten Bewilligungszeitraums insgesamt häufiger bei den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern zu beobachten. Bei „intensiven Nutzern“ finden sich zu einem geringeren Anteil Verbesserungen (und damit häufiger Verschlechterungen) in den Zielbereichen persönliches Ziel, Alltagsbewältigung, Wohnen und Sucht (Tabelle 1).

    C) Prospektive Untersuchung der Wirksamkeit

    Mit der prospektiven Untersuchung wurde für neu in die Eingliederungshilfe eintretende Kli­entinnen und Klienten die Wirk­samkeit einzelner Maßnahmen hinsichtlich der vereinbarten suchtbezo­genen und teilhabebezogenen Zielsetzungen untersucht. Für die Erhebung konnten über einen Zeitraum von zwölf Monaten 255 Klientinnen und Klienten erreicht werden, von de­nen in der Nach- bzw. Abschlusserhebung 247 Klienten durch die Fachkräfte wieder erreicht wurden, wobei nur von einem Teil (N=136) auch der selbst ausgefüllte Klientenfragebogen vorlag.

    Die Mehrheit der Unter­suchungsteilnehmer befand sich in einem stationären Setting, nur ein Zehntel war in einer teil­stationären Maßnahme. Bei über der Hälfte der Maßnahmen handelt es sich um Vorsorge, womit dieser Maßnahmetyp in der prospektiven Untersuchung aufgrund des Einschlusskriteriums des Neueintritts überrepräsentiert ist. Zu Maßnahmebeginn waren die Klienten im Durchschnitt gut 40 Jahre alt und liegen damit nur leicht unter dem Durchschnittsalter der Klienten der Eingliederungshilfe in Hamburg insgesamt (41,7 Jahre). Mehr als vier Fünftel sind Männer. Bei zwei Dritteln geht es vorrangig um Alkoholprobleme, etwa ein Fünftel gab ‚harte‘ illegale Drogen wie Heroin oder Kokain als Hauptproblemsubstanz an.

    Die Evaluation zeigt, dass die Zielsetzungen mehrheitlich erreicht werden. So haben aus Sicht der Fachkräfte mehr als zwei Drittel der Untersuchungsteilnehmer ihre suchtbezo­gene Zielsetzung überwiegend oder sogar vollständig erreicht (Abbildung 2, linke Seite). Bei mehr als zwei Dritteln hat sich der Umgang mit Suchtmitteln verbessert (Abbildung 2, rechte Seite).

    Abbildung 2: Erreichung suchtbezogener Zielsetzung (links) und Umgang mit Suchtmitteln (rechts) wäh¬rend der Maßnahme aus Sicht der Betreuer (N=246)

    In zentralen Lebensbe­reichen wie z. B. Gesundheit, Freizeitaktivitäten oder sozialen Beziehungen kam es während der Maßnahme aus Sicht der Klientinnen und Klienten sowie der Fachkräfte zu deutlichen Verbesserun­gen.

    Gefragt nach dem Grad der Zielerreichung bei den von den Klientinnen und Klienten persönlich formulierten „zwei wichtigsten“ Zielset­zungen, gab die Mehrheit für beide Ziele an, dass eine Erreichung „eher“ oder sogar „völlig“ zutreffe. Insbesondere das erstgenannte Ziel, das sich vorrangig auf die Bewältigung ihrer Suchtproblematik bezieht, wurde von fast zwei Dritteln vollständig erreicht (Abbildung 3, linke Seite). Nur knapp sechs Prozent teilten mit, dass dies nicht zutrifft. Bezogen auf das zweite persönliche Ziel ist es ein Zehntel, das angab, dieses nicht erreicht zu haben (Abbildung 3, rechte Seite). Schaut man auf die Ziele, die nicht erreicht wurden, so sind es unter den wichtigsten hauptsächlich wohnungsbezogene Zielsetzungen (zu 40,0 Prozent) und unter den zweitwichtigsten ebenfalls wohn- (zu 46,7 Prozent) und arbeitsbezogene Ziele (zu 37,5 Prozent).

    Abbildung 3: Erreichung der zwei wichtigsten persönlichen Zielsetzungen während der Maßnahme aus Sicht der Klienten

    In fast allen standardisiert erhobenen Untersuchungsbereichen sind statistisch signifi­kante positive Veränderungen während der Eingliederungshilfemaßnahme eingetreten. Die Leistungsbeeinträchtigungen nach ICF sind zurückgegangen, und die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich im kör­perlichen und psychischen Bereich während der Maßnahme signifikant verbessert. Auch die psychische Symptombelastung hat sich insgesamt verringert. In der prospektiven Untersuchung zeigt sich eine hohe Zufriedenheit bei den Teilnehmern mit den Bereichen Ausstattung und Atmosphäre, Betreuung, Behandlungsverlauf sowie Vorbereitung auf die Zeit nach der Betreuung.

    Ferner erhöhte sich die Selbstwirk­samkeitserwartung unter der Betreuung deutlich, was für eine Stabilisierung der eingetretenen Veränderungen von Bedeutung sein dürfte. Bezogen auf die Ziele der Eingliederungshilfe erweisen sich die hier untersuchten Maßnahmen überwiegend als erfolgreich.

    Mit der prospektiven Untersuchung konnte im Rahmen einer externen Evaluation für die Eingliederungshilfe gezeigt werden, dass die definierten Ziele zu einem großen Anteil vollständig erreicht werden. Das bekräftigt die Stellung der Eingliederungshilfe als ein Versorgungssegment für Menschen mit Ab­hängigkeitsproblemen, die im Rahmen der regulären Gesundheitsversorgung sowie des Rehabilitationswesens nicht erreicht werden bzw. denen die (vorwiegend stationären) Behand­lungsmaßnahmen der Regelversorgung nicht zugänglich sind.

    Kontakt:

    Dr. Peter Degkwitz
    Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS)
    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
    Martinistraße 52
    20246 Hamburg
    Tel. 040/74 10 57 904
    p.degkwitz@uke.de
    www.zis-hamburg.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Peter Degkwitz, Sozialwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg. Er arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre in epidemiologischen Projekten sowie zur Evaluation von harm reduction-Maßnahmen und Substitutionsbehandlung. Sein besonderes Interesse gilt interdisziplinaren Suchtmodellen.

    Literatur:
  • Das Selbstkontrolltraining SKOLL

    Das Selbstkontrolltraining SKOLL

    Sabine Bösing
    Sabine Bösing

    Wer etwas für seinen Rücken tun will, trainiert im Fitnessstudio, wer seine Kondition steigern möchte, geht in eine Laufgruppe. Aber welches Angebot bietet sinnvolle Unterstützung, um besser mit dem eigenen Suchtmittelkonsum oder suchtbezogenen Verhalten umzugehen? Hier hilft das Selbstkontrolltraining SKOLL.

    Seit 2006 wird das vom Caritasverband Osnabrück entwickelte SKOLL-Training von Präventions- und Suchtfachkräften in unterschiedlichen Settings (z. B. Schule und Ausbildung, Jobcenter, Betriebe, JVAen, Bewährungshilfe) bundesweit angewendet. SKOLL schließt eine Angebotslücke für die Menschen, die sich zwischen Absichtslosigkeit und Absichtsbildung befinden (Gastpar, Mann, Rommelsbacher 1999) und sich in einer Gruppe darüber klar werden wollen, ob ihr suchtmittelbezogenes Konsum- und Verhaltensmuster schon problematisch ist. Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen (Bruns 2007; Bösing et al. 2012; Görgen, Hartmann 2013) haben die Wirkung dieses Trainings nachgewiesen. Zum Beispiel konnte das Risikoverhalten der Teilnehmenden bei Alkohol im Mittel um bis zu 50 Prozent stabil über mehrere Monate verringert werden. In den letzten zehn Jahren wurden die zahlreichen Erfahrungen der SKOLL-Trainerinnen und -Trainer und die Ergebnisse der Evaluation zur Weiterentwicklung genutzt.

    Dieser Artikel verfolgt das Ziel, die Stärken des Trainingsformats für Fachkräfte in der Suchthilfe und die Teilnehmenden herauszuarbeiten. Eingegangen wird deshalb vor allem auf die Besonderheit des Trainings und die Rolle der Trainerin/des Trainers.

    Ziele des SKOLL-Trainings

    logo-skollDas SKOLL-Selbstkontrolltraining ist ein Programm für den verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln und anderen Suchtphänomenen. Es richtet sich an Jugendliche und Erwachsene mit riskantem Konsumverhalten. Die Grundlagen bilden die Prinzipien der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 1999), das Selbstmanagement aus dem Bereich der Kognitiven Verhaltenstherapie (Kanfer, Reinecker, Schmelzer 1996), die Grundidee des Empowerments, bewährte psychoedukative Verfahren im Rahmen von Suchtprävention und die interaktionelle Methode zur Steuerung der Gruppendynamik.

    SKOLL umfasst zehn Trainingseinheiten à 90 Minuten im wöchentlichen Rhythmus. Dabei werden die jeweiligen Ziele der Teilnehmenden erfasst, es wird ein individueller Trainingsplan erstellt und das Wahrnehmen von Risikosituationen geübt. Die Teilnehmenden erlernen hilfreiche Gedanken sowie einen gesundheitsförderlichen Umgang mit Stress, Konflikten und Rückschritten. Gemeinsam werden Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen und Freizeit sowie stabilisierende Rituale erarbeitet.

    Aufbau und Inhalte des Trainings

    „Menschen lassen sich viel eher durch Argumente überzeugen, die sie selbst entdecken, als durch solche, auf die andere kommen.“ (Blaise Pascal) Das Zitat von Blaise Pascal drückt einen wesentlichen Leitgedanken des SKOLL-Programms aus. SKOLL zeichnet sich durch folgende Inhalte und Merkmale aus:

    1.  Es ist ein Training – keine Behandlung oder Therapiegruppe. Krisen, biografische Themen oder gar traumatische Lebenssituationen können hier nicht bearbeitet werden. Das Training ermöglicht den Teilnehmenden, neugierig auf sich selbst zu werden, Angebote zur Bearbeitung ihrer Themen in der Gruppe als hilfreich anzunehmen und sich von anderen inspirieren zu lassen.

    2. Das Training steht allen offen, die in einer Gruppe ihre Konsum- und Verhaltensformen reflektieren wollen. Dabei spielen Alter, Geschlecht, Konsummittel und/oder Verhaltensform keine Rolle. Im Gegenteil, je heterogener die Gruppenzusammensetzung, desto lebendiger die Gruppe und desto stärker die Wirkung für die Einzelne und den Einzelnen. Das verbindende Element ist der Wunsch, einen Umgang mit der problematischen Situation zu finden, die durch den Konsum von Suchtmitteln oder eine Verhaltensform ausgelöst wurde. Die unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenserfahrungen der Teilnehmenden offenbaren einen Pool an Ressourcen und Kompetenzen, der das Training bereichert.

    3. Die Durchführung des Trainings basiert auf einem strukturierten Manual. Es gibt so genannte Kernelemente, die sich in allen Trainingsmodulen wiederholen. Diese Kernelemente sind:

    • Trainingsplan: Er wird in der zweiten Trainingseinheit erstellt und ist sehr individuell gestaltet. Zur Festlegung der Ziele werden die SMART-Kriterien (Spezifisch, Messbar, Akzeptabel/Angemessen, Realistisch, Termingebunden) verwendet.
    • Treppe zum Ziel: Sie dient zur Sicherung der Erkenntnisse in den jeweiligen Einheiten. Die Teilnehmenden können auf Arbeitsblättern mit symbolisierten einzelnen Treppenstufen – entsprechend der Module – ihren ganz persönlichen Prozess während des Trainings festhalten.
    • Dokumentation: Sie ist ein wichtiges Hilfeinstrument zur Selbstkontrolle, weil damit die Erreichung des eigenen Vorhabens kontrolliert wird.
    • Situationsanalyse: Mit der Analyse erlebter Situationen können die eigenen Veränderungsmöglichkeiten besser erkannt und Risikosituationen besser gemeistert werden.

    Die Teilnehmenden können mit ihrem Risikoverhalten experimentieren, alternative Verhaltensweisen einüben, neue Erfahrungen sammeln, sich selbst beobachten lernen, alltägliche Situationen analysieren, Gefühle benennen und Gedanken identifizieren – kurz: ihr eigenes Verhalten kritisch wahrnehmen. Durch den Einsatz der Kernelemente in jeder Trainingseinheit kommt es zu einer Verinnerlichung wirksamer Verhaltensänderungen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Veränderungen auch im Alltag umgesetzt werden.

    4. Die Teilnehmenden legen ihre Ziele selbst fest. Die Trainerin/der Trainer und die Gruppe begleiten und bestärken die Einzelne/den Einzelnen dabei. Die Arbeit in der Gruppe orientiert sich an den persönlichen Zielen der Teilnehmenden. So kann es z. B. ein legitimes Ziel sein, keinen Ärger mit dem Jobcenter zu haben oder mit der Freundin. Andere kommen mit der Absicht zu überprüfen, ob sich der Alkoholkonsum noch in einem ‚normalen Rahmen‘ befindet. SKOLL hilft bei der Zielerreichung durch ein gesundheitsbezogenes Selbstmanagement und allgemeine Problemlösungsfertigkeiten. Dadurch erhöht sich die Kontrolle über das Risikoverhalten, und die Gesundheit der Teilnehmenden verbessert sich. SKOLL ist deshalb für unterschiedlich motivierte Teilnehmende geeignet und wirksam.

    5. Die Trainerinnen und Trainer werden in einem mehrtägigen Seminar geschult und bei Bedarf begleitet. Zur kontinuierlichen Durchführung des Trainings werden Tandems gebildet. Im Fokus der Trainerschulung stehen die handlungsorientierte Vermittlung der einzelnen SKOLL-Module sowie die Einübung einer akzeptierenden Grundhaltung. Bei der Gestaltung der Trainingseinheiten gibt es ausreichend Raum, um die jeweils eigenen fachlichen Ressourcen und Kompetenzen miteinzubringen.

    Die Rolle der SKOLL-Trainerin/des SKOLL-Trainers

    Hier einige Aussagen von Trainerinnen und Trainern:

    „Für mich war das Schwierigste, mich zurückzunehmen, meine Trainerrolle zu finden, doch dann stellte ich fest, dass der Austausch innerhalb der Gruppe sehr spannend ist und eine große Gruppendynamik entsteht.“
    „Es hat auch was Erfrischendes.“
    „Das Training birgt viel Abwechslung, davon profitieren eigentlich alle.“

    Aufgaben der Trainingsleitung:

    1. Die Trainerinnen bzw. Trainer schreiben die Inhalte und die Struktur des Trainings vor. Sie sind die ‚Impulsgeber‘ für die Teilnehmenden und fördern die Interaktion in der Gruppe. Das Training bezieht seine Stärke aus dieser lebendigen Interaktion. Umso mehr sich die Trainingsleitung auf ihre beobachtende und impulsgebende Rolle zurückzieht, umso mehr kann zwischen den Teilnehmenden geschehen. Dabei sind es oft kleine Erkenntnisgewinne, die große Wirkung entfalten.

    2. Bei Verstößen gegen die Gruppenregeln, die von den Teilnehmenden im Rahmen der Gruppendynamik nicht eigenständig korrigiert werden können, obliegt der Trainerin/dem Trainer die Aufgabe der Intervention.

    3. Um Über- und Unterforderungen zu vermeiden, ist ein offener Blick für die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse wichtig, um ggf. durch Aufgabenverteilung eine Ausgewogenheit herzustellen.

    4. Die Trainingsleitung stärkt die positiven Veränderungen und trägt wertfrei die als Teil des Prozesses zu akzeptierende Stagnation bzw. auch Rückschritte mit.

    Die wichtigsten Faktoren für die Gestaltung der Beziehung der Trainerin/des Trainers zu den Teilnehmenden sind Empathie, Wertschätzung und gegenseitiges Vertrauen. Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der Teilnehmenden werden stets betont. Selbstheilungskräfte, vorhandene Ressourcen, gesunde Verhaltensmuster und Bewältigungsstrategien werden gefördert und genutzt.

    Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die SKOLL-Trainerin/der SKOLL-Trainer ein förderndes Klima für die Teilnehmenden schafft, damit diese selbstbestimmt handeln, eigene Ziele festlegen und eine eigene Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen können. Jede/jeder trainiert die eigenen Stärken und Fähigkeiten, um wieder die Macht zu spüren, die eigene Geschichte beeinflussen zu können.

    Die SKOLL-Fachkräfte verstehen sich als ‚Verbündete‘ der Teilnehmenden, ohne vorzugeben, die richtige Methode, die zum Ziel führt, zu kennen. Für die erfolgreiche Implementierung von Trainings in den unterschiedlichen Institutionen ist es notwendig, dass diese Haltung nicht nur von den Trainerinnen und Trainern getragen wird, sondern auch von der dortigen Leitung und dem Team.

    Die Verbreitung von SKOLL

    Der Transfer des Trainings erfolgte bisher durch die Etablierung in seinem ursprünglichen Kontext der Suchthilfe und erfuhr dann eine Ausweitung in weitere Bereiche wie z. B. Schulen, Job-Center und die Wohnungslosenhilfe. Unter dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Qualitätssicherung wurden erfahrene SKOLL-Trainerinnen und -Trainer zu SKOLL-Lehrtrainerinnen und -Lehrtrainern geschult. So können bundesweite Schulungen angeboten werden. Die Lehrtrainerinnen und -trainer  erfüllen das notwendige Qualifikationsprofil, um das evidenzbasierte Manual, die in der Fläche nachgewiesenen Wirkfaktoren und die daraus erstellten Qualitätsstandards weiterzuvermitteln.

    logo-skoll-spezialEine Weiterentwicklung des bewährten SKOLL-Konzepts stellt SKOLL-SPEZIAL dar. SKOLL-SPEZIAL ist ein Angebot für Menschen, die sich gezielt mit Alkohol und Nikotin auseinandersetzen möchten. Das Training wurde von der Zentralen Prüfstelle Prävention der GKV als Maßnahme nach § 20 SGB V anerkannt. Die Kosten für die Teilnahme können bei den Krankenkassen abgerechnet werden.

    Die letzte wissenschaftliche Untersuchung (Görgen, Hartmann 2013) zeigte, dass SKOLL nicht nur als Intervention bei Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Problemlagen Nutzen bringt. Auch die Fachkräfte selbst – aus der Sucht- und Drogenhilfe, aber auch aus angrenzenden Arbeitsfeldern – profitieren von der Ausbildung zu SKOLL-Trainerinnen und -trainern. Die Ausbildung enthält hohe Anteile selbstreflexiver Elemente, die geeignet sind, das eigene Selbstverständnis, die verfolgten Ziele und angewendeten Methoden zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.

    So gilt es, SKOLL-Trainings in den unterschiedlichen Settings weiter zu implementieren, mehr motivierte Trainerinnen und Trainer zu finden und das SKOLL-Programm damit zu einem flächendeckenden, entstigmatisierenden Angebot in der Suchtprävention und Frühintervention zu machen.

    SKOLL und SKOLL-SPEZIAL wurden entwickelt vom Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V. Weitere Informationen zum Training und zu Schulungen sind unter www.skoll.de zu finden.

    Kontakt:

    Sabine Bösing, Berlin
    s.boesing@gmx.net

    Angaben zur Autorin:

    Sabine Bösing ist Diplom-Sozialpädagogin, Suchttherapeutin (DRV-anerkannt), systemische Coachin und Beraterin für Organisationsentwicklung/Changemanagementprozesse. Sie hat langjährige Erfahrung in der Entwicklung und Umsetzung von Landes- und Bundesprogrammen zur Prävention und Gesundheitsförderung und war Bundesmodellkoordinatorin von SKOLL. Heute ist sie als Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband tätig und als freie Trainerin und Ausbilderin für SKOLL, SKOLL-SPEZIAL und zum Thema Empowerment.

    Literatur:
    • Bösing, S., Kliche, T., Tönsing, C. (2012): Transfer und Evaluation des SKOLL-Selbstkontrolltrainings in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Wirksamkeit, Umsetzung und Versorgungsaspekten, insbesondere im ländlichen Raum (Abschlussbericht 2012, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.).
    • Bruns, B. (2007): SKOLL – SelbstKOntroLL-Training. Eine Studie zur Effektivität des Frühinterventionsmodells bei substanz- und verhaltensbezogenen Störungen im Auftrag des Deutsch-Niederländischen Suchthilfeverbundes. Fachhochschule Norddeutschland, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Osnabrück.
    • Gastpar, M. H., Mann, K. H., Rommelspacher, H. H. (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttgart, New York.
    • Görgen, W., Hartmann, R. (2013): Befragungen im Rahmen einer nachhaltigen Qualitätssicherung des SKOLL-Selbstkontrolltrainings im Zusammenhang seiner flächendeckenden Umsetzung. FOGS, Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich, Köln.
    • Kanfer, F. H., Reinecker, H., Schmelzer, D. (1996): Selbstmangement-Therapie. Ein Lehrbuch für die klinische Praxis. Berlin.
    • Kliche, T., Boye, J., Griebenow, B., Richter, S. (2009): Bundesmodellprojekt SKOLL: Evaluation eines übergreifenden Trainingsprogramms bei riskantem Konsum von Suchtmitteln. Erste Befunde zur Umsetzung aus der Nutzerbefragung 2008-09. Unveröffentlichtes Manuskript.
    • Miller, W., Rollnick, S. (1999): Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur Beratung von Menschen mit Suchtproblemen. Freiburg.
    • Petermann, M. (2010): Möglichkeiten und Grenzen von Selbstmanagement im Rahmen ambulanter Suchtberatung und -behandlung unter besonderer Berücksichtigung des Selbstkontrolltrainings (SKOLL). Diplomarbeit an der Berufsakademie Sachsen, Staatliche Studienakademie Breitenbrunn.
  • Wo stehen die Beratungsstellen?

    Wo stehen die Beratungsstellen?

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Eine gesellschaftspolitisch bewegte Zeit, wie wir sie derzeit erleben, ist stark geprägt von Fragen zur gesellschaftlichen Solidarität und von Erschütterungen des gesellschaftlichen Konsenses – wer hat wie viel an wen zu leisten, wer hat Anspruch auf welche Leistungen und zu welchen Bedingungen? Dabei geht es manchen politischen Kräften und gesellschaftlichen Akteuren seit der so genannten Agenda 2010 um nicht weniger als den Umbau des Sozialstaates. Es geht um Fragen, wie viel Sozialstaat erforderlich und nötig ist und wer welche Steuerungsfunktion darin übernimmt, beispielsweise beim Arbeitslosengeld II im SGB II oder im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rolle und Stellung der ambulanten regionalen Suchthilfe, die in unterschiedliche Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke auf kommunaler wie überregionaler, auf nationaler wie internationaler Ebene eingebunden ist, deren Handeln sich auf regionaler Ebene aber zunehmend an unterschiedlichen Lösungen orientiert.

    Der folgende Blick auf die ambulante Suchthilfe versteht sich als Diskussionsbeitrag zu ihrem besonderen Stellenwert, den sie für die soziale Gemeinschaft oder vielleicht treffender für die Zivilgesellschaft einnimmt bzw. einnehmen kann. Einige Thesen zu Beginn sollen die weiteren Ausführungen thematisch umreißen und strukturieren:

    • Die ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit im umfassenden und besten Sinne.
    • Ihr Leistungsspektrum für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und auch für die soziale Gemeinschaft ist umfassender und dessen Wirksamkeit höher, als üblich nach außen ersichtlich wird.
    • Die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung haben sich auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies zukünftig noch mehr tun.
    • Die ambulante Suchthilfe erbringt Leistungen, die andere in dieser Form nicht erbringen können – weder niedergelassene Therapeuten noch private Anbieter.
    • Wenn die ambulante Suchthilfe ihr Leistungsspektrum für suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und die soziale Gemeinschaft auch weiterhin erhalten will, muss sie sich in der Form ihrer Leistungserbringung „bewegen“ und ihr Profil schärfen.

    Sozialrechtlicher Rahmen und Auftragsgestaltung

    Um die Rolle und Aufgaben der ambulanten regionalen Suchthilfe im Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, zunächst ihren sozialrechtlichen Rahmen und die Auftragsgestaltung zu skizzieren. Dieser Rahmen ist für die ambulante regionale Suchthilfe wesentlich durch fünf Bereiche geprägt:

    1. Sozialstaatsprinzip und kommunale Daseinsvorsorge

    Die Grundlage der Finanzierung in der ambulanten Suchthilfe, von einzelnen Teilleistungen wie der ambulanten Rehabilitation Sucht abgesehen, fußt auf der kommunalen Daseinsvorsorge, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verankert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert ist. Im heutigen Verständnis ist sie zu einem Synonym für die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur geworden, die für ihre Einwohner die erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereitstellt. Die kommunale Daseinsvorsorge ist eine weitgehend freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Aktuell steht sie unter Liberalisierungsdruck, bedingt durch das Europäische Wettbewerbsrecht und daraus folgender Überlegungen zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben.

    2. Subsidiaritätsprinzip

    Eng verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip und der Daseinsvorsorge sowie den damit verbundenen staatlichen Fürsorgeleistungen ist das Prinzip der Subsidiarität. Damit ist vereinfacht die Idee gemeint, dass gesellschaftliche Eigenverantwortung und Autonomie Vorrang vor staatlichem Handeln haben. In Bezug auf die Erbringung von Fürsorgeleistungen bedeutet dies, dass (staatliche) Aufgaben soweit als möglich von unteren Ebenen (z. B. Länder, Städte, Kommunen) bzw. kleineren Einheiten ausgeführt werden. Diesem Prinzip unterliegt auch das Verhältnis zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Gemeinden) und den freien Trägern (freie Wohlfahrtspflege) von Fürsorgeleistungen. Dies bedeutet zwar einen Vorrang für die freie Wohlfahrtspflege bzw. einen Nachrang öffentlicher Träger und Einrichtungen, aber es gab und gibt immer wieder Richtungsstreitigkeiten um die damit verbundene Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung und den Erhalt der sozialpolitischen Position der freien, vor allem der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Wir erleben heute eine Diskussion um die so genannte „neue Subsidiarität“, die weit über die einfache Formel von Vor- und Nachrang hinausgeht. Sie bewegt sich mehr im Spannungsfeld von Steuerungsmechanismen, einer relativen Autonomie der handelnden Akteure und den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten in den entsprechenden Hilfefeldern. Das leitet automatisch zur Frage der kommunalen Steuerung über.

    3. Kommunale Steuerung

    Die kommunale Steuerung erhält durch Einsparmaßnahmen bei sozialen Leistungen der öffentlichen Hand, durch die damit verbundenen neuen Verteilungsszenarien und durch den Prozess der Kommunalisierung eine neue Qualität. Diese „neue“ Zuweisung von Gestaltungsverantwortung stellt viele Kommunen vor ungewohnte fachspezifische Herausforderungen. Darin steckt gleichermaßen Chance und Verpflichtung für die ambulante Suchthilfe. Dadurch nämlich, dass sie sich als unverzichtbarer Partner in der Gestaltung der sozialen Gegebenheiten vor Ort und somit der sozialen Gemeinschaft vor Ort versteht.

    4. Soziale Leistungsgesetze

    Die Rahmenbedingungen ambulanter Leistungen der Suchthilfe werden komplettiert durch die sozialen Leistungsgesetze. Die Krankheit Sucht als ein sehr komplexes Geschehen berührt vor dem Hintergrund ihres biopsychosozialen Erklärungsmodells eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuches. Im Einzelfall ist es erforderlich, die unterschiedlichen Leistungen bedarfsgerecht zu kombinieren, was nicht immer möglich bzw. häufig problematisch ist. Als Beispiel seien hier Maßnahmen für Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Suchthilfe oder die Betreuung substituierter schwangerer Frauen genannt.

    5. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe

    Eine wesentliche Grundlage bzw. auch ein Auftrag für die Gestaltung der ambulanten Suchthilfe im Gemeinwesen ergibt sich über das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „Teilhabe“ zu einem „Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells“ (Bartelheimer, 2007) entwickelt. Teilhabemodelle gehen davon aus, dass materielle Ressourcen und Rechtsansprüche unverzichtbare Voraussetzungen für die Menschen sind, um sich angemessen innerhalb ihrer Gesellschaft zu bewegen. Dies zu realisieren, also Verwirklichungschancen wahrzunehmen, verlangt zum einen persönliche Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen wie Normen oder Infrastruktur. Das Ziel sozialstaatlicher Handlungen besteht demnach darin, die Ungleichheiten bei den Verwirklichungschancen zu reduzieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. In der ambulanten Suchthilfe wäre dann zu prüfen, was sie dazu beitragen kann, dass mehr betroffene Menschen oder bestimmte Gruppierungen die Chance zur Teilhabe am „Gut“ der ambulanten Suchthilfe erhalten.

    Ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit

    Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.300 ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, die jährlich ca. 500.000 suchtkranke oder von Sucht betroffene Menschen erreichen (Jahrbuch Sucht 2013). Die Zahl der Hilfesuchenden hat in der ambulanten Suchthilfe in den letzten Jahren um ca. acht Prozent zugenommen (Deutsche Suchthilfestatistik 2008 bis 2012). Nach Einschätzungen der Beratungsstellen haben die Personalressourcen jedoch in Relation zu den gestiegenen Leistungsanforderungen eher abgenommen.

    Rolle und Selbstverständnis der ambulanten Suchthilfe

    Für Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen sowie deren Angehörige sind die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die zentralen Fachstellen in einem regionalen Hilfesystem und innerhalb eines regionalen Suchthilfeverbundes. Sie stellen für die Hilfesuchenden wie für die Kommune die Umsetzung der Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Kernleistungen einer regionalen Grundversorgung sicher. Damit ist auch der weitere Zugang zu sozialrechtlich normierten Leistungen wie Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verbunden.

    Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe

    Vergegenwärtigen wir uns das Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe – von spezifischer Präventionsarbeit, Risikominimierung und aufsuchenden Hilfen über Beratung, Begleitung und Betreuung, Behandlung und Rehabilitation bis zu Integrationshilfen, Selbsthilfeunterstützung und Netzwerkarbeit in versorgungsübergreifenden Kooperationsstrukturen – so wird deutlich: Die komplexe Leistungserbringung der ambulanten Suchthilfe ist psychosoziale Suchthilfe und in weiten Bereichen Soziale Arbeit. Im Zusammenspiel sozialer Fragestellungen und sozialer Hilfeleistungen mit Kenntnissen in Beratungsmethoden und psychotherapeutischer Einzel- und Gruppenarbeit, die zusätzlich Ansätze des Empowerments, suchtspezifisches Case Management sowie Ansätze der Lebens- bzw. Sozialraumorientierung und Quartiersarbeit integriert, findet Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe gelebte Wirklichkeit.

    Wie und wo sollten Menschen, die in die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe kommen, sonst eine umfassende und bedarfsgerechte Hilfe erhalten? Menschen, die Suchtprobleme haben, aber gleichzeitig arbeitslos und verschuldet sind, deren Partnerbeziehung auf der Kippe steht, deren Gesundheit angeschlagen ist, die sich in einer Sinnkrise befinden und sich insgesamt ohne Perspektive fühlen. Der psychosoziale Hilfeansatz der ambulanten Suchthilfe will Menschen „dort abholen“, wo sie stehen. Dazu hält die ambulante Suchthilfe Einiges bereit:

    • ein Verständnis von Empowerment, das die Selbsthilfekräfte und Selbstbestimmung der Betroffenen fördert,
    • einzelfallbezogene Hilfen zur Beratung, zur psychosozialen Begleitung bei Substitution wie auch zur existentiellen materiellen Absicherung,
    • fallbezogenes Case Management zur optimalen Kombination unterschiedlicher Hilfen und Hilfebereiche, z. B. der Suchthilfe mit der Schuldnerberatung, mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit der regionalen Hilfeplanung,
    • das Einbeziehen gemeinwesenorientierter Ansätze, die sich heute unter Begriffen wie Lebens- bzw. Sozialraumorientierung oder auch Quartiersarbeit finden und zum Ziel haben, Menschen in ihrem persönlichen Lebensumfeld zu erreichen und ggf. auch Einfluss auf dieses Lebensumfeld zu nehmen,
    • die Integration neuer Konzepte wie Motivierende Gesprächsführung oder Community Reinforcement Approach (CRA).

    Dies sind Interventionen und Hilfestrategien, die letztlich alle darauf abzielen, immer mehr Menschen mit riskantem oder abhängigem Suchtmittelkonsum frühzeitig und bedarfsgerecht zu helfen.

    Ambulante Suchthilfe und soziale Gemeinschaft (Zivilgesellschaft)

    Über die bloße Tatsache hinaus, dass die ambulante Suchthilfe Anlaufstelle für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Problemen ist, besitzt sie einen (Mehr-)Wert für die soziale Gemeinschaft. Ambulante Suchthilfe versteht sich als Teil der regionalen Gesundheitsvorsorge. In diesem Rahmen bemisst sich ihr Wert aus der Summe ihres unmittelbaren Nutzens für betroffene Menschen und deren Angehörige und ihres mittelbaren Nutzens für die soziale Gemeinschaft. Diesen mittelbaren Nutzen erreicht sie auf vielfältige Weise:

    • Öffentlichkeitsfunktion: Als Anwältin der Betroffenen weist sie auf die Lebensbedingungen suchtkranker Menschen öffentlich hin. Diese öffentliche Thematisierung verhindert, dass die besonderen Problem- und Lebenslagen der betroffenen Menschen einseitig individuell begründet und damit stigmatisiert und tabuisiert werden. Dagegen werden sie als zwar persönlich, aber auch gesellschaftlich und sozial bedingte Prozesse dargestellt. Die ambulante Suchthilfe schafft damit eine wesentliche Grundlage für die Integration suchtkranker Menschen. Denn Integration oder Inklusion erfolgt nicht über die professionellen Helfer, sondern über die Mitmenschen, die Mitbürger, die lernen, Suchterkrankungen zu verstehen und die Betroffenen nicht (mehr) auszugrenzen.
    • Signalfunktion: Die ambulante Suchthilfe ist ein Seismograph für soziale Entwicklungen. Aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit suchtkranken Menschen in deren spezifischen Lebensbezügen nimmt sie soziale Entwicklungen frühzeitig wahr. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur auf die Lebensbedingungen der ihr anvertrauten Menschen hinzuweisen, sondern z. B. auch auf Auswirkungen und Konsequenzen, die bestimmte Gesetzesvorhaben und Gesetzeslagen hätten oder haben. Indem sie auf bestimmte Verhältnisse und Entwicklungen aufmerksam macht und sich so in die politische und gesellschaftliche Debatte einmischt, besitzt sie wichtige Signalfunktion bezogen auf die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen.
    • Gesellschaftliche und soziale Teilhabe: Ambulante Suchthilfe leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe. Suchtprobleme, die nicht frühzeitig erkannt werden oder die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können, führen zur Exklusion, zur gesellschaftlichen wie sozialen Ausgrenzung. Gerade der umfassende Ansatz der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist Garant dafür, dass neben der unmittelbaren Behandlung der Erkrankung auf medizinischer und psychotherapeutischer Basis auch die Lösung anderer damit verbundener Problemlagen in den Blick kommt, egal ob es sich dabei um materielle Hilfen, die Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt oder die Verwirklichung von Rechtsansprüchen handelt.
    • Gesellschaftliche Solidarität: Soziale Arbeit trägt maßgeblich zur gesellschaftlichen Solidarität, also zum Zusammenhalt einer Gesellschaft und deren positiver Weiterentwicklung bei. Der Umgang mit Suchtmitteln, der nicht reglementiert ist, Wirkungen und Konsequenzen von Suchtmitteln, über die nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt wird, ein fehlendes oder unzulängliches Hilfe- und Versorgungssystem sind eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. Ambulante regionale Suchthilfe wirkt dem entgegen, indem sie sich vorbeugend mit dem adäquaten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln und mit der Behandlung akuter Suchtprobleme befasst. Dadurch besitzt sie einen hohen kollektiven Nutzen.
    • Soziale Sicherung und soziale Befriedung: Letztlich leistet die ambulante Suchthilfe einen Beitrag zur sozialen Sicherung und zur sozialen Befriedung in der Kommune, indem sie für regionale und spezifische Probleme Lösungsansätze mit entwickelt. Dies kann auf ordnungspolitischer Ebene in Zusammenarbeit mit der Politik und den Sicherungsorganen vor Ort erfolgen, beispielweise zur Entschärfung negativer Konsequenzen lokaler Drogenszenen. Die Suchthilfe kann aber auch zum sozialverträglichen Umgang mit Alkohol in der Öffentlichkeit beitragen, beispielsweise über Angebote zu einer Fest- und Feierkultur, die den Genuss legaler Suchtmittel nicht ausschließen, aber Formen finden, die Konsum- und Gewaltexzesse vermeiden.

     Aktuelle Herausforderungen

    Die oben beschriebene Rolle der ambulanten Suchthilfe und ihr Selbstverständnis werfen aber auch Fragen auf: Hat die ambulante Suchtberatung weiterhin den Willen und die Ressourcen, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen? Sieht sie sich zunehmend in „Konkurrenz“ zu den psychiatrischen Versorgungsstrukturen und zu niedergelassenen Therapeuten/-innen, oder gelingt es ihr, darin Kooperations-Chancen zu entdecken und diese im Sinne einer Optimierung der Versorgungslandschaft für die Hilfesuchenden zu nutzen?

    Wie zuvor beschrieben, haben sich die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung für ambulante Hilfen auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies auch weiterhin tun. Die ambulante Suchthilfe stellt Leistungen für Menschen in einem Gemeinwesen zur Verfügung und steht deswegen unter der permanenten Prämisse, sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess den gesellschaftlichen Entwicklungen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie veränderten Erwartungen von Seiten der Politik, der Leistungsträger und der Hilfesuchenden anzupassen. Daraus ergeben sich zentrale aktuelle Herausforderungen:

    Unter der Prämisse der Ökonomisierung ambulanter Hilfen, aber auch aufgrund veränderter Bedarfe der Hilfesuchenden und neuer fachlicher Kenntnisse, haben sich das Leistungsangebot wie auch die Leistungserbringung stark gewandelt. Die Modularisierung der Hilfen und Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, d. h. es werden zunehmend bedarfsorientierte und passgenaue Hilfen, Interventionen und Maßnahmen für spezifizierte Klientengruppen angeboten. Hierdurch können die Hilfen effektiver und effizienter angeboten werden. Aufsuchende Hilfen, z. B. in Haftanstalten, Betrieben oder Krankenhäusern, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Über Maßnahmen der Früherkennung und Frühintervention werden Klienten/-innen früher erreicht, und es werden auch andere Klientengruppen erreicht. Ansätze der Lebenslagen- bzw. Sozialraumorientierung kommen vermehrt in den Blick.

    Das alles wirkt sich auch auf das erforderliche Handlungswissen der Berater/innen aus. Sie werden immer stärker von Spezialisten zu Generalisten. Die Mitarbeiter/-innen ambulanter Beratungsstellen verstehen sich heute als multidisziplinäre Teams in Netzwerkarbeit und mit Case-Management-Orientierung. Gleichzeitig bestehen hohe Ansprüche an Effektivität und Effizienz vor dem Hintergrund einer hohen Qualitätsorientierung.

    Die skizzierte (positive) Entwicklung darf aber nicht von der Kehrseite der Medaille ablenken. Eine bedarfsorientierte Leistungserbringung, die ökonomisch sinnvoll und qualitativ hochwertig ist, erhöht den administrativen Aufwand und bringt zwangläufig fachlich und personell anspruchsvolle Leitungs- und Steuerungsaufgaben mit sich. Durch die stärkere Differenzierung und Ökonomisierung der ambulanten Hilfen nimmt in den Beratungsstellen die unmittelbare Beratungs- und Betreuungszeit für den einzelnen Klienten ab, und die Verdichtungen in den Arbeitsbezügen nehmen deutlich zu. Das für die ambulanten Hilfen zentrale Moment der Beziehungsgestaltung und der Bindungsarbeit verändert sich. Berater/-innen weisen deutlich darauf hin, dass die Gesprächs- und Betreuungszeiten für ihre Klientel spürbar abgenommen haben. Bei gleichbleibenden personellen Ressourcen stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob und wie der hohe Anspruch an das Qualitätsniveau ambulanter Leistungen aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt signalisieren Beratungsstellen, dass das Qualitätsniveau in den einzelnen Angeboten variiert. Durch passgenaue und zielführende Angebote kann das Leistungsniveau für bestimmte Klientengruppen erhöht werden, während es an anderer Stelle, bedingt durch die nicht gleichzeitig angepassten Ressourcen, wiederum abnimmt. Auf einen Nenner gebracht, befürchten Berater/-innen einen Rückgang der Nachhaltigkeit der Leistungen, was sich beispielweise in den Halte- und Rückfallquoten niederschlägt.

    Die ambulante Suchthilfe ist überwiegend pauschal finanziert auf den Säulen von Eigenmitteln, staatlichen Zuschüssen, Refinanzierungen/Erwirtschaftungen und Projektfinanzierungen. Die kostendeckende Finanzierung der Leistungen und Angebote der ambulanten Suchthilfe ist in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. Öffentliche Mittel sind rückläufig und stehen unter Einsparvorbehalt. Die Leistungsvergütung hat sich für die Leistungserbringer tendenziell verschlechtert. Gleichzeitig nimmt der Druck in den Einrichtungen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu. Tendenziell nimmt der pauschal finanzierte Anteil im Budget der Beratungsstellen ab. Ziel einer auskömmlichen Finanzierung ist eine grundsätzliche Kostendeckung, es ist aber auch zu vermeiden, dass die pauschale Finanzierung der Grundversorgung in den Kommunen mit spezifischen Leistungsangeboten konkurriert bzw. verrechnet wird.

    Perspektiven der ambulanten Suchthilfe

    Hat die ambulante Suchthilfe auch weiterhin das Ziel, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit in einer Region oder Kommune zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen, dann sind – verbunden mit den eben skizzierten Herausforderungen – folgende Aspekte für eine Perspektive wesentlich:

    Suchtberatung ist allen zugänglich und hilft frühzeitig, sie ist teilhabe- und sozialraumorientiert

    Wie im Sinne einer Präambel muss im Grundverständnis der Daseinsvorsorge der Kommunen verankert sein, dass Suchtberatung allen Bürgern/-innen voraussetzungslos zugänglich sein muss. Niemand wird wegen seiner Herkunft, seiner Lebensumstände oder mangelnder Kaufkraft ausgeschlossen. Professor Matthias Möhring-Hesse von der Hochschule Vechta geht so weit, bei der Sozialen Arbeit von einem „öffentlichen Gut“ zu sprechen, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen sein darf. Ein Angebot nach diesem Verständnis muss per se niedrigschwellig sein. Mit dem Ziel erhöhter Erfolgschancen wie auch im Sinne von Ressourcenschutz hat die Suchtberatung den Anspruch, möglichst frühzeitige Hilfe zu leisten. Das gilt auch für eher „schwer erreichbare“ Zielgruppen, bei denen die ambulante Suchthilfe mit einem rein nachfrageorientierten Verständnis im Sinne der „Komm-Struktur“ an ihre Grenzen stößt. Das erfordert ein Umdenken im methodischen Zugang der ambulanten Suchthilfe. Ansätze aufsuchender Hilfen werden ausgeweitet. Angebote und Maßnahmen werden zunehmend im Verständnis von Sozialraumorientierung entwickelt und erbracht.

    Die Schärfung des eigenen Profils beginnt bei der Diagnostik

    Die Bedarfe der Hilfesuchenden werden immer vielschichtiger. Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an die Diagnostik und Psychodiagnostik in der ambulanten Suchthilfe, die diese Vielschichtigkeit der Lebenslagen erkennen und erfassen muss. Daraufhin ergeben sich Anforderungen an ein modulbezogenes und bedarfsgerechtes Hilfeangebot und insbesondere an ein gestuftes Hilfeangebot, das im Sinne von stepped care und Ressourcenorientierung angemessene und aufeinander aufbauende Maßnahmen der Beratung, Begleitung und Behandlung bereithält. Das handlungsleitende Prinzip dabei ist: „So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“ – statt „Viel für wenige“ eher „Etwas für viele“. Eine solche Differenzierung des Leistungsprofils unterscheidet Kernleistungen (Grundversorgung), spezifische Leistungen für die jeweilige Kommune (Pflicht) und von der ambulanten Suchthilfe zusätzlich angebotene Leistungen (Kür). Die ambulante Suchthilfe benötigt zukünftig mehr fachliche und personelle Ressourcen für managementorientierte Aufgaben. Nicht zu Lasten der Beratung und Betreuung, aber ergänzend, damit die Verschiebung in der Arbeit zu Koordinierung, Vernetzung, Wirkungsorientierung und Ökonomie besser gelingt.

    Verbünde haben Konjunktur – gemeinsam sind wir besser

    Aufgrund der steigenden fachlichen und versorgungsorientierten Anforderungen werden strategische Überlegungen zur Verbundorientierung an Bedeutung gewinnen – je nach den jeweiligen regionalen und kommunalen Erfordernissen. In eine kommunale oder regionale Suchthilfeplanung, die sich eine bedarfsorientierte Grundversorgung im Sinne einer öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Ziel gesetzt hat, müssen die vielfältigen Netzwerke eingebunden sein. An dieser Stelle kann und muss die ambulante Suchthilfe eine zentrale koordinierende und flankierende Rolle spielen.

    Auf den Schnittstellen liegt das Augenmerk der Zukunft

    Komplexe Problemlagen benötigen in der Regel komplexe Lösungen. Das ist eine Binsenweisheit. Viele Problemlagen, mit denen die Suchthilfe konfrontiert ist, lassen sich alleine aus der Suchthilfe heraus nicht lösen, sondern nur in sinnvoller Kooperation mit anderen Akteuren innerhalb einer integrierenden Versorgungslandschaft. Die eigentliche Weiterentwicklung im Sinne verbesserter Hilfen und Angebote für betroffene Menschen liegt in einer optimierten und intensivierten Schnittstellenarbeit. Das bindet fachliche wie personelle Ressourcen und kann nicht mal schnell nebenher erledigt werden. Erforderlich ist: Voraussetzungen zu schaffen, um diese eigenständige Fachlichkeit des Schnittstellenmanagements erbringen zu können.

    Wirkungsorientierung ist der Boden, auf dem wir stehen

    Die konsequente Darstellung von Wirkzusammenhängen wird an Bedeutung gewinnen. Dies ist erforderlich für die fachliche Weiterentwicklung, für die Transparenz der Arbeit, für den gezielten Einsatz von Ressourcen und damit für die Rechtfertigung des Handelns in der ambulanten Suchthilfe – letztlich auch in einem fast moralisch zu verstehenden Sinn: Hilfesuchende Menschen in der ambulanten Suchthilfe haben ein Recht auf wirkungsvolle Hilfen. Das deutlich zu machen, konsequenter und intensiver darzustellen – gegenüber den Geldgebern aus der öffentlichen Hand und der Sozialversicherung, der Politik wie auch in die Öffentlichkeit hinein – ist eine vordringliche Aufgabe der ambulanten Suchthilfe.

    Der Blick auf die Ökonomie macht ehrlicher

    Ähnliches gilt für den unmittelbaren Zusammenhang von Kosten und Nutzen. Dabei darf der Blick auf die Ökonomie nicht alles sein, darf nicht zum vorherrschenden Maßstab des Handelns werden. Aber der Blick auf Ökonomie macht ehrlicher. Eine langfristige ökonomische Sicht ist abzugrenzen von kurzfristigen Kosteneinsparansätzen, bei denen es nur darum geht, monetär festzustellen, wer welche Leistung am billigsten anbieten kann. Ökonomie langfristig verstanden bedeutet, öffentlich darzustellen, dass wirtschaftliche Erfordernisse nicht zu trennen sind von Wirkungszusammenhängen, von der Nachhaltigkeit in der Leistungserbringung, vom unmittelbaren Nutzen der Leistungen für die Betroffenen und vom mittelbaren Nutzen für die soziale Gemeinschaft. Ökonomie so verstanden ist ein deutliches Argument gegen die allein subjektbezogene Finanzierung auf der Grundlage von Einzelverträgen und Leistungsvereinbarungen und für eine langfristige ökonomische Gestaltung der Hilfen. Und sie ist ein gewichtiges Argument für den Aufbau einer langfristigen Sozialpartnerschaft zwischen Kommune und Leistungsanbietern vor Ort.

    Qualitätsmanagement sichert den Erfolg

    Der gleichermaßen konsequente wie umsichtige Umgang mit Qualitätsmanagement schafft die Grundlagen dafür, in den Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die vielschichtigen fachlichen und leistungsrechtlichen Anforderungen und damit verbundene Maßnahmen so zu ordnen und aufeinander zu beziehen, dass deren Wirkungen auch dort ankommen, wo sie hinzielen, also bei den Menschen mit Suchtproblemen.

    Fazit

    Das Paradigma aus Wirksamkeit (Effektivität), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Nachhaltigkeit (Qualität) darf nicht der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung von Maßnahmen der ambulanten Suchthilfe sein. Nicht alles lässt sich in dieses Schema einordnen, nicht alle Problemlagen und Lösungsansätze lassen sich in messbare Schablonen pressen. Das geht auf Kosten der Vielfältigkeit und vor allem der Kreativität der Lösungen. Die Lebenswirklichkeit der hilfesuchenden Menschen ist vielschichtiger, lebendiger. Und die Antwort der ambulanten Suchthilfe in ihrer Orientierung an der psychosozialen Arbeit ist vielschichtiger, kreativer.

    Aber die ambulante Suchthilfe muss sich dem beschriebenen Optimierungsprozess stellen, managementorientierte Handlungsprogramme mit Augenmaß einsetzen und mit den lebendigen und kreativen Möglichkeiten psychosozialer Arbeit verknüpfen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Geschäftsführer
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas-Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
    • Hans Joachim Abstein, AGJ Freiburg, Projekt „Zukunftsfähigkeit der PSB der LSS Baden-Württemberg“, Freiburg 2010
    • Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe (AKS), Sucht(-hilfe) kostet Geld – Suchthilfe spart Geld! – eine Argumentationshilfe für die Praxis, Freiburg 2003
    • Peter Bartelheimer, Politik der Teilhabe, Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2007
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Leistungsbeschreibung für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe, DHS, Hamm 1999
    • Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V., Grundversorgung in der ambulanten Such- und Drogenhilfe, Köln 2009
    • Zukunftsforum Politik. Sozialer Bundesstaat 66. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2005
      FOGS-Studie DCV, Integrierte Versorgungsstrukturen – Kooperation und Vernetzung in der Suchthilfe der Caritas, Köln 2008
    • Institut für Therapieforschung (IFT), Suchthilfe in Deutschland, Jahresberichte der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) 2008 bis 2012, München
    • Matthias Möhring-Hesse, Hochschule Vechta, Die Zukunft der sozialen Arbeit im Sozialstaat, Frankfurt 2005
    • Hans-Uwe Otto, Universität Bielefeld, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion, Berlin 2007
    • Petzold, H., Steffan A. Gesundheit, Krankheit, Diagnose- und Therapieverständnis in der Integrativen Therapie, in: Integrative Therapie 2001
    • Wolfgang Scheiblich, Zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie – Die Anforderungen an die Suchtkrankenhilfe, Sozialdienst Katholischer Männer e.V., Köln 2004
    • Renate Walter-Hamann, Suchtberatung ist keine Restkategorie, in: neue caritas 18/2007, Deutscher Caritasverband, Freiburg 2007