Schlagwort: Cannabis

  • Kulturdrogen – Drogenkultur

    Kulturdrogen – Drogenkultur

    Jost Leune

    Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.

    Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende

    Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).

    Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).

    Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).

    Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)

    Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:

    22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
    23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
    24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)

    Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.

    Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).

    Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)

    500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten

    Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982). 

    1618–1648
    30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.

    1677
    Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.

    1771
    Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).

    1773
    Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.

    1780
    Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.

    1804
    Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.

    19. Jahrhundert
    Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.

    1850
    Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.

    1859/60
    Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.

    1845
    Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.

    1862
    Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.

    1875
    Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges.
    „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)

    1878
    20.000.000 Opiumabhängige in China

    1893
    Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.

    1896
    Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.

    1912
    MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.

    1920er Jahre
    Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.

    1920er Jahre
    In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).

    1926
    Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.

    1926
    Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.

    Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig.
    „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)

    1937
    Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
    Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).

    1938
    Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.

    1940
    Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
    Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.

    1945
    Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

    1949
    Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.

    1953
    Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.

    1954
    In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.

    1954
    Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

    1967
    Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

    1968
    Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.

    Drogen und ihre Kultur

    Alkoholkonsum

    Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1). 

    Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)

    Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).

    Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:

    • 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
    • Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
    • 2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
    • 2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.

    Konsum illegaler Drogen

    An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:

    Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016

    Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich

    Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.

    Alkohol
    Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet. 

    Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017). 

    Amphetamin
    Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed). 

    Barbiturate
    Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol. 

    Cannabis
    Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.

    Kokain
    Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.

    Ketamin
    Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.

    LSD
    LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.

    MDMA
    MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.

    Opiate
    Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend. 

    Psilocybin
    Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.

    Schlussbemerkung

    Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert. 

    „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.

    Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.

    Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)

    Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.

    Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)

    Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.

    Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat.
    Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer 

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

     Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

     Literatur:
    • Amendt, G. (2014), Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Herausgegeben von Andreas Loebell, Rotpunktverlag
    • Amendt, G. (1984), SUCHT – PROFIT – SUCHT, Zweitausendeins Verlag Frankfurt
    • Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (Hg.) (2016), Bericht 2016 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2015/2016), Workbook 3 Drogen. Internet: http://www.dbdd.de/fileadmin/user_upload_dbdd/01_dbdd/PDFs/wb_03_drogen_2016_germany_de_2016.pdf (Zugriff am 23.11.2016)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hg.) (2017), Jahrbuch Sucht 2017, Papst-Verlag Lengerich
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Daten und Fakten. Internet: http://www.dhs.de/datenfakten.html (Zugriff am 11.10.2017)
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hg.) (2017), Alkoholatlas Deutschland 2017. Internet: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf (Zugriff am 19.10.2017)
    • Freistaat Thüringen, Haushaltsplan 2017. Internet: https://www.thueringen.de/th5/tfm/haushalt/aktuell/index.aspx (Zugriff am 16.10.2017)
    • Hecht, M. (2013), Die Stadt, das Bier und der Hass. Der Zusammenhang von Politik und Alkohol in der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus. Vortrag gehalten vor dem 36. fdr-Kongress am 7. Mai 2013 in München. Internet: https://fdr-online.info/wp-content/uploads/file-manager/redakteur/downloads/veranstaltungen/36_fdrkongress/S29-3_Hecht.pdf (Zugriff am 10.09.2017)
    • Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
    • Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
    • Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
    • Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
    • Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Factsheet zu Neuen psychoaktiven Substanzen

    Das Projekt MINDZONE vom Landes-Caritasverband Bayern e.V. hat im Oktober 2017 das „Factsheet Neue psychoaktive Substanzen (NpS). Basisinformationen für Fachkräfte und Multiplikatoren“ herausgegeben. Darin finden sich ausführliche aktuelle Informationen und wichtige Fakten zu NpS. Folgende Substanzklassen werden beschrieben:

    • Synthetische Cannabinoide / Cannabimimetika
    • Synthetische Cathinone (Designer-Stimulanzien)
    • Phenethylamine
    • Piperazine
    • Tryptamine
    • Synthetische Opioide / Fentanyl-Derivate
    • Ketamin-Derivate / Dissoziativa
    • Designer-Benzodiazepine
    • Synthetische Kokain-Analoga
    • LSD-Analoga

    Das Factsheet gibt Empfehlungen für die Suchtprävention und hält spezielle Informationen für Fachkräfte und Multiplikatoren aus der Suchthilfe bereit. Dargestellt werden z. B. Konsumenten-Typen und Konsummotive, Bezugs- und Informationsquellen von Konsumenten, Indikatoren für einen NpS-Konsum, Tipps für den Umgang mit NpS-Konsumenten in der Beratungsstelle sowie Schnittstellen zu Kooperationspartnern. Der Anhang widmet sich dem Verhalten im Drogennotfall und Minimalregeln zur Risikominimierung.

    Das 44-seitige Factsheet kann über die Online-Infobörse „Neue Drogen“ heruntergeladen werden. Die Website http://infoboerse-neue-drogen.de/ ist im Dezember 2017 an den Start gegangen und richtet sich an alle, die mit dem Thema NpS zu tun haben: Konsumenten, Angehörige, Fachstellen der Suchtversorgung sowie der Jungendhilfe etc. Sie hält ein breit angelegtes Informations- und Beratungsangebot vor. Projektträger ist der Landes-Caritasverband Bayern e.V.

    Redaktion KONTUREN, 11.01.2018

  • Bericht zur Drogensituation in Deutschland (REITOX) veröffentlicht

    Workbook Drogen
    Kurzbericht

    Seit 15. Dezember ist der jährlich erscheinende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“, früher unter dem Namen „REITOX-Bericht“ bekannt, online verfügbar. Das Standardwerk zur Situation illegaler Drogen in Deutschland liefert in acht thematisch in sich geschlossenen Kapiteln („Workbooks“) umfangreiche Informationen zu den verschiedenen Aspekten des Phänomens illegale Drogen in Deutschland.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Der heute vorgelegte Bericht zeigt, dass wir mit unseren Maßnahmen gegen den Konsum von illegalen Drogen zwar vieles, aber längst noch nicht alles erreicht haben. In weiten Teilen ist der Konsum illegaler Drogen in Deutschland stabil. Was wir in den kommenden Jahren aber ganz dringend brauchen, ist eine wirklich flächendeckende Präventionsarbeit in Sachen Cannabis. Keine andere illegale Droge ist so weit verbreitet, und keine andere führt so viele Menschen in ambulante und stationäre Therapieangebote. Ganz klar ist auch, dass die Versorgung suchtkranker Menschen in und nach der Haft besser werden muss und wir mehr gegen die Stigmatisierung suchtkranker Menschen tun müssen. Sucht ist eine Krankheit und als solche müssen wir sie behandeln.“

    Nach den Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurveys 2015 hat mehr als jeder vierte erwachsene Deutsche (zwischen 18 und 64 Jahren) bereits mindestens einmal im Leben illegale Drogen konsumiert. Cannabis ist dabei unverändert die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge: Unter den 12- bis 17-Jährigen gaben 7,3 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten wenigstens einmal Cannabis konsumiert zu haben, bei den 18- bis 64-Jährigen waren es 6,1 Prozent. Über die letzten 25 Jahre hinweg zeigt die Cannabisprävalenz mit Schwankungen einen insgesamt zunehmenden Trend. Der Wirkstoffgehalt des in Deutschland sichergestellten Cannabis steigt seit Jahren an und hat in diesem Jahr erneut einen Höchststand erreicht. Der markanteste Anstieg von Wirkstoffgehalten ist in diesem Jahr aber bei den Amphetaminen zu verzeichnen: von 2015 auf 2016 hat er sich vervierfacht. Für MDMA lässt sich eine Verdopplung des Wirkstoffgehaltes verzeichnen.

    Unter den Stimulanzien dominieren in Deutschland bei den 18- bis 64-Jährigen die Amphetamine mit einer 12-Monats-Prävaenz von einem Prozent. Während Indikatoren aus Strafverfolgung und Behandlung in den letzten Jahren auf eine steigende Bedeutung von Amphetamin und Methamphetamin hinweisen, zeichnet sich dieser Anstieg in den bundesweiten Erhebungen in der Allgemeinbevölkerung nicht ab.

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Leiter der DBDD: „Das Drogenangebot und die Konsumgewohnheiten verändern sich zunehmend. Dies erfordert im Sinne einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Drogensituation ein Bündel aus verschiedenen Maßnahmen, die dieser wachsenden Komplexität gerecht werden. Dazu gehören z. B. sowohl die Entwicklung weiterer Präventionsangebote insbesondere im Bereich der neuen psychoaktiven Stoffe (NPS) als auch der Einsatz des Medikamentes Naloxon, um tödliche Überdosierungen unter Konsumentinnen und Konsumenten von Opiaten – vor allem Heroin – zu verhindern. Auch die Erweiterung der Angebote zur Cannabisprävention liegt angesichts der Verbreitung dieser Droge nahe, um negative gesundheitliche und soziale Folgen des Konsums zu minimieren.“

    Maßnahmen zur Prävention des Konsums illegaler Drogen werden in Deutschland regelmäßig und zielgruppenspezifisch auf kommunaler, regionaler und Bundesebene durchgeführt. Im Jahr 2016 haben die kommunalen Fachkräfte mehr als 34.000 suchtpräventive Maßnahmen dokumentiert. Die am häufigsten thematisierte illegale Substanz war Cannabis, gefolgt von amphetaminartigen Stimulanzien. Mit seiner hohen Reichweite trägt das Informationsportal www.drugcom.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wesentlich zur Prävention des Konsums illegaler Drogen bei. Das BZgA-Portal bietet neben Wissens- und Selbsttests auch ein individualisiertes Verhaltensänderungsprogramm zur Reduzierung des Cannabiskonsums.

    Der vorliegende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“ wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks, ein zehnseitiger deutschsprachiger Kurzbericht sowie die aktuellen Veröffentlichungen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) finden Sie unter www.dbdd.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Bundesdrogenbeauftragten und der DBDD, 15.12.2017

  • Drogenabhängige zwischen Therapie und Strafe

    Seit über 45 Jahren gibt es ‚Drogenhilfe‘ in Deutschland. Eine der ersten Drogenberatungsstellen wurde 1972 in München eröffnet. Federführend dabei: Alexander Eberth, damals Vereins-, heute Aufsichtsratsvorsitzender von Condrobs e. V., einem der größten deutschen Suchthilfeträger. Im Hauptberuf ist er seit 1972 Rechtsanwalt und hat sich als Experte für Betäubungsmittelrecht einen Namen gemacht. Ein ‚Betäubungsmittelgesetz‘ gibt es in Deutschland seit 1971. 1981 wurde es um die heftig umstrittenen Therapiebestimmungen für betäubungsmittelabhängige Straftäter ergänzt.

    In einem KONTUREN-Interview gab Alexander Eberth Anfang November Auskunft darüber, was in den vergangenen 35 Jahren aus den „Therapie statt Strafe“-Regelungen im Betäubungsmittelgesetz geworden ist. Angesichts der Doppelbelastung, die drogenabhängige Menschen durch ihre Abhängigkeitserkrankung und die Strafbestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes erleben, erläuterte er, was Fachkräfte bei der Beratung und Behandlung Drogenabhängiger unbedingt berücksichtigen müssen. Schließlich formulierte er seine Wünsche an die Zukunft der Rechtsprechung im Bereich Betäubungsmittelkriminalität.

    Es bleibt ein desillusionierendes Fazit: Das Betäubungsmittelgesetz mit seinen Therapiebestimmungen hat sich in den vergangenen 35 Jahren zu einem Strafverfolgungsrecht verdichtet. Die Interessen der Drogenabhängigen – Verbesserung und Schutz ihrer Gesundheit – verlieren sich heute in einer rigorosen Verfolgung und dem (Irr)Glauben, durch Verknappung und verschärftes Recht das Drogenproblem in den Griff bekommen zu können. Alle Maßnahmen, die bisher eingeleitet wurden, sind kontraproduktiv, weil sie Drogenabhängige daran hindern, Hilfeangebot anzunehmen, denn sie müssen bei einer Offenlegung ihrer Abhängigkeit immer damit rechnen, dass strafrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Das Interview führte Jost Leune vom Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V.

    Jost Leune

  • Verbreitung des Cannabiskonsums

    Verbreitung des Cannabiskonsums

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel

    Cannabis ist sowohl unter Erwachsenen als auch unter Jugendlichen nach wie vor die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland, Europa und vielen weiteren Ländern der Welt. Zum Konsum illegaler Substanzen unter Erwachsenen (18 bis 64 Jahre) in Deutschland wurden zuletzt 2013 repräsentative bundesweite Ergebnisse aus dem Epidemiologischen Suchtsurvey (ESA) vorgelegt (Kraus et al. 2013; Pabst et al. 2013), der seit 1980 wiederkehrend vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert und gegenwärtig vom IFT Institut für Therapieforschung durchgeführt wird. Dem ESA 2012 zufolge hat etwa jeder zwanzigste Erwachsene (4,5 Prozent der Studienteilnehmer des ESA) in Deutschland in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung Cannabis konsumiert. Mit Prävalenzwerten von unter einem Prozent war der Konsum aller anderen untersuchten illegalen Drogen weit weniger verbreitet. Etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung hat irgendwann einmal im Laufe des Lebens Konsumerfahrungen mit Cannabis gemacht (23,2 Prozent), die aber u. U. schon sehr lange zurückliegen können. Beim weit überwiegenden Teil der Konsumenten mit Konsumerfahrungen bleibt es beim vorübergehenden, so genannten passageren oder experimentellen Konsum innerhalb umschriebener Lebensphasen. Unterschiede zwischen Männern und Frauen betreffen in erster Linie die geringeren Anteile von weiblichen Cannabiskonsumenten in allen Altersgruppen – dies gilt auch für Jugendliche und junge Erwachsene.

    Die jüngsten Zahlen der BZgA

    In der Drogenaffinitätsstudie (DAS, Erhebung 2011) und im ergänzend dazu vorgelegten Alkoholsurvey 2012 – beide durchgeführt von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) – wurden bzw. werden Daten zum Cannabisgebrauch unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von zwölf bis 25 Jahren erhoben. In der DAS, die bereits seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wiederholt durchgeführt wird, ergab sich zuletzt für die 12- bis 17-Jährigen eine 12-Monats-Prävalenz von 4,6 Prozent, im Alkoholsurvey 2012 von 5,6 Prozent. Im Sommer 2015 wurden von der BZgA aktuelle Daten aus dem Alkoholsurvey 2014 vorgestellt. Demnach ist der Anteil der Jugendlichen, die innerhalb der letzten zwölf Monate Cannabis konsumiert haben, weiter gestiegen und liegt aktuell bei 8,3 Prozent (Orth, B., Töppich, J. 2015). 2014 hat jeder zehnte Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren (10,0 Prozent) mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert. 2012 gaben im Rahmen des Alkoholsurveys 1,3 Prozent der 12- bis 17-Jährigen „regelmäßigen“, d. h. mehr als zehnmaligen Konsum in den letzten zwölf Monaten an, auch dieser Wert ist bis 2014 gestiegen und liegt mittlerweile bei 2,2 Prozent (ebd.).

    Bei jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren ist der Cannabiskonsum deutlich weiter verbreitet mit einer Lebenszeitprävalenz von 37,2 Prozent (2012: 34,8 Prozent), einer 12-Monats-Prävalenz von 17,6 Prozent (2012: 15,8 Prozent) und einem regelmäßigen Konsum von 5,1 Prozent (2012: 3,9 Prozent) (Orth, B., Töppich, J. 2015). Bei den jungen Erwachsenen zeigen sich differenziert nach sozialen Merkmalen keine Unterschiede in der Lebenszeitprävalenz. Die 12-Monats-Prävalenz sowie die 30-Tage-Prävalenz liegen bei Arbeitslosen über dem Durchschnitt, diese Gruppe zeigt zudem den mit Abstand höchsten Wert für regelmäßigen Konsum (9,3 Prozent) (BZgA 2014).

    Regionale Daten und weitere Studien

    Einige Bundesländer nahmen 2011 nach den Jahren 2003 und 2007 zum dritten Mal an der ESPAD-Studie (European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs; espad.org) teil. Insgesamt sank die Lebenszeitprävalenz des Cannabiskonsums unter den befragten 15- bis 16-jährigen Jugendlichen zwischen 2003 und 2011 von 30,8 Prozent auf 22,2 Prozent, die 12-Monats-Prävalenz von 24,6 Prozent auf 17,4 Prozent und die 30-Tage-Prävalenz von 13,5 Prozent auf 8,1 Prozent. Der Anteil cannabiserfahrener Mädchen ging dabei stärker zurück als der Anteil männlicher Konsumenten. Die zeitliche Entwicklung des problematischen Cannabiskonsums (erhoben über den Cannabis Abuse Screening Test; CAST) kann nur für den Zeitraum 2007 bis 2011 betrachtet werden, da die entsprechenden Indikatoren 2003 nicht erhoben wurden. Demnach hat es sowohl für die Gruppe der 12-Monats-Konsumenten als auch für die Gesamtstichprobe keine signifikante Veränderung des Anteils riskanten Konsums gegeben. Auch in der geschlechtsspezifischen Analyse finden sich keine statistisch bedeutsamen Effekte.

    Die Lebenszeitprävalenz des Cannabiskonsums unter Frankfurter Schülern, die jährlich im Rahmen des Frankfurter Monitoring Systems Drogen (MoSyD) erhoben wird, ist nach einem deutlichen Anstieg von 2011 bis 2013 im Jahr 2014 um einen Prozentpunkt auf 41 Prozent zurückgegangen. Gleiches gilt für die 12-Monats-Prävalenz, die von 34 Prozent im Jahr 2013 auf 33 Prozent in 2014 fiel. Damit lässt sich die Stagnation des Probierkonsums von Cannabis, die in den letzten Jahren zu beobachten war, nun auch bei den Frankfurter Schülern feststellen. Die 30-Tage-Prävalenz ist hingegen auf 21 Prozent gestiegen. Auch der Wert für „häufigen Konsum“ (mindestens zehnmal im Vormonat und damit ein deutlich höherschwelliges Kriterium als in den Studien der BZgA) ist angestiegen und erreichte mit neun Prozent einen neuen Höchststand, ebenso erreicht der Anteil der täglich Konsumierenden mit vier Prozent den höchsten Wert seit 2003. Das Einstiegsalter ist mit durchschnittlich 15 Jahren seit mehreren Jahren unverändert geblieben (Werse et al. 2015).

    Um zu illustrieren, wie unterschiedlich Konsumerfahrungen in Abhängigkeit von der betrachteten Region sein können, sei noch auf die Brandenburger Schülerbefragung 2012/2013 verwiesen. Demnach hat etwas mehr als jeder fünfte Zehntklässler in Brandenburg Haschisch zumindest schon einmal in seinem Leben probiert (vgl. dazu die Ergebnisse aus Frankfurt). Dagegen ist ein regelmäßiger, d. h. täglicher oder wöchentlicher Haschischkonsum in Brandenburg selten (2,0 Prozent der Mädchen, 4,5 Prozent der Jungen) (Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg 2014).

    In spezifischen Szenen kann die Verbreitung des Cannabiskonsums hingegen z. B. deutlich höher ausfallen: Aktuelle Ergebnisse einer Erhebung des IFT München in Kooperation mit mehreren Partyprojekten zu neuen Trends beim Substanzmissbrauch in der Partyszene zeigen, dass unter den Partygängern der Cannabiskonsum extrem weit verbreitet ist (12-Monats-Prävalenz von Cannabis 74,4 Prozent) (Hannemann & Piontek 2015, persönliche Mitteilung).

    Tabelle 1 bietet einen Überblick über die in verschiedenen Studien unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland erhoben Daten zum Cannabiskonsum.

    Microsoft Word - Tabelle_neu - Kopie

    Längerfristige Entwicklungen

    Die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums bei den 18- bis 24-jährigen jungen Männern und Frauen ging nach einem Anstieg bis Anfang der 2000er Jahre wieder deutlich zurück (Kraus et al. 2013). Das Maximum war bei beiden Geschlechtern fast viermal höher als im Jahr 1980 (Abbildungen 1 und 2). Eine ähnliche Entwicklung findet sich bei den 25- bis 39-jährigen Erwachsenen, wobei die Prävalenz weit niedriger war als die der jungen Erwachsenen und der Rückgang nach dem Maximum geringer ausfiel. Ein deutlich geringeres Prävalenzniveau und ein flacherer Verlauf der Kurven sind bei den 40- bis 59-Jährigen und bei den 60- bis 64-Jährigen zu beobachten. Im Vergleich zum jeweiligen Ausgangsniveau sind die 12-Monats-Prävalenzwerte im Jahr 2012 bei beiden Geschlechtern mit Ausnahme der 60- bis 64-Jährigen in allen Altersgruppen signifikant höher. Der Rückgang ab Mitte der 2000er Jahre ist lediglich in der jüngsten Altersgruppe statistisch bedeutsam.

    Für die Darstellung der zeitlichen Trends wurde eine in allen Jahren identische Gewichtungsvariable verwendet, sodass ein direkter Vergleich der Zahlen möglich ist (Kraus et al. 2013). Abbildung 1: Männer: Trends der 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums, * p < .05
    Abbildung 1: Männer: Trends der 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums, * p < .05
    Für die Darstellung der zeitlichen Trends wurde eine in allen Jahren identische Gewichtungsvariable verwendet, sodass ein direkter Vergleich der Zahlen möglich ist (Kraus et al. 2013).
    Für die Darstellung der zeitlichen Trends wurde eine in allen Jahren identische Gewichtungsvariable verwendet, sodass ein direkter Vergleich der Zahlen möglich ist (Kraus et al. 2013). Abbildung 2: Frauen: Trends der 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums, * p < .05
    Abbildung 2: Frauen: Trends der 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums, * p < .05
    Für die Darstellung der zeitlichen Trends wurde eine in allen Jahren identische Gewichtungsvariable verwendet, sodass ein direkter Vergleich der Zahlen möglich ist (Kraus et al. 2013).

    Betrachtet man den Trend des Cannabiskonsums in den verschiedenen Befragungen der letzten zehn bis 15 Jahre, so zeigt sich nach dem übereinstimmend berichteten Anstieg des passageren Konsums in den 1990er Jahren zunächst ein Rückgang etwa seit 2005. Dieser Rückgang scheint in den letzten Jahren bei Jugendlichen sowie (jungen) Erwachsenen zu stagnieren, es gibt sogar vereinzelt Hinweise auf einen erneuten Anstieg. Daten regionaler Monitoringsysteme aus Frankfurt und Hamburg, die Ergebnisse des ESA 2012 sowie die aktuellen Daten der BZgA weisen aktuell übereinstimmend auf eine Stagnation oder sogar Umkehr des über mehrere Jahre beobachteten kontinuierlichen Rückgangs des Konsums illegaler Substanzen (primär: Cannabis) unter Jugendlichen hin. Zu dieser Entwicklung passt auch, dass im Rahmen der qualitativen Erhebungen des Trendscout Panels des Frankfurter Monitoring Systems Drogen (MoSyD) bereits 2013 und 2014 von der Wahrnehmung einer deutlichen Image-Verbesserung von Cannabis berichtet wurde (zur Beschreibung der einzelnen Studien und Elemente der bundesweiten und regionalen Monitoringsysteme vgl. die REITOX-Berichte der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht – DBBD unter www.dbdd.de).

    Anlass zur Sorge bereitet auch die Tatsache, dass sich die Verbreitung des regelmäßigen Konsums insbesondere unter jungen Erwachsenen über die Jahre praktisch kaum verändert hat. Diese Beobachtungen unterstützen die Vermutung, dass Veränderungen im Probierkonsum der Allgemeinbevölkerung keinen Rückschluss auf die Konsumgewohnheiten der erfahrenen Konsumenten erlauben und diese auch von den zahlreichen Maßnahmen nach wie vor nur ungenügend erreicht werden. Die Zahl der wegen Problemen im Umgang mit Cannabis in Behandlung befindlichen Personen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, was einerseits ein Beleg für die Akzeptanz der angebotenen Interventionen ist. Andererseits verdeutlicht diese Entwicklung auch, dass intensiver Cannabiskonsum zu schwerwiegenden Folgen führen kann bzw. in Kombination mit anderen Faktoren auftreten kann, die eine insgesamt erhebliche Problemlast für das Individuum ausmachen und eine professionelle Unterstützung erfordern.

    Alkohol-, Tabak- und Cannabiskonsum im Vergleich

    Gomes de Matos und Kollegen (2014) haben untersucht, ob auf Bundesebene und im Zeitverlauf Unterschiede im Alkohol-, Tabak- und Cannabiskonsum Jugendlicher bestehen. Über verschiedene Bundesländer hinweg zeigen sich für alle drei Substanzen sinkende Konsumwerte über die Zeit. Cannabiskonsum ist also nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten. Für den Cannabiskonsum ist der rückläufige Trend nur bis 2007 zu beobachten. Im Gesamtverlauf sind die beobachteten Konsumparameter, die sich im europäischen Vergleich auf hohem bis mittlerem Niveau befinden, rückläufig. Der Urbanisierungseffekt – höherer Konsum in größeren Städten – wird auf die erhöhte Verfügbarkeit zurückgeführt (Tretter & Kraus 2004). Ähnliche Konsumprofile in den untersuchten Bundesländern deuten darauf hin, dass Substanzkonsum in Deutschland innerhalb eines gemeinsamen kulturellen Rahmens stattfindet. So kann man davon ausgehen, dass sich Personen in allen deutschen Bundesländern grundlegende Normen und Einstellungen zum Substanzkonsum teilen und bundesweiten Regulierungen gleichermaßen unterliegen.

    Eine Studie von Legleye und Kollegen (2014) analysiert die Dynamik der Verbreitung des experimentellen Cannabiskonsums in den Ländern Frankreich, Deutschland und USA. Drei Generationen von Männern und Frauen wurden untersucht, um die Hypothese zu prüfen, dass sich ein positiver Zusammenhang in älteren Kohorten – je höher das Bildungsniveau, desto höher der experimentelle Konsum – zu einem negativen Zusammenhang in jüngeren Kohorten – je höher das Bildungsniveau, desto geringer der experimentelle Konsum – wandelt. Die Hypothese basiert auf der Dynamik der Verbreitung von Tabak, die diesem Muster gefolgt ist. Die Ergebnisse für Deutschland zeigen zunächst das erwartete Entwicklungsmuster, in der letzten untersuchten Generation nivelliert sich die Entwicklung jedoch, sodass der Cannabiskonsum gleichmäßig über alle Bildungsniveaus verteilt ist. Insgesamt steigt die Prävalenz des experimentellen Konsums über die Altersgruppen hinweg deutlich an.

    Hochrisikophasen in der zweiten Lebensdekade

    Mittlerweile ist die Tatsache, dass intensiver Cannabiskonsum insbesondere im Jugendalter mit Risiken für die psychische und körperliche Gesundheit einhergehen kann, weitgehend akzeptiert. Die Hochrisikophasen für den ersten Substanzkonsum sowie den Beginn von regelmäßigem Konsum und Substanzstörungen (Substanzmissbrauch und -abhängigkeit) liegen in der zweiten Lebensdekade. Es ist bemerkenswert, dass sich relativ große Anteile aller Übergänge vom Erstkonsum zum regelmäßigen Konsum und vom Erstkonsum zur Substanzstörung in den ersten wenigen Jahren nach dem Erstkonsum vollziehen. Dabei wurde die kürzeste Übergangsdauer für Cannabis und Nikotin beobachtet (im Vergleich zu Alkohol). Die Altersstufen 15 bis 18 sind nach dem Erstkonsum die entscheidenden Jahre, in denen sich der Übergang zur Substanzstörung vollzieht (Wittchen et al. 2008).

    Behrendt und Kollegen (2009) konnten neben Cannabis auch für Alkohol und Nikotin zeigen, dass ein früherer Beginn des Substanzkonsums in der Adoleszenz im Vergleich zu einem späteren Beginn des Substanzkonsums in der Adoleszenz mit einem erhöhten Risiko der Entwicklung von Substanzmissbrauch und -abhängigkeit verbunden ist. Dabei ist der Konsum von Cannabis kein notwendigerweise vorübergehendes Jugendphänomen: Bei Personen mit erhöhter Konsumfrequenz in der Adoleszenz bleibt der Cannabiskonsum häufig bis in das dritte und vierte Lebensjahrzehnt bestehen. Auch Alkoholabhängigkeit und belastende Lebensereignisse sind Risikofaktoren für die Stabilität des Cannabiskonsums bis in das dritte und vierte Lebensjahrzehnt (Perkonigg et al. 2008). Bezogen auf die Gesamtstichprobe des ESA 2012 erfüllten jeweils 0,5 Prozent der befragten Erwachsenen die DSM-IV Kriterien für Cannabismissbrauch und ‑abhängigkeit (ca. 250.000 Personen) (Pabst et al. 2013).

    Cannabismissbrauch und -abhängigkeit

    Zwischen 2000 und 2012 stieg der Anteil cannabisabhängiger Männer von 0,5 Prozent auf 0,8 Prozent. Keine Hinweise auf bedeutsame zeitliche Veränderungen gibt es bezüglich des Missbrauchs sowie der Abhängigkeit von Cannabis bei Frauen (Kraus et al. 2013). Bei einer insgesamt hohen Prävalenz des Cannabiskonsums unter Jugendlichen muss sorgfältig zwischen alterstypischem Probierkonsum und regelmäßigem bzw. problematischem Cannabiskonsum unterschieden werden. Nach aktuellen epidemiologischen Befunden (aus den Studien Hamburger SCHULBUS, Frankfurter MoSyD, DAS und ESA) zeigen 1,4 Prozent bis 7,1 Prozent der befragten deutschen Jugendlichen einen Cannabiskonsum, der als problematisch einzuschätzen ist (Wartberg et al. 2014).

    Die fachliche Beratung und die Behandlung cannabisbezogener Folgeschäden erfolgt in Deutschland größtenteils ambulant. Eine stationäre Aufnahme und Behandlung ist nur bei schweren gesundheitlichen Störungen oder bei einem hohen Rückfallrisiko vorgesehen (Hoch et al. 2015). In Deutschland erhalten gemäß einer Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) ca. zehn Prozent der behandlungsbedürftigen Cannabiskonsumenten (täglicher oder fast täglicher Konsum) eine Behandlung. Im gesamteuropäischen Vergleich gehört Deutschland zusammen mit Norwegen zu den Ländern mit der höchsten Abdeckungsrate (Schettino et al. 2015).

    Im Rahmen der Frankfurter Schülerbefragung des MoSyD werden die Schüler seit 2008 auch nach dem Konsum so genannter Räuchermischungen und seit 2010 auch nach dem Konsum anderer ‚Legal Highs‘ befragt. In der aktuellen Erhebung haben sechs Prozent der 15- bis 18-Jährigen mindestens einmal in ihrem Leben eine ‚Räuchermischung‘ mit synthetischen Cannabinoiden konsumiert, ein Prozent auch in den letzten 30 Tagen. Andere Produkte, die neue psychoaktive Substanzen enthalten, spielen quantitativ keine Rolle. Die Lebenszeitprävalenz von Räuchermischungen liegt aktuell bei sechs Prozent und damit unter den Werten von 2009 bis 2012 (sieben bis neun Prozent). Die 30-Tages-Prävalenz verharrt auf dem Vorjahresniveau bei einem Prozent, und der mehr als fünfmalige Konsum (Lebenszeit) steigt geringfügig auf 0,8 Prozent. Insgesamt hat sich die rückläufige Tendenz beim Konsum cannabinoidhaltiger Kräutermischungen weitgehend bestätigt (Werse et al. 2015).

    Kontakt:

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    IFT Institut für Therapieforschung
    Parzivalstraße 25
    80804 München
    Pfeiffer-Gerschel@ift.de
    ift.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel ist Geschäftsführer des IFT Institut für Therapieforschung München, Leiter der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) und in eigener Praxis als Psychotherapeut tätig.

    Literatur:

    Weitere Literatur beim Verfasser

  • Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann

    In der gesellschaftlich kontroversen Diskussion um eine Legalisierung bzw. die Möglichkeit eines legalen Erwerbs von Cannabis sind die Hauptargumente der Befürworter einer Legalisierung, dass Cannabis geringere gesundheitliche Schäden verursacht als Alkohol, dass Cannabis trotz des Verbots eine hohe Verfügbarkeit aufweist und somit die Prohibition versagt hat, dass der Justizapparat durch cannabisassoziierte, opferfreie Vergehen ineffizient belastet wird und dass ein gesellschaftsschädigender illegaler Drogenmarkt aufrechterhalten wird. Somit argumentieren die Befürworter vor allen Dingen mit den negativen Folgen der Prohibition für die Gesellschaft. Die Gegner einer Legalisierung argumentieren, dass Cannabis zu relevanten Gesundheitsschäden führt, der Jugendschutz nicht gewährleistet sei und dass durch die Legalisierung mit einer Zunahme des Cannabiskonsums gerechnet werden müsse. Es wird die Gefahr gesehen, dass eine Legalisierung von der Bevölkerung und insbesondere Jugendlichen als Zeichen der Ungefährlichkeit von Cannabis interpretiert würde. Für die Gegner einer Legalisierung stehen also die negativen Folgen von Cannabis für die Gesundheit im Vordergrund. Somit erscheint es sinnvoll, aktuelle Forschungsergebnisse aus wissenschaftlichen Studien zu den gesundheitsschädlichen Folgen von Cannabis mit in die Argumentation einzubeziehen.

    Wie wirkt Cannabis im Gehirn?

    1964 wurde der psychotrop wirkende Inhaltsstoff von Cannabis entdeckt, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC). Als zweithäufigster Inhaltsstoff wurde das nicht-psychotrop wirkende, also nicht high machende, Cannabidiol identifiziert. 1988 wurde entdeckt, dass THC an den Cannabinoid-1-Rezeptor (CB1) bindet, der vor allem im Gehirn vorkommt. Fünf Jahre später wurde ein zweiter Rezeptor entdeckt (CB2), der vorrangig in blutbildenden Zellen und der Milz lokalisiert ist. 1992 wurde das erste körpereigene (Endo)-Cannabinoid entdeckt (Anandamid), das an CB1 und CB2 bindet, 1995 ein zweites (Arachidonylglycerol) und mittlerweile eine Reihe weiterer Endocannabinoide mit nachrangiger Bedeutung. Seit der Entdeckung des Endocannabinoidsystems wird intensiv daran geforscht, die Funktion dieses Systems zu charakterisieren.

    Denkvorgänge im Gehirn entsprechen einer Weiterleitung elektrischer Impulse von einer Nervenzelle zu einer anderen, hierbei werden Impulse ggf. gehemmt oder verstärkt. Die Nervenzellenübertragung erfolgt durch Synapsen. Von der Präsynapse werden Neurotransmitter (Botenstoffe) ausgeschüttet, die durch den synaptischen Spalt zur Postsynapse diffundieren und dort an Rezeptoren binden. Der häufigste erregende Neurotransmitter im Gehirn ist das Glutamat. Damit das Gehirn gut funktioniert, ist es notwendig, dass eine feinjustierte Konzentration Glutamat präsynaptisch ausgeschüttet wird. Eine zu hohe Konzentration von Glutamat führt zu einer Übererregung wie bei einem zu hoch gedrehten Motor. Zu viel Glutamat ist toxisch, schädigt die Nervenzellen und kann zum Untergang der Nervenzellen führen (Exitotoxizität).

    Endocannabinoide wirken retrograd (rückwärts). Sie werden von der Postsynapse ausgeschüttet, diffundieren zur Präsynapse und binden dort an CB1-Rezeptoren. In der Präsynapse, also dort, wo andere Neurotransmitter ausgeschüttet werden und die elektrische Weiterleitung beginnt, hemmen Endocannabinoide die Ausschüttung von allen anderen Neurotransmittern. Damit können z. B. zu hohe, toxische Konzentrationen von Glutamat reduziert werden. Dieser wünschenswerte Effekt der Endocannabinoide war die Grundlage dafür, intensiv nach neuro-protektiven Eigenschaften von Cannabis zu suchen, z. B. in der Forschung zu ischämischem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Traumata, Morbus Parkinson und Multipler Sklerose.

    Aus den bisher beschriebenen Funktionen des endocannabinoiden Systems lässt sich die Wirkung von Cannabis gut herleiten. Cannabis verlangsamt zentralnervöse Vorgänge, führt dadurch zu Müdigkeit, Antriebsminderung, Gleichgültigkeit, psychomotorischer Hemmung und Feinmotorikstörung. Vegetativ wird der Speichelfluss reduziert und durch eine direkte Erweiterung der Arterien der Blutdruck gesenkt mit reaktivem Anstieg des Pulses, was bei einer Überdosierung zu einem Kreislaufkollaps führen kann. Auch die neuronale Übertragung von Schmerzen wird gehemmt. Zusätzlich vermittelt das Cannabinoidsystem Hunger und die Induktion von Schlaf und hat eine wichtige Funktion beim Löschen von unangenehmen Erinnerungen. Gerade der letzte Punkt könnte hilfreich sein bei der Entwicklung neuer Therapien für psychiatrische Erkrankungen wie Depression oder psychische Traumata, die die Betroffenen häufig ein ganzes Leben lang verfolgen.

    Das zweithäufigste Cannabinoid Cannabidiol (CBD) macht nicht high, sondern begrenzt die gesundheitsschädliche Wirkung von THC und zeigt deutliche neuro-protektive Eigenschaften. Aktuell wird die Wirkung von CBD intensiv erforscht. THC führt zu einer Atrophie (Schrumpfung) des Gedächtniszentrums im Gehirn, des Hippocampus. Eine eigene Studie konnte zeigen, dass CBD vor dieser Schrumpfung schützt und dass die Schrumpfung nur auftritt, wenn Cannabissorten mit einem niedrigen CBD-Gehalt konsumiert wurden (Demirakca et. al 2011). Es gibt erste Anzeichen dafür, dass CBD in der Behandlung von Psychosen eingesetzt werden kann, gegen Angsterkrankung hilft und auch Depressionen lindert. CBD verhindert das Entstehen psychotischer Symptome durch THC.

    Gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen Cannabis und Psychose?

    Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Entwicklung einer Psychose untersucht. Mittlerweile wurden Studien mit großer Anzahl von Studienteilnehmern durchgeführt, teils mit langer Nachbeobachtungszeit, die eine hohe wissenschaftliche Aussagekraft aufweisen. Die Studienergebnisse zeigen eine gesicherte und valide Assoziation von Cannabiskonsum und Psychose. Das bedeutet: Personen, die Cannabis konsumieren, weisen eine zwei- bis dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass Cannabis die Psychose verursacht. Vielmehr haben Cannabiskonsum und Psychosen gemeinsame Risikofaktoren, d. h., Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Gewalterfahrung, psychischen Traumata in der Kindheit, Alkohol-, Tabak- oder anderem Drogenkonsum weisen ein höheres Risiko für beides auf, Psychose und Cannabiskonsum. Je nach politischer Grundhaltung kann also die Haltung vertreten werden, dass ungünstige Lebensumstände zur Psychose geführt haben (und Cannabiskonsum nur eine kleine Rolle spielt) oder dass Cannabis die Psychose verursacht hat und die ungünstigen Lebensumstände keine Rolle spielen. Damit weist gerade die Debatte um den Umgang mit Cannabis eine hohe Anfälligkeit für politische motivierte Verzerrungen auf. Kann Wissenschaft da zu einer objektiven und neutralen Beurteilung beitragen? Wenn wissenschaftliche Studien kritisch hinterfragt und Verzerrungen offengelegt werden: Ja.

    Für den Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychose müssen also sozioökonomische Faktoren in die Analyse miteinbezogen werden. Dann weisen Cannabiskonsumenten eine 41 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln (Moore et al. 2007). In die Analyse von Moore et al. wurden 35 Studien einbezogen und etwa 60 potentielle Einflussfaktoren berücksichtigt, so dass von einer hohen Validität ausgegangen werden kann.

    Zusätzlich zu sozioökonomischen Faktoren wurde in einer 2014 publizierten Studie gezeigt, dass auch biologische Faktoren zur Assoziation von Cannabis und Psychosen beitragen: Dieselben Gene, die das Risiko für eine Psychose erhöhen, erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, Cannabis zu konsumieren und vor allem größere Mengen Cannabis zu konsumieren (Power et al. 2014). Nicht nur ‚Cannabiskonsum führt zur Psychose‘, sondern auch ‚Disposition zur Psychose führt zu Cannabiskonsum‘. Personen, die ein starkes genetisches Risikoprofil für Psychosen aufweisen, scheinen die Wirkung von Cannabis gegenüber anderen Drogen oder Alkohol zu präferieren und konsumieren deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit Cannabis. Nicht nur die Substanzwirkung von Cannabis ist somit für das Auftreten einer Schizophrenie (die zu den Psychosen gehört) verantwortlich, vielmehr stellen Cannabiskonsumenten eine Selektion von Personen dar, die als Gruppe mehr Risiko-Gene für eine Schizophrenie aufweisen. Dieser genetische Zusammenhang kann auch erklären, warum in einer anderen Studie 46 Prozent der Patienten, die mit einer ersten cannabisinduzierten Psychose stationär behandelt wurden, eine Schizophrenie entwickelten, während nur 30 Prozent der Patienten mit einer amphetamininduzierten Psychose und fünf Prozent bei alkoholinduzierter Psychose eine Schizophrenie entwickelten. Über 18.000 Patienten mit cannabisinduzierten Psychosen waren zwischen 1987 und 2003 in Finnland in diese Studie eingeschlossen und acht Jahre lang nachverfolgt worden (Niemi-Pynttäri et al. 2013).

    Einige Studien zeigen, dass Cannabiskonsum insbesondere bei Jugendlichen das Risiko für die Entwicklung einer Psychose erhöht. Besonders gefährdet sind Jugendliche, die mit 15 Jahren (Arseneault et al. 2002) oder bereits vor dem 14. Lebensjahr (Schimmelmann et al. 2011) mit dem Cannabiskonsum begonnen haben.

    2005 wurde erstmals ein einzelnes Gen identifiziert, das das Risiko für Psychosen unter Cannabiseinfluss erhöht. Es handelte sich um eine genetische Variante im Dopaminabbau, die jedoch in drei späteren Studien mit knapp 5.000 Studienteilnehmern nicht verifiziert werden konnte. Stattdessen wurde ein anderes Gen (AKT1) identifiziert, das mit einem erhöhten Risiko für Psychose assoziiert ist; allerdings nur bei täglichem Cannabiskonsum und nicht, wenn Cannabis ausschließlich an Wochenenden oder seltener konsumiert wird.

    Um den Zusammenhang von Cannabis und Psychose besser quantifizieren zu können, wurde kalkuliert, wie viele Personen kein Cannabis konsumieren müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern (Hickman et al. 2009). Ergebnis war, dass im Altersbereich von 20 bis 24 Jahren 1.360 Männer bzw. 2.480 Frauen auf Cannabiskonsum verzichten müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Im Alter von 35 bis 39 müssten 2.900 Männer oder 3.260 Frauen auf Cannabis verzichten.

    Neuropsychologische Defizite nur bei Konsumbeginn im Jugendalter

    Es ist bereits lange bekannt und ausreichend gut untersucht, dass während einer Intoxikation mit Cannabis Defizite im neuropsychologischen Bereich, z. B. Gedächtnis, Orientierung und Aufmerksamkeit, auftreten. Umstritten ist jedoch die Frage, ob diese Defizite auch nach Beendigung des Cannabiskonsums weiter bestehen bleiben, ob sie sich ganz oder nur teilweise zurückbilden und ob sie mit der Dauer und der Menge des konsumierten Cannabis in Zusammenhang stehen. Um diese Frage zu untersuchen, sind longitudinale Studien notwendig, die über einen langen Zeitraum an mehreren Messzeitpunkten neuropsychologische Leistungen und Cannabiskonsum erheben.

    In einer aussagekräftigen Studie wurden 1.037 Personen, die 1972/73 geboren wurden, einem Intelligenztest im Alter von 13 Jahren und 38 Jahren unterzogen (Meier et al. 2012). Der Cannabiskonsum wurde im Alter von 18, 21, 26, 32 und 38 Jahren erhoben. Diese Studie zeigte, dass fortgesetzter Cannabiskonsum mit einer Verminderung kognitiver Leistung verbunden war. Eine Verminderung des Intelligenzquotienten wurde nur bei den Personen beobachtet, die vor dem 18. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten. Diese Defizite verschlechterten sich bei weiterem Konsum zusätzlich und bildeten sich nach einer Cannabisabstinenz nicht vollständig zurück. Dieser Effekt wurde bei Beginn des Cannabiskonsums im jugendlichen Alter sowohl für regelmäßigen als auch für unregelmäßigen Konsum nachgewiesen (mindestens ein Mal wöchentlicher Konsum). Wurde mit dem Cannabiskonsum erst im Erwachsenenalter begonnen, zeigte sich keine Verminderung des Intelligenzquotienten. Somit hat diese sehr hochwertige Studie zwei wichtige Hauptaussagen: Wird mit dem Cannabiskonsum vor dem 18. Lebensjahr begonnen, führt dies zu einer Minderung der Intelligenz, die sich auch bei späterer Cannabisabstinenz nicht zurückbildet. Wird erst nach dem 18. Lebensjahr begonnen, entstehen keine bleibenden Intelligenzdefizite.

    Eine weitere aktuelle Studie bestätigte diese Ergebnisse indirekt (Silins et al. 2014). Hier wurde nachgewiesen, dass Personen, die vor dem 17. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten, bei täglichem Cannabiskonsum ein um 64 Prozent erhöhtes Risiko für einen Schulabbruch aufwiesen, ein um den Faktor 18 erhöhtes Risiko für eine Cannabisabhängigkeit, ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko bezüglich einer Abhängigkeit für andere Drogen und ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko für Suizidversuche. Bei mindestens wöchentlichem Cannabiskonsum, aber seltener als täglich, waren die entsprechenden Risiken noch etwa halb so hoch wie bei täglichem Cannabiskonsum.

    Als biologischen Mechanismus für neuropsychologische Defizite wird eine Interaktion mit dem endogenen Cannabinoidsystem vermutet, da nachgewiesen wurde, dass Endocannabinoide die Bildung, Reifung und Wanderung neuer Nervenzellen im Gehirn steuern, das Wachstum von Axonen bestimmen (ein Axon ist der Fortsatz einer Nervenzelle, über den Signale weitergeleitet werden) sowie die Entwicklung von Gliazellen (Gliazellen transportieren Flüssigkeit und  Nährstoffe zu den Nervenzellen) und die Position von verschiedenen Nervenzellen festlegen (Berghuis et al. 2007). Wenn Cannabis konsumiert wird, stört dies diesen feingesteuerten Umbauprozess, der während der Pubertät stattfindet. Im Erwachsenenalter finden sehr viel weniger Umbauprozesse statt, so dass Cannabiskonsum keine großen Veränderungen mehr bewirken kann. Tierversuche mit Ratten, denen Cannabinoide während der Pubertät verabreicht wurden, bestätigen eindeutig, dass neuropsychologische Defizite vor allem bei Beginn des Cannabiskonsums in der Pubertät auftreten.

    Trends im Konsum von Cannabis

    Bereits seit einigen Jahren gibt es einen Trend zu höherem THC- und niedrigerem CBD-Gehalt. In den USA hat sich in den letzten 20 Jahren der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht, in den Niederlanden gab es einen ähnlichen Trend, der zu einer gesetzlichen Begrenzung des THC-Gehaltes auf 15 Prozent geführt hat. Auch aus Deutschland und Italien ist ein entsprechender Anstieg des THC-Gehaltes bekannt. Gleichzeitig enthalten neuere Cannabissorten nur noch wenig CBD, z. B. lag der CBD Gehalt in niederländischem Marihuana unter einem Prozent, während in die Niederlande importiertes Haschisch weiterhin einen CBD-Gehalt von  acht Prozent aufwies (Pijlmann et al. 2005).

    Ein weiterer Trend besteht im Aufkommen von Räuchermischungen, die synthetische Cannabinoide enthalten, erstmals mit dem Produkt „Spice“ 2008. Die Räuchermischungen werden regelmäßig durch die Aufnahme der Wirkstoffe ins Betäubungsmittelgesetz verboten, jedoch sind jeweils rasch neue Produkte mit anderen, nicht verbotenen synthetischen Cannabinoiden auf den Markt. Die in Räuchermischungen enthaltenen synthetischen Cannabinoide haben meist eine vier- bis achtfach stärkere Wirkung als Cannabis, einige Produkte haben aber sogar eine mehr als hundertfache Wirkstärke von THC. Diese Tatsache führt zu mehr Überdosierungen, die mit Kreislaufkollaps, Angst- und Panikattacken, psychotischen Symptomen, Verwirrtheitszuständen und epileptischen Anfällen einhergehen. Zusätzlich enthalten Räuchermischungen kein CBD und sind daher auch im Dauergebrauch potentiell schädlicher als die altbekannten Cannabissorten. Da es sich um chemisch andere Substanzen handelt als THC, sind synthetische Cannabinoide nicht durch übliche Drogentests im Urin nachweisbar.

    Hoher THC-Gehalt, niedriger CBD-Gehalt und synthetische Cannabinoide stellen einen Trend hin zu mehr gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten dar. In der Geschichte gibt es vergleichbare Beispiele aus der Prohibition von Alkohol, z. B. in den USA 1919 bis 1933. Dort kam es zu einem verstärkten Verkauf von hochprozentigen Alkoholika wie Whisky anstatt von Bier und Wein sowie von selbstgebrannten Alkoholika, die oft gesundheitsschädliche Mengen von Methanol enthielten. Entsprechend kann der Trend zu gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten als direkte Folge des Verbots von Cannabis angesehen werden.

    Schlussfolgerungen für die Legalisierungsdebatte

    Bisher wurde davon ausgegangen, dass Cannabis als direkte Substanzwirkung pauschal bei jedem Menschen Psychosen verursachen kann. Aktuelle Studien zeigen hingegen, dass es genetisch bedingte Unterschiede im individuellen Risiko gibt, durch Cannabiskonsum eine Psychose zu entwickeln. Zusätzlich konsumieren Personen, die Risiko-Gene für Psychosen tragen, häufiger und mehr Cannabis. Diese Personen würden evtl. auch ohne Cannabiskonsum eine Psychose entwickeln. Kalkulationen zeigen, dass eine hohe Zahl von mehreren Tausend Cannabiskonsumenten auf Cannabis verzichten müsste, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Aktuelle Studien relativieren also das von Cannabis ausgehende Risiko.

    Trotz des bisher von Gegnern der Legalisierung propagierten Risikos, dass jeder Konsum von Cannabis unmittelbar bei jedem Konsumenten zu einer lebenslangen Psychose führt, ist Cannabis weit verbreitet. Dieses Argument hat seine abschreckende Wirkung verfehlt. Aktuelle Studien machen zudem deutlich, dass das Risiko für Psychosen auch vom Alter bei Beginn des Cannabiskonsums abhängt, weil die Entwicklung des Gehirns gestört wird. Neuropsychologische Defizite durch Cannabis entstehen nur, wenn der Cannabiskonsum im jugendlichen Alter begonnen wird, aber nicht bei Konsumbeginn im Erwachsenenalter. Dies steht im krassen Gegensatz zu dem jetzigen Image von Cannabis als Jugenddroge, das dringend verändert werden muss.

    Cannabis ist nicht harmlos. Cannabiskonsum sollte daher so gering gehalten werden wie möglich. Darüber besteht eine Einigkeit bei den Befürwortern und den Gegnern einer Legalisierung. Aktuelle Studien belegen deutlich, dass Cannabis definitiv als Jugenddroge nicht geeignet ist, sondern im Gegenteil für Jugendliche besonders riskant ist. Daher kommt dem Jugendschutz eine besondere Bedeutung zu.

    Empfehlungen der EMCDDA

    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (engl. European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, EMCDDA, www.emcdda.europa.eu) hat sich seit 2010 in einem von der EU-Kommission finanziell geförderten Projekt intensiv mit der Frage der Cannabispolitik auseinandergesetzt und Empfehlungen entwickelt (ALICE RAP, 2014). Diese Empfehlungen – „Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation“ – stellen einen Mittelweg dar zwischen einem Verbot von Cannabis mit strafrechtlicher Verfolgung und einem freien, legalen Verkauf von Cannabis. Kernpunkt der Empfehlung ist, dass Cannabis von staatlichen Einrichtungen legal verkauft wird, aber die Verkaufsbedingungen sehr strengen Regeln unterliegen und streng kontrolliert werden sollten. Insbesondere soll der Jugendschutz damit verbessert werden. Hintergrund dieser Empfehlung ist die Einsicht, dass die aktuelle Prohibition von Cannabis versagt hat. Die Prohibitionspolitik geht davon aus, dass durch das Verbot von Cannabis die Verfügbarkeit reduziert wird. In einer aktuellen Umfrage des Eurobarometers im Juni 2014 schätzten 55 Prozent der 15- bis 24-Jährigen die Verfügbarkeit von Cannabis als leicht oder sehr leicht ein. Bei anderen Drogen hingegen, z. B. Ecstacy oder Kokain, scheint die Prohibition zu wirken, hierfür wurde die Verfügbarkeit nur von 20 Prozent als leicht oder sehr leicht eingeschätzt.

    Wenn die Prohibition funktionieren würde, dann müsste eine Verschärfung der Cannabisgesetze die Häufigkeit des Konsums reduzieren, während eine Liberalisierung den Cannabiskonsum erhöhen müsste. In England, Griechenland und Finnland wurden die Strafen reduziert, seit diesem Zeitpunkt ging der Konsum von Cannabis aber zurück. In Italien stoppte auch eine Erhöhung der Strafe nicht den Anstieg des Cannabiskonsums, während in Dänemark nach einer Straferhöhung genauso häufig Cannabis konsumiert wurde wie zuvor. Die Prävalenz von Cannabiskonsum ist also unabhängig von dem angedrohten Strafmaß.

    Ein legaler Verkauf von Cannabisprodukten würde die Möglichkeit eröffnen, Regeln und Bedingungen an Public-Health-Aspekten zur orientieren und so auf einen möglichst wenig gesundheitsschädlichen Konsum von Cannabis hinzuwirken.

    Kontakt:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Leitender Oberarzt
    Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
    J 5, 68159 Mannheim
    Derik.Hermann@zi-mannheim.de
    www.zi-mannheim.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann hat in Heidelberg und Mannheim Medizin studiert. Die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat er am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim absolviert. Nach Tätigkeiten als Oberarzt an der Charité Berlin Mitte 2007 und als Ärztlicher Direktor der suchtmedizinischen Klinik des Klinikum Stuttgart 2014 kehrte er jeweils wieder an die Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit zurück, wo er aktuell als Leitender Oberarzt tätig ist. Forschungsschwerpunkte sind  MRT- und PET-Untersuchungen zu Alkohol, Cannabis und Opiaten.

    Literatur:
    • ALICE RAP – Addiction and Lifestyles in Contemporary Europe Reframing Addictions Project. Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation, 2014. Online verfügbar unter: http://www.alicerap.eu/resources/documents/cat_view/1-alice-rap-project-documents/19-policy-paper-series.html
    • Arseneault et al. Cannabis use in adolescence and risk for adult psychosis: longitudinal prospective study. BMJ 2002; 325:1212-3.
    • Berghuis et al. Hardwiring the brain: endocannabinoids shape neuronal connectivity. Science 2007; 316:1212-6.
    • Demirakca et al. Diminished Gray Matter in the Hippocampus of Cannabis Users: Possible Protective Effects of Cannabidiol. Drug and Alcohol Dependence 2011; 114:242-5.
    • Hickman et al. If cannabis caused schizophrenia – how many cannabis users may need to be prevented in order to prevent one case of schizophrenia? England and Wales calculations. Addiction 2009; 104:1856-61.
    • Meier et al. Persistent cannabis users show neuropsychological decline from childhood to midlife. Proc Natl Acad Sci U S A. 2012;109:E2657-64.
    • Moore et al. Cannabis use and risk of psychotic or affective mental health outcomes: a systematic review. Lancet 2007; 370:319-28.
    • Niemi-Pynttäri et al. Substance-induced psychoses converting into schizophrenia: a register-based study of 18,478 Finnish inpatient cases. J Clin Psychiatry 2013; 74(1); e94-9.
    • Power et al. Genetic predisposition to schizophrenia associated with increased use of cannabis. Mol Psychiatry. 2014; 19:1201-4.
    • Schimmelmann et al. Cannabis use disorder and age at onset of psychosis-a study in first-episode patients. Schizophr Res. 2011; 129:52-6.
    • Silins et al. Young adult sequelae of adolescent cannabis use: an integrative analysis. The Lancet Psychiatry 2014; 1, 286–293.
  • Modelle der Cannabisregulierung

    Modelle der Cannabisregulierung

    Frank Zobel
    Marc Marthaler

    In den letzten Jahren hat international ein so grundlegender Wandel in der Drogenpolitik – insbesondere in Bezug auf Cannabis – stattgefunden, dass ohne Weiteres von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann. Mit dem Erlass von neuen Gesetzgebungen für Cannabis in US-amerikanischen Staaten und in Uruguay gerät die über Jahrzehnte international vorherrschende Cannabispolitik allmählich ins Wanken. Damit einher geht die Entwicklung von neuen Regulierungsmodellen, die zeigen, wie sich Gesellschaften zu Beginn des XXI. Jahrhunderts den Umgang mit dieser jahrzehntelang verbotenen Substanz vorstellen. Im Folgenden werden bestehende und geplante Modelle dargestellt. Dieser Artikel stützt sich in weiten Teilen auf den Bericht von Zobel & Marthaler (2014).

    Was in der Öffentlichkeit über viele Jahre als kaum hinterfragte Tatsache akzeptiert wurde – nämlich dass Cannabis illegal ist – wurde maßgeblich durch das „Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel“ von 1961 festgelegt (engl. „Single Convention on Narcotic Drugs“, verabschiedet von den Vereinten Nationen/United Nations). Dieses Abkommen bildete seitdem die Basis der weltweiten Drogenpolitik und damit auch des Cannabisverbotes. Im Verlauf der letzten Jahre haben sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von vier Bundesstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika sowie das Parlament des unabhängigen Staats Uruguay für die Legalisierung des Cannabiskonsums und die Regulierung des Cannabismarktes ausgesprochen. Schon zuvor sind in verschiedenen Regionen Spaniens und Belgiens Vereinigungen von Cannabiskonsumierenden entstanden, während das holländische Modell, welches den Verkauf und den Besitz kleiner Mengen von Hanfprodukten toleriert, Reformen unterzogen wurde.

    Das aktuelle Spektrum der Regulierungsmodelle ist breit gefächert. Es umfasst verhältnismäßig offene, marktwirtschaftliche Märkte in den Bundesstaaten Colorado und Washington, einen streng durch den Staat verwalteten und geregelten Markt in Uruguay, die Tolerierung des Verkaufs von kleinen Mengen in den Niederlanden und die Gründung von nicht gewinnorientierten Vereinigungen von Cannabiskonsumierenden innerhalb rechtlicher Grauzonen in Spanien und Belgien. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede der verschiedenen existierenden oder geplanten Modelle?

    Das marktwirtschaftliche Modell der US-Bundesstaaten Colorado und Washington

    Der Cannabiskonsum ist in den Vereinigten Staaten seit jeher höher als in Europa. Hier liegt einer der Gründe, warum elf Bundesstaaten schon während der 1970er Jahre den Cannabiskonsum entkriminalisiert haben. In den 1990er Jahren entwickelte sich mit der medizinischen Verschreibung von Cannabis ein neues Phänomen, und bis 2015 hatten mehr als zwanzig Bundesstaaten eine Regelung für den therapeutischen Gebrauch von Cannabis.

    Diese Entwicklung hat den Bestrebungen zur Legalisierung und Marktregulierung für Cannabisprodukte für den rekreativen Gebrauch in den Vereinigten Staaten neuen Elan verschafft, und im November 2012 stimmten die Bürger der Bundesstaaten Washington und Colorado für die ersten regulierten Cannabismärkte der Welt. Colorado führte am 1. Januar 2014 erstmalig weltweit einen solchen Markt ein, Washington folgte am 8. Juli desselben Jahres, und in den zwei Bundesstaaten Oregon und Alaska wurde noch im gleichen Jahr ein entsprechendes Gesetz angenommen.

    Regulierungsmodalitäten

    In Washington und Colorado ist der Cannabismarkt in die drei Teile Produktion, Verpackung/Vertrieb und Verkauf gegliedert. Die Beteiligung auf einer der drei Ebenen erfordert eine staatliche Lizenz und eine Bewilligung der Gemeinde. In Washington verhindern die gesetzlichen Bestimmungen, dass man gleichzeitig auf mehreren Ebenen des Cannabismarktes tätig sein kann, wogegen in Colorado zunächst die umgekehrte Logik galt: Hier durften die Produzenten nur einen kleinen Teil (30 Prozent) ihrer Produktion an Händler verkaufen; den größten Teil mussten sie in ihren eigenen Geschäften anbieten. Diese Art der Produktion und Vermarktung lehnte sich an die Bestimmungen des medizinischen Gebrauchs von Cannabis an. Tatsächlich wurden in den ersten Monaten in Colorado Lizenzen ausschließlich an Produzenten und Händler erteilt, die im therapeutischen Bereich aktiv waren. Der Vorteil lag zweifellos darin, dass die Partner bekannt und schon mit einem regulierten Cannabismarkt vertraut waren. Ende 2014 wurden diese Regeln hinfällig, und die Bevorzugung von Produzenten und Händlern aus dem Bereich der medizinischen Cannabisprodukte wurde aufgehoben.

    Cannabis wird in undurchsichtigen Verpackungen verkauft, die von Kinderhänden nicht geöffnet werden können (child proof) und die zudem mit einer amtlichen Produktinformation versehen sein müssen, die unter anderem über den THC-Gehalt und die verwendeten Düngemittel Auskunft gibt (Ingold, 2013). Für den Erwerb von Cannabisprodukten – ebenso wie für Alkohol – gilt sowohl in Colorado wie auch in Washington ein Mindestalter von 21 Jahren. In spezifischen Verkaufsstellen darf pro Einkauf höchstens eine Unze (ca. 28,4 Gramm) erworben werden. In Colorado dürfen nicht ansässige Personen nur ein Viertel dieser Menge kaufen, während Einwohner zudem bis zu sechs Pflanzen zum Eigengebrauch halten können. In Washington gibt es keine Einschränkungen für auswärtige Cannabiskonsumierende. Die Haltung von bis zu 15 eigenen Pflanzen ist hingegen nur Einwohnern erlaubt, die im Besitz einer ärztlichen Verschreibung sind.

    In beiden Bundesstaaten entscheiden staatliche Kontrollorgane über das Erteilen, den Widerruf oder die Verlängerung von Lizenzen. Zur Überwachung der gesamten Produktion und um zu verhindern, dass Cannabis in den Schwarzmarkt gelangt, wurde ein System zur Produktverfolgung „vom Samen bis zum Konsumenten“ eingerichtet (metrc – Marijuana Enforcement Tracking Reporting Compliance, 2014). Werbung für Cannabisprodukte sollte in beiden Bundesstaaten sehr restriktiv geregelt werden. Allerdings wird dieses Werbeverbot nun unter Berufung auf den ersten Verfassungszusatz (1st amendment) der Vereinigten Staaten angefochten. Es ist daher möglich, dass ein striktes Werbeverbot in Zukunft nicht durchgesetzt werden kann.

    Steuern

    Washington hat zunächst die höchsten Steuerabgaben auf Cannabis erhoben. Auf jeder der drei Wertschöpfungsebenen (Produktion, Verpackung/Vertrieb und Verkauf) wurden vom Staat 25 Prozent Steuern erhoben. Seit dem 1. Juli 2015 wird nur noch eine Verkaufssteuer von 37 Prozent erhoben (Department of Revenue Washington State, 2015). Dazu kommt eine allgemeine Umsatzsteuer von 8,75 Prozent, die für alle Güter gilt. In Colorado beträgt die Grundtaxierung auf Cannabis lediglich 15 Prozent, hinzu kommt die allgemeine Warenumsatzsteuer von 2,9 Prozent. Zusätzlich aber werden eine Cannabis-Verkaufssteuer von 10 Prozent (Bremner & Del Giudice, 2014) sowie örtliche Abgaben erhoben. Ob in Washington oder in Colorado, Cannabis ist in jedem Fall mit hohen Abgaben belegt, wobei die Preise tendenziell sinken (zwischen Herbst 2014 und Frühling 2015 geschätzt um etwa 16 Prozent in Colorado). In Washington sollen diese Steuereinnahmen zum größten Teil in einen Spezialfonds für soziale und medizinische Dienstleistungen fließen, und in Colorado sind Teile dieser Gelder für den Bau neuer Schulen vorgesehen.

    Das staatlich kontrollierte Modell Uruguays

    In Uruguay wird der Drogenkonsum nicht strafrechtlich verfolgt, sofern es sich beim Besitz von Betäubungsmitteln um eine ‚vernünftige Menge‘ handelt. Der Cannabiskonsum ist relativ hoch und hat in den 2000er Jahren bei den Jugendlichen stark zugenommen. Parallel dazu hat sich wie im Nachbarland Argentinien der Konsum der Kokain-Basispaste Paco verbreitet. In Uruguay ist die Trennung der Märkte für Cannabis und für Paco eines der Argumente für eine Legalisierung von Cannabisprodukten.

    Die Regierung Uruguays stellte ihr Projekt zur Regulierung des Cannabismarktes im Juni 2012 vor. Der Gesetzesentwurf ging im August an das Parlament, wurde jedoch erst ein Jahr später vom Repräsentantenhaus angenommen. Am 10. Dezember 2013 stimmte auch der Senat zu. Damit erhielt Uruguay als erstes Land ein Gesetz zur Legalisierung von Cannabis.

    Regulierungsmodalitäten

    Das Modell Uruguays unterscheidet sich in vielen Punkten von den Modellen in den Bundesstaaten Colorado und Washington. Das südamerikanische Land regelt zum einen die Produktion von und den Handel mit Cannabis sowie den Besitz von Hanfpflanzen zum persönlichen Gebrauch. Zum anderen regelt es auch den Anbau von Pflanzen im Rahmen einer Vereinigung. Laut Gesetz darf jeder Bewohner Uruguays, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, entweder:

    a) Cannabis in bestimmten Apotheken kaufen oder
    b) die Pflanzen selbst anbauen oder
    c) Mitglied eines „Cannabis Konsum Clubs“ werden.

    Diese Möglichkeiten schließen sich gegenseitig aus. Die „Cannabis Konsum Clubs“ bestehen aus 15 bis 45 Personen und erhalten die Genehmigung zum gemeinsamen Anbau von Hanfpflanzen. In jedem Fall müssen sich Konsumenten beim „Institut für die Regulierung und die Kontrolle von Cannabis“ (IRCCA) registrieren lassen. Diese Pflicht gilt auch für die Cannabisproduzenten und für die Apotheken, die Cannabisprodukte verkaufen. Mit der Registrierung auf allen Wertschöpfungsebenen will die Regierung nicht nur den Markt kontrollieren und regulieren, sondern auch Personen erkennen, die durch einen problematischen Umgang mit dem Produkt auffallen.

    Im uruguayischen Modell sind genaue Mengen vorgeschrieben, die verkauft oder angebaut werden dürfen. So dürfen registrierte Nutzer bis zu 40 Gramm pro Monat in zugelassenen Apotheken kaufen oder höchstens sechs Hanfpflanzen für den Eigenbedarf besitzen. Die Cannabis-Clubs können je nach Mitgliederzahl bis zu 99 Pflanzen im Jahr anbauen. All diese Modalitäten unterliegen jedoch der Bestimmung, dass der maximal erlaubte Konsum in Uruguay auf 480 Gramm pro Jahr beschränkt ist, was etwa 1,3 Gramm pro Tag entspricht (Kilmer et al., 2013).

    Stand der Umsetzung

    Nach der Präzisierung verschiedener Anwendungsbestimmungen wird das uruguayische Regelwerk seit Mai 2014 Schritt für Schritt umgesetzt. Ab August 2014 konnten sich Bewerber und Bewerberinnen für den Anbau zum Eigenbedarf registrieren. Inzwischen haben sich rund 2.200 Personen für den Eigenbau registrieren lassen, und 18 Vereinigungen mit insgesamt etwa 700 Mitgliedern befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Registrierungsprozesses. Zudem ist das Auswahlverfahren für Produzenten, die Apotheken beliefern dürfen, im Gange (elf Kandidaten), und eine Präventionskampagne wurde lanciert.

    Cannabis Social Clubs in Spanien und Belgien

    Spanien

    Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichts gelten der Besitz von Cannabis zum persönlichen Gebrauch und der Konsum in Spanien nicht als Straftat. Ebenso betrachtet die spanische Rechtsprechung weder den gemeinsamen Konsum noch den gemeinschaftlichen Erwerb von Drogen durch abhängige Konsumierende als Straftat.

    Vor dem Hintergrund dieser richterlichen Praxis hat sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine Bewegung entwickelt, die sich für den Selbstanbau von Hanfpflanzen im Rahmen von Gruppen Erwachsener einsetzt. Die Initianten argumentieren wie folgt: Der Anbau einer oder mehrerer Pflanzen für den Eigenbedarf stellt keine Straftat dar. Dasselbe gilt für den gemeinschaftlichen Erwerb von Cannabis sowie für den gemeinsamen Konsum. Also kann es auch keine Straftat sein, wenn ein privater Personenkreis Pflanzen anbaut, die Ernte unter sich aufteilt und das Cannabis gemeinsam konsumiert (Kilmer et al., 2013).

    Die Vereine von Cannabiskonsumierenden werden oft als Cannabis Social Clubs (CSC) bezeichnet. Aufgrund fehlender staatlicher Regulierung haben sich die Akteure ihre Regeln selbst auferlegt. Der spanische Cannabis-Dachverband FAC (Federación de Asociaciones Cannábicas) hat die Rahmenbedingungen definiert (Kilmer et al., 2013), und die belgische Non-Profit-Organisation ENCOD – European Coalition for Just and Effective Drug Policies hat einen besonderen Verhaltenskodex für europäische Cannabis Social Clubs festgelegt (ENCOD, 2011).

    CSC funktionieren als Non-Profit-Organisationen, die ausschließlich Erwachsenen zugänglich sind. Wer Mitglied eines CSC werden möchte, muss sich als Cannabiskonsument erklären oder ein ärztliches Rezept für den Bezug dieser Substanz vorlegen. In einigen Fällen bedarf es zudem der Empfehlung eines bisherigen Mitglieds, um aufgenommen zu werden. Das Mindestalter beträgt in der Regel 18 Jahre (Volljährigkeit). In gewissen Fällen wurde das Eintrittsalter auf 21 Jahre angehoben. Das Ziel der CSC besteht im Anbau von Cannabis für den Eigengebrauch der Clubmitglieder. Die Substanz wird oft vor Ort eingenommen, das heißt im privaten Clubraum, wo das Cannabis auch ausgegeben wird. Zwischen den Mitgliedern des CSC darf kein Handel entstehen, weshalb die Menge Cannabis pro Mitglied beschränkt ist. Die übliche Tagesmenge beträgt zwei bis drei Gramm (Barriuso Alonso, 2011). Laut  ENCOD soll die Produktionskapazität eines CSC auf der zu erwartenden Höhe des jährlichen Verbrauchs seiner Mitglieder basieren. Dazu kommt eine angemessene Menge als Reserve. Die Aufzucht der Pflanzen erfolgt durch Mitglieder des Vereins oder durch Dritte. Die CSC sollten umfassend und transparent Buch darüber führen, in welchem Stadium des Lebenszyklus sich der Anbau befindet und welche Anbaumethoden angewendet werden und natürlich über die für die Weitergabe geeigneten Erntemengen.

    In Spanien haben sich die CSC in letzter Zeit sehr schnell entwickelt. Die Regierung schätzte ihre Anzahl im Jahr 2014 auf 700, während es vier Jahre zuvor gerade rund vierzig gab. Etwa 400 CSC sind in Katalonien eingetragen, davon die Hälfte allein in Barcelona. Dort hat sich ein regelrechter Cannabistourismus etabliert, denn die Clubs sind für alle zugänglich, die Cannabis konsumieren wollen, und die Betreiber der Clubs versuchen, Touristen übers Internet oder auf der Straße zu einem Besuch zu animieren. Die Behörden der Stadt haben auf diese Entwicklung reagiert und über 150 CSC kontrolliert. Etwa ein Drittel davon wurde geschlossen. Zudem hat die Stadt ein Moratorium erlassen, das die Eröffnung neuer CSC für die nächsten zwölf Monate verbietet.

    Die explosionsartige Entwicklung der CSC, die auch die Grenzen der Autoregulierung der Clubs offenbart, bewog die Behörden dazu, strengere Regeln für eine Regulierung zu erarbeiten – eine Entwicklung, die auch von einem Teil der CSC gewünscht und unterstützt wird. Die katalanischen Behörden sind zurzeit dabei, ein Ensemble von Regeln zu entwickeln, das namentlich folgende Elemente enthalten würde: das Verbot, CSC in der Nähe von Schulen zu eröffnen, die Begrenzung der Mitgliederzahl und der Öffnungszeiten sowie das Verbot von Werbung und der Bezahlung mit Bargeld. Ein Mindestalter von 21 Jahren und die spanische Staatsangehörigkeit würden die zwei Aufnahmebedingungen bilden, und neue Mitglieder könnten Cannabis erst nach 15 Tagen beziehen. Zudem könnte die maximale Bezugsmenge auf 60 bis 100 Gramm pro Monat festgelegt werden (The Guardian, 2014).

    Als die ersten CSC gegründet wurden, waren die Initianten der Überzeugung, dass es sich hierbei nur um ein Übergangmodell zu einem mit dem Tabak- oder Alkoholmarkt vergleichbaren Modell handelt, bei dem nicht nur die Produktion und der Konsum, sondern auch der Handel komplett legal wären. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass es sich bei den CSC um ein langfristig tragfähiges Modell handelt, bei dem die Entscheidungen nicht in den Händen von einigen wenigen Personen liegen, sondern die Versorgung ohne Gewinnabsichten durch eine Gruppe von Interessierten demokratisch geregelt werden kann (Barriuso Alonso, 2011).

    Belgien

    Ähnlich wie in Spanien präsentiert sich die Situation in Belgien. Grundsätzlich verbietet die belgische Gesetzgebung die Produktion und den Besitz von Cannabis. Allerdings schwächt eine Verordnung des Justizministeriums und der Vereinigung der Staatsanwälte von 2005 diese Norm ab: Der Besitz von Cannabis für den Eigenbedarf wurde in der Skala der Straftaten erheblich zurückgestuft, sofern keine erschwerenden Umstände vorliegen. In der Praxis bedeutet das: Eine erwachsene Person, die bis zu drei Gramm Cannabis oder eine Hanfpflanze besitzt, kann zu einer Geldbuße verurteilt werden. Es erfolgt jedoch kein Eintrag ins Strafregister, und das Cannabis muss von den Ordnungskräften nicht eingezogen werden (Kilmer et al., 2013).

    Im Jahr 2006 wurde der Cannabis Social Club „Trekt Uw Plant“ (Ziehe deine eigene Pflanze!) gegründet. Die Organisation stützte sich darauf, dass der Besitz einer Pflanze für den Eigengebrauch toleriert wurde, und plädierte für den gemeinsamen Anbau entsprechend der Anzahl Clubmitglieder (Decorte, 2015). Nach der Wahl einer neuen, konservativen Regierung im Herbst 2014 soll die Null-Toleranz-Politik, die schon seit längerem in der Stadt Antwerpen gilt, auf das ganze Land ausgedehnt werden. Was das für die belgischen Cannabisclubs bedeutet, ist noch offen.

    Das Coffeeshop-Modell der Niederlande

    In den Niederlanden sind Verkauf und Besitz kleiner Cannabismengen grundsätzlich verboten, seit 1976 wird dies de facto jedoch toleriert. Ebenso wird der Besitz von Hanfpflanzen für den persönlichen Gebrauch (bis zu fünf Stück) nicht geahndet. Diese Politik verfolgt als Hauptziel, die Trennung des Marktes für ‚weiche‘ Drogen (Cannabis) von dem der anderen Drogen.

    Jede Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann unabhängig von ihrem Wohnsitz bis zu fünf Gramm Cannabis in eigens dafür zugelassenen Läden, den Coffeeshops, kaufen. Eine Studie des Trimbos Institute von 2013 zeigte einen durchschnittlichen THC-Gehalt von 13,5 Prozent. Dieser lag tiefer als in den vorangegangenen Jahren. Die meistverkaufte Cannabisqualität kostete 9,60 Euro pro Gramm (Netherlands Info Service, 2013). In Coffeeshops dürfen höchstens 500 Gramm Cannabis gelagert werden. Dadurch sind gewisse Händler gezwungen, mehrmals täglich Nachschub zu beschaffen. Das niederländische Modell birgt ein grundsätzliches Paradox, das so genannte Back-Door-Problem: Da der Anbau von Cannabis weiterhin als Straftat gilt, müssen die Produkte, die in Coffeeshops verkauft werden, weiterhin auf dem Schwarzmarkt erworben werden.

    Die Regulierung der Coffeeshops ist in den letzten Jahren mehrmals diskutiert worden, und inzwischen verlangen manche Gemeinden die Beseitigung des Back-Door-Problems: Die Produktion von Cannabis, welches in den Coffeeshops verkauft wird, sollte keine Straftat mehr darstellen. Als Lösung wurden von den Städten verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen wie z. B. die Vergabe von Lizenzen, die Förderung von Konsumenten-Clubs oder auch ein städtisches Monopol für die Cannabisproduktion (Rolles, 2014).

    Regulierungsprojekte in der Schweiz

    Zu Beginn der 2000er Jahre sah es danach aus, als ob die Schweiz als erstes Land der Welt ein Gesetz zur Regulierung des Cannabismarktes einführen würde. Die Argumente für die Regulierung waren der Jugendschutz und der Kampf gegen den Schwarzmarkt. Der vom Bundesrat vorgestellte Entwurf für ein revidiertes Betäubungsmittelgesetz sah die Legalisierung des Cannabiskonsums vor (Der Schweizerische Bundesrat, 2001). Für Produktion und Verkauf von Cannabisprodukten sollten Ausnahmen von der Strafverfolgung gelten. Das Projekt sah Straffreiheit vor, wenn Cannabis in geringen Mengen an Personen über 18 Jahren verkauft wird, sofern dadurch die öffentliche Ordnung nicht gefährdet, keine Werbung betrieben und keine Ein- und Ausfuhr ermöglicht wird.

    Der Gesetzesentwurf enthielt auch Vorschriften über Anbauflächen, Lizenzen und Verkaufsstellen und den Höchstgehalt an THC sowie die Regulierung von Produktion und Verkauf. Die Kantone blieben frei, strengere Vorschriften auf ihrem Hoheitsgebiet zu erlassen. Es oblag den Produzenten, den Beweis zu erbringen, dass die Ernte ausschließlich an Kundschaft in der Schweiz ausgeliefert würde. Der Anbau von Hanfpflanzen sollte unter Angabe der Sorte, der Anbaufläche, des Anbauortes, der Abnehmer etc. meldepflichtig werden.

    Nach einem dreijährigen Vernehmlassungsprozess (Phase im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren, in der Kantone, politische Parteien und andere Interessierte Stellung zum geplanten Gesetz nehmen können) und verschiedenen Debatten wurde im Juni 2004 auf die Revision des Betäubungsmittelgesetzes verzichtet. In der Zwischenzeit hatten einige Kantone begonnen, einen Cannabismarkt zu tolerieren. Landesweit sollen mehr als 200 Hanfläden entstanden sein. Diese Entwicklung ging mit der Aufgabe der Gesetzesrevision zu Ende. Danach folgten 2004 und 2008 zwei gescheiterte politische Vorstöße, die das Ziel hatten, das Cannabisverbot zu lockern. Mit der 2008 vom Volk angenommenen Teilrevision des Betäubungsmittelgesetzes und dem Parlamentsbeschluss von 2012 zum Ordnungsbußenverfahren für Cannabis wird in der Schweiz der Konsum einer geringfügigen Menge von Cannabis (max. 10 Gramm) durch erwachsene Personen mit einer Ordnungsbuße von 100 Fr. bestraft. Cannabis bleibt somit verboten, aber eine Strafverfolgung wird außer in Ausnahmefällen nicht aufgenommen.

    Aber auch nach der gescheiterten Initiative zur Legalisierung von Hanfprodukten und der de facto Entkriminalisierung des Konsums bleibt die Debatte rund um Cannabis hochaktuell. Seit einigen Jahren wurden in größeren Schweizer Städten (Zürich, Luzern, Bern, Biel, St. Gallen, Lausanne, Winterthur) und in einem Kanton (Basel-Stadt) Postulate oder parlamentarische Initiativen mit dem Ziel eingereicht, die Debatte über einen alternativen Umgang mit der Produktion und dem Handel von Cannabis neu zu lancieren. Derzeit ist die öffentliche Diskussion in Genf am weitesten fortgeschritten. Hier möchte eine Gruppe Abgeordneter im Rahmen eines Pilotprojekts Vereinigungen von Cannabiskonsumierenden nach dem spanischen Modell der Cannabis Social Clubs zulassen.

    Schlüsselelemente der Regulierung

    Die bestehenden oder geplanten Regulierungsmodelle lassen sich drei Kategorien zuordnen: dem kommerziellen Markt, der als einziger – wenn auch stark reguliert – marktwirtschaftlich funktioniert, dem Staatsmonopol und den Vereinigungen. Die beiden letzteren wollen verhindern, dass sich ein privater und profitorientierter Handel mit Cannabisprodukten entwickeln kann. Alle Modelle greifen trotz ihrer Unterschiede auf ein gemeinsames Ensemble von Maßnahmen zurück, die je nach Modell unterschiedlich gehandhabt und gewichtet werden:

    • Regulierung der Produktion
    • Verkaufsbewilligungen
    • Mengenbegrenzungen für den Verkauf
    • Konsumeinschränkungen
    • Qualitätskontrollen
    • Altersbeschränkungen
    • Besteuerung
    • Werbung
    • Marktüberwachung

    Weitere Maßnahmen können die Erkennung von problematisch Konsumierenden oder die Einschränkung des Verkaufs an nicht Ortsansässige betreffen. Allen Modellen gemeinsam ist die Bestrebung, den illegalen Markt zu schwächen und den Cannabismarkt von anderen Drogenmärkten abzugrenzen. Und generell ist Cannabis bedeutend strenger reguliert als Alkohol. In Zukunft wird sich zeigen, welches Modell bzw. welche Modelle langfristig politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich tragfähig sein werden und ob es noch Raum für andere Formen der Regulierung gibt.

    Kontakt:

    Marc Marthaler
    Sucht Schweiz
    Av. Louis-Ruchonnet 14
    Postfach 870
    CH-1001 Lausanne
    mmarthaler@suchtschweiz.ch
    www.suchtschweiz.ch

    Angaben zu den Autoren:

    Marc Marthaler ist Projektleiter bei Sucht Schweiz.
    Frank Zobel ist Vizedirektor ad interim bei Sucht Schweiz.

    Literatur:
  • EMCDDA veröffentlicht den 20. Europäischen Drogenbericht

    EMCDDA veröffentlicht den 20. Europäischen Drogenbericht

    18268992180_b007810b75_k
    Beim Launch des Europäischen Drogenberichts 2015 am 4. Juni in Lissabon (v.l.n.r.): João Goulão, Vorsitzender des Verwaltungsrates der EMCDDA, Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Wolfgang Götz, EMCDDA-Direktor. Foto©EMCDDA

    Veränderte Dynamiken auf dem Heroinmarkt, aktuelle Auswirkungen des Cannabiskonsums und neue Merkmale und Dimensionen der Szene für Stimulanzien und „neue Drogen“ gehören zu den Themen, die von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in ihrem gerade in Lissabon veröffentlichten „Europäischen Drogenbericht 2015. Trends und Entwicklungen“ behandelt werden. In ihrem Jahresbericht lässt die EMCDDA 20 Jahre Beobachtungsarbeit Revue passieren und untersucht die globalen Einflüsse und lokalen Auswirkungen der in stetem Wandel begriffenen europäischen Drogenproblematik. Die Daten in diesem Bericht beziehen sich auf das Jahr 2013 bzw. das letzte verfügbare Jahr.

    Heroin verliert zwar an Bedeutung, doch Marktveränderungen erfordern genaue Beobachtung

    Der EMCDDA zufolge machen Probleme im Zusammenhang mit Heroin zwar immer noch einen großen Anteil an den drogenbedingten Gesundheits- und Sozialkosten in Europa aus, jedoch wiesen die jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich in eine ‚positivere‘ Richtung. Insgesamt stagniere die Nachfrage nach dieser Droge. Mittlerweile würden weniger Menschen als früher erstmals eine spezialisierte Behandlung wegen Heroinproblemen beginnen: Im Jahr 2013 waren dies 23.000 gegenüber 59.000 im Jahr 2007. Schätzungen zufolge unterzieht sich über die Hälfte (700.000) der 1,3 Millionen europäischen Opioidkonsumenten (d. h. Langzeit- bzw. abhängige Konsumenten) derzeit einer opioidgestützten Substitutionstherapie. Bei den Daten in Bezug auf gemeldete Sicherstellungen, die einen Einblick in die Entwicklung des Heroinangebots ermöglichen, sind ebenfalls Rückgänge zu verzeichnen. Die im Jahr 2013 in der EU sichergestellte Heroinmenge (5,6 Tonnen) war eine der niedrigsten gemeldeten Mengen seit zehn Jahren und entspricht in etwa der Hälfte der im Jahr 2002 sichergestellten Menge (10 Tonnen). Die Zahl der Heroinsicherstellungen fiel ebenfalls von 45.000 im Jahr 2002 auf 32.000 im Jahr 2013. Vor diesem insgesamt positiven Hintergrund erläutert die EMCDDA eine Reihe von Marktveränderungen, die eine genaue Beobachtung erfordern.

    Jüngsten Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge hat die Opiumproduktion in Afghanistan in den Jahren 2013 und 2014 deutlich zugenommen. So liefert das Land den Großteil des in Europa konsumierten Heroins. Diese Entwicklung könnte zu einer höheren Verfügbarkeit von Heroin auf dem europäischen Markt führen. Ferner werden Anzeichen für Neuerungen im Heroinmarkt hervorgehoben, einschließlich der erstmals seit den 1970er Jahren erfolgten Entdeckung von Labors zur Heroinaufbereitung in Europa. In den Jahren 2013 und 2014 wurden in Spanien zwei Labors zur Umwandlung von Morphin in Heroin entdeckt.

    Des Weiteren werden Veränderungen beim Heroinnachschub nach Europa beobachtet. Während die traditionelle „Balkanroute“ nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, gibt es Anzeichen, dass die „südliche Route“ an Bedeutung gewinnt. Diese beginnt in Iran und Pakistan und erreicht Europa direkt oder indirekt über die Länder der Arabischen Halbinsel und Ost-, Süd- und Westafrikas. Eine gerade veröffentlichte Studie über den Opioidhandel von Asien nach Europa deutet auf eine Diversifizierung der gehandelten Produkte (z. B. Morphinbase und Opium neben Heroin) und der genutzten Transportmittel und Routen hin (siehe Perspectives on Drugs/POD).

    Neben Heroin stellten die Strafverfolgungsbehörden 2013 in europäischen Ländern eine Reihe weiterer Opioide sicher: Opium, Rohopiumzubereitungen (z. B. „Kompott“), Arzneimittel (Morphin, Methadon, Buprenorphin, Fentanyl und Tramadol) sowie neuartige synthetische Opioide.

    Ältere Opioidkonsumenten benötigen maßgeschneiderte Therapieangebote

    Opioidabhängigkeit ist häufig ein chronischer Zustand, weshalb die Bereitstellung geeigneter Behandlungs- und Pflegeangebote für Langzeitkonsumenten von Opium inzwischen eine immer größere Herausforderung für Behandlungs- und Sozialdienste darstellt. Im Bericht wird gezeigt, wie sich das Durchschnittsalter der Personen, die sich wegen Opioidproblemen in Behandlung begeben, entwickelt. So stieg das Durchschnittsalter zwischen 2006 und 2013 um fünf Jahre. Ein bedeutender Teil der Opioidkonsumenten in Europa mit einer langen Vorgeschichte des Mehrfachkonsums befindet sich mittlerweile im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt. Ein seit langem bestehender schlechter körperlicher und psychischer Gesundheitszustand, ungünstige Lebensbedingungen, Infektionen und der missbräuchliche Mehrfachkonsum (u. a. auch von Alkohol und Tabak) machen diese Konsumentengruppe anfällig für eine Reihe von chronischen Gesundheitsproblemen (z. B. kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen und Hepatitis).

    Benötigt werden laut Bericht klinische Leitlinien, die den demografischen Wandel unter Europas problematischen Opioidkonsumenten berücksichtigen. Solche Leitlinien würden eine wirksame klinische Praxis begünstigen und folgende Themen umfassen: Mitnahme-Dosen von Arzneimitteln für die Substitutionstherapie (z. B. Methadon und Buprenorphin), Schmerztherapien und die Behandlung von Infektionen. Wenige Länder melden die Verfügbarkeit zielgerichteter Programme für ältere Drogenkonsumenten. Diese Personengruppe wird in der Regel in bestehende Drogentherapieangebote integriert. Die Niederlande sind eines der Länder, in denen Altenpflegeheime eingerichtet wurden, die an die Bedürfnisse älterer Drogenkonsumenten angepasst sind.

    Verbesserte Therapien bei Hepatitis C und stagnierende Zahlen bei HIV-Neudiagnosen

    Aufgrund der Übertragung durch die gemeinsame Nutzung von Nadeln, Spritzen und anderem Spritzbesteck ist Hepatitis C die am häufigsten vorkommende Infektionskrankheit unter drogeninjizierenden Personen in Europa. Nationale Stichproben im Zeitraum 2012/2013 bei dieser Personengruppe ergaben eine Hepatitis C-Virus-Infektionsrate zwischen 14 und 84 Prozent. Eine Hepatitis C-Infektion verläuft anfänglich häufig ohne Symptome und kann jahrzehntelang unentdeckt bleiben. Viele Infizierte entwickeln später eine chronische Hepatitis, wodurch sich ihr Risiko für die Entwicklung von Lebererkrankungen (z. B. Leberzirrhose und Leberkrebs) erhöht.

    Eine wachsende Anzahl von Ländern haben spezifische Hepatitis C-Strategien verabschiedet oder arbeiten zurzeit daran. Diese Strategien sollen insbesondere den Zugang zu Hepatitis C-Tests sicherstellen. Obwohl aktuell antivirale Arzneimittel erhältlich sind, die den Fortschritt der Erkrankung verhindern oder eine vollständige Genesung ermöglichen, beschränken fehlende Diagnostik und hohe Arzneimittelkosten die Reichweite dieser neuen Behandlungsangebote.

    2011 und 2012 sind die Zahlen neuer HIV-Diagnosen, die dem injizierenden Konsum zugeordnet waren, angestiegen, hauptsächlich bedingt durch HIV-Krankheitsausbrüche in Griechenland und Rumänien. Die neuesten Zahlen zeigen, dass der Anstieg inzwischen gestoppt und die Gesamtzahl der Fälle in der EU auf ein Niveau wie vor den Ausbrüchen gesunken ist. Vorläufige Zahlen für 2013 weisen 1.458 neu gemeldete HIV-Infektionen gegenüber 1.974 im Jahr 2012 aus. Damit kehrt sich der seit 2010 bestehende Aufwärtstrend um. Trotz der in diesem Bereich erzielten Fortschritte hält die EMCDDA es für notwendig, wachsam zu bleiben und ein angemessenes Behandlungsangebot bereitzustellen.

    Bekämpfung von Überdosierungen – eine gesundheitspolitische Herausforderung

    Die Verringerung der Zahl tödlicher Überdosierungen und anderer drogenbedingter Todesfälle (z. B. als Folge von drogenbedingten Erkrankungen, Unfällen und Suizid) ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der aktuellen Gesundheitspolitik. Schätzungen zufolge soll es im Jahr 2013 zu mindestens 6.100 Todesfällen aufgrund von Überdosierung, meist im Zusammenhang mit Heroin und anderen Opioiden, gekommen sein.

    In einer den aktuellen Bericht begleitenden neuen Analyse wird der Missbrauch von Benzodiazepinen unter Hochrisiko-Opioidkonsumenten, die diese Arzneimittel zur Selbstmedikation oder zur Verstärkung der Wirkung von Opioiden nehmen, näher beleuchtet (siehe POD). Die Analyse zeigt, wie der kombinierte Konsum von Opioiden, Benzodiazepinen und anderen zentralnervös wirksamen Beruhigungsmitteln (z. B. auch Alkohol) zu einer erhöhten Lebensgefahr durch Überdosierung beiträgt. Verschreibungen und Leitlinien für die klinische Praxis könnten für die Bewältigung dieses komplexen Problems eine entscheidende Rolle spielen.

    Maßnahmen zur Vorbeugung von Überdosierungen umfassen zielgerichtete Strategien, Aufklärung über Risiken des Drogenkonsums sowie mögliche Hilfen bei Überdosierungen, einschließlich der Verteilung von Naloxon in Mitnahme-Dosen. Einige Länder haben eine seit langem bewährte Praxis der Bereitstellung von Drogenkonsumräumen. In sechs europäischen Berichtsländern der EMCDDA werden derartige Dienste derzeit in insgesamt rund 70 Einrichtungen angeboten (Dänemark, Deutschland, Spanien, Luxemburg, Niederlande und Norwegen), während in Frankreich vor kurzem ein Modellversuch von Drogenkonsumräumen genehmigt wurde. Eine Überprüfung der in diesen Einrichtungen erbrachten Dienstleistungen ergänzt die diesjährige Analyse (siehe POD) und zeigt, wie mittels Drogenkonsumräumen eine ‚lokale Antwort‘ auf ‚lokale Probleme‘ gegeben wird. Unter anderem können Drogenkonsumräume eine Rolle bei der Reduzierung drogenbedingter Schäden (einschließlich Todesfälle durch Überdosierung) spielen und hilfreich sein, um schwer erreichbare Drogenkonsumenten an Gesundheitsdienste heranzuführen.

    Wachsende Bedeutung von Cannabis innerhalb der Drogenbehandlungssysteme in Europa

    Cannabis ist nach wie vor die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Europa: 19,3 Millionen Erwachsene im Alter zwischen 15 und 64 Jahren geben an, die Droge in den vergangenen zwölf Monaten konsumiert zu haben. 14,6 Millionen davon sind junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Schätzungen zufolge konsumiert ein Prozent aller Erwachsenen die Droge täglich oder nahezu täglich.

    Aus Erhebungen unter der Allgemeinbevölkerung von drei Ländern (Deutschland, Spanien und das Vereinigte Königreich) geht eine rückläufige oder stagnierende Prävalenz des Cannabiskonsums in den letzten zehn Jahren hervor. Steigerungen wurden dagegen in Bulgarien, Frankreich und vier nordischen Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen) beobachtet. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der aktuellen Erhebungen uneinheitliche Trends im Cannabiskonsum der letzten zwölf Monate bei jungen Erwachsenen.

    Die hohe Prävalenz der Droge spiegelt sich in der Anzahl an Personen wider, die eine spezialisierte Drogentherapie beginnen. So gibt die größte Gruppe von Erstpatienten inzwischen Cannabis als ihr Hauptdrogenproblem an. Die Gesamtzahl der Patienten in Europa, die sich erstmals wegen Cannabisproblemen in Behandlung begaben, stieg von 45.000 im Jahr 2006 auf 61.000 im Jahr 2013. Während sich viele der eine Behandlung beginnenden Cannabispatienten selbst einweisen (34 Prozent), geht aus der Analyse hervor, dass etwa ein Viertel derjenigen, die eine Behandlung wegen Cannabis als Primärdroge begannen (23.000), fremdmotivierte Überweisungen aus dem Strafjustizsystem waren. Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen für psychosoziale Interventionen bei der Behandlung von Drogenproblemen. Bei der Behandlung von Problemen im Zusammenhang mit Cannabis wird von diesen auch umfassend Gebrauch gemacht. Diese Ansätze werden in einer den Bericht begleitenden Analyse (siehe POD) und in einer aktuellen Insights-Ausgabe der EMCDDA erforscht.

    Akute Notfälle im Zusammenhang mit Cannabiskonsum können – wenngleich selten – nach dem Konsum der Substanz, insbesondere in hohen Dosen, auftreten (siehe unten den Abschnitt zum Reinheitsgrad). In einer in Notfalleinrichtungen durchgeführten aktuellen Studie wurde in elf von 13 untersuchten europäischen Ländern im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 ein Anstieg der Zahl der Notfälle im Zusammenhang mit Cannabiskonsum festgestellt.

    Im aktuellen Bericht wird die zentrale Rolle von Cannabis in Statistiken über Drogenkriminalität hervorgehoben, denen zufolge 80 Prozent der Sicherstellungen auf die Droge und 60 Prozent aller gemeldeten Drogendelikte in Europa auf den Konsum oder Besitz von Cannabis für den eigenen Gebrauch entfallen.

    Die Zahl der Sicherstellungen von Cannabiskraut in Europa überstieg im Jahr 2009 die von Cannabisharz, und diese Kluft hat sich noch weiter vergrößert. Im Jahr 2013 entfielen von den 671.000 in der EU gemeldeten Cannabis-Sicherstellungen 431.000 auf Cannabiskraut (Marihuana) und 240.000 auf Cannabisharz (Haschisch). Dieser Trend liegt vermutlich zum großen Teil in der Tatsache begründet, dass immer mehr in Europa gezüchtetes Cannabiskraut verfügbar ist, was sich an der wachsenden Zahl der Beschlagnahmungen von Cannabispflanzen zeigt. Dennoch ist die in der EU sichergestellte Menge an Cannabisharz immer noch deutlich höher als die Menge an sichergestelltem Cannabiskraut (460 Tonnen gegenüber 130 Tonnen).

    Mehr als 130 verschiedene synthetische Cannabinoide, die als legaler Ersatz für Cannabis verkauft werden und dem Cannabismarkt eine neue Dimension hinzufügen, wurden bislang über das EU-Frühwarnsystem entdeckt. Der Konsum dieser Substanzen kann gesundheitsschädliche Auswirkungen haben (z. B. Nierenschäden, kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen und Krämpfe). Jüngste Todesfälle und akute Vergiftungen in Europa und der Welt im Zusammenhang mit diesen Substanzen haben die EMCDDA dazu bewegt, Warnmeldungen in Bezug auf die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit herauszugeben.

    Wettbewerb im umkämpften Stimulanzienmarkt

    Europa steht einem hart umkämpften Stimulanzienmarkt gegenüber, auf dem sich das Angebot von Kokain, Amphetaminen, Ecstasy und einer wachsenden Anzahl an synthetischen Drogen an ähnliche Konsumentengruppen richtet. Kokain ist nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Stimulans in Europa, doch konzentriert sich die Mehrheit der Konsumenten auf eine kleine Zahl von westlichen EU-Ländern. Schätzungsweise 3,4 Millionen Erwachsene der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren haben in den zurückliegenden zwölf Monaten Kokain konsumiert. Davon waren 2,3 Millionen junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Nur wenige Länder meldeten für die letzten zwölf Monate eine Kokainprävalenz unter jungen Erwachsenen von mehr als drei Prozent. Bei den neuesten Daten ist ein Rückgang des Kokainkonsums feststellbar. Von den Ländern, die seit 2012 Erhebungen durchführen, meldeten acht niedrigere Schätzungen und drei höhere Schätzungen im Vergleich zur vorangegangenen Erhebung.

    Der Konsum von Amphetaminen, darunter Amphetamine und Metamphetamine, liegt insgesamt auf niedrigerem Niveau als der Kokainkonsum in Europa. So gaben etwa 1,6 Millionen Erwachsene an, in den letzten zwölf Monaten eine dieser Drogen konsumiert zu haben. 1,3 Millionen davon waren junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Der aktuelle Bericht beleuchtet ferner neue Muster des Metamphetaminkonsums. So wurde in der Tschechischen Republik ein deutlicher Anstieg des hochriskanten Metamphetaminkonsums (vor allem injizierender Konsum) beobachtet, wobei die Zahl der Konsumenten Schätzungen zufolge von rund 21.000 im Jahr 2007 auf über 34.000 im Jahr 2013 gestiegen ist. Des Weiteren wird aus einer Reihe von europäischen Ländern der injizierende Konsum von Metamphetamin in Kombination mit anderen Stimulanzien (z. B. synthetische Cathinone) unter kleinen Gruppen von Männern, die Geschlechtsverkehr mit anderen Männern praktizieren, gemeldet. Diese als „Slamming“ bezeichneten Praktiken geben aufgrund der Kombination von hochriskantem Drogenkonsum und riskantem Sexualverhalten Anlass zur Besorgnis.

    Schätzungsweise 2,1 Millionen Erwachsene der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren haben in den zurückliegenden zwölf Monaten Ecstasy konsumiert. Davon waren 1,8 Millionen junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Nach einem Zeitraum, in dem als Ecstasy verkaufte Tabletten unter Konsumenten im Ruf standen, von schlechter Qualität bzw. Produktfälschungen zu sein, ist hochreines MDMA in Pulver- und Tablettenform inzwischen weiter verbreitet (siehe unten den Abschnitt zum Reinheitsgrad).

    Synthetische Cathinone wie Mephedron, Pentedron und MDPV sind in einigen europäischen Ländern inzwischen zu einer festen Größe auf dem Markt für illegale Stimulanzien geworden und werden häufig abwechselnd mit Amphetamin und Ecstasy konsumiert. Der injizierende Konsum synthetischer Cathinone ist – obgleich in Europa kein besonders weit verbreitetes Phänomen – in einigen Ländern ein lokales Problem bei Gruppen von Hochrisiko-Drogenkonsumenten. Steigender Behandlungsbedarf im Zusammenhang mit dem Konsum dieser Substanzen wird aus Ungarn, Rumänien und dem Vereinigten Königreich gemeldet.

    Zunahme des Wirkstoffgehalts und des Reinheitsgrads gibt Anlass zur Besorgnis

    Ein zentraler Befund des diesjährigen Berichts ist der deutliche Anstieg des Wirkstoffgehalts und des Reinheitsgrads der europaweit am häufigsten konsumierten illegalen Drogen, was Bedenken hinsichtlich der Gesundheit der Konsumenten hervorruft, die bewusst oder unbewusst möglicherweise stärkere Produkte konsumieren. Die Gesamtentwicklung im Zeitraum 2006 bis 2013 zeigt, dass in den Ländern, die regelmäßig Meldungen übermitteln, ein Anstieg des Wirkstoffgehalts von Cannabis (THC-Gehalt), des Reinheitsgrads von Kokain und des MDMA-Gehalts in Ecstasy-Tabletten zu verzeichnen ist. Der Reinheitsgrad von Heroin ist 2013 ebenfalls gestiegen. Technische Innovation und Wettbewerb sind zwei Faktoren, die aller Wahrscheinlichkeit nach für diesen Trend verantwortlich sind.

    Hervorgehoben werden Bedenken angesichts von Ecstasy-Tabletten mit hohem MDMA-Gehalt, die oft in individuellen Formen und mit markanten Logos angeboten werden. Im Laufe des vergangenen Jahres haben die EMCDDA und Europol Warnmitteilungen zu Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit dem Konsum derartiger Produkte herausgegeben. Weitere Warnmitteilungen, die nach einer Reihe von Todesfällen herausgegeben wurden, betrafen Tabletten, die als Ecstasy verkauft wurden, aber andere schädliche Substanzen wie PMMA enthielten.

    Zwei „neue Drogen“ pro Woche entdeckt

    Pro Woche wurden in den letzten zwölf Monaten in der EU zwei neue psychoaktive Substanzen (NPS oder „neue Drogen“, häufig als „Legal Highs“ verkauft) entdeckt. Insgesamt wurden dem EU-Frühwarnsystem im Jahr 2014 101 neue Substanzen gemeldet (gegenüber 81 Substanzen im Jahr 2013). Damit setzte sich der Aufwärtstrend bei Substanzen, die innerhalb eines einzelnen Jahres gemeldet wurden, fort. Die Gesamtzahl von Substanzen, die von der Beobachtungsstelle überwacht werden, steigt so auf über 450, wobei mehr als die Hälfte allein in den zurückliegenden drei Jahren identifiziert wurde.

    Im Jahr 2014 wurde die Liste der gemeldeten Substanzen einmal mehr von zwei Gruppen dominiert: von synthetischen Cathinonen (31 Substanzen) und synthetischen Cannabinoiden (30 Substanzen), die jeweils häufig als legaler Ersatz für Stimulanzien bzw. Cannabis angeboten werden. Diese beiden Gruppen sind die größten der über das EU-Frühwarnsystem beobachteten Gruppen und machen zusammen fast zwei Drittel der im Jahr 2014 gemeldeten neuen Drogen aus. Neue Daten zu Sicherstellungen zeigen, dass im Jahr 2013 in der EU etwa 35.000 Sicherstellungen von NPS gemeldet wurden. Diese Zahl ist in Ermangelung von routinemäßigen Meldungen in diesem Bereich als Mindestschätzung anzusehen. Die am häufigsten sichergestellten Drogen waren synthetische Cannabinoide und synthetische Cathinone.

    Neue Studien und Erhebungen gewähren zunehmend Einblicke in den Konsum von NPS, wobei neun Länder die NPS-Prävalenz mittlerweile in ihre nationalen Drogenerhebungen aufgenommen haben. Die meisten EU-Länder weisen eine niedrige Prävalenz des Konsums dieser Substanzen auf. Allerdings kann aufgrund der hochtoxischen Eigenschaften einiger NPS auch ein begrenzter Konsum dieser Substanzen problematisch sein. Die gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung der durch neue Drogen entstehenden Herausforderungen gewinnen an Dynamik und umfassen das gesamte Spektrum an Maßnahmen zur Bekämpfung der stärker etablierten Drogen (z. B. Aufklärungsarbeit, internetbasierte Interventionen und Nadel- und Spritzenaustauschprogramme).

    Das Internet und Apps: Entwicklung eines virtuellen Drogenmarkts

    Das Internet spielt beim Nachschub und der Vermarktung von Drogen in Europa eine immer wichtigere Rolle. So werden sowohl NPS als auch etablierte Drogen online zum Kauf angeboten. Die Nutzung des über die einschlägigen Suchmaschinen zugänglichen „Surface Web“ zum Verkauf von NPS hat in den letzten zehn Jahren größere Aufmerksamkeit erfahren. So identifizierte die EMCDDA rund 650 Websites, auf der „Legal Highs“ für die europäische Kundschaft angeboten werden. Eine problematische Entwicklung auf dem Online-Markt ist der Verkauf illegaler Drogen auf „Kryptomärkten“ oder auf Online-Marktplätzen im „Deep Web“, die über Verschlüsselungssoftware zugänglich sind. Auf derartigen Plattformen können Waren und Dienstleistungen anonym zwischen den Parteien ausgetauscht werden. Dabei werden häufig „Kryptowährungen“ (z. B. Bitcoin) eingesetzt, um verborgene Transaktionen zu erleichtern. So genannte „graue Märkte“ sind ebenfalls zunehmend zu finden. Hierbei handelt es sich um Websites, die sowohl im „Surface Web“ als auch im „Deep Web“ betrieben werden. Im Bericht wird erläutert, wie soziale Medien und Apps bei derartigen Drogengeschäften eingesetzt werden – entweder direkt zum Kaufen und Verkaufen von Drogen oder indirekt zu Zwecken des Marketings, der Meinungsbildung oder des Erfahrungsaustausches.

    „Insgesamt stellt das Wachstum der Online- und virtuellen Drogenmärkte Strafverfolgung und Drogenkontrollpolitik vor große Herausforderungen“, lautet eine zentrale Aussage des Berichts. Bestehende Regulierungsmodelle müssten angepasst werden, um in einem globalen und virtuellen Kontext zu funktionieren.

    João Goulão, Vorsitzender des Verwaltungsrates der EMCDDA, zieht folgendes Fazit: „Diese 20. Analyse der europäischen Drogenproblematik macht deutlich, wie viel sich seit der Veröffentlichung des ersten Berichts der EMCDDA im Jahr 1996 geändert und wie sehr die Beobachtungsstelle ihre Kenntnisse in diesem Bereich vertieft hat. Die Drogenproblematik ist inzwischen weitaus komplexer, da viele der in diesem Bericht genannten Substanzen vor zwei Jahrzehnten praktisch unbekannt waren. Die Grenzen zwischen alten und neuen Drogen verschwimmen ebenfalls immer mehr, da neuartige Substanzen zunehmend kontrollierte Drogen nachahmen. Dieser jährliche Einblick in die Drogenproblematik in Europa bildet eine wertvolle Grundlage für fundierte Diskussionen über die aktuelle Drogenpolitik. Außerdem vermittelt er wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf politische Strategien, die in der Zukunft benötigt werden.“

    Das vollständige Informationspaket „Europäischer Drogenbericht 2015“ ist erhältlich unter www.emcdda.europa.eu/edr2015.

    Pressestelle der EMCDDA, 04.06.2015

  • Drogenpatienten sind anders

    Drogenpatienten sind anders

    Andreas Reimer
    Andreas Reimer

    Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.

    Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen

    In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    • sind im Durchschnitt deutlich jünger,
    • sind häufiger arbeitslos,
    • sind häufiger Schulabbrecher,
    • haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
    • sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
    • haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
    • sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.

    Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.

    In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.

    Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.

    Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern

    Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.

    In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.

    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)

    Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.

    Die BORA-Empfehlungen

    Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.

    Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.

    Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil

    In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte  der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur  Zielerreichung können sein:

    • interne und externe Arbeitserprobung (Training),
    • Festlegung eines Trainingsbereiches,
    • Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
    • Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
    • PC-Schulung,
    • Bewerbungstraining,
    • Sozialberatung,
    • Vorstellung im Berufsförderungswerk.

    Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.

    In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

    Interne Trainingsfelder

    Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.

    Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).

    Anpassung der Personalausstattung

    Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.

    Kontakt:

    Andreas Reimer
    Deutscher Orden Ordenswerke
    Geschäftsbereich Suchthilfe
    Klosterweg 1
    83629 Weyarn
    andreas.reimer@deutscher-orden.de
    www.deutschordenswerke.de

    Angaben zum Autor:

    Andreas Reimer ist leitender Arzt im Geschäftsbereich Suchthilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, und Mitherausgeber von KONTUREN online.