Schlagwort: Diagnostik

  • Sucht ist divers

    Sucht ist divers

    Prof. Dr. Rebekka Streck

    Dass Sucht als Krankheit zu verstehen ist, scheint in der deutschsprachigen Fachwelt unstrittig. Ein solches Krankheitsverständnis beruht auf einem Diagnosesystem, in dem Symptome einer Diagnostik untergeordnet werden. Diese Praxis hat Vorteile – aber auch Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Diversität eines Phänomens aus dem Blick gerät.

    Im Folgenden fokussiere ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens Sucht. Ich setze das Wort „Sucht“ kursiv. Dies soll verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Deutungsmuster handelt. Zugleich soll diese Schreibweise zeigen, dass Sucht ein offenes Konzept ist, das von Menschen – so wie den im Folgenden zitierten Gesprächspartner:innen – individuell genutzt wird. Ich spreche nicht von Abhängigkeit, weil dieser Begriff (jenseits von diagnostischen Setzungen) alltagsweltlich weniger präsent und in seiner Wortbedeutung unspezifisch ist, denn Menschen sind von sehr vielen Handlungsweisen und Stoffen abhängig.

    Nach einer kurzen kritischen Diskussion geläufiger Suchtdiagnostik werde ich einen lebensweltlichen Blick auf Sucht vorstellen, der Diversität zulässt, sogar nach ihr sucht. Hierzu werde ich anhand der Analyse von Interviews mit suchterfahrenen Menschen exemplarisch Unterschiede herausarbeiten und diese drei Kategorien zuordnen. Im Anschluss lege ich dar, welche Vorteile in einem solchen auf Diversität bezogenen Suchtverständnis liegen, im Gegensatz zu einem Verständnis, das nach Eindeutigkeit strebt. Dieser Artikel versteht sich als Teil der Wissenschaft Soziale Arbeit. Lebensweltorientierung (Thiersch u. a. 2012) ist eine der zentralen Theorien Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum.

    1. Das Deutungsmuster „Sucht als Krankheit“ als Reduktion der Komplexität und Diversität

    Psychiatrisch-medizinisch geprägte Suchtdiagnostik ist gekennzeichnet durch Subsumtion (= Unterordnung). Ein Leiden, eine Beschreibung, ein Gefühl oder die Ergebnisse eines Tests werden einer Oberkategorie zugeordnet. Durch quantitative Forschung gestützte Diagnostikmanuale wie ICD-11 oder DSM-5 sollen das Diagnostizieren erleichtern, indem sie wahlweise unterschiedlich viele Aspekte benennen und festlegen, dass, wenn eine bestimmte Anzahl davon mit Ja beantwortet wird, eine Abhängigkeit oder substance use disorder vorliege (bei DSM-5 in unterschiedlicher Ausprägung). So ist medizinische Diagnostik erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Komplexität reduziert wird, um Kategorisierungen vorzunehmen. Dass diese Reduktion an Komplexität herausfordernd ist, wenn ein in sich konsistentes Diagnoseschema entwickelt werden soll, verdeutlicht eine rege Diskussion sowie eine kontinuierliche Veränderung von Diagnostiksystemen (vgl. bspw. Rumpf u. a. 2011, Heinz u. a. 2022).

    Ein solcher Prozess der Subsumtion prägt auch das alltagsbezogene Verständnis von Sucht. Menschen nehmen fremdes oder eigenes Handeln als abweichend und problematisch wahr und ordnen dieses dem Deutungsmuster Sucht zu. Diese alltägliche Typisierung eines Handelns als süchtig geschieht erheblich chaotischer und stärker subjektiv und kulturell geprägt, als es in der disziplinären Debatte in Psychologie und Medizin der Fall scheint. So begegnet uns Sucht ständig, im Gespräch mit der Freundin, die sich über das Computerspielverhalten ihres Freundes erregt, genauso wie in unterschiedlichsten medialen Formaten.

    Sucht ist also erstmal ein Deutungsmuster, mit dem diverse Phänomene in einen Container gepackt werden. Ein solches Deutungsmuster dient der alltäglichen oder auch der fachdisziplinären Kommunikation (vgl. Schmidt-Semisch 2010). Im sozialstaatlichen verwalterischen Umgang mit abweichendem Handeln dient es auch dazu, Zugänge zu öffentlich finanzierten Hilfemaßnahmen zu gewähren oder zu begrenzen. Es kann auch hilfreich sein, um das eigene oder fremde Handeln zu verstehen, ihm eine beispielsweise durch Medizin und Psychologie abgesegnete Bedeutung zu geben. Zugleich können solche vereinheitlichenden Deutungsmuster aber auch irreführend sein, weil möglicherweise auf subjektiver Ebene sehr unterschiedliche Erfahrungen gleichgesetzt werden. Vereinheitlichende Deutungsmuster können als einengend und stigmatisierend empfunden werden, weil die eigene Geschichte durch mächtigere Deutungen überschrieben wird (vgl. Boyd u.a. 2020).

    Eine solche Subsumtion kann auch den fachlichen Blick verstellen, so dass beispielsweise Sozialarbeiter:innen oder auch Ärzt:innen voreilig ihre Schlüsse ziehen, ohne den Einzelfall angemessen zu würdigen. Schütze (1992, S. 148 f.) sieht in dieser Paradoxie professionellen Handelns ein Risiko für Stigmatisierung und fachliche Fehleinschätzungen. In der Typisierung klammern Fachleute „sehr häufig – eigentlich empirisch durchaus vorliegende – konkrete, ‚schwierige‘ Informationen des Einzelfalls aus, die ein genaueres differenzierendes Hinsehen erforderlich machen und die automatische Anwendung von Typenkategorien verbieten würden“ (Schütze 1992, S. 149).

    2. Den lebensweltlichen Blick auf Diversitäten zulassen

    Auch wenn Sozialarbeiter:innen sich punktuell auf bio-medizinische Krankheitsverständnisse beziehen, bestimmen diese nicht ihre alltägliche Praxis. So wird in der Sozialen Arbeit eine lebensweltliche, soziale Diagnostik präferiert, die sich bspw. auf die ICF, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, bezieht (vgl. Hansjürgens/Schulte-Derne 2020). Darüber hinaus möchte ich im Folgenden diesem diagnostizierenden Blick einen lebensweltlichen Blick zur Seite stellen. Hier geht es um die Frage, wie Menschen, die selbst sagen, dass sie süchtig sind oder süchtige Phasen durchlebt haben, Sucht beschreiben.

    Füssenhäuser (2016, S. 214) entsprechend verstehe ich Sucht als „ein spezifisches Deutungs- und Handlungsmuster, in und mit dem Menschen/Subjekte ihr Leben gestalten“. Dieses Deutungs- und Handlungsmuster kann im Kontext der Bewältigung alltäglicher Aufgaben Handlungsoptionen eher eröffnen oder eher schließen. Funktionalität und Dysfunktionalität können auch gleichzeitig bestehen oder sich in einer dynamischen Entwicklung abwechseln.

    Diversität von Sucht kann mindestens auf vier Ebenen betrachtet werden: Erstens kann das Deutungsmuster über verschiedene Zeiten und sozio-kulturelle Orte hinweg verglichen werden. Zweitens kann es aus einer intersektionalen Perspektive analysiert werden. Wie beeinflussen bestimmte Ungleichheitskategorien (bspw. Geschlecht, ökonomische Ressourcen oder Staatsbürgerschaft) die Klassifikation eines Handelns als süchtig oder auch das Erleben und Bewältigen von süchtigen Phasen? Drittens kann Diversität auch bezogen auf die präferierten Substanzen und ihre bio-medizinischen und sozialen Eigenschaften untersucht werden. So unterscheiden sich beispielsweise Praxen und das Erleben von Alkohol-, Crack- oder Tabakkonsum oder gar exzessivem Glücksspiel erheblich. Ich werde im Folgenden eine vierte Ebene in den Fokus nehmen: Welche Unterschiede zeigen sich in den Erzählungen von suchterfahrenen Menschen?

    Mit dem Ziel, ein lebensweltliches Suchtverständnis zu entwickeln, begann ich im Oktober 2022 ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Studierende führten zehn problemzentrierte Interviews mit suchterfahrenen Menschen. Die Kontaktaufnahme erfolgte unsystematisch über das private Umfeld der Studierenden, über Praxisstellen Sozialer Arbeit sowie über Selbsthilfegruppen. Es wurden neun Männer und eine Frau interviewt. Vornehmlich konsumierten die Befragten illegale Substanzen (Cannabis, Amphetamine, Kokain oder Heroin). Sie waren zwischen 19 und 60 Jahre alt. Die Analyse wurde gemeinsam mit den Studierenden angestoßen und schließlich allein fortgesetzt und orientiert sich an dem Forschungsstil der Grounded Theory.*

    Die Interviewtexte unterschieden sich stark voneinander und waren schwer unter ein lebensweltliches Suchtverständnis zusammenzufassen. Vielmehr wurden Unterschiede deutlich, die ich im Folgenden anhand von drei Kategorien darstellen werde: Motive für fortgesetzten Konsum (1), Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum (2) sowie Prozessverläufe (3). Ziel der folgenden Darstellung ist es nicht, Unterscheidungskategorisierungen zu fixieren. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Weiterführung der Forschung. Ich möchte die Bandbreite von Erfahrungen, die mit dem Deutungsmuster Sucht verbunden werden, darstellen. Zudem ist es mir wichtig, Menschen mit Suchterfahrungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn ein Blick in die deutschsprachige Forschungslandschaft verdeutlicht, dass Menschen, die von sich sagen würden, dass sie süchtig sind oder waren, bisher kaum in den Diskurs zur Frage, was Sucht ist, einbezogen werden.

    3. Suchterfahrene Menschen erzählen

    3.1 Motive für fortgesetzten Konsum: Sucht als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit

    Menschen berauschen sich mit legalen wie illegalen Substanzen. Die Gründe für den Konsum variieren: gemeinsam eine gute Zeit verbringen, Entspannung am Abend oder Intensivierung eines Erlebnisses (vgl. auch Barsch/Leicht 2014, S. 230). Auch suchterfahrene Menschen berichten von solchen Motiven. Bei den Motiven, den Konsum fortzusetzen und zu intensivieren, können mindestens zwei Begründungen unterschieden werden: Konsum als Bewältigung schwieriger Lebenssituationen einerseits und Konsum als Teil der Identitätsentwicklung andererseits.

    Daniel ist beim Interview ungefähr 30 Jahre alt. Wir haben ihn über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous für ein Interview gewinnen können. Er erzählt, dass er mit 19 Jahren begonnen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen, um sich „dicht zu machen. Das heißt, die Realität war mir zu viel.“ Er sagt: „Das Cannabis habe ich funktional genutzt, […] um mich zu betäuben.“ Er habe eine „hohe Grundanspannung“, und Cannabis habe ihm dabei geholfen, sich zu entspannen. Mit der Wirkung von Cannabis gelang es ihm, sich „freier zu fühlen und um auch tanzen zu können“ und auch „soziale Ängste“ zu bewältigen. Insofern erweitert der Konsum von Cannabis zunächst seine Handlungsmöglichkeiten, weil er sich in Situationen bewegen kann, die ihm zuvor verschlossen geblieben waren. Das Rauchen von Cannabis hilft ihm, soziale und emotionale Komplexität zu reduzieren. Der Konsum kann somit als Anpassungsversuch an soziale Anforderungen gedeutet werden.

    Konträr zu dieser Beschreibung erzählt Andreas, dass er derjenige gewesen sei, der immer „ins Extrem und dann noch einen Schritt weiter“ gegangen sei. Andreas ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Ein Student hat über eine gemeinsame Freundin zu ihm Kontakt aufgenommen. Andreas beginnt das Interview folgendermaßen: „Also es ist relativ früh schon sichtbar geworden, 14, 15, 13 um den Dreh. Extrem extrovertiertes Verhalten. Immer so ein bisschen ins Extreme gehen müssen und so, um Aufmerksamkeit zu generieren.“ Andreas stellt seinen Drogenkonsum in den Kontext einer Selbstbeschreibung. Dieser hilft ihm aber nicht – wie Daniel –, sich sozialen Anforderungen anzupassen, sondern ermöglicht ihm, sich als besonders darzustellen. Im weiteren Verlauf des Interviews bringt er die Funktion des Drogenkonsums auf den Punkt: „Also so blöd das klingt, es war halt ein Stück von mir sozusagen, wie ich mich gegeben habe. Ich war halt Andreas, so ein bisschen das Sorgenkind. Andreas der Süchtige, was weiß ich, um den man sich kümmert und der ja voll lieb ist und den wir voll gern haben und so.“

    Sowohl Daniel als auch Andreas leben mittlerweile weitgehend abstinent. Sie beschreiben, dass sie ihren Konsum verändert haben, als diese Strategien im Kontakt zu anderen Menschen zunehmend dysfunktional wurden. Für Daniel behindert der Konsum zunehmend das angestrebte integrierte Leben (bspw. Kritik von Freund:innen, Probleme beim Lernen für die Universität). Andreas befürchtet, an einem Punkt seine Familie zu verlieren, die ihn lange begleitet hat. Sucht wird in beiden Fällen sozial kontextualisiert: als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit.

    3.2 Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum: Sucht als soziale Eingebundenheit oder radikales Ausblenden sozialer Einflüsse

    Eine Vielzahl von Unterschieden im Erleben des Konsums psychoaktiver Substanzen und im Erzählen davon zeigt sich auf einer zweiten Ebene. Diese Ebene entspricht dem, was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als „Attachements“ bezeichnet werden kann (vgl. Gertenbach 2019, Streck 2022). Menschen stellen in ihrem Alltag unterschiedliche Verknüpfungen zwischen Substanzen, Zeiten, Orten oder auch sozialen Beziehungen her. Diese Verknüpfungen prägen auch die Möglichkeiten der Veränderungen des Konsums.

    Denise ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Eine Studentin hat über ein Jugendberufshilfeprojekt zu ihr Kontakt aufgenommen. Denise erzählt, dass sie auf der Straße gelebt hat, nachdem sie aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „abgehauen“ war. Im Interview gibt es mehrere Passagen, in denen Denise das Leben auf der Straße, ihre soziale Eingebundenheit und ihren Drogenkonsum (v. a. Kokain, Speed und Ecstasy) miteinander verknüpft. So antwortet sie auf die Frage, welche Rolle ihre Freundinnen und Freunde bezogen auf den Konsum spielen: „Also dieses Motto, nach dem Motto, wenn du Drogen nimmst, geht‘s ja wieder gut so, und du bist halt so in deiner Welt so und du bist halt nicht alleine so.“ Sie stellt die Erfahrung von Gemeinsamkeit heraus: „Auch die Freunde, die dabei waren so. Die waren alle genauso verballert wie ich so. Aber es hat mir irgendwie auch gefallen, so irgendwie, dass wir alle zusammen auf demselben Film waren.“ Denise bearbeitet ihre Einsamkeitsgefühle, indem sie mit anderen Menschen illegale Substanzen konsumiert. Beides, die Wirkung der Drogen und das gemeinsame Handeln, helfen ihr bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase. Zugleich bietet die Gruppe auf der Straße einen Zufluchtsort in einer Zeit, in der andere Möglichkeiten der Einbindung (Jugendhilfe oder auch Kontakte zu den Eltern) konflikthaft sind.

    Denises ambivalente Haltung gegenüber dieser Eingebundenheit und ihre Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße auch mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht, nimmt dieser biografischen Erfahrung nicht ihre emotionale Bedeutung und die damit erfahrene Sicherheit. Im Interview erzählt Denise, dass sie kein Verlangen hat, Drogen zu nehmen, wenn sie bei ihrem Vater ist. Für sie gibt es somit Menschen und Orte, die mit dem Konsum von Drogen verknüpft sind, und andere Menschen und Orte, mit und an denen sie keine Drogen nimmt.

    Während solche Verknüpfungen in Denises Erzählungen sehr bedeutsam sind, spielen sie in Roberts Erzählungen keine Rolle. Ihm scheint es stärker um die Wirkung der Substanz selbst und die damit einhergehenden Handlungen zu gehen. Eine Studentin hat den Kontakt zu Robert über gemeinsame Freund:innen hergestellt. Er ist 33 Jahre alt und erzählt, dass er zwischen 19 und 21 Jahren exzessiv Amphetamine genommen hat. Diese Phase, in der er „eigentlich bloß noch für die Drogen gelebt“ habe, mündete in die Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer psychotischen Episode, nachdem er sieben Tage wach gewesen sei.

    Seine Konsumphasen beschreibt Robert so: „Wenn man dann halt relativ viel nach einer Zeit, irgendwie so eins, zwei Gramm, wenn der Körper halt mehr aushält sozusagen. Ähm ja, wird es halt trotzdem irgendwie, ja man kriegt einen Art Tunnelblick, sowas habe ich oft beim Zocken dann gehabt, dass ich dann halt voll den Tunnelblick hatte und konnte halt wirklich die ganze Zeit irgendwie halt eine und dieselbe Sache machen. Ich habe dann zum Schluss irgendwie, drei Stunden am Stück, ohne mich zu bewegen, Solitär gezockt auf dem Handy. Das war dann halt irgendwie total der Film, ja.“

    Aus Roberts Schilderungen kann geschlossen werden, dass im Verlauf der Steigerung seines Amphetaminkonsums für ihn andere Menschen weitgehend unbedeutend waren. In diesem Ausschnitt verbindet er den Konsum mit dem Spielen eines relativ simplen Computerspiels. Beides zusammen führte zu einem „Tunnelblick“, der es ihm ermöglichte, alle andere Dinge auszublenden. Auch er verknüpft den Konsum mit einer anderen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Denise, für die der Konsum mit sozialer Eingebundenheit einher geht, hebt Robert stärker die Bindung an die Wirkung der Substanz selbst hervor. Der Konsumkontext scheint für ihn weniger relevant.

    Mit der Hilfe eines Freundes distanziert sich Denise von ihrem sozialen Umfeld und reduziert ihren Konsum illegaler Substanzen. Robert wird nach mehreren Nächten ohne Schlaf ins Krankenhaus eingewiesen. Das Fehlen einer sozialen Eingebundenheit von Roberts Konsum begünstigt die exzessivere Konsumdynamik. In der situativen Verengung des Alltagslebens auf den Substanzkonsum zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Denises Suchtverhalten.

    Neben den Merkmalen von Substanzen (bspw. legal oder illegal, betäubend oder aufputschend) sind somit auch die Verknüpfungen der Konsumsituation und des sozialen Gefüges von großer Bedeutung, um spezifische Suchtdynamiken, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen zu verstehen, in deren Leben phasenweise der Konsum psychoaktiver Substanzen eine große Rolle spielt. Je nachdem, welche Aspekte miteinander verknüpft werden, kann es sein, dass Konsumveränderung begünstigt (bspw. wenn man aus einem Milieu herauswächst) oder auch erschwert wird (bspw. wenn ein Aufenthaltsort mit dem Konsum verknüpft ist).

    3.3 Prozessverläufe: Sucht als persönlicher Veränderungs- oder Normalisierungsprozess

    „Klassische“ Ergebnisse der Suchtforschung wie beispielsweise die „Subspecies of Alcoholism“ von Jellinek aus den 1960er Jahren (vgl. Kelly 2018, S. 3) oder die Analyse von Prozessen des „Herauswachsen aus der Sucht“ von Weber und Schneider (1997) zeigen, dass sich Konsummuster und Prozesse unterscheiden. Studien zu solchen Unterschieden sind jedoch immer noch marginal. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf Sucht hervorzuheben, stelle ich die Erzählungen von Igor und Bernd dar.

    Igor ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Der Kontakt konnte über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous hergestellt werden. Er beschreibt, dass er mit 13 angefangen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen. Er sagt, dass es seine „erste Liebe“ gewesen sei, weil es ihm in einer Phase des Hin und Her zwischen Jugendhilfe und seiner Mutter half abzuschalten. Zugleich erleichterte das gemeinsame Kiffen eine Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter. „Das hat son bisschen die Spannung rausgenommen.“

    Mit Mitte zwanzig merkt er, dass das Kiffen das Lernen für die Ausbildung und das Fachabitur erschwert. Eine Entgiftung sowie eine Drogentherapie folgen. Erst nach der Drogentherapie, in der er neue Kontakt knüpft, beginnt er, andere illegale Substanzen auszuprobieren. Er bezeichnet diese Phase als „Experimentierorgie“. Er habe in einer recht kurzen Zeit das „Ende der Spirale schnell durchlaufen, um dann zu verstehen, dass es keine Substanz gibt, die mich irgendwie ja hält“. Es folgen die Kontaktaufnahme zu den Narcotics Anonymous und verschiedene stationäre und ambulante Therapien. „Es waren so viele Runden, dass ich das manchmal gar nicht so richtig rekapitulieren kann.“ Er stellt schließlich heraus: „Und ich würd sagen, dieses Kapitel Drogen ist auch irgendwann abgehakt für mich gewesen so. Ich hab mich jetzt ausgelebt mit der Sache und ähm bin ja jetzt auch 33.“ Rückblickend sagt er, dass seine Sucht „mein Lebensretter“ war. „Weil es war irgendwie meine intelligenteste Form, irgendwie mit dem Leben klar zu kommen.“ Zugleich sei es aber auch „Selbstzerstörung auf Raten“ gewesen, weil der Drogenkonsum seine Situation langfristig nicht verbessert habe.

    Igor erzählt seine Konsumgeschichte als Prozess, in dem der Konsum die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen erleichtert und zugleich andere Aspekte erschwert. Im Verlauf seiner Konsumgeschichte hat er sich mit den Wirkungen verschiedener Substanzen auseinandergesetzt. Phasen des Ausprobierens, Stabilisierens, Destabilisierens und Reflektierens wechselten sich ab. Sucht scheint hier Teil eines biografisch-dynamischen Veränderungsprozesses zu sein, dessen retrospektive Bewertung ambivalent ist und damit auch als bedeutsam für die eigene Entwicklung eingeschätzt wird.

    Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews ungefähr 50 Jahre alt und wird von einem Studenten in einer Tagesstätte für Menschen in Substitution interviewt. Bernd erzählt, dass er als junger Mann verschiedene Substanzen im Partykontext aus Neugier probiert habe. „Sucht selber ist erst viele Jahre später durch Heroin entstanden.“ Mit ca. 30 Jahren bietet ihm ein Freund Heroin an, und dann habe sich der regelmäßige Konsum so „eingeschlichen“. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er seit ca. 20 Jahren Opiate konsumiert. Mit ca. 40 Jahren entscheidet er sich für eine Substitutionsbehandlung.

    Das Interview mit Bernd unterscheidet sich deutlich von anderen Interviews. Bernd redet ruhig und abgeklärt über seinen Drogenkonsum. Zugleich scheint es kaum größere Krisen aufgrund des Konsums gegeben zu haben. Er berichtet von kürzeren Phasen, in denen er versucht habe, nicht zu konsumieren, letztlich aber wegen der Entzugserscheinungen wieder angefangen habe. Das Rauchen von Heroin begleitet ihn durch sein Leben. Die körperliche Abhängigkeit von Opiaten stellt er schließlich als Normalität in seinem Leben heraus, mit der er sich abgefunden habe. So sagt er: „Turn selber hat man nicht mehr, sondern nur, dass man aufm normalen Level ist.“ Im Gegensatz zu Igor berichtet Bernd nicht von Therapien oder Selbsthilfegruppen, auch die Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld scheint konfliktarm. Die biografische Erzählung lässt sich so deuten, dass der Drogenkonsum in einem Prozess der Normalisierung zum alltäglichem Begleiter wird.

    Hier zeigt sich die Bandbreite der biografischen Prozesse mit und durch den Konsum illegaler Substanzen. Sucht kann eine zeitlich begrenzte biografische Phase beschreiben, genauso wie eine lebenslange Bindung an eine Substanz. Die Deutung von Drogenkonsum als Sucht kann das Resultat eines Prozesses der Bewusstwerdung oder die Interpretation körperlicher Reaktionen als Entzugserscheinungen sein. Genauso können süchtige Phasen als konflikthaft, eruptiv und als Grenzerfahrungen beschrieben werden, sie können aber auch relativ unauffällig auftreten und konfliktarm in die Arbeit am eigenen Alltag integriert werden.

    4. Chancen eines Suchtverständnisses, das Vielfalt zulässt

    Die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben kann Forschung und Praxis dazu anstoßen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und das Erleben von Menschen und deren Erzählungen ernst zu nehmen.

    Für die Suchtforschung heißt das, weniger nach typisierenden Mustern oder Regeln zu suchen, als Unterschiede hervorzuheben. Diese Perspektive ermöglicht auch eine komplexere Analyse von Einflussfaktoren auf Suchterleben und -verläufe.

    Für die Suchthilfe heißt das, dass subjektbezogen und dialogisch gearbeitet wird. Es geht weniger darum, die eine Behandlungsform für diese oder jene Gruppe zu finden, als für jede Person erneut zu schauen, was bezogen auf ihre biografischen Erfahrungen, Deutungsmuster und ihren Alltag Unterstützung bedeuten kann. So fühlen sich Menschen in ihrer konkreten Einzigartigkeit sowie in den spezifischen sozialen Kontexten ihrer Erlebnisse ernst genommen.

    Für in der Suchthilfe beruflich tätige Menschen bedeutet die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben auch, sich immer wieder überraschen zu lassen und nach dem Besonderen, Neuen und Erstaunlichen Ausschau zu halten. Brown und MacDonald (2022, S. 405) plädieren für das Zulassen, Fördern und Wertschätzen von „Counternarratives“. Solche Gegenerzählungen fordern gängige Sucht-Narrative heraus und wären somit elementarer Teil einer kritischen und stigmasensiblen klinischen Sozialen Arbeit.

    Und für suchterfahrene Menschen heißt das, dass ihnen eine eigene, mitunter widersprüchlich, eigensinnige Deutung ermöglicht wird. Ihnen wird die Anstrengung erspart, sich mit den dominanten Deutungen anderer auseinandersetzen zu müssen. Die Arbeit mit lebensweltlichen Deutungen ermöglicht das Herstellen eigener Kohärenz und die Aneignung des süchtigen Erlebens unter eigenen, und nicht fremden Konditionen.

    *Ich danke den Ko-Forschenden L. Beyer, J. Bürgel, F. Dürr, L. Fink, M. Gollnick, A. Heckert, S. Hofer, A. Janz, R. Kaiser, G. Kalayeh, H. Kiesewetter, S. Kuhn, K. Müller, R. Neumann, S. Pfitzner, V. Rakow, L. Sawatzki, C. Strauß, M. Vogt, J. Wockenfuß.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rebekka Streck
    Studiengang Soziale Arbeit
    Evangelische Hochschule Berlin
    rebekka.streck(at)eh-berlin.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rebekka Streck hat eine Professur für Sozialpädagogik und die Studiengangsleitung des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

    Literaturverzeichnis:
    • Barsch, Gundula/Leicht, Astrid (2014). Drogenkonsum und Abhängigkeit/Sucht – Begrifflichkeiten und Diagnostik. In: Marc Lehmann/Marcus Behrens/Heike Drees (Hg.). Gesundheit und Haft. Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Lengerich, Pabst Science Publishers, 226–252.
    • Brown, Catrina/MacDonald, Judy E. (2020). Counterstorying for Social Justice. In: Catrina Brown/Judy E. MacDonald (Hg.). Critical clinical social work: Counterstorying for social justice. Toronto, Vancouver, Canadian Scholars, 405–409.
    • Boyd, Susan/Ivsins, Andrew/Murray, Dave (2020): Problematizing the DSM-5 cirteria for opioid use disorder: A qualitative analysis. In: International Journal of Drug Policy (78), 1-10.
    • Füssenhäuser, Cornelia (2016). Lebensweltorientierung und Sucht. In: Klaus Grunwald/Hans Thiersch (Hg.). Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. 3. Aufl. Weinheim, Beltz Juventa, 212–220.
    • Gertenbach, Lars (2019). Die Droge als Aktant. Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Robert Feustel/Henning Schmidt-Semisch/Ulrich Bröckling (Hg.). Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden, Springer VS, 263–277.
    • Hansjürgens, Rita/Schulte-Derne, Frank (2020) (Hrsg.). Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
    • Heinz, Andreas/Gül Halil, Melissa/Gutwinski, Stefan/Beck, Anne/Liu, Shuyan (2022). ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit. Der Nervenarzt (1), 51–58.
    • Kelly, John F. (2019). E. M. Jellinek’s Disease Concept of Alcoholism. Addiction 114 (3), 555–559.
    • Rumpf, Hans-Jürgen/Kiefer, Falk (2011). DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. Sucht 57 (1), 45–48.
    • Schmidt-Semisch, Henning (2010). Doing Addiction. Überlegungen zu Risiken und Nebenwirkungen des Suchtdiskurses. In: Bettina Paul/Henning Schmidt-Semisch (Hg.). Risiko Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden, VS Verl. für Sozialwiss., 143–162.
    • Schütze, Fritz (1994). Strukturen des professionellen Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision. Supervision 26, 10–39.
    • Streck, Rebekka (2022). Parkbank, Schnaps und Spritze – ethnografische Einblicke in Relationierungen von Alkohol- und Drogenkonsum mit dem Schlafen auf der Straße. In: Dierk Borstel/Jennifer Brückmann/Laura Nübold et al. (Hg.). Handbuch Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wiesbaden, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.
    • Thiersch, Hans; Grunwald, Klaus; Köngeter, Stefan 2012: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag. S. 175-196.
    • Weber, Georg/Schneider, Wolfgang (1997). Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen: Selbstausstieg, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg. Berlin, VWB Verl. für Wiss. und Bildung.
  • Die Relevanz von Assessments in der arbeitsbezogenen Ergotherapie

    Die Relevanz von Assessments in der arbeitsbezogenen Ergotherapie

    Petra Köser
    Frank Zamath

    Die arbeitsbezogene Ergotherapie in der Behandlung und Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt. Ihre Hauptaufgabe ist die Diagnostik der Arbeitsfähigkeiten und die Förderung der Produktivität und Teilhabe. Je nach Störungsbild wenden Therapeuten komplexe arbeitsplatzorientierte Verfahren an, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit zu erhalten. Ergotherapeuten und -therapeutinnen behandeln Krankheiten, die mit Veränderungen des Verhaltens, des Gedächtnisses, der Körperfunktionen und des alltäglichen Lebens einhergehen. Sie greifen dabei auf psychosoziale, kognitive und arbeitstherapeutische Interventionen zurück. Sie haben eine staatlich anerkannte Fachschulausbildung mit fachtherapeutischen Weiterbildungen absolviert oder Ergotherapie studiert.

    Ergotherapeuten, deren Behandlungsauftrag auf die Teilhabeproblematik gerichtet ist, sind mit Berufskontexten vertraut. Sie kennen die in Deutschland gebräuchlichsten Messverfahren zur Überprüfung und Dokumentation der kognitiven und funktionellen Leistungsfähigkeit. Diese Verfahren sind nicht nur wichtig für die Wirksamkeitsforschung, sondern auch für die Qualitätssicherung der Behandlung. Die Ergotherapie ist in stationären Rehabilitationseinrichtungen für Abhängigkeitserkrankte fest etabliert und fördert die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft (DRV, 2013).

    Die MBOR-Strategie (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation; Bethge, 2017) stellt den Bezug zur Arbeitswelt stärker als bisher in den Mittelpunkt und verändert die klinischen Versorgungsstrukturen (www.medizinisch-berufliche-orientierung.de). In der Suchtreha erfolgt die Teilhabeförderung nach den „Empfehlungen zur beruflichen Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) in so genannten Basismaßnahmen, Kernmaßnahmen und spezifischen Maßnahmen (Weissinger/Schneider, 2015). Diese werden nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen wie Ergotherapeuten, Ärzten und Psychologen wirksam. Die Ergotherapie als multimodale Funktionstherapie leistet einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Alltags- und Berufsleben der Betroffenen (WFOT, 2012), besonders bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit in den Komponenten Aktivitäten und Partizipation nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; Bickenbach, Cieza et al., 2012).

    Das Spektrum arbeitstherapeutischer Interventionen ist vielfältig (vgl. Höhl, Köser, Dochat, 2015; Storck/Plössl, 2015). Arbeitstherapie wird nicht mehr nur von traditionellen körperfunktionsorientierten Ansätzen dominiert und begleitend als materialgebundenes Gruppenangebot durchgeführt. Mit fortschreitender Professionalisierung gewinnen auch solche Interventionstypen an Bedeutung, die an der Schnittstelle zur ambulanten Versorgung (medizinische Rehabilitation oder Leistungen zu Arbeit und Ausbildung) erbracht werden (Gühne/Riedel-Heller 2015). Solche Leistungen beinhalten beispielsweise aktivierende verhaltenstherapeutische Methoden, die Ergotherapeuten eigenverantwortlich durchführen (Zamath, 2015). Ergotherapeuten erheben Arbeitsanamnesen, Arbeitsplatz- und Ressourcenanalysen, nutzen arbeitsdiagnostische Instrumente und gestalten den therapeutischen Prozess bei der Wiedereingliederung mit. In Gruppen- und Einzelsitzungen werden arbeitsrelevante Fertigkeiten zur Förderung der Kognition, Motivation, Emotionswahrnehmung oder Stressbewältigung vermittelt, vor allem dann, wenn die Frage „nach der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und gegebenenfalls nach der Schaffung eines an die Erkrankung angepassten Arbeitsplatzes“ zu klären ist (Linden/Gehrke, 2013, S. 11).

    Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen leiden häufig unter motorischen, kognitiven und psychosozialen Einschränkungen, die sich auf die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz auswirken. In der MBOR sind sozialmedizinische Aussagen zur Belastbarkeit zu treffen. In diesem Zusammenhang spielt die arbeitsbezogene Ergotherapie eine wichtige Rolle und wirkt mit, das Ziel der Rentenversicherung, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen bzw. zu erhalten (DRV, 2013), zu erreichen. Mit ihren beruflich orientierten Behandlungseinheiten trägt die Ergotherapie dazu bei zu beurteilen, inwieweit abhängigkeitserkrankte Menschen weniger als drei Stunden, zwischen drei und sechs Stunden oder mehr als sechs Stunden pro Tag leistungsfähig sind (vgl. Zamath, 2017a).

    Im Folgenden werden verschiedene Funktions- und Leistungstests, Selbst- und Fremdratings sowie Profil- und Dokumentationsverfahren vorgestellt, die innerhalb der arbeitsbezogenen Ergotherapie Abhängigkeitserkrankter relevant sind.

    IMBA – Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt

    Wenn es darum geht, einen Menschen nach seiner Erkrankung wieder in Arbeit zu bringen, kommt IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) zum Einsatz (www.imba.de). Das Verfahren dient als Entscheidungshilfe im Rehabilitationsprozess und bezieht sich auf die Passung der arbeitsrelevanten Fähigkeiten von Klienten mit den Anforderungen eines Arbeitsplatzes (Zamath, 2017c).

    Neben der Dokumentation vorhandener Schlüsselqualifikationen (vgl. dazu Items Melba®) lassen sich mit IMBA körper- oder umweltbezogene Merkmale wie Körperhaltung, Körperfortbewegung oder physische Ausdauer erheben. In Kombination mit IMBA kann das ELA-Verfahren (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten; Drüke, Zander, Alles, 2010), das weiter unten noch einmal genannt wird, zur Beurteilung der arbeitsrelevanten physischen Leistungsfähigkeit eingesetzt werden (www.iqpr.de).

    Kognitive Leistungsfähigkeit

    Zur Beurteilung des kognitiven Leistungsvermögens im Erwerbsleben nutzen Ergotherapeuten Testverfahren mit hohem Normierungsumfang und zufriedenstellenden Testgütekriterien. So bieten Ibrahimovic und Bulheller (2013) eine umfangreiche Testbatterie zur Beschreibung beruflicher Interessen und Fähigkeiten. Mit ihrem Konzentrationstest kann man etwa die Frage beantworten, ob jemand in der Lage ist, ein bestimmtes Arbeitspensum zu leisten oder unter Zeitdruck eine gute Arbeitsqualität zu erreichen. Dabei müssen Zielsymbole nach einer vorgegebenen Regel markiert werden. Zusätzlich werden häufig computergestützte Kognitionstrainings wie COGPACK® (www.markersoftware.com) oder RehaCom® (www.rehacom.de) eingesetzt. Bei diesen Verfahren geht es hauptsächlich um die Diagnostik und Therapie von Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Exekutivfunktionen. Solche Hirnleistungstrainings gehören neben anderen arbeitstherapeutischen Interventionen zu den Angeboten einer BORA-Kernmaßnahme.

    MELBA – Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in Arbeit

    Mit MELBA (Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in Arbeit) werden bei den Rehabilitanden mit Hilfe verschiedener Informationsquellen Fähigkeiten wie Arbeitsorganisation, Feinmotorik oder Schlüsselqualifikationen eingeschätzt (Kleffmann et al., 2000). Schlüsselqualifikationen wie Auffassung, Konzentration und Kulturtechniken können in der Arbeitsdiagnostik prognostische Hinweise zur Befähigung und Eignung für bestimmte Tätigkeiten liefern. Die Ergebnisse werden mit konkreten Arbeitsplatzanforderungen in Beziehung gesetzt und im Profilvergleich dokumentiert.

    Zur Beurteilung berufsbezogener Fähigkeiten wie Rechtschreibkompetenz oder Rechenfähigkeit eignen sich Arbeitsproben. Beispiele hierfür sind die „Arbeitsprobe zur berufsbezogenen Intelligenz. Büro- und kaufmännische Tätigkeiten“ (Schuler/Klingner, 2005; Görlich/Schuler, 2010) oder die „Arbeitsprobe zur berufsbezogenen Intelligenz. Technische und handwerkliche Tätigkeiten“ (Görlich, Schuler, 2007).

    In DRV-Einrichtungen werden MELBA und IMBA zur Identifikation beruflicher Problemlagen vielfach eingesetzt (BAR, 2016), beispielsweise im Rahmen einer „Verhaltensbeobachtung zur arbeitsbezogenen Leistungsbeurteilung“ (DRV 2015, S. 121). Die noch relativ neue Ergänzung durch das Assessment Melba®+Mai (www.miro-gmbh.de/de/melbamai/) ergänzt das Assessment Melba und ermöglicht auch den Vergleich der körperlichen Fähigkeiten eines Menschen mit den Anforderungen einer Tätigkeit.

    O-AFP – Osnabrücker Arbeitsfähigkeitenprofil

    Das O-AFP (Osnabrücker Arbeitsfähigkeitenprofil; Wiedl, Uhlhorn, 2006) gehört zu den Assessments mit zufriedenstellenden Testgütekriterien, die sich für die Beurteilung psychisch erkrankter Menschen eignen. Damit werden mittels der Skalen „Lernfähigkeit“, „Fähigkeit zur sozialen Interaktion“ und „Anpassung“ die Arbeitsfähigkeiten mit der Bezugsreferenz allgemeiner Arbeitsmarkt gemessen (Zamath, 2017b). Das O-AFP ist ein Instrument zur Selbst- und Fremdeinschätzung. Es wird nach einer Verlaufsbeobachtung, in der Klienten in einer Therapie- oder Arbeitssituation Tätigkeiten ausgeführt haben, angewendet (Köhler, 2011). Fähigkeitsprofile wie MELBA oder O-AFP gehören zu den BORA-Kernmaßnahmen (Weissinger/Schneider, 2015).

    Mini ICF-APP – Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen

    Die Abgrenzung zwischen Symptomen, Fähigkeitsbeeinträchtigungen und Lebensführung bei Abhängigkeitserkrankten ist komplex. Für die sozialmedizinische Begutachtung werden deshalb Rechtsvorschriften neben der ICD-10 ganzheitlich im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ausgelegt (Rose/Köllner, 2016). Mit diesem Ansatz können psychische Erkrankungen über Körperfunktionen hinaus erklärt werden.

    Auch die Arbeitstherapie nutzt die ICF als Bezugsrahmen, um den Zusammenhang zwischen Gesundheitsstörungen und der Leistungsfähigkeit zu verstehen (Hucke/Poss, 2015). So können sich in Rehabilitationskliniken tätige Ergotherapeuten nach den „Praxisempfehlungen für die (Arbeits-)Fähigkeitsbeurteilung bei psychischen Erkrankungen“ weiterbilden (Zamath, 2017a). In der Arbeitsdiagnostik nutzen sie das Mini-ICF-APP (Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen; Linden, Baron, Muschalla, 2009) als Kurzinstrument zur Fremdbeurteilung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen, das besonders von Fachgesellschaften empfohlenen wird. Damit wird eingeschätzt, in welchem Ausmaß ein Rehabilitand in seiner Leistungsfähigkeit bei der Durchführung arbeitsbezogener Aktivitäten beeinträchtigt ist. Im Fremdrating werden so Fähigkeiten wie „Flexibilität und Umstellungsfähigkeit“, „Kompetenz und Wissensanwendung“, „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ oder „Gruppenfähigkeit“ beurteilt.

    AVEM – Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster

    Das Assessment AVEM (Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster; Schaarschmidt/Fischer, 2003) wird regelhaft in DRV-Kliniken eingesetzt (BAR, 2016). Ergotherapeuten erfassen damit die Einstellung zur Arbeit und klären gesundheitliche berufsbezogene Risiken ihrer Klienten ab (Kegler, 2014). Aus der Einschätzung lassen sich etwa Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ableiten. Kooperationen mit anderen Rehabilitationsträgern werden als spezifische Maßnahmen für BORA-Rehabilitanden durchgeführt, wenn ein weiterer Bedarf an Unterstützung zur beruflichen Wiedereingliederung festgestellt wurde (Weissinger/Schneider, 2015). Dies erfolgt häufig, wenn die Arbeitsfähigkeit für einen bestimmten Beruf auch bei gutem Verlauf nicht innerhalb von sechs Monaten und nach langandauernder Arbeitsunfähigkeit erreichbar ist. Dies ist etwa der Fall, wenn die Prognose für eine berufliche Wiedereingliederung wegen gesundheitsschädigender Verhaltensmuster durch den AVEM negativ bewertet wird (Rose/Köllner, 2016). Darüber hinaus kann das Verfahren zur Individualisierung der Rehabilitationsmaßnahme und zur Erfolgskontrolle des Rehabilitationsprozesses herangezogen werden.

    DIAMO – Fragebogen zur Diagnostik von Arbeitsmotivation

    Der Erfassung motivationaler Faktoren zu Beginn einer Rehabilitation kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Der DIAMO (Fragebogen zur Diagnostik von Arbeitsmotivation) wurde entwickelt, um Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen nach ihrer arbeitsbezogenen Motivation zu unterscheiden. Dies verschafft diagnostische Ansatzpunkte für eine differenzierte Zuweisung zu bestimmten Behandlungsformen auch innerhalb der arbeitsbezogenen Ergotherapie. Beispielsweise ist es möglich, Rehabilitanden mit mangelnder Motivation psychosoziale Interventionen und Beratungen zur Motivationsförderung anzubieten. Rehabilitanden mit resignativer Haltung hinsichtlich beruflicher Zielperspektiven können frühzeitig identifiziert werden. Die Auswertung des Fragebogens ermöglicht einen Abgleich von Selbst- und Fremdeinschätzung zur Arbeitsmotivation, sie kann auch als Einstieg für die Auseinandersetzung mit den arbeitsbezogenen Motiven genutzt werden.

    Der Therapeutin bzw. dem Therapeuten wird mit dem DIAMO ermöglicht, gemeinsam mit den Rehabilitanden motivationsfördernde und -hemmende Faktoren im Arbeitstherapie-Setting zu berücksichtigen (Ranft et al., 2009). Der DIAMO wird als Basismaßnahme durchgeführt (Weissinger/Schneider, 2015).

    WAI – Work Ability Index

    International ist der WAI (Work Ability Index) ein anerkanntes Verfahren, um Arbeitsfähigkeit zu messen (Ilmarinen, 2009). Mit diesem Fragebogen wird eingeschätzt, inwiefern sich eine Person durch ihren Gesundheitszustand zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen in der Lage sieht (Zamath, 2017b). Laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Beschäftigung (BAUA, 2013) ist der WAI ein Instrument, mit dem die aktuelle und künftige Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit verschiedener Altersgruppen bewertet werden kann.

    Nach einer Studie (Bethge et al., 2012) hat der WAI prognostische Bedeutung für eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Teilhabe nach einer MBOR. So ermöglicht die WAI-Erhebung die Vorhersage erwerbsminderungsbedingter Rentenanträge. Für das MBOR-Stufenkonzept kann der WAI als ein Indikator dienen, um die Zuordnung zu den Stufen B und C zu unterstützen. Die Stufen sind mit den oben beschriebenen BORA-Maßnahmen (Kern und spezifische Maßnahmen) vergleichbar (Weissinger/Schneider, 2015).

    Ergotherapeuten können mit dem Assessment Therapieverläufe in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit darstellen, um den Aufbau von Motivation und Selbstwirksamkeit zu unterstützen (Mathiaszyk, 2013). Der WAI ist über ein Netzwerk frei zugänglich (http://www.arbeitsfaehig.com/de/work-ability-index-(wai)-382.html).

    FCE-Verfahren – Functional Capacity Evaluation

    „Die interne Belastungserprobung wird als Leistungserprobung mit diagnostischem Schwerpunkt unter idealen Standardbedingungen gesehen, um die persönliche psychische und physische Leistungsfähigkeit der Klienten einzuschätzen. Ziel hierbei ist, frühzeitig die Möglichkeiten einer Wiedereingliederung oder die Einleitung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu planen“ (Mallach, 2015, S. 272). Zur objektiven Erfassung der individuellen arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit wurden spezielle FCE-Systeme (Functional Capacity Evaluation) entwickelt, die Einzug in die medizinische Rehabilitation gefunden haben. Hierunter fallen zum Beispiel die Verfahren EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit) und ELA (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten).

    Das EFL-Verfahren nach Susan Isernhagen (1992), bei dem Work Hardening oder die physische Konditionierung zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit eine entscheidende Rolle spielt, ist weit verbreitet. Darüber hinaus können nach dem Evaluationsverfahren Ala® (Arbeitstherapeutische Leistungsanalyse) Belastungserprobungen mit standardisierten WorkPark-Therapiegeräten durchgeführt werden. Damit werden etwa die Lastenhandhabung, Gangleistung oder verschiedene Arbeitspositionen getestet. FCE-Instrumente sollen nach den BORA-Empfehlungen auch in Einrichtungen der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter zum Einsatz kommen.

    WRI – Worker Role Interview

    „Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges“ (Köser et al., 2015). Ein geeignetes Assessment aus ergotherapeutischer Sicht stellt hierzu das WRI (Worker Role Interview; Velozo, Kielhofner, Fisher, 2007) dar. Es ermöglicht im Rahmen eines semistrukturierten Interviews mit anschließender Auswertung die Identifizierung von psychosozialen und Umweltfaktoren in den Bereichen Selbstbild, Werte, Interessen, Rollen, Gewohnheiten und Umwelt, die die Rückkehr in den Arbeitsprozess gefährden oder fördern können (Köller Looser, 2009).

    HiPRO – Hildesheimer-Projekt-Assessment

    Das Hildesheimer-Projekt-Assessment (HiPRO) erfasst Ressourcen und Defizite und bezieht Klienten als Experten für ihre Lebenswelt in die psychosoziale Ergotherapie ein (Düchting, 2008). In der Praxis tätige Ergotherapeuten mit Schwerpunkt Arbeitstherapie nutzen das Instrument, um die Kompetenzen in den Bereichen berufsübergreifende Grundfähigkeiten, soziale und emotionale Fähigkeiten zu erfassen. Dabei werden objektive Ergebnisse aus der Arbeits- und Leistungsdiagnostik berücksichtigt und mit den Rollenerwartungen im Arbeitsleben wie etwa Konzentration, Ausdauer und Arbeitsplanung verknüpft. Die Gütekriterien wurden für unterschiedliche Diagnosegruppen untersucht.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Frank Zamath ist nach einem Lehramtsstudium und Ergotherapie-Examen in Münster seit 2002 am Alexianer Krankenhaus Köln angestellt. Neben der Koordination und Konzeption der teilstationären Arbeitstherapie ist er im Bereich der Leistungsdiagnostik tätig. Seit 2010 ist er Mitglied im Leitungsteam des DVE-Fachausschusses Arbeit und Rehabilitation (DVE = Deutscher Verband der Ergotherapeuten) mit Vorträgen und Veröffentlichungen zu diesem Thema. Frank Zamath ist Mitglied der DGPPN – Referat Gesundheitsfachberufe (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) und der DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie). Kontakt: f.zamath@alexianer.de

    Petra Köser ist Ergotherapeutin seit 1984. Sie verfügt über langjährige berufliche Erfahrung in der psychiatrischen Arbeitstherapie. Seit 1997 ist sie als Lehrkraft mit den fachlichen Schwerpunkten Arbeit und Rehabilitation tätig – aktuell an der ETOS Ergotherapieschule Osnabrück. Nebenberufliche Tätigkeit als Referentin und Autorin. Seit 1999 ist Petra Köser für den buss aktiv, zurzeit im Rahmen des Qualitätszirkels „Arbeitsbezogene Maßnahmen“ als Moderatorin und fachliche Begleiterin. Seit 2008 ist sie Vorsitzende des Fachausschusses Arbeit und Rehabilitation des DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten). Kontakt: petrakoeser@aol.com

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    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Arbeitsmotivation in der Rehabilitation

    Arbeitsmotivation in der Rehabilitation

    Dr. Jens Hinrichs
    Andrea Christoffer
    Univ.-Prof Dr. Dr. Gereon Heuft
    Dr. Rolf Fiedler

     

     

     

     

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Was sind die Gründe dafür, dass sich Menschen im Arbeitsleben engagieren, Weiterbildungen besuchen, einen außergewöhnlichen Einsatz zeigen oder sich ständig für Sonderaufgaben oder Überstunden melden, während andere einfach ihr „Soll“ auf der Arbeit verrichten, Arbeit vermeiden oder gar nach Möglichkeiten suchen, aus dem Erwerbsleben auszusteigen bzw. nicht mehr zurückzukehren? Das Erfordernis der Existenzsicherung durch ein Einkommen ist sicherlich ein wichtiger Einflussfaktor, dennoch engagiert sich jeder Einzelne bei der Arbeit unterschiedlich. Hier rücken die persönlichen Motive und Einstellungen in den Vordergrund, die Menschen zu Leistungen im Arbeitsleben bewegen.

    Erwerbslosigkeit geht häufig mit einer Verlangsamung des Lebensrhythmus einher und führt zu einer nachteiligen Auflösung von Zeit- und Alltagsstruktur, so dass Betroffene Probleme bekommen, in der verbleibenden Zeit ihre Aufgaben zu bewältigen (Kastner et al. 2005). Eine erfolgreiche Reintegration von lange arbeitsunfähigen Rehabilitanden kann oftmals entlastend auf die dahinterliegende Symptomatik wirken (Bengel et al. 2003). Arbeit erfüllt somit unterschiedliche Funktionen: Sie strukturiert den Lebensablauf, sorgt für soziale Kontakte, befriedigt ein allgemeines Bedürfnis nach Beschäftigung, beeinflusst das Selbstwerterleben und Wohlbefinden positiv und kann identitäts- und im Idealfall auch sinnstiftend sein. Daher liefert die berufliche Integration die günstigsten Perspektiven, langfristig und effizient die Auswirkungen von Krankheit und Behinderung positiv zu beeinflussen.

    Dies unterstreicht die Wichtigkeit rehabilitativer Bemühungen, die Krankheitsfolgen so weit zu minimieren, dass die Wiederherstellung und der Erhalt der Erwerbsfähigkeit gesichert werden können. Bei dem Ziel, eine Ein- oder Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu erreichen, müssen auch berufliche Perspektiven, Einstellungen zur Arbeit und die Arbeitsmotivation berücksichtigt werden.

    Aus diesem Zusammenhang sind die Entwicklung des Assessments zur Diagnostik von Arbeitsmotivation (DIAMO) und das Gruppentraining zur Förderung arbeitsbezogener Motivation (ZAZO) hervorgegangen. Die Entwicklung dieser Instrumente war ein langjähriger, durch die Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e.V. Nordrhein-Westfalen geförderter Forschungsschwerpunkt an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster.

    Arbeitsmotivation

    Der Begriff Motivation stellt in der wissenschaftlichen Psychologie eines der zentralen Konzepte zur Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens von Menschen dar. Motivation determiniert das Handeln und gibt Antworten auf die Frage, warum eine Person sich gegenwärtig so und nicht anders verhält. Nach Lewin (1936) resultiert Motivation aus einem dynamischen Prozess aus dem Wechselspiel zwischen subjektiv wahrgenommenen inneren Zuständen (Motive, Antrieb, Bedürfnisse, Wünsche, Streben) und situativen Einflussfaktoren (äußere Anreize, Normen, Werte). Als motivationales Resultat dieses Wechselspiels werden Richtung, Intensität und Ausdauer des Handelns definiert. Somit soll das psychologische Konzept der Motivation Antworten auf die Fragen geben:

    • Warum habe ich dieses oder jenes Ziel ausgesucht?
    • Warum nähere ich mich dem Ziel (oder entferne mich von ihm)?
    • Wie schnell erreiche ich ein Ziel?

    Hier unterscheidet man zwischen personenseitigen (intrinsisch) und situativen (extrinsisch) motivationalen Einflussfaktoren. Intrinsische Motivation ist unabhängig von situativen Faktoren, d. h., jemand handelt aus eigenem Antrieb, z. B. weil eine bestimmte Tätigkeit Spaß macht, und nicht etwa, weil man die Ergebnisfolgen oder einen bestimmten äußeren Anreiz, z. B. Geld, Prestige oder Anerkennung, erreichen will (Rheinberg et al. 2012).

    Was allgemein zur Motivation gesagt werden kann, trifft ebenso auf Arbeitsmotivation zu. Dabei geht es konkret um den Kontext Arbeit und Beruf und somit um einen definierten Zielbereich. Im Kontext der Erwerbsarbeit stehen häufig fremdgesetzte Ziele und Anforderungen (z. B. Unternehmensziele, Arbeit zur Existenzsicherung) im Vordergrund, die wiederum mit persönlichen Zielen und Bedürfnissen (z. B. leistungsgerechte Bezahlung, Anerkennung) korrespondieren können. Somit liegt hier ein komplexeres Wechselspiel aus persönlichen Motiven, eigenen und fremdgesetzten Zielen vor, auf das gleichzeitig auch verschiedene soziale Faktoren wie Normen, Status oder regionale Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage Einfluss nehmen. Letztlich wird jede einzelne Person in ihrem individuellen Arbeitsverhalten von den unterschiedlichsten Gründen beeinflusst. Arbeitsmotivation ist somit ein außerordentlich komplexer Forschungsgegenstand.

    Diagnostik von Arbeitsmotivation (DIAMO)

    Der DIAMO-Fragebogen erfasst arbeitsbezogene Motive, Einstellungen und personengebundene Verhaltensmuster in der Selbstauskunft (Fiedler et al. 2005; Ranft et al. 2009). Der DIAMO beinhaltet die Konzepte Motivationales Selbstbild, Motivationale Handlungsentwürfe und Motivationale Passung. Den drei zentralen Konzepten sind zehn Skalen (Themenbereiche) mit insgesamt 57 Items zugeordnet. Die Antworten ermöglichen es, einen differenzierten Einblick in die arbeitsbezogene Motivationsstruktur von Rehabilitanden zu gewinnen. So können Stärken und Schwächen identifiziert und als diagnostische Ansatzpunkte für ggf. notwendige motivationale Interventionen oder Beratungen zur Motivationsförderung genutzt werden (Abb. 1).

    Abb. 1: Konzepte, Merkmale und Dimensionen des DIAMO-Fragebogens

    Das Motivationale Selbstbild erfasst personenseitige Aspekte, Dispositionen und Einstellungen zur Arbeit. Hierzu gehören  z. B.: das Neugiermotiv, das die Personen dazu anhält, Neues zu entdecken und durch explorierendes Verhalten sich neues Wissen anzueignen, das Anschlussmotiv, bei dem die sozialen Verbindungen und Kontakte zu den Kollegen im Vordergrund stehen, oder auch die Misserfolgsvermeidung, die motivationshemmende Aspekte erfasst. Die Motivationalen Handlungsentwürfe erfassen annähernde und vermeidende Verhaltensweisen, z. B. den Einsatz aktiver Problemlösungsstrategien und Merkmale wie „Anpacken“ und „Auf die Dinge Zugehen“ oder Verhaltensweisen wie Abwarten, Resignieren und Vermeiden. Das Konzept der Motivationalen Passung richtet den Fokus auf individuelle Erfahrungen und die subjektive Bewertung der Arbeitssituation am letzten bzw. aktuellen Arbeitsplatz. Die Fragen dienen primär einem Screening, um z. B. festzustellen, ob eine Passung zwischen den Bedürfnissen eines Rehabilitanden und den tatsächlichen Bedingungen am Arbeitsplatz vorliegt bzw. vorlag.

    Interpretation der DIAMO-Ergebnisse

    Für die Gesamtauswertung des DIAMO empfiehlt sich die Betrachtung der Skalenprofile, die sich auf das Motivationale Selbstbild und die Motivationalen Handlungsentwürfe beziehen. Die Ergebnisse werden mit clusteranalytisch gewonnenen Normprofilen verglichen, die ein Normal- und ein Risikoprofil unterscheiden.

    Das Normalprofil zeigt hohe Werte auf den motivationsförderlichen Skalen Einstellung zur Arbeit, Neugiermotiv, Einflussmotiv, Anschlussmotiv und Ziel-Aktivität sowie niedrige Werte bei den motivationshemmenden Skalen Misserfolgsvermeidung und Ziel-Inhibition. Das Risikoprofil zeigt hingegen niedrigere Werte auf den motivationsförderlichen Skalen und hohe Werte auf den motivationshemmenden Skalen. Für das Normal- und das Risikoprofil liegen Vergleichsdaten aus der medizinischen Rehabilitation (ohne Sucht) und auch aus der stationären Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten vor. Letztere wurden im Rahmen einer vor kurzem gemeinsam mit dem Deutschen Orden Ordenswerke Weyarn und dem MZG Bad Lippspringe durchgeführten DIAMO-Sucht-Studie erhoben (Christoffer et al. 2016).

    Im Folgenden sind exemplarisch zwei Profilverläufe aus der DIAMO-Sucht-Studie für den Bereich Motivationale Handlungsentwürfe (Annäherung vs. Vermeidung) gegenübergestellt. Die Abb. 2 zeigt einen Studienteilnehmer mit einem Ergebnisverlauf, der eher dem Normalprofil (grüne Punkte) entspricht. In der Selbstbeurteilung ist er im Arbeitsverhalten eher aktiv und aufgeschlossen und zeigt nur geringe Vermeidungstendenzen. Hier ist als Therapeut anzunehmen, dass sich der Rehabilitand in der Arbeitstherapie eher engagiert und motiviert zeigen wird.

    Abb. 2: Beispiel eines Rehabilitanden aus der DIAMO-Sucht-Studie mit hohem Annäherungs- und geringem Vermeidungsverhalten im Vergleich mit Normal- und Risikoprofil

    Im Gegensatz hierzu zeigt die Abb. 3 eine motivationshemmende Ausprägung, die dem Risikoprofil entspricht bzw. dieses noch unterschreitet (rote Punkte). Dieser Studienteilnehmer schätzt sich sehr gering zielaktiviert ein, was darauf hindeutet, dass er wenig Engagement und Aktivität zeigen wird, um seine Ziele zu erreichen. Ebenfalls erreicht er signifikant höhere Werte bei Ziel-Inhibition, was deutlich auf Resignation und Vermeidungsverhalten hinweist. Er wirkt also eher wie ein Mensch, der sich nicht (mehr) aktiv in Arbeit einbringt und sich aus dem Arbeitskontext zurückgezogen hat. Hier stellt sich als Therapeut die Frage, ob und mit welchen Zielen dieser Rehabilitand eigentlich noch verbunden ist.

    Abb. 3: Beispiel eines Rehabilitanden aus der DIAMO-Sucht-Studie mit geringem Annäherungs- und hohem Vermeidungsverhalten im Vergleich mit Normal- und

    An diesen kurzen Beispielen soll deutlich werden, dass ein Profilverlauf an sich informativ ist, da er einen Teil der arbeitsbezogenen motivationalen Selbstbeurteilung des Rehabilitanden darstellt und schon die motivationalen Grundtendenzen wie Vermeidungs- und Annäherungsmotivation sichtbar macht. Gleichzeitig werden aber im therapeutischen Kontext weitere Fragen mit Klärungsbedarf aufgeworfen.

    Implikationen für die therapeutische Beratung

    Der DIAMO-Fragebogen (57 Items) und eine Auswertungshilfe sind im Internet (www.zazo-i.de) frei zugänglich. Aufgrund seiner relativen Kürze, der vorhandenen Vergleichsprofile und Interpretationshilfen ist er in der Praxis ökonomisch einsetzbar (Durchführung und Auswertung ca. 15 Minuten). Bei der Bewertung der DIAMO-Ergebnisse eines Klienten ist es sinnvoll, die gewonnenen Informationen aus der Selbstbeurteilung mit der Einschätzung der Behandler in Beziehung zu setzen. Der Berater/Therapeut kann bezüglich der Motivationslage der Klienten entweder zu einer übereinstimmenden oder aber aufgrund von Beobachtungen während der Behandlung auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung kommen. Der Abgleich kann als eine Orientierung für weiterführende, ressourcenorientierte Interventionen im Behandlungssetting bzw. für den Prozess der beruflichen Eingliederung genutzt werden (Tab. 1 und 2; in Anlehnung an Flückiger & Wüsten 2015).

    Tab. 1: Motivationsförderliche Skalen: Neugier, Anschluss, Einfluss, Arbeitseinstellung, Ziel-Aktivität
    Tab. 2: Motivationshemmende Skalen: Misserfolgsvermeidung, Ziel-Inhibition

    Bestehen zwischen Fremd- und Selbstbeurteilung seitens Therapeut und Rehabilitand kongruente Einschätzungen, kann dies in der Arbeitstherapie offen zurückgemeldet und bestärkt bzw. bei ungünstiger Motivlage (z. B. hohes Vermeidungsverhalten) validiert werden. Bestehen Abweichungen in der Fremd- und Selbsteinschätzung, z. B. wenn sich ein Rehabilitand als stark anschlussmotiviert erlebt, jedoch auf den Arbeitstherapeuten zurückgezogen und in der Gruppe isoliert wirkt, besteht hier ein Einstiegsfenster, um mit dem Rehabilitanden über das Thema Arbeit und Arbeitsumfeld (Motivationale Passung) ins Gespräch zu kommen. Diese Rückmeldeprozesse haben ressourcenaktivierende Elemente, da Stärken des Rehabilitanden gespiegelt werden und mögliche Schwierigkeiten thematisiert und ggf. problemlöseorientiert angegangen werden können.

    Die im Rahmen der DIAMO-Sucht-Studie befragten Klinikmitarbeiter schätzten auch die grafische Aufbereitung der Ergebnisse als eine praktikable Möglichkeit ein, um die individuellen Angaben im DIAMO-Fragebogen schnell und verständlich an den Rehabilitanden zurückzumelden. Als besonders förderlich wurde u. a. angemerkt, dass auffällige Werte auf den ersten Blick erkennbar waren und als Ansatzpunkte dafür dienten, die arbeitsbezogenen Motivlagen mit den Patienten zu besprechen.

    In der Evaluationsstudie zeigten ca. 30 Prozent der antwortenden Rehabilitanden eine erhöhte arbeitsbezogene Vermeidungsmotivation. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein (z. B. schlechte Erfahrungen mit Kollegen und Vorgesetzten, geringe Gratifikation, hohe Arbeitsbelastung, Krankheit usw.), was aber trotzdem die Frage aufwirft, wie verbunden sich diese Gruppe noch mit ihren derzeitigen beruflichen Zielen fühlt. Bekannt ist, dass fehlende Zielverbundenheit (Commitment) dazu führt, dass die Zielverfolgung nach Misserfolg schneller aufgegeben wird und in ein Vermeidungsverhalten führen kann (Brunstein 1995). Auf Grundlage dieser Beobachtungen im DIAMO wurde das Motivationstraining Zielanalyse und Zieloperationalisierung, kurz: ZAZO entwickelt, um persönliche arbeitsbezogene Ziele systematisch mit Rehabilitanden zu klären und ggf. neue Ziele zu entwickeln (Abb. 4).

    Abb. 4: Konzeptioneller Ansatzpunkt des ZAZO-Gruppentrainings

    Das ZAZO-Gruppentraining

    Das Motivationstraining ZAZO stellt ein ressourcenorientiertes Gruppentraining dar, das die Klärung individueller berufsbezogener Ziele und die Unterstützung zur Umsetzung dieser Ziele anstrebt (Fiedler et al. 2011).

    Das ZAZO-Gruppentraining basiert auf vier interaktiven und aufeinander aufbauenden Modulen zu je ca. 90 bis 100 Minuten. Die aus der Praxis bewährte Gruppengröße für einen Trainer liegt zwischen sechs und acht Teilnehmern. In der praktischen Durchführung haben sich jeweils zwei Sitzungen pro Woche etabliert, jedoch lässt sich das Training inhaltlich wie auch zeitlich variabel kürzen oder aufteilen.

    Die Teilnehmer werden während des Trainings zu einer multidimensionalen Bearbeitung und Auseinandersetzung mit ihren persönlich gesetzten arbeitsbezogenen Zielen angeleitet. Das Training zielt auf die Generierung neuer beruflicher Perspektiven und Anliegen ab und fördert motivationale und volitionale (Wille zur Umsetzung) Kompetenzen, so dass eine berufliche Reintegration realistischer wird (Abb. 5). Durch die Vermittlung von Strategien zur Zielverfolgung und Zielbindung wird ein konstruktiver Umgang mit Hürden und Schwierigkeiten auf dem Weg zur Zielerreichung ermöglicht. Die konkrete Zielanalyse steigert die Motivation, die Ziele, die mit einem höheren Wohlbefinden und einer besseren Lebenszufriedenheit verknüpft sind, umzusetzen.

    Abb. 5: Ablauf des ZAZO-Gruppentrainings

    Folgende Inhalte werden im Training vermittelt und bearbeitet:

    • Entwicklung berufsbezogener Wünsche und Anliegen,
    • Setzen von Zielen,
    • Aufbau von Commitment (Selbstverpflichtung) und Zielverfolgungsstrategien,
    • Umgang mit Hindernissen,
    • Ablösen von unrealistischen Zielen,
    • Erkennen von Zielkonflikten,
    • Entwerfen von Zielhierarchien und
    • Adaption an die positiven und ggf. negativen Zielkonsequenzen.

    Zusätzlich erhalten die Teilnehmer Schulungsmaterial, welches sie bei der Durchführung anleitet und zur aktiven Mitarbeit anregt, welches zur Protokollierung der persönlichen Zielstrukturen dient und später zum Nachschlagen genutzt werden kann.

    In der Überprüfung der Wirksamkeit konnte gezeigt werden, dass das Training die berufliche Motivation fördert und insbesondere die subjektive Prognose der Erwerbsfähigkeit verbessert (Hanna et al. 2010). Rehabilitanden aus der psychosomatischen und orthopädischen Rehabilitation wurden direkt nach dem Training und nach sechs Monaten befragt, wie sie den Mehrwert der ZAZO-Maßnahme einschätzten und ob sie die im Training entwickelten Ziele noch verfolgten bzw. bereits umgesetzt hätten (Hinrichs et al. 2014). Circa 60 Prozent der Teilnehmer konnten klarere berufsbezogene Zielvorstellungen im Training entwickeln, und etwa 65 Prozent der Teilnehmer stimmten dem Nutzen des ZAZO-Trainings eher bzw. voll zu (Abb. 6).

    Abb. 6: Einschätzung der ZAZO-Teilnehmer direkt nach dem Training (N=174)

    Nach sechs Monaten berichteten etwa 30 Prozent der antwortenden ZAZO-Teilnehmer, dass sie ihre Ziele aus dem Training vollständig und etwa 40 Prozent, dass sie ihre Ziele teilweise realisiert hätten. Circa 70 Prozent der Teilnehmer verfolgten nach eigenen Angaben weiterhin ihre gesetzten Ziele (Abb. 7).

    Abb. 7: Einschätzung der ZAZO-Teilnehmer nach sechs Monaten (N=75)

    Fazit

    Es besteht Einigkeit darüber, dass im rehabilitativen Kontext die Auseinandersetzung mit Arbeitsmotivation ein wichtiger Baustein in der Arbeitstherapie ist. Durch eine geeignete Diagnostik lassen sich hemmende und förderliche Motivlagen identifizieren, die in der Behandlung gezielt ressourcenaktivierend genutzt oder problemlöseorientiert bearbeitet werden können. Zu bedenken ist aber, dass Arbeitsmotivation zwar eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass Rehabilitanden sich mit arbeits- und berufsbezogenen Themen auseinandersetzen, sie entscheidet jedoch aufgrund ihrer Komplexität und Abhängigkeit von psychosozialen und sozialmedizinischen Faktoren nicht alleine darüber, ob ein Rehabilitand erfolgreich in Arbeit kommt. Es ist wichtig, die Förderung von Arbeitsmotivation nicht als isolierte Maßnahme zu verstehen, sondern immer in das gesamte arbeitstherapeutische Behandlungskonzept zu integrieren.

    Aufgrund der positiven Ergebnisse in den Evaluationsstudien zum ZAZO-Training werden von der  Arbeitsgruppe, die ZAZO entwickelt hat, auch nach Abschluss der Projektförderphase weiterhin train-the-trainer-Workshops zu den Themen Diagnostik und Förderung von Arbeitsmotivation angeboten.

    Sobald der Geist auf ein Ziel gerichtet ist, kommt ihm vieles entgegen.
    J. W. von Goethe

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. rer. medic. Jens Hinrichs, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    jens.hinrichs@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de
    http://zazo-i.de

    Dr. Jens Hinrichs (*1972) schloss 2005 das Studium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Osnabrück ab. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster. Er promovierte zum Thema berufsspezifischer Belastungen von Polizeibeamten in NRW. In der Rehabilitationsforschung liegen seine Schwerpunkte in den Bereichen Arbeitsmotivation und Ressourcen sowie in der Entwicklung von Workshops zur Förderung der Ressourcenorientierung von Mitarbeitern und Rehabilitanden im Behandlungsprozess.

    Andrea Christoffer, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    andrea.christoffer@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de

    Andrea Christoffer (*1987) schloss 2013 das Diplomstudium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück ab. Seitdem befindet sie sich in der fünfjährigen berufsbegleitenden Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin an der Universität Osnabrück. Seit 2013 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster tätig. Sie arbeitet im Kontext rehabilitationswissenschaftlicher Forschungsprojekte zu den Themen der Diagnostik von Arbeitsmotivation und der Förderung ressourcenaktivierender Behandlungsmethoden im Reha-Kontext.

    Univ.-Prof. Dr. Dr. med. Gereon Heuft
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    gereon.heuft@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de

    Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft (*1954) ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychoanalytiker (Lehr- und Kontrollanalytiker der DGPT). Seit 1999 Lehrstuhlinhaber für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Er ist der ärztliche Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (WBP) Bundesärztekammer/Bundespsychotherapeutenkammer, Schriftleiter der „Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ sowie in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen und berufspolitischen Funktionen. Forschungsschwerpunkte sind die Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie, die Rehabilitationsforschung und die Psychotraumatologie.

    Dr. rer. medic. Rolf G. Fiedler, Dipl.-Psych.
    Psychologischer Psychotherapeut
    Psychotherapeutische Praxis
    Marktstraße 15
    48607 Ochtrup
    www.therapier.bar

    Dr. Rolf G. Fiedler (*1967) war wissenschaftlicher Mitarbeiter, Promovend und postdoktoral an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, 2002 bis 2008 angestellt; 2009 bis heute als Honorarkraft. 2006 bis 2011 Tätigkeit in der LWL-Klinik Münster im psychologischen Dienst der Suchtambulanz. 2011 bis 2016 im psychologischen Dienst bei Mediant GGZ, Enschede (Niederlanden), am Centrum voor Ontwikkelingsstoornissen (COS Twente), Schwerpunkt Begleitung, Coaching und Psychotherapie von Menschen mit AD(H)S und Autismus-Spektrum-Störungen. Seit Anfang 2017 ist er in eigener psychotherapeutischer Privatpraxis tätig (www.therapier.bar). Berufs- und Heilerlaubnis (BIG-Registrierung) als Psychotherapeut und Gesundheitspsychologe (www.bigregister.nl). Approbation als Psychologischer Psychotherapeut mit Fachkunde in Verhaltenstherapie, eingetragen im Arztregister der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (www.kvwl.de).

    Literatur:
    • Bengel J, Beutel M, Broda M, Haag G, Härter M, Lucius-Hoene G, Muthny FA, Potreck-Rose F, Stegie R, Weis J (2003). Chronische Erkrankungen, psychische Belastungen und Krankheitsbewältigung – Herausforderungen an eine psychosoziale Versorgung in der Medizin. Psychother Psych Med.; 53: 83-93.
    • Brunstein, JC (1995). Motivation nach Mißerfolg – Die Bedeutung von Commitment und Substitution. Göttingen: Hogrefe.
    • Christoffer A, Fiedler R, Heuft G; Reimer A, v. Einsiedel R, Hinrichs J (2016). Diagnostik von Arbeitsmotivation: Eine indikationsspezifische Validierung des DIAMO-Fragebogens im Bereich der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten. 25. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium: 29.02.-02.03.2013 in Aachen. DRV-Schriften, Bd. 109, S. 60-61.
    • Fiedler RG, Ranft A, Schubmann C, Heuft G, Greitemann B (2005). Diagnostik von Arbeitsmotivation in der Rehabilitation – Vorstellung und Befunde zur faktoriellen Struktur neuer Konzepte. Psychother Psych Med, 55, 476-482.
    • Fiedler RG, Hanna R, Hinrichs J, Heuft G. (2011). Förderung beruflicher Motivation – Ein Trainingsprogramm für die Rehabilitation. Weinheim: Beltz.
    • Flückiger C, Wüsten G (2015). Ressourcenaktivierung. Ein Manual für Psychotherapie, Coaching und Beratung. Bern: Huber.
    • Hanna R, Fiedler RG, Dietrich H, Greitemann B, Heuft G. (2010). Zielanalyse und Zieloperationalisierung (ZAZO): Evaluation eines Gruppentrainings zur Förderung beruflicher Motivation. Psychother Psych Med, 60:316-325.
    • Hinrichs J, Fiedler RG, Hawener I, Greitemann B, Heuft G (2014). Förderung beruflicher Motivation: Das ZAZO-Gruppentraining in der Routineversorgung der medizinischen Rehabilitation. Ergebnisse aus der Implementierungsstudie. 23. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium: 10.03.-12.03.2014 in Karlsruhe. DRV-Schriften, Bd. 103, S. 226-228.
    • Kastner M, Hagemann T, Kliesch G (2005). Arbeitslosigkeit und Gesundheit – Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Lengerich: Pabst Science Publishers.
    • Lewin K (1936). Principles of topological psychology. New York: McGraw-Hill.
    • Ranft A, Fiedler RG, Greitemann B, Heuft G (2009). Optimierung und Konstruktvalidierung des Diagnostikinstruments für Arbeitsmotivation (DIAMO). Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 59, 21-30.
    • Rheinberg F, Vollmeyer R (2012). Motivation (8. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz

    Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO, 2005) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/WHO) erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen. Mit der ICF liegt ein personenzentriertes und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt berücksichtigendes Instrument der Hilfeplanung vor, mit dem sich alltagsrelevante Fähigkeiten und Einschränkungen in vereinheitlichter Sprache konkret beschreiben lassen.

    Durch eine detaillierte Klassifikation von Beeinträchtigungen ist es möglich, den Bedarf an professioneller Hilfe konkret zu beschreiben und eine passgenaue Hilfeplanung einzuleiten. Die ICF berücksichtigt individuelle Ressourcen und hat gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel, zwei Aspekte, denen auch in der Arbeit mit Suchtkranken eine entscheidende Bedeutung zukommt. Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen erreichen nicht zuletzt aufgrund einer besseren medizinischen und psychosozialen Betreuung ein durchschnittlich höheres Lebensalter. Abhängigkeitserkrankungen gehen oftmals mit funktionalen Problemen und Einschränkungen im Bereich der Alltagsbewältigung, der sozialen Beziehungen und der Erwerbstätigkeit einher (Schuntermann, 2011). Mit der Dauer der Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden physischen und psychischen Begleiterscheinungen steigen auch die Beeinträchtigungen von individuellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten. Im Bereich der Suchthilfe ist eine ausschließlich auf Psychodiagnostik basierende Betreuung/Behandlung in der Regel nicht ausreichend, da der Hilfebedarf der Klientel nicht adäquat abgebildet wird. Die Diagnose Sucht sagt alleine wenig über die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen aus. Selbst beim Vorliegen weiterer Diagnosen bei derselben Person lassen sich nur schwer valide Aussagen hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ableiten. Instrumente wie der Addiction Severity Index (ASI), der lange Zeit zur Standarddokumentation des Suchthilfeträgers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) in Frankfurt am Main zählte, liefern zwar Hinweise auf Belastungen und Beeinträchtigungen, jedoch keine auf den konkreten Hilfebedarf.

    ICF in der Suchthilfe

    Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen, die die Sucht auf das Leben eines Betroffenen ausübt, also auf die Mobilität, die Kommunikation, die Selbstversorgung, das häusliche Leben, die Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und das Erwerbsleben. Die Gesamtheit der Auswirkungen sowie das Zusammenwirken von Aktivitätsbeeinträchtigungen und Rollenanforderungen sollten im Rahmen einer professionellen Hilfeplanung berücksichtigt werden. Eine wirksame Rehabilitation benötigt umfassende Daten, um die Betreuung/Behandlung planen zu können. „Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen.“ (Fleischmann, 2011)

    Es geht nicht darum, nur Defizite zu lokalisieren, sondern auf der Grundlage der individuellen Ressourcen des Beurteilten die soziale Reintegration und gesellschaftliche Teilhabe unter Berücksichtigung der aktuellen Fähigkeiten zu fördern. Eine „Beeinträchtigung“ wird im Rahmen des ICF-Gesundheitsbegriffes nicht als Eigenschaft der Person interpretiert, sondern als funktionale Störung im Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt, was die Veränderbarkeit (gesundheits-)politischer und sozialer Verhältnisse miteinschließt.

    Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung, einem der zentralen Ziele der medizinischen Rehabilitation, wie es auch in den Empfehlungen zur „Beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) dargestellt wird (Koch, 2015). Wenn von Erwerbsbezug in der Rehabilitation die Rede ist, dann spielen berufsspezifische Fähigkeitsprofile eine wichtige Rolle, die sich mithilfe der ICF in sehr konkreter Weise abbilden und für den beruflichen Wiedereingliederungsprozess nutzbar machen lassen.

    Von Vorteil ist die ICF weiterhin in professionstheoretischer Hinsicht. Die einheitliche Sprache ermöglicht eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Einrichtungen, Disziplinen und Versorgungsbereichen sowie die Evaluation der Hilfemaßnahmen hinsichtlich der Zielerreichung und der Verringerung des Schweregrades der Beeinträchtigungen. Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden ‚Sprache‘ mit der Möglichkeit, das medizinische, suchtpsychiatrische und suchthilfespezifische Versorgungssystem stärker zu integrieren. Damit lässt sich eine bessere Nutzung von Synergien erreichen statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen.

    Vor diesem Hintergrund wird seit April 2015 in den Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) der ICF-basierte Fremdratingbogen Mini-ICF-APP („Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen“; Linden, Baron, Muschalla, 2009) eingesetzt. Erste Erfahrungen mit diesem Instrument werden im Folgenden vorgestellt.

    Datenerhebung und Auswertung

    Ziel des Einsatzes des Mini-ICF-APP ist es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Teilhabe- und Aktivitätsbeeinträchtigungen im Vordergrund der betreuten/behandelten Klientel stehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, individuelle und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung weiterzuentwickeln.

    Zudem soll festgestellt werden, ob zwischen unterschiedlichen Einrichtungstypen (stationäre Rehabilitation, ambulante Betreuung/Behandlung, Betreutes Wohnen), unterschiedlichen Konsummustern und den Konsument/innen verschiedener Hauptsuchtmittel (Cannabis, Opiate, Stimulanzien) signifikante Unterschiede hinsichtlich der im Alltag auftretenden Beeinträchtigungen deutlich werden. Am Ende des Artikels werden die Ergebnisse mit Blick auf die Suchthilfepraxis zur Diskussion gestellt.

    Das Instrument: Mini-ICF-APP

    Zwischenzeitlich liegen einige ICF-basierte Instrumente für den Indikationsbereich psychische Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen vor (Breuer, 2015). Eines dieser Instrumente ist das Mini-ICF-APP, ein Fremdbeurteilungsinstrument mit 13 Items zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. Die maßgebliche Bewertung des jeweiligen Klienten bzw. der Klientin in den 13 Fähigkeitsdimensionen findet durch den geschulten Bezugsbetreuer/die geschulte Bezugsbetreuerin statt. Beim Ausfüllen des Fragebogens werden alle zur Verfügung stehenden Informationen genutzt: anamnestische Angaben, fremdanamnestische Angaben, psychologische und testpsychologische Befunde ebenso wie Beobachtungen der Bezugsbetreuer/innen oder Mitteilungen durch den Klienten/die Klientin. Das Verfahren ermöglicht die einfache Erfassung des Hilfebedarfs in wesentlichen Bereichen. So kann mit dem Instrument eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß die betreffende Person in ihrer Fähigkeit zur Ausübung lebens- und berufsrelevanter Tätigkeiten beeinträchtigt ist.

    Das Mini-ICF-APP liefert neben der Erfassung des Hilfebedarfs auch die Möglichkeit, über eine Wiederholungsmessung die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu überprüfen. Die Skalierung zur Einschätzung der Fähigkeitseinschränkungen ist wie folgt strukturiert: 0 = keine Beeinträchtigung, 1 = leichte Beeinträchtigung, 2 = mittelgradige Beeinträchtigung, 3 = erhebliche Beeinträchtigung, 4 = vollständige Beeinträchtigung. Zusätzlich zum Mini-ICF-APP wird ein Deckblatt eingesetzt, das von JJ extra für den Arbeitsbereich der Suchthilfe entwickelt wurde. Mit dem Deckblatt werden soziodemografische Angaben, Angaben zum Erwerbsleben und zum Suchtmittelkonsum erfasst.

    Beschreibung der Stichprobe

    Seit Mitte 2015 wird in allen Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) das Mini-ICF-APP eingesetzt. Dazu zählen stationäre und ambulante Suchthilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen des Betreuten Wohnens. Der Rücklauf verwertbarer Fragebögen lag bis zum September 2016 bei N=1.243. Alle Bögen wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es gab keine Ausschlusskriterien.

    Die ICF-basiert beurteilten Klient/innen aller JJ-Einrichtungen sind im Durchschnitt 35,3 Jahre alt. 78,1 Prozent sind männlich, 21,9 Prozent weiblich. Nur 26,4 Prozent gingen im letzten Jahr einer beruflichen Tätigkeit nach. Eine psychiatrische Zusatzdiagnose liegt bei 31,2 Prozent der Personen vor. Die durchschnittliche Dauer der Abhängigkeit beträgt 14,9 Jahre. 38,4 Prozent der Befragten wurden zum Zeitpunkt der Messung substituiert. Das am häufigsten genannte Hauptsuchtmittel ist Heroin (45,9 Prozent), gefolgt von Cannabis (20,6 Prozent), Alkohol (13,9 Prozent), Amphetaminen (7,3 Prozent), Kokain (5,3 Prozent) und Sonstige (2,5 Prozent).

    Ergebnisse

    Im Folgenden (Tabelle 1) werden die Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen dargestellt (N=1.243).

    Tabelle 1: Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen

    Die Mittelwerte liegen größtenteils zwischen einer leichten und mittelgradigen Beeinträchtigung. Das impliziert, dass bei einem Teil der untersuchten Gruppe deutliche Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, die in vielen Fällen interventionsbedürftig sind. Am höchsten sind die Beeinträchtigungen in den Bereichen „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „ Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“. Vergleicht man die Beeinträchtigungswerte mit den Daten von Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken (N=213; Linden et al., 2015), die in den empirischen Studien zur Entwicklung des Mini-ICF-APP untersucht wurden, so treten die hohen Fähigkeitsbeeinträchtigungen der Klientel aus den Suchthilfeeinrichtungen von JJ noch deutlicher hervor. Während der Globalwert der 13 Items in der JJ-Untersuchung bei 1,58 liegt, ist er in der genannten Vergleichsgruppe mit 0,84 nur etwa halb so hoch.

    Beispiel: Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    Am Beispiel des Items „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, das am höchsten geratet wurde, lässt sich aufzeigen, wie schwer die Beeinträchtigungen konkret eingeschätzt wurden (Tabelle 2).

    Tabelle 2: Einschätzung des Items Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    34,6 Prozent der beurteilten Klient/innen sind in diesem Bereich mittelgradig beeinträchtigt, 21,5 Prozent sogar erheblich bzw. 3,7 Prozent vollständig. Die Einschätzung „mittelgradige Beeinträchtigung“ verweist auf „deutliche Probleme, die beschriebenen Fähigkeiten/Aktivitäten auszuüben“ (Linden et al., 2015, S. 5). Erhebliche und vollständige Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen bedeuten, dass die Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung so auffällig sind, dass die Unterstützung von Dritten notwendig ist.

    Bezogen auf das Item „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ bedeutet eine mittelgradige Beeinträchtigung nach der Definition der Autor/innen des Mini-ICF-APP: „Der Proband kann keine volle Leistungsfähigkeit über die ganze Arbeitszeit hin zum Einsatz bringen. Sein Durchhaltevermögen ist deutlich vermindert. Durch Nichterfüllung von Aufgaben ergibt sich ein reduziertes Leistungsniveau und gegebenenfalls Ärger mit dem Arbeitgeber oder Partner.“ Eine erhebliche Beeinträchtigung (21,5 Prozent der Klient/innen) bedeutet: „Um die Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, ist immer wieder Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder vom Partner erforderlich, die ihn auffordern oder ermutigen, bei der Sache zu bleiben oder weiterzumachen, oder die selbst gelegentlich eingreifen und zeitweise Arbeiten von ihm übernehmen.“ (Linden et al., 2015, S. 14)

    Folglich besteht in vielen Fällen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des individuellen Leistungsvermögens und vor allem auch hinsichtlich der Eigeninitiative. Dieser Unterstützungsbedarf ist in der individuellen Hilfeplanung zu berücksichtigen. Die Kenntnis solcher Fähigkeitsbeeinträchtigungen soll nicht nur zur Auswahl adäquater Hilfemaßnahmen führen, sondern auch zur realistischen Einschätzung der Fähigkeiten des Betreffenden beitragen, um zu verhindern, dass durch zu hohe Erwartungen – insbesondere im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung – strukturelle Überforderungssituation entstehen, die ihrerseits neue negativen Auswirkungen nach sich ziehen.

    Eine interne JJ-Untersuchung (N=189) mit dem ICF-basierten Selbstrating-Instrument ICF AT 50-Psych (Nosper, 2008), das ebenfalls die Dimensionen der Aktivität und Partizipation abbildet, zeigt ferner, dass die befragten Patient/innen sich selbst als deutlich weniger beeinträchtigt einschätzen. Mit Blick auf den therapeutischen Alltag bietet sich an, die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Patient/innen und der Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen zu thematisieren und die unterschiedlichen Einschätzungen der Fähigkeitsdimensionen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.

    Gruppenunterschiede

    Das Geschlecht und das Alter haben auf den Mini-ICF-Globalwert keinen signifikanten Einfluss, lediglich in einzelnen Bereichen: Männer sind im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ (1,47 vs. 1,17) sowie „Planung und Strukturierung von Aufgaben“ (1,71 vs. 1,43) höher belastet. Ältere haben höhere Beeinträchtigungen im Bereich „Selbstpflege“ und „Mobilität und Verkehrsfähigkeit“. Jüngere haben im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ größere Schwierigkeiten. Der Zusammenhang beschränkt sich auf einzelne Items. Einen globalen Einfluss auf den Schweregrad hat die Dauer der Abhängigkeit. Zwölf der 13 Items korrelieren in signifikanter Weise. Lediglich beim Item „Selbstbehauptungsfähigkeit“ ist die Dauer der Abhängigkeit nicht entscheidend.

    Tabelle 3: Einfluss der Dauer der Abhängigkeit auf den Beeinträchtigungsgrad

    Einfluss auf den Globalwert hat auch der Berufsstatus: Diejenigen, die während der letzten zwölf Monate vor Behandlungsbeginn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, weisen signifikant höhere Beeinträchtigungswerte auf. Ferner korrelieren die BORA-Stufen, denen insbesondere im Rahmen der stationären Rehabilitation eine wachsende Bedeutung zukommt, mit dem Schweregrad der ICF-spezifisch gemessenen Beeinträchtigungen.

    Globalwerte nach Einrichtungstypen

    Der Einsatz ICF-basierter Instrumente soll zur verbesserten Hilfeplanung beitragen. Insofern wurde auch untersucht, ob in verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und Hilfsangeboten spezifische Beeinträchtigungen festzustellen sind (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Globalwerte in verschiedenen JJ-Einrichtungen

    Die Werte entsprechen den Erwartungen und zeigen, dass die Einschätzungen in realistischer Weise erfolgen, was auch hohe Interrater-Reliabilität bestätigt. Ambulant betreute Klient/innen sind weniger beeinträchtigt als stationär Behandelte, was der Indikationsstellung entspricht. Besonders hoch sind die Beeinträchtigungswerte im Drogennotdienst, einer Einrichtung mit ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten, und in der Tagesstätte Rödelheimer Bahnweg. Zur Zielgruppe dieser Einrichtung zählen suchtkranke Männer und Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die in einem schlechten Allgemeinzustand und/oder chronisch krank sind und bei denen auf Grund der chronifizierten Suchtmittelabhängigkeit die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit meist nicht mehr möglich erscheint.

    Praktisch hilfreich wird das Ganze, wenn man sich die Einrichtungswerte in den einzelnen Fähigkeitsdimensionen anschaut. Unterschiede in den einzelnen Items zeigen an, wo der einrichtungsspezifische Hilfebedarf am größten ist. In der Einrichtung Rödelheimer Bahnweg mit dem höchsten Globalwert (2,18) liegt die Beeinträchtigung im Bereich „Proaktivität und Spontanaktivität“ bei 2,32. Dies verdeutlicht nicht nur, in welchem Bereich große Schwierigkeiten bestehen, sondern verweist zugleich darauf, dass Unterstützungs- und Förderungsleistungen im Bereich der Eigeninitiative, der häuslichen Aktivitäten und der Freizeitgestaltung anstehen.

    Im Betreuten Wohnen ist der Beeinträchtigungswert im Bereich „Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen“ mit 1,85 am höchsten. Der Verlust stützender familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und fortwährende gesellschaftliche Isolation prägen nicht selten die Lebenslage von langjährig Abhängigen. Im Betreuten Wohnen soll solchen Vereinsamungstendenzen entgegengewirkt und die gesellschaftliche Reintegration bewerkstelligt werden. Entsprechende Hilfsangebote sind zu forcieren.

    In der stationären Rehabilitation wurden die höchsten Beeinträchtigungswerte im Bereich „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ (2,06) festgestellt, was auf die Ambivalenz in Bezug auf Abstinenzbemühungen verweist. Bei der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit geht es darum, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, rational zu urteilen und unter Abwägung der Sachlage differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen – Fähigkeiten also, die im Falle einer Abhängigkeitserkrankung stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die anspruchsvolle und mitunter von Rückschlägen begleitete Aufgabe, sich gegen die Sucht und für ein abstinentes Leben zu entscheiden, scheint hier zum Ausdruck zu kommen.

    Hauptsubstanz

    Untersucht wurde außerdem, ob sich im Zusammenhang mit dem Hauptsuchtmittel Unterschiede hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades feststellen lassen (Tabelle 4). Verglichen wurden die Konsument/innen der Hauptsuchtmittel Opiate, Cannabis und Stimulanzien (Amphetamine und Kokain).

    Tabelle 4: Einfluss des Hauptsuchtmittels auf den Beeinträchtigungsgrad

    Auffällig ist zunächst, dass sich die Globalwerte kaum unterscheiden. Diese liegen bei 1,47 (Opiate), 1,44 (Cannabis) und 1,35 (Stimulanzien). Überraschend sind die Ergebnisse, weil in der Bezeichnung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen die Vorstellung mitschwingt, dass Cannabis eine in den Auswirkungen zu vernachlässigende Droge sei. Dies ist nach den hier angegebenen Werten nicht der Fall, im Gegenteil: Mehrere Beeinträchtigungen der Cannabiskonsument/innen werden im Vergleich mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit sogar höher eingeschätzt (s. Markierung in Tabelle 4).

    Verlaufsmessungen

    Das Mini-ICF-APP ermöglicht die Evaluation der Hilfemaßnahmen. Durch Verlaufsmessungen kann festgestellt werden, ob es zu Veränderung des Beeinträchtigungsgrades in den jeweiligen Fähigkeitsdimensionen kommt. Sofern der Klient/die Klientin längere Zeit in der Einrichtung betreut oder behandelt wird, findet drei bis fünf Monate nach der Ersterhebung eine Wiederholungsmessung statt. Eine erste Auswertung der Verlaufsmessung zeigt positive Veränderungen (Tabelle 5). Bei denjenigen, die eine längere Behandlung/Betreuung in Anspruch nehmen, bilden sich in allen Bereichen positive Trends ab, die – bis auf die Verkehrsfähigkeit – signifikant sind.

    Tabelle 5: Auswertung der Wiederholungsmessung

    Zusammenfassung

    Als Resümee der Einführung des Mini-ICF-APP ist zunächst festzuhalten, dass es einen erfreulich hohen Rücklauf von Fragebögen gibt. Das spricht nicht nur für die Akzeptanz des Instruments, sondern auch für seine Praktikabilität. Die Bögen sind weitgehend korrekt ausgefüllt, es gibt wenig Datenverlust.

    Die untersuchte Gruppe zeigt deutlich höhere Beeinträchtigungswerte als die Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken ohne Suchtdiagnose. Die Beeinträchtigungen sind in den Bereichen „Widerstand- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ am höchsten. Geschlechts- und altersspezifische Differenzen gibt es keine wesentlichen. Die Dauer der Abhängigkeit beeinflusst den Schweregrad der gemessenen Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen in direkter Weise. Berufsstatus und Schweregrad der Beeinträchtigung korrelieren ebenfalls. Auffällig hoch waren die Beeinträchtigungswerte der Cannabiskonsument/innen, was sich mit anderen Untersuchungen in diesem Bereich deckt. In den Einrichtungstypen lassen sich unterschiedliche Belastungen feststellen. Verlaufsmessungen zeigen, dass es zu Verbesserungen während der Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt.

    Diskussion

    1.) Das ICF-basierte Instrument Mini-ICF-APP ist im Suchtbereich einfach anwendbar, das bestätigen die Rückläufe sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen. Insgesamt bietet die Implementierung des Mini-ICF-APP ein positives Beispiel der ICF-Umsetzung im Suchtbereich. Die standardisierte Routinebeschreibung der funktionalen Gesundheit stellt eine sinnvolle Ergänzung zur medizinischen und psychologischen Diagnostik dar.

    2.) Der Hilfebedarf kann konkret beschrieben werden. Es werden Fähigkeitsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Aktivitäten und Teilhabe erfasst, beschrieben und bei der Betreuung bzw. Behandlung berücksichtigt, die bei einer rein medizinischen oder psychologischen Diagnostik nicht im Fokus stehen. Es kann auf der Grundlage des umfangreichen Datenmaterials differenziert werden nach:

    • Konsummustern
    • Dauer der Abhängigkeit
    • Einrichtungstypen
    • BORA-Stufen

    Die Aufbereitung der vereinsweit gesammelten Daten ermöglicht den Datenvergleich zwischen verschiedenen Behandlungsgruppen und Gesundheitsbereichen.

    3.) Die Beschreibung und Differenzierung des Hilfebedarfs erleichtert nicht nur die individuelle Hilfeplanung, sondern ermöglicht es auch, diesen Hilfebedarf bei der Etablierung schwerpunktmäßiger Angebote zu berücksichtigen. Mittelfristiges Ziel ist eine verbesserte Zuweisungspraxis bei der Weitervermittlung in passgenaue Behandlungsangebote. ICF-basierte Instrumente sollten bei der Feststellung des adäquaten Behandlungsbedarfs standardmäßig eingesetzt werden.

    4.) Mit Blick auf die zunehmend wichtiger werdende Erwerbsorientierung und berufliche Wiedereingliederung der Klientel in der Suchthilfe lassen sich mit dem Mini-ICF-APP die aus einer Krankheit resultierenden Fähigkeits- und Aktivitätsstörungen – im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen einer beruflichen Tätigkeit – konkret beschreiben. Dadurch, dass die Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF abgebildet wird, können Fähigkeiten beurteilt werden, die im Erwerbsleben zentral sind.

    5.) Die Aktivitäten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen eines Suchtkranken hängen stark mit seinem Konsumstatus zusammen. Dadurch, dass das Mini-ICF-APP keine explizit suchtspezifischen Items beinhaltet, kann der Einfluss des Konsumverhaltens auf die aktuellen Aktivitäten nicht abgebildet werden. Abhilfe schafft das zusätzlich eingesetzte JJ-Deckblatt. Außerdem entwickelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitarbeiter/innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der Suchtverbände ein „Core Set Sucht“. Einige Items lassen sich insbesondere bei neu betreuten Klient/innen im Fremdrating nur schwer beurteilen, der zusätzliche Einsatz von Selbstbeurteilungsinstrumenten wird empfohlen.

    6.) Die Verlaufsmessungen zeigen, dass Hilfemaßnahmen zur Verringerung des Schweregrades der Fähigkeitsbeeinträchtigungen führen. Die Evaluation und der Wirksamkeitsnachweis der durchgeführten Maßnahmen werden von den Leistungs- und Kostenträgern zunehmend erwartet. Die international anerkannte und standardisierte ICF-Diagnostik stellt eine große Hilfe dabei dar, durchgeführte Maßnahmen zu evaluieren.

    Literatur:
    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13

  • Dokumentationsstandard für eine vernetzte Versorgungslandschaft

    Dokumentationsstandard für eine vernetzte Versorgungslandschaft

    Karl Lesehr
    Dr. Barbara Braun

    Mitarbeiter/innen der Suchthilfe kennen den Kerndatensatz (KDS) als Standard für ihre eigene einrichtungsbezogene Dokumentation, die sie oft schon seit vielen Jahren nutzen – lange vor jeder EDV. Insofern war es nicht erstaunlich, dass in vielen Vorschlägen an die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zur Aktualisierung des KDS noch differenziertere Erfassungsmöglichkeiten für die jeweils spezifischen Zielgruppen der eigenen Einrichtung gefordert wurden.

    Tatsächlich will der Kerndatensatz schon immer die Basis für die Dokumentation in den verschiedensten Einrichtungen zur Versorgung suchtkranker Menschen sein: Wesentliche Daten und Aussagen sollen damit unabhängig von Arbeits- und Interventionsschwerpunkten einzelner Einrichtungen verglichen werden können. Bei der Aktualisierung des KDS 3.0 haben sich der Fachausschuss Statistik der DHS und die externen Expert/innen darum bemüht, die Erfassungsmöglichkeiten so weiterzuentwickeln, dass sie den Veränderungen in der Versorgungslandschaft Rechnung tragen. Insbesondere die stärkere Differenzierung und Vernetzung von Behandlungs- und Betreuungsangeboten und eine stärkere Orientierung aller Versorgungsleistungen auf eine umfassende Verbesserung der gesundheitlichen Situation sowie der sozialen und beruflichen Teilhabe der betreuten/behandelten Menschen sollen auch in der Dokumentation abgebildet werden können.

    Der KDS 3.0 soll nicht nur Charakteristika von und Maßnahmen für Hilfe suchende Menschen erfassen, sondern als einheitlicher Dokumentationsstandard auch die Analyse realer Versorgungsverläufe ermöglichen. Bei einer solchen auf die Abfolge eigenständiger Maßnahmen orientierten Dokumentation wird eine eindeutige Abgrenzung der für die einzelnen Maßnahmen erfassten Daten umso notwendiger. So ist es (bei konsequenter Umsetzung der Manualregelungen) künftig möglich, beispielsweise Maßnahmen der ambulanten Suchtrehabilitation oder der Reha-Nachsorge eigenständig auszuwerten, auch wenn solche Leistungen von einer ambulanten Suchtberatungsstelle erbracht werden, die diese Leistungen nicht unter einem eigenen Einrichtungstyp dokumentiert hat.

    Komplexe Maßnahmenmatrix

    Um Versorgungsverläufe möglichst konsistent abbilden zu können, wurde die bislang stark aufgefächerte Erfassung von 16 Einrichtungstypen durch eine ‚gröbere‘ Einordnung des Einrichtungstyps ersetzt, gleichzeitig wurden die einzelnen Angebote/Maßnahmen deutlich ausdifferenziert. Diese systematische ‚Leistungsmatrix‘ wird nun an mehreren Stellen im KDS 3.0 genutzt: 1. im KDS-E (Einrichtung) bei „Art der Dienste/Angebote“ (1.7.), vereinfacht bei „Kooperation und Vernetzung mit anderen Einrichtungen/Angeboten“ (1.10) und 2. im KDS-F (der frühere KDS Klienten wurde umbenannt in KDS Fall) bei „Vorbetreuungen/-behandlungen“ (2.2.3), „Art der Betreuung/Behandlung in der eigenen Einrichtung“ (2.5.1) sowie „Weitervermittlung“ (2.6.6). Die Komplexität dieser Matrix mag manchen Nutzer zunächst erschrecken; sie ist aber notwendige Voraussetzung, um künftig individualisierte Behandlungswege und Betreuungsformen umfassend darstellen und in der Folge auch steuern zu können. Insbesondere die regional teilweise doch recht unterschiedlichen Formen der Suchtrehabilitation können jetzt differenziert (unter Substitution, als Kombibehandlung) dokumentiert werden.

    Vereinfachung des KDS-E

    Eine Neuregelung im KDS-E soll künftig auch ein realistisches Bild der immer komplexeren Versorgungslandschaft ermöglichen: Dienste und Angebote einer Einrichtung können für ein Bezugsjahr nur noch dann dokumentiert werden, wenn in den mit diesem Einrichtungsdatensatz verbundenen Falldatensätzen die entsprechende Maßnahme mindestens einmal dokumentiert wurde. Die KDS-E-Auswertung ermöglicht so erstmals einen aktuellen Überblick über das real genutzte Leistungsspektrum der dokumentierenden Suchthilfeeinrichtungen. Gleichzeitig wurde der KDS-E aber auch deutlich vereinfacht: Es wurden Abfragen herausgenommen, bei denen nach der Erfahrung der letzten Jahre und auch aus strukturellen Gründen keine wirklich aussagekräftige Datenauswertung möglich war. Analysen beispielsweise der oft mehr als problematischen Finanzierungsstruktur ambulanter Suchtberatungsstellen brauchen andere eigenständige und der Komplexität der Thematik angemessene Erfassungsverfahren.

    Wichtige Anpassungen bestehender Items im KDS-F

    Im KDS-F wurde die bisherige Kategorie „Angehörige“ erweitert auf „Personen aus dem sozialen Umfeld“, und es ist nun auch eine differenziertere Erfassung der Probleme aus der Sicht dieser Personen möglich.

    Weiterhin fand eine Anpassung der Erhebung soziodemografischer Daten im KDS-F statt: Familienstand/Partnerbeziehung wurden ersetzt durch das Item „Lebenssituation“ (2.3.1); auf das bisherige Item zum Lebensunterhalt wurde verzichtet aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen mit dem Item „Erwerbssituation“ (2.3.7). Der insbesondere aus sozialpolitischer Sicht relevanten Risikosituation von Kindern wurde durch eine erweiterte Dokumentation Rechnung getragen, ebenso wurde die Dokumentation des Migrationsstatus neu geordnet.

    Die Erfassung des Kostenträgers wurde spezifiziert. Sie bezieht sich jeweils auf die aktuell dokumentierte Betreuung/Behandlung: Bei einem Wechsel des Kosten-/Leistungsträgers ist nach den Manualregeln ein neuer Falldatensatz zu öffnen (also z. B. beim Wechsel aus einer institutionell geförderten Betreuung in eine leistungsfinanzierte Maßnahme ambulanter Suchtrehabilitation).

    Die gesundheitspolitisch bedeutsame Dokumentation des HIV- bzw. Hepatitis-Status wurde auch aufgrund der bislang eher unzureichenden Dokumentationspraxis zweigeteilt: Zum einen werden Informationen zum Teststatus, zum anderen zum Infektionsstatus erfragt. Somit können die berechtigten Schutzinteressen des einzelnen Menschen berücksichtigt werden, gleichzeitig ist aber auch eine bessere Validität der erhobenen Daten möglich.

    Wesentliche konzeptionelle Neuerungen im KDS-F

    Neben der oben beschriebenen differenzierten Erfassungssystematik von Maßnahmen (und damit auch von Vorbehandlungen und Weitervermittlungen) bestehen die wesentlichen Neuerungen im aktualisierten KDS-F 3.0 in der differenzierten Erfassung psychosozialer Problembereiche, in der neuen Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik, in den (erweiterten) Dokumentationsmöglichkeiten für pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung und schließlich in der Dokumentation von Selbsthilfeanbindung.

    Psychosoziale Problembereiche

    Bislang ging der KDS implizit davon aus, dass Betreuungen in den Einrichtungen der Suchthilfe grundsätzlich durch eine Suchtproblematik ausgelöst sein und deshalb auch vorrangig eine Verbesserung/Behandlung dieser Suchtproblematik zum Ziel haben müssten. Während dies in Institutionen der medizinischen Behandlung unstrittig ist, stellen sich die Arbeitssituation der ambulanten Suchtberatungsstellen, aber auch die Angebote der Eingliederungshilfe vielschichtiger dar. Schon bei der letzten KDS-Überarbeitung war deshalb das Fehlen einer Einschätzung der psychosozialen Belastung kritisiert worden. Mit den Items 2.1.5 bzw. 2.6.7 zu Beginn und am Ende einer Falldokumentation bietet sich jetzt die Möglichkeit, aus Sicht der betreuenden Fachkraft die Probleme zu dokumentieren, die zur Kontaktaufnahme geführt haben bzw. die für eine angestrebte Veränderung zu berücksichtigen sind. Gleichzeitig wird über diese Item auch die Möglichkeit geschaffen, Entwicklungen im Lebensalltag der betreuten Menschen und damit potentielle Wirkungen von Betreuungsleistungen sichtbar zu machen. Zudem bieten diese Items die Option, vertiefte Wahrnehmungen einer komplexen Gesamtproblematik der betroffenen Menschen während der gesamten Betreuungszeit abschließend zu dokumentieren und damit auch für weitere Betreuungen aufgreifen zu können. Zusätzlich werden diese Items im Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) abgefragt, so dass dann grundsätzlich eine Drei-Punkt-Messung – wenn auch aus unterschiedlichen Quellen – möglich ist.

    Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik

    Bislang war der suchtbezogene Problembereich auf medizinische Diagnosen nach der IDC-10 und insbesondere auf eine Hauptdiagnose bezogen. Diese medizinische Diagnosesystematik ist im Bereich von Suchtbehandlungen weiter bedeutsam und unstrittig. Gleichzeitig sind aber in den vernetzten Versorgungsstrukturen auch die strukturellen Grenzen dieses Diagnosesystems deutlich geworden. So führt das Zeitkriterium von einem Jahr (die Diagnose substanzbezogener Störungen bezieht sich auf einen Ein-Jahres-Zeitraum) häufig dazu, dass gar keine aktuelle Diagnose vergeben werden kann. Auch sind relevante Konsummengenveränderungen im Diagnosesystem nicht oder nur unzureichend abbildbar. Mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten (z. B. 2.4.1 ff.) und Diagnosen (2.4.5) sind jetzt sehr viel differenziertere und damit auch wirklichkeitsnähere Dokumentationen möglich.

    Gleichzeitig wurde die Liste der dokumentierbaren Substanzgruppen deutlich erweitert und so gestaltet, dass bei Bedarf während der Gültigkeit des KDS 3.0 auch Ergänzungen möglich sind. Dokumentiert werden können für (maximal 15) Substanzen die Lebenszeitprävalenz und die aktuelle Bedeutung dieser Substanz (gemessen in Konsumtagen). Erhoben wird auch, ob bestimmte Substanzen nur und vollumfänglich aufgrund ärztlicher Verordnung konsumiert wurden – eine Möglichkeit, der angesichts der Grauzone des Medikamentenmissbrauchs erhebliche Bedeutung zukommt. Mithilfe der dokumentierten Konsumdaten kann künftig eine Konsummengenreduzierung festgestellt werden, sowohl als unmittelbare Auswirkung einer entsprechenden Behandlungsmaßnahme als auch als Teileffekt einer eigentlich abstinenzorientierten Behandlung. Und schließlich lassen sich über eine differenzierte Konsumdokumentation auch teilhaberelevante Risiken leichter identifizieren (z. B. täglicher Alkoholkonsum bei Substituierten).

    Dokumentation von pathologischem Glücksspielen und exzessiver Mediennutzung

    Der neue KDS 3.0 bietet in weitgehender Analogie zu den substanzbezogenen Störungen auch für die Störungsformen pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung erweiterte bzw. neue Dokumentationsmöglichkeiten (2.4.8 bis 2.4.13). In Bezug auf Glücksspiele wurde die Liste an Spielformen (getrennt nach terrestrisch/stationär und online) erweitert.

    Selbsthilfeanbindung

    Und schließlich wurden in Zusammenarbeit mit den Verbänden der Sucht-Selbsthilfe zwei neue Items 2.6.3 und 2.6.4 in den KDS 3.0 eingebunden, die wirklichkeitsgerecht die Vernetzung mit den Aktivitäten der Sucht-Selbsthilfe abbilden können.

    Kontakt:

    Dr. Barbara Braun
    IFT Institut für Therapieforschung
    Parzivalstraße 25
    80804 München
    Tel. 089/36 08 04 34
    braunbarbara@ift.de
    www.ift.de

    Karl Lesehr, M.A.
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Barbara Braun, Dipl.-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin (VT), leitet am IFT Institut für Therapieforschung in München den Bereich Therapie- und Versorgungsforschung sowie den Bereich Forschung Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern.
    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann

    In der gesellschaftlich kontroversen Diskussion um eine Legalisierung bzw. die Möglichkeit eines legalen Erwerbs von Cannabis sind die Hauptargumente der Befürworter einer Legalisierung, dass Cannabis geringere gesundheitliche Schäden verursacht als Alkohol, dass Cannabis trotz des Verbots eine hohe Verfügbarkeit aufweist und somit die Prohibition versagt hat, dass der Justizapparat durch cannabisassoziierte, opferfreie Vergehen ineffizient belastet wird und dass ein gesellschaftsschädigender illegaler Drogenmarkt aufrechterhalten wird. Somit argumentieren die Befürworter vor allen Dingen mit den negativen Folgen der Prohibition für die Gesellschaft. Die Gegner einer Legalisierung argumentieren, dass Cannabis zu relevanten Gesundheitsschäden führt, der Jugendschutz nicht gewährleistet sei und dass durch die Legalisierung mit einer Zunahme des Cannabiskonsums gerechnet werden müsse. Es wird die Gefahr gesehen, dass eine Legalisierung von der Bevölkerung und insbesondere Jugendlichen als Zeichen der Ungefährlichkeit von Cannabis interpretiert würde. Für die Gegner einer Legalisierung stehen also die negativen Folgen von Cannabis für die Gesundheit im Vordergrund. Somit erscheint es sinnvoll, aktuelle Forschungsergebnisse aus wissenschaftlichen Studien zu den gesundheitsschädlichen Folgen von Cannabis mit in die Argumentation einzubeziehen.

    Wie wirkt Cannabis im Gehirn?

    1964 wurde der psychotrop wirkende Inhaltsstoff von Cannabis entdeckt, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC). Als zweithäufigster Inhaltsstoff wurde das nicht-psychotrop wirkende, also nicht high machende, Cannabidiol identifiziert. 1988 wurde entdeckt, dass THC an den Cannabinoid-1-Rezeptor (CB1) bindet, der vor allem im Gehirn vorkommt. Fünf Jahre später wurde ein zweiter Rezeptor entdeckt (CB2), der vorrangig in blutbildenden Zellen und der Milz lokalisiert ist. 1992 wurde das erste körpereigene (Endo)-Cannabinoid entdeckt (Anandamid), das an CB1 und CB2 bindet, 1995 ein zweites (Arachidonylglycerol) und mittlerweile eine Reihe weiterer Endocannabinoide mit nachrangiger Bedeutung. Seit der Entdeckung des Endocannabinoidsystems wird intensiv daran geforscht, die Funktion dieses Systems zu charakterisieren.

    Denkvorgänge im Gehirn entsprechen einer Weiterleitung elektrischer Impulse von einer Nervenzelle zu einer anderen, hierbei werden Impulse ggf. gehemmt oder verstärkt. Die Nervenzellenübertragung erfolgt durch Synapsen. Von der Präsynapse werden Neurotransmitter (Botenstoffe) ausgeschüttet, die durch den synaptischen Spalt zur Postsynapse diffundieren und dort an Rezeptoren binden. Der häufigste erregende Neurotransmitter im Gehirn ist das Glutamat. Damit das Gehirn gut funktioniert, ist es notwendig, dass eine feinjustierte Konzentration Glutamat präsynaptisch ausgeschüttet wird. Eine zu hohe Konzentration von Glutamat führt zu einer Übererregung wie bei einem zu hoch gedrehten Motor. Zu viel Glutamat ist toxisch, schädigt die Nervenzellen und kann zum Untergang der Nervenzellen führen (Exitotoxizität).

    Endocannabinoide wirken retrograd (rückwärts). Sie werden von der Postsynapse ausgeschüttet, diffundieren zur Präsynapse und binden dort an CB1-Rezeptoren. In der Präsynapse, also dort, wo andere Neurotransmitter ausgeschüttet werden und die elektrische Weiterleitung beginnt, hemmen Endocannabinoide die Ausschüttung von allen anderen Neurotransmittern. Damit können z. B. zu hohe, toxische Konzentrationen von Glutamat reduziert werden. Dieser wünschenswerte Effekt der Endocannabinoide war die Grundlage dafür, intensiv nach neuro-protektiven Eigenschaften von Cannabis zu suchen, z. B. in der Forschung zu ischämischem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Traumata, Morbus Parkinson und Multipler Sklerose.

    Aus den bisher beschriebenen Funktionen des endocannabinoiden Systems lässt sich die Wirkung von Cannabis gut herleiten. Cannabis verlangsamt zentralnervöse Vorgänge, führt dadurch zu Müdigkeit, Antriebsminderung, Gleichgültigkeit, psychomotorischer Hemmung und Feinmotorikstörung. Vegetativ wird der Speichelfluss reduziert und durch eine direkte Erweiterung der Arterien der Blutdruck gesenkt mit reaktivem Anstieg des Pulses, was bei einer Überdosierung zu einem Kreislaufkollaps führen kann. Auch die neuronale Übertragung von Schmerzen wird gehemmt. Zusätzlich vermittelt das Cannabinoidsystem Hunger und die Induktion von Schlaf und hat eine wichtige Funktion beim Löschen von unangenehmen Erinnerungen. Gerade der letzte Punkt könnte hilfreich sein bei der Entwicklung neuer Therapien für psychiatrische Erkrankungen wie Depression oder psychische Traumata, die die Betroffenen häufig ein ganzes Leben lang verfolgen.

    Das zweithäufigste Cannabinoid Cannabidiol (CBD) macht nicht high, sondern begrenzt die gesundheitsschädliche Wirkung von THC und zeigt deutliche neuro-protektive Eigenschaften. Aktuell wird die Wirkung von CBD intensiv erforscht. THC führt zu einer Atrophie (Schrumpfung) des Gedächtniszentrums im Gehirn, des Hippocampus. Eine eigene Studie konnte zeigen, dass CBD vor dieser Schrumpfung schützt und dass die Schrumpfung nur auftritt, wenn Cannabissorten mit einem niedrigen CBD-Gehalt konsumiert wurden (Demirakca et. al 2011). Es gibt erste Anzeichen dafür, dass CBD in der Behandlung von Psychosen eingesetzt werden kann, gegen Angsterkrankung hilft und auch Depressionen lindert. CBD verhindert das Entstehen psychotischer Symptome durch THC.

    Gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen Cannabis und Psychose?

    Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Entwicklung einer Psychose untersucht. Mittlerweile wurden Studien mit großer Anzahl von Studienteilnehmern durchgeführt, teils mit langer Nachbeobachtungszeit, die eine hohe wissenschaftliche Aussagekraft aufweisen. Die Studienergebnisse zeigen eine gesicherte und valide Assoziation von Cannabiskonsum und Psychose. Das bedeutet: Personen, die Cannabis konsumieren, weisen eine zwei- bis dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass Cannabis die Psychose verursacht. Vielmehr haben Cannabiskonsum und Psychosen gemeinsame Risikofaktoren, d. h., Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Gewalterfahrung, psychischen Traumata in der Kindheit, Alkohol-, Tabak- oder anderem Drogenkonsum weisen ein höheres Risiko für beides auf, Psychose und Cannabiskonsum. Je nach politischer Grundhaltung kann also die Haltung vertreten werden, dass ungünstige Lebensumstände zur Psychose geführt haben (und Cannabiskonsum nur eine kleine Rolle spielt) oder dass Cannabis die Psychose verursacht hat und die ungünstigen Lebensumstände keine Rolle spielen. Damit weist gerade die Debatte um den Umgang mit Cannabis eine hohe Anfälligkeit für politische motivierte Verzerrungen auf. Kann Wissenschaft da zu einer objektiven und neutralen Beurteilung beitragen? Wenn wissenschaftliche Studien kritisch hinterfragt und Verzerrungen offengelegt werden: Ja.

    Für den Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychose müssen also sozioökonomische Faktoren in die Analyse miteinbezogen werden. Dann weisen Cannabiskonsumenten eine 41 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln (Moore et al. 2007). In die Analyse von Moore et al. wurden 35 Studien einbezogen und etwa 60 potentielle Einflussfaktoren berücksichtigt, so dass von einer hohen Validität ausgegangen werden kann.

    Zusätzlich zu sozioökonomischen Faktoren wurde in einer 2014 publizierten Studie gezeigt, dass auch biologische Faktoren zur Assoziation von Cannabis und Psychosen beitragen: Dieselben Gene, die das Risiko für eine Psychose erhöhen, erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, Cannabis zu konsumieren und vor allem größere Mengen Cannabis zu konsumieren (Power et al. 2014). Nicht nur ‚Cannabiskonsum führt zur Psychose‘, sondern auch ‚Disposition zur Psychose führt zu Cannabiskonsum‘. Personen, die ein starkes genetisches Risikoprofil für Psychosen aufweisen, scheinen die Wirkung von Cannabis gegenüber anderen Drogen oder Alkohol zu präferieren und konsumieren deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit Cannabis. Nicht nur die Substanzwirkung von Cannabis ist somit für das Auftreten einer Schizophrenie (die zu den Psychosen gehört) verantwortlich, vielmehr stellen Cannabiskonsumenten eine Selektion von Personen dar, die als Gruppe mehr Risiko-Gene für eine Schizophrenie aufweisen. Dieser genetische Zusammenhang kann auch erklären, warum in einer anderen Studie 46 Prozent der Patienten, die mit einer ersten cannabisinduzierten Psychose stationär behandelt wurden, eine Schizophrenie entwickelten, während nur 30 Prozent der Patienten mit einer amphetamininduzierten Psychose und fünf Prozent bei alkoholinduzierter Psychose eine Schizophrenie entwickelten. Über 18.000 Patienten mit cannabisinduzierten Psychosen waren zwischen 1987 und 2003 in Finnland in diese Studie eingeschlossen und acht Jahre lang nachverfolgt worden (Niemi-Pynttäri et al. 2013).

    Einige Studien zeigen, dass Cannabiskonsum insbesondere bei Jugendlichen das Risiko für die Entwicklung einer Psychose erhöht. Besonders gefährdet sind Jugendliche, die mit 15 Jahren (Arseneault et al. 2002) oder bereits vor dem 14. Lebensjahr (Schimmelmann et al. 2011) mit dem Cannabiskonsum begonnen haben.

    2005 wurde erstmals ein einzelnes Gen identifiziert, das das Risiko für Psychosen unter Cannabiseinfluss erhöht. Es handelte sich um eine genetische Variante im Dopaminabbau, die jedoch in drei späteren Studien mit knapp 5.000 Studienteilnehmern nicht verifiziert werden konnte. Stattdessen wurde ein anderes Gen (AKT1) identifiziert, das mit einem erhöhten Risiko für Psychose assoziiert ist; allerdings nur bei täglichem Cannabiskonsum und nicht, wenn Cannabis ausschließlich an Wochenenden oder seltener konsumiert wird.

    Um den Zusammenhang von Cannabis und Psychose besser quantifizieren zu können, wurde kalkuliert, wie viele Personen kein Cannabis konsumieren müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern (Hickman et al. 2009). Ergebnis war, dass im Altersbereich von 20 bis 24 Jahren 1.360 Männer bzw. 2.480 Frauen auf Cannabiskonsum verzichten müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Im Alter von 35 bis 39 müssten 2.900 Männer oder 3.260 Frauen auf Cannabis verzichten.

    Neuropsychologische Defizite nur bei Konsumbeginn im Jugendalter

    Es ist bereits lange bekannt und ausreichend gut untersucht, dass während einer Intoxikation mit Cannabis Defizite im neuropsychologischen Bereich, z. B. Gedächtnis, Orientierung und Aufmerksamkeit, auftreten. Umstritten ist jedoch die Frage, ob diese Defizite auch nach Beendigung des Cannabiskonsums weiter bestehen bleiben, ob sie sich ganz oder nur teilweise zurückbilden und ob sie mit der Dauer und der Menge des konsumierten Cannabis in Zusammenhang stehen. Um diese Frage zu untersuchen, sind longitudinale Studien notwendig, die über einen langen Zeitraum an mehreren Messzeitpunkten neuropsychologische Leistungen und Cannabiskonsum erheben.

    In einer aussagekräftigen Studie wurden 1.037 Personen, die 1972/73 geboren wurden, einem Intelligenztest im Alter von 13 Jahren und 38 Jahren unterzogen (Meier et al. 2012). Der Cannabiskonsum wurde im Alter von 18, 21, 26, 32 und 38 Jahren erhoben. Diese Studie zeigte, dass fortgesetzter Cannabiskonsum mit einer Verminderung kognitiver Leistung verbunden war. Eine Verminderung des Intelligenzquotienten wurde nur bei den Personen beobachtet, die vor dem 18. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten. Diese Defizite verschlechterten sich bei weiterem Konsum zusätzlich und bildeten sich nach einer Cannabisabstinenz nicht vollständig zurück. Dieser Effekt wurde bei Beginn des Cannabiskonsums im jugendlichen Alter sowohl für regelmäßigen als auch für unregelmäßigen Konsum nachgewiesen (mindestens ein Mal wöchentlicher Konsum). Wurde mit dem Cannabiskonsum erst im Erwachsenenalter begonnen, zeigte sich keine Verminderung des Intelligenzquotienten. Somit hat diese sehr hochwertige Studie zwei wichtige Hauptaussagen: Wird mit dem Cannabiskonsum vor dem 18. Lebensjahr begonnen, führt dies zu einer Minderung der Intelligenz, die sich auch bei späterer Cannabisabstinenz nicht zurückbildet. Wird erst nach dem 18. Lebensjahr begonnen, entstehen keine bleibenden Intelligenzdefizite.

    Eine weitere aktuelle Studie bestätigte diese Ergebnisse indirekt (Silins et al. 2014). Hier wurde nachgewiesen, dass Personen, die vor dem 17. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten, bei täglichem Cannabiskonsum ein um 64 Prozent erhöhtes Risiko für einen Schulabbruch aufwiesen, ein um den Faktor 18 erhöhtes Risiko für eine Cannabisabhängigkeit, ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko bezüglich einer Abhängigkeit für andere Drogen und ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko für Suizidversuche. Bei mindestens wöchentlichem Cannabiskonsum, aber seltener als täglich, waren die entsprechenden Risiken noch etwa halb so hoch wie bei täglichem Cannabiskonsum.

    Als biologischen Mechanismus für neuropsychologische Defizite wird eine Interaktion mit dem endogenen Cannabinoidsystem vermutet, da nachgewiesen wurde, dass Endocannabinoide die Bildung, Reifung und Wanderung neuer Nervenzellen im Gehirn steuern, das Wachstum von Axonen bestimmen (ein Axon ist der Fortsatz einer Nervenzelle, über den Signale weitergeleitet werden) sowie die Entwicklung von Gliazellen (Gliazellen transportieren Flüssigkeit und  Nährstoffe zu den Nervenzellen) und die Position von verschiedenen Nervenzellen festlegen (Berghuis et al. 2007). Wenn Cannabis konsumiert wird, stört dies diesen feingesteuerten Umbauprozess, der während der Pubertät stattfindet. Im Erwachsenenalter finden sehr viel weniger Umbauprozesse statt, so dass Cannabiskonsum keine großen Veränderungen mehr bewirken kann. Tierversuche mit Ratten, denen Cannabinoide während der Pubertät verabreicht wurden, bestätigen eindeutig, dass neuropsychologische Defizite vor allem bei Beginn des Cannabiskonsums in der Pubertät auftreten.

    Trends im Konsum von Cannabis

    Bereits seit einigen Jahren gibt es einen Trend zu höherem THC- und niedrigerem CBD-Gehalt. In den USA hat sich in den letzten 20 Jahren der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht, in den Niederlanden gab es einen ähnlichen Trend, der zu einer gesetzlichen Begrenzung des THC-Gehaltes auf 15 Prozent geführt hat. Auch aus Deutschland und Italien ist ein entsprechender Anstieg des THC-Gehaltes bekannt. Gleichzeitig enthalten neuere Cannabissorten nur noch wenig CBD, z. B. lag der CBD Gehalt in niederländischem Marihuana unter einem Prozent, während in die Niederlande importiertes Haschisch weiterhin einen CBD-Gehalt von  acht Prozent aufwies (Pijlmann et al. 2005).

    Ein weiterer Trend besteht im Aufkommen von Räuchermischungen, die synthetische Cannabinoide enthalten, erstmals mit dem Produkt „Spice“ 2008. Die Räuchermischungen werden regelmäßig durch die Aufnahme der Wirkstoffe ins Betäubungsmittelgesetz verboten, jedoch sind jeweils rasch neue Produkte mit anderen, nicht verbotenen synthetischen Cannabinoiden auf den Markt. Die in Räuchermischungen enthaltenen synthetischen Cannabinoide haben meist eine vier- bis achtfach stärkere Wirkung als Cannabis, einige Produkte haben aber sogar eine mehr als hundertfache Wirkstärke von THC. Diese Tatsache führt zu mehr Überdosierungen, die mit Kreislaufkollaps, Angst- und Panikattacken, psychotischen Symptomen, Verwirrtheitszuständen und epileptischen Anfällen einhergehen. Zusätzlich enthalten Räuchermischungen kein CBD und sind daher auch im Dauergebrauch potentiell schädlicher als die altbekannten Cannabissorten. Da es sich um chemisch andere Substanzen handelt als THC, sind synthetische Cannabinoide nicht durch übliche Drogentests im Urin nachweisbar.

    Hoher THC-Gehalt, niedriger CBD-Gehalt und synthetische Cannabinoide stellen einen Trend hin zu mehr gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten dar. In der Geschichte gibt es vergleichbare Beispiele aus der Prohibition von Alkohol, z. B. in den USA 1919 bis 1933. Dort kam es zu einem verstärkten Verkauf von hochprozentigen Alkoholika wie Whisky anstatt von Bier und Wein sowie von selbstgebrannten Alkoholika, die oft gesundheitsschädliche Mengen von Methanol enthielten. Entsprechend kann der Trend zu gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten als direkte Folge des Verbots von Cannabis angesehen werden.

    Schlussfolgerungen für die Legalisierungsdebatte

    Bisher wurde davon ausgegangen, dass Cannabis als direkte Substanzwirkung pauschal bei jedem Menschen Psychosen verursachen kann. Aktuelle Studien zeigen hingegen, dass es genetisch bedingte Unterschiede im individuellen Risiko gibt, durch Cannabiskonsum eine Psychose zu entwickeln. Zusätzlich konsumieren Personen, die Risiko-Gene für Psychosen tragen, häufiger und mehr Cannabis. Diese Personen würden evtl. auch ohne Cannabiskonsum eine Psychose entwickeln. Kalkulationen zeigen, dass eine hohe Zahl von mehreren Tausend Cannabiskonsumenten auf Cannabis verzichten müsste, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Aktuelle Studien relativieren also das von Cannabis ausgehende Risiko.

    Trotz des bisher von Gegnern der Legalisierung propagierten Risikos, dass jeder Konsum von Cannabis unmittelbar bei jedem Konsumenten zu einer lebenslangen Psychose führt, ist Cannabis weit verbreitet. Dieses Argument hat seine abschreckende Wirkung verfehlt. Aktuelle Studien machen zudem deutlich, dass das Risiko für Psychosen auch vom Alter bei Beginn des Cannabiskonsums abhängt, weil die Entwicklung des Gehirns gestört wird. Neuropsychologische Defizite durch Cannabis entstehen nur, wenn der Cannabiskonsum im jugendlichen Alter begonnen wird, aber nicht bei Konsumbeginn im Erwachsenenalter. Dies steht im krassen Gegensatz zu dem jetzigen Image von Cannabis als Jugenddroge, das dringend verändert werden muss.

    Cannabis ist nicht harmlos. Cannabiskonsum sollte daher so gering gehalten werden wie möglich. Darüber besteht eine Einigkeit bei den Befürwortern und den Gegnern einer Legalisierung. Aktuelle Studien belegen deutlich, dass Cannabis definitiv als Jugenddroge nicht geeignet ist, sondern im Gegenteil für Jugendliche besonders riskant ist. Daher kommt dem Jugendschutz eine besondere Bedeutung zu.

    Empfehlungen der EMCDDA

    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (engl. European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, EMCDDA, www.emcdda.europa.eu) hat sich seit 2010 in einem von der EU-Kommission finanziell geförderten Projekt intensiv mit der Frage der Cannabispolitik auseinandergesetzt und Empfehlungen entwickelt (ALICE RAP, 2014). Diese Empfehlungen – „Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation“ – stellen einen Mittelweg dar zwischen einem Verbot von Cannabis mit strafrechtlicher Verfolgung und einem freien, legalen Verkauf von Cannabis. Kernpunkt der Empfehlung ist, dass Cannabis von staatlichen Einrichtungen legal verkauft wird, aber die Verkaufsbedingungen sehr strengen Regeln unterliegen und streng kontrolliert werden sollten. Insbesondere soll der Jugendschutz damit verbessert werden. Hintergrund dieser Empfehlung ist die Einsicht, dass die aktuelle Prohibition von Cannabis versagt hat. Die Prohibitionspolitik geht davon aus, dass durch das Verbot von Cannabis die Verfügbarkeit reduziert wird. In einer aktuellen Umfrage des Eurobarometers im Juni 2014 schätzten 55 Prozent der 15- bis 24-Jährigen die Verfügbarkeit von Cannabis als leicht oder sehr leicht ein. Bei anderen Drogen hingegen, z. B. Ecstacy oder Kokain, scheint die Prohibition zu wirken, hierfür wurde die Verfügbarkeit nur von 20 Prozent als leicht oder sehr leicht eingeschätzt.

    Wenn die Prohibition funktionieren würde, dann müsste eine Verschärfung der Cannabisgesetze die Häufigkeit des Konsums reduzieren, während eine Liberalisierung den Cannabiskonsum erhöhen müsste. In England, Griechenland und Finnland wurden die Strafen reduziert, seit diesem Zeitpunkt ging der Konsum von Cannabis aber zurück. In Italien stoppte auch eine Erhöhung der Strafe nicht den Anstieg des Cannabiskonsums, während in Dänemark nach einer Straferhöhung genauso häufig Cannabis konsumiert wurde wie zuvor. Die Prävalenz von Cannabiskonsum ist also unabhängig von dem angedrohten Strafmaß.

    Ein legaler Verkauf von Cannabisprodukten würde die Möglichkeit eröffnen, Regeln und Bedingungen an Public-Health-Aspekten zur orientieren und so auf einen möglichst wenig gesundheitsschädlichen Konsum von Cannabis hinzuwirken.

    Kontakt:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Leitender Oberarzt
    Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
    J 5, 68159 Mannheim
    Derik.Hermann@zi-mannheim.de
    www.zi-mannheim.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann hat in Heidelberg und Mannheim Medizin studiert. Die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat er am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim absolviert. Nach Tätigkeiten als Oberarzt an der Charité Berlin Mitte 2007 und als Ärztlicher Direktor der suchtmedizinischen Klinik des Klinikum Stuttgart 2014 kehrte er jeweils wieder an die Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit zurück, wo er aktuell als Leitender Oberarzt tätig ist. Forschungsschwerpunkte sind  MRT- und PET-Untersuchungen zu Alkohol, Cannabis und Opiaten.

    Literatur:
    • ALICE RAP – Addiction and Lifestyles in Contemporary Europe Reframing Addictions Project. Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation, 2014. Online verfügbar unter: http://www.alicerap.eu/resources/documents/cat_view/1-alice-rap-project-documents/19-policy-paper-series.html
    • Arseneault et al. Cannabis use in adolescence and risk for adult psychosis: longitudinal prospective study. BMJ 2002; 325:1212-3.
    • Berghuis et al. Hardwiring the brain: endocannabinoids shape neuronal connectivity. Science 2007; 316:1212-6.
    • Demirakca et al. Diminished Gray Matter in the Hippocampus of Cannabis Users: Possible Protective Effects of Cannabidiol. Drug and Alcohol Dependence 2011; 114:242-5.
    • Hickman et al. If cannabis caused schizophrenia – how many cannabis users may need to be prevented in order to prevent one case of schizophrenia? England and Wales calculations. Addiction 2009; 104:1856-61.
    • Meier et al. Persistent cannabis users show neuropsychological decline from childhood to midlife. Proc Natl Acad Sci U S A. 2012;109:E2657-64.
    • Moore et al. Cannabis use and risk of psychotic or affective mental health outcomes: a systematic review. Lancet 2007; 370:319-28.
    • Niemi-Pynttäri et al. Substance-induced psychoses converting into schizophrenia: a register-based study of 18,478 Finnish inpatient cases. J Clin Psychiatry 2013; 74(1); e94-9.
    • Power et al. Genetic predisposition to schizophrenia associated with increased use of cannabis. Mol Psychiatry. 2014; 19:1201-4.
    • Schimmelmann et al. Cannabis use disorder and age at onset of psychosis-a study in first-episode patients. Schizophr Res. 2011; 129:52-6.
    • Silins et al. Young adult sequelae of adolescent cannabis use: an integrative analysis. The Lancet Psychiatry 2014; 1, 286–293.
  • Drogenpatienten sind anders

    Drogenpatienten sind anders

    Andreas Reimer
    Andreas Reimer

    Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.

    Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen

    In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    • sind im Durchschnitt deutlich jünger,
    • sind häufiger arbeitslos,
    • sind häufiger Schulabbrecher,
    • haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
    • sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
    • haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
    • sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.

    Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.

    In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.

    Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.

    Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern

    Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.

    In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.

    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)

    Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.

    Die BORA-Empfehlungen

    Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.

    Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.

    Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil

    In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte  der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur  Zielerreichung können sein:

    • interne und externe Arbeitserprobung (Training),
    • Festlegung eines Trainingsbereiches,
    • Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
    • Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
    • PC-Schulung,
    • Bewerbungstraining,
    • Sozialberatung,
    • Vorstellung im Berufsförderungswerk.

    Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.

    In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

    Interne Trainingsfelder

    Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.

    Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).

    Anpassung der Personalausstattung

    Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.

    Kontakt:

    Andreas Reimer
    Deutscher Orden Ordenswerke
    Geschäftsbereich Suchthilfe
    Klosterweg 1
    83629 Weyarn
    andreas.reimer@deutscher-orden.de
    www.deutschordenswerke.de

    Angaben zum Autor:

    Andreas Reimer ist leitender Arzt im Geschäftsbereich Suchthilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Arbeitsbezogene Ergotherapie in Suchtreha-Kliniken

    Arbeitsbezogene Ergotherapie in Suchtreha-Kliniken

    Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation: Frank Zamath, Werner Höhl, Azize Kasberg, Detlef Mallach, Petra Köser, Nicolas Poss (v.l.n.r.)
    Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation: Frank Zamath, Werner Höhl, Azize Kasberg, Detlef Mallach, Petra Köser, Nicolas Poss (v.l.n.r.)

    Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation ist ein ehrenamtliches Expertengremium des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e. V. (DVE). In Zusammenarbeit mit dem DVE-Vorstand ist es seine Aufgabe, die Ergotherapie fachlich-methodisch und wissenschaftlich weiterzuentwickeln und die Qualitätssicherung im arbeitstherapeutischen und arbeitsrehabilitativen Fachbereich zu unterstützen.

    MBOR und BORA

    Dazu gehört u. a. auch die Beratung von Mitgliedern. In den vergangenen zwei Jahren erreichten den Verband viele Anfragen zur Umsetzung der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR), was zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auch im Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation führte. Da die Arbeitstherapie mit dem Ziel der beruflichen (Wieder-)Eingliederung im Bereich der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter eine lange Geschichte hat, ist es zu begrüßen, dass hier durch die Deutsche Rentenversicherung ein Sonderweg beschritten wurde. Die bestehenden MBOR-Angebote wurden für die Suchtreha-Kliniken nicht einfach übernommen und ‚übergestülpt‘, sondern nach genauer Analyse des Integrationspotentials in die BORA-Empfehlungen eingearbeitet. Die in BORA formulierten Grundlagen und Zielsetzungen bieten eine sehr gute Grundlage für die Ausformulierung und Begründung der arbeitsbezogenen Konzepte und Angebote der Suchthilfe.

    Moderne Ergotherapie

    DVE_LogoDie Arbeitstherapie in Suchtkliniken gehört nach unserem Verständnis zum klassischen Aufgabengebiet von ErgotherapeutInnen. Die qualitative Umsetzung der Arbeitstherapie nach der BORA-Empfehlung gelingt am ehesten in der interdisziplinären Zusammenarbeit z. B. mit Fachleuten aus handwerklichen Berufen mit Zusatzqualifikation. Eine Trennung der Begrifflichkeiten in Ergo- und Arbeitstherapie, geschweige denn die Verwendung des Begriffes Beschäftigungstherapie, entspricht nicht mehr dem aktuellen Verständnis und Wissensstand unseres mittlerweile auch akademischen Berufsbildes. Diese Kritik am Sprachgebrauch von BORA muss an dieser Stelle sein. Der Einbezug des modernen wissenschaftlichen ergotherapeutischen Wissens in die Konzepte der bestehenden arbeitstherapeutischen Strukturen kann in Zukunft viel zur qualitativen Entwicklung innerhalb der Einrichtungen wie auch zur Weiterentwicklung von Therapiestandards und Empfehlungen wie BORA beitragen.

    Instrumente und Assessments

    Der in BORA geforderte Einsatz von Instrumenten und Assessments bietet viel Raum, Know-how einzubringen. Die beschriebene Erhebung einer Berufs- und Bildungsanamnese und deren Inhalte entsprechen der aktuellen professionellen ergotherapeutischen Vorgehensweise. Die geforderte physiologische Befunderhebung im Rahmen der FCE-Systeme (functional capacity evaluation) lässt sich gut gemeinsam mit z. B. den PhysiotherapeutInnen umsetzen. Die bedeutsamen motorischen Funktionsstörungen sollen und müssen bei der relevanten Klientengruppe erfasst und ggf. auch therapiert werden. Ihren Stellenwert im Rahmen der arbeitsbezogenen Suchtrehabilitation schätzen wir jedoch als nicht so bedeutsam ein, wie er aktuell an mancher Stelle diskutiert wird. Im Vordergrund stehen sicherlich eher mentale Funktionen (ICF) bzw. die instrumentellen wie sozioemotionalen Arbeitsfähigkeiten (Köser 2013). Wir sehen die bewährten arbeitsdiagnostischen Instrumente wie die Dokumentationssysteme MELBA, MELBA+Mai und IMBA als relevant bei der Erhebung von Arbeitsfähigkeiten und des Jobmatchings an. AVEM und DIAMO können zu Beginn eines arbeitstherapeutischen Prozesses wertvolle Hinweise für eine klientenzentrierte Interventionsplanung liefern. Wünschenswert wäre, dass in Zukunft weitere evidenzbasierte (arbeitstherapeutische) Assessments Einzug in die Arbeitstherapie der Suchtkliniken halten, auch, um auf Dauer die dringend erforderlichen Wirksamkeitsnachweise erbringen zu können (Höhl, Köser, Dochat 2015).

    Die bisher in vielen Kliniken schon gelebten partizipativen Zielerreichungsprozesse wurden nun in den BORA-Empfehlungen als feste Meilensteine festgeschrieben, um die Planung und die arbeitsbezogenen Maßnahmen den Bedürfnissen der KlientInnen anpassen zu können. Die ganzheitliche, teilhabeorientierte Ausrichtung von BORA und im Speziellen die Therapie- und Teilhabeplanung anhand der Komponenten der ICF ist nach heutigem Verständnis unabdingbar. Diese ressourcenorientierte, ganzheitliche Sicht der Lebenssituation von KlientInnen ist der Ergotherapie sehr vertraut.

    Schnittstellenmanagement und die Zeit nach der Reha

    Zu begrüßen ist ebenso die Betonung des Schnittstellenmanagements, der Verzahnung mit anderen beteiligten Institutionen, mit weiterbegleitenden und nachsorgenden Diensten. Hier wurde aus unserer Sicht eine gelungene Grundlage geschaffen, den Rehabilitanden eine möglichst große Chance zur Teilhabe zu ermöglichen. Die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation ermöglicht aufgrund ihrer Dauer – im Gegensatz zu vielen anderen arbeitstherapeutischen Angeboten – derzeit noch ein kompetenzbezogenes Training. Aber besonders die KlientInnen, die den Bezug zur Teilhabe am Arbeitsleben aufgrund von Erkrankung und Langzeitarbeitslosigkeit verloren haben, benötigen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation eine gründliche Arbeitsdiagnostik mit einem sich anschließenden längerfristigen Interventionsplan, der auch nach der Entlassung aus dem klinischen Umfeld nahtlos weitergeführt werden kann.

    Realitätsnähe durch klinikinterne Aufgabenbereiche

    BORA betont die Notwendigkeit von handlungsbezogenen arbeitstherapeutischen Angeboten. Die geforderte Einschätzung und Selbstwahrnehmung von Arbeitsfähigkeiten in einem Kontext, der Arbeitshandeln einzeln und in Gruppen ermöglicht und beobachtbar macht, unterstützt realistische prognostische Aussagen. Zu dem notwendigen (geschützten) Übungsrahmen zählen auch die klinikinternen Aufgabenbereiche, die eine realitätsnahe Ressource an Arbeitsmöglichkeiten darstellen, wenn sie, wie in BORA vorgesehen, zielgerichtet und begründet genutzt werden.

    Alles in allem ist BORA sehr kompatibel mit modernen arbeitsbezogenen ergotherapeutischen Ansätzen. Die konzeptionelle Umsetzung im Zusammenhang mit der Neufassung der Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) und der zu erwartenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit stellt eine Herausforderung dar, die nur in einem engagierten multiprofessionellen Team gelöst werden kann.

    Kontakt:

    Petra Köser
    Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation
    im Deutschen Verband der Ergotherapeuten e.V. (DVE)
    fa-arbeit-rehabilitation@dve.info
    www.dve.info

    Literatur:
    • Köser, P. (2013). Hilfen zur Befunderhebung/Arbeitsdiagnostik. 3. Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner
    • Höhl W., Köser P., Dochat A. (2015). Produktivität und Teilhabe am Arbeitsleben. Arbeitstherapie, Arbeitsrehabilitation, Gesundheitsförderung. Idstein: Schulz-Kirchner