Seit dem 1. Januar 2017 gilt bundesweit der komplett überarbeitete „Deutsche Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe (KDS)“. Der Kerndatensatz ist das Instrument zur einheitlichen Datenerhebung in Einrichtungen der ambulanten und stationären Suchthilfe. Nach zehnjähriger Laufzeit seines Vorgängers hat der DHS-Vorstand nunmehr diesen neuen Erhebungsstandard veröffentlicht. Da ihm auch die Bundesländer zustimmten, ist er nunmehr ‚amtlich‘.
Während der vergangenen drei Jahre wurde der bisherige Kerndatensatz von Vertreter/innen aus Verbänden, Praxis und Wissenschaft in jedem Detail überprüft. Zu diesem Prozess haben auch viele Nutzer/innen durch eine große Zahl von Hinweisen beigetragen. Rund drei Jahre lang diskutierten die Mitglieder des Fachausschusses Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) zusammen mit externen Expert/innen weit mehr als 100 Anregungen und Überarbeitungshinweise. Das Ziel war ein neuer Kerndatensatz, der die Erfahrungen und Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre berücksichtigt und dennoch so knapp wie möglich bleibt. Dabei wurde Wert auf eine praxisgerechte Handhabung und die möglichst hohe Aussagekraft der erhaltenen Auskünfte gelegt.
Historie
Die erste Version des KDS entstand 1998/99 mit der Absicht, die Arbeit in Einrichtungen der Suchthilfe nach einem festgeschriebenen Kriterienkatalog zu erfassen. Auf diese Weise sollte einerseits die aktuelle Situation der Beratung, Betreuung und Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen einheitlich dargestellt werden. Andererseits sollten die erhobenen Daten eine Einschätzung des Bedarfs an Therapieangeboten und -kapazitäten ermöglichen. Und schließlich sollten Behandlungserfolge zuverlässig erfasst werden, um daraus Rückschlüsse auf Therapieziele und -möglichkeiten zu ziehen.
Im Jahr 2006 erschien der überarbeitete, 2. Deutsche Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe mit den Modulen Klient, Einrichtung und Katamnese. Er stellte eine umfassende Aktualisierung und Präzisierung des Deutschen Kerndatensatzes von 1998 dar und galt, wie bei seiner Einführung angekündigt, für die Dauer von zehn Jahren.
Für die neueste Version „KDS 3.0“ wurden nun sämtliche Abfragen überprüft und aktualisiert, so dass eine zeitgemäße Beschreibung des Leistungsspektrums der Suchthilfepraxis für Menschen mit Abhängigkeitsstörungen möglich ist: etwa auf Einrichtungs-, Verbands-, Länder- oder Bundesebene. Und auch die neue Version des KDS soll für zehn Jahre gelten. In diesem Jahrzehnt können zwar – wie schon bislang – Aktualisierungen der Erläuterungen im Manual erfolgen, die Item-Liste aber bleibt unverändert. Überarbeitungen des Manuals sind künftig durch die Versionsnummer noch deutlicher kenntlich: von 3.1 bis 3.x.
Nutzen der erhobenen Daten
Eine wichtige Aufgabe des KDS besteht auch künftig in den einrichtungs- und verbandsbezogenen Auswertungen. Auf diese Weise können die beteiligten Institutionen der Suchthilfe die Ausrichtung und Effekte ihrer therapeutischen Arbeit besser beurteilen und damit auch steuern. Zudem erhalten sie höchst relevante Daten etwa für Verhandlungen mit Kostenträgern.
Der neue KDS 3.0 sorgt außerdem für eine bessere Vergleichbarkeit von Konsummustern, Behandlungsmöglichkeiten und -erfordernissen auf europäischer Ebene. Dazu wurden seine Abfragen mit dem europäischen Kerndatensatz abgeglichen. Die erhobenen Daten werden jährlich an die Europäische Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon gesandt und dort auch für internationale Studien genutzt.
Auf nationaler Ebene fließen die Ergebnisse der Erhebungen in die Deutsche Suchthilfestatistik ein, deren jährlicher Bericht seit 2007 soziodemografische Daten zu Klienten, Diagnosen, Daten zu Behandlungsbeginn, -verlauf und -ende sowie Veränderungen in diesen Bereichen aufzeigt. Die Deutsche Suchthilfestatistik ist im bundesweiten wie auch im internationalen Vergleich eine der umfangreichsten und differenziertesten Statistiken im Gesundheits- und Sozialwesen.
Der KDS 3.0 steht sämtlichen Anbietern entsprechender Dokumentationssoftware zur Verfügung. Und beinah alle haben ihn bereits in ihre Software integriert. Die DHS wünscht allen Anwender/innen einen angenehmen Umgang mit dem KDS 3.0 und aussagekräftige Erkenntnisse.
Kontakt:
Dr. Raphael Gaßmann
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V.
Westenwall 4
02381/90 15 15
59065 Hamm gassmann@dhs.de www.dhs.de
Angaben zum Autor:
Dr. Raphael Gaßmann ist Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) in Hamm.
Mitarbeiter/innen der Suchthilfe kennen den Kerndatensatz (KDS) als Standard für ihre eigene einrichtungsbezogene Dokumentation, die sie oft schon seit vielen Jahren nutzen – lange vor jeder EDV. Insofern war es nicht erstaunlich, dass in vielen Vorschlägen an die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zur Aktualisierung des KDS noch differenziertere Erfassungsmöglichkeiten für die jeweils spezifischen Zielgruppen der eigenen Einrichtung gefordert wurden.
Tatsächlich will der Kerndatensatz schon immer die Basis für die Dokumentation in den verschiedensten Einrichtungen zur Versorgung suchtkranker Menschen sein: Wesentliche Daten und Aussagen sollen damit unabhängig von Arbeits- und Interventionsschwerpunkten einzelner Einrichtungen verglichen werden können. Bei der Aktualisierung des KDS 3.0 haben sich der Fachausschuss Statistik der DHS und die externen Expert/innen darum bemüht, die Erfassungsmöglichkeiten so weiterzuentwickeln, dass sie den Veränderungen in der Versorgungslandschaft Rechnung tragen. Insbesondere die stärkere Differenzierung und Vernetzung von Behandlungs- und Betreuungsangeboten und eine stärkere Orientierung aller Versorgungsleistungen auf eine umfassende Verbesserung der gesundheitlichen Situation sowie der sozialen und beruflichen Teilhabe der betreuten/behandelten Menschen sollen auch in der Dokumentation abgebildet werden können.
Der KDS 3.0 soll nicht nur Charakteristika von und Maßnahmen für Hilfe suchende Menschen erfassen, sondern als einheitlicher Dokumentationsstandard auch die Analyse realer Versorgungsverläufe ermöglichen. Bei einer solchen auf die Abfolge eigenständiger Maßnahmen orientierten Dokumentation wird eine eindeutige Abgrenzung der für die einzelnen Maßnahmen erfassten Daten umso notwendiger. So ist es (bei konsequenter Umsetzung der Manualregelungen) künftig möglich, beispielsweise Maßnahmen der ambulanten Suchtrehabilitation oder der Reha-Nachsorge eigenständig auszuwerten, auch wenn solche Leistungen von einer ambulanten Suchtberatungsstelle erbracht werden, die diese Leistungen nicht unter einem eigenen Einrichtungstyp dokumentiert hat.
Komplexe Maßnahmenmatrix
Um Versorgungsverläufe möglichst konsistent abbilden zu können, wurde die bislang stark aufgefächerte Erfassung von 16 Einrichtungstypen durch eine ‚gröbere‘ Einordnung des Einrichtungstyps ersetzt, gleichzeitig wurden die einzelnen Angebote/Maßnahmen deutlich ausdifferenziert. Diese systematische ‚Leistungsmatrix‘ wird nun an mehreren Stellen im KDS 3.0 genutzt: 1. im KDS-E (Einrichtung) bei „Art der Dienste/Angebote“ (1.7.), vereinfacht bei „Kooperation und Vernetzung mit anderen Einrichtungen/Angeboten“ (1.10) und 2. im KDS-F (der frühere KDS Klienten wurde umbenannt in KDS Fall) bei „Vorbetreuungen/-behandlungen“ (2.2.3), „Art der Betreuung/Behandlung in der eigenen Einrichtung“ (2.5.1) sowie „Weitervermittlung“ (2.6.6). Die Komplexität dieser Matrix mag manchen Nutzer zunächst erschrecken; sie ist aber notwendige Voraussetzung, um künftig individualisierte Behandlungswege und Betreuungsformen umfassend darstellen und in der Folge auch steuern zu können. Insbesondere die regional teilweise doch recht unterschiedlichen Formen der Suchtrehabilitation können jetzt differenziert (unter Substitution, als Kombibehandlung) dokumentiert werden.
Vereinfachung des KDS-E
Eine Neuregelung im KDS-E soll künftig auch ein realistisches Bild der immer komplexeren Versorgungslandschaft ermöglichen: Dienste und Angebote einer Einrichtung können für ein Bezugsjahr nur noch dann dokumentiert werden, wenn in den mit diesem Einrichtungsdatensatz verbundenen Falldatensätzen die entsprechende Maßnahme mindestens einmal dokumentiert wurde. Die KDS-E-Auswertung ermöglicht so erstmals einen aktuellen Überblick über das real genutzte Leistungsspektrum der dokumentierenden Suchthilfeeinrichtungen. Gleichzeitig wurde der KDS-E aber auch deutlich vereinfacht: Es wurden Abfragen herausgenommen, bei denen nach der Erfahrung der letzten Jahre und auch aus strukturellen Gründen keine wirklich aussagekräftige Datenauswertung möglich war. Analysen beispielsweise der oft mehr als problematischen Finanzierungsstruktur ambulanter Suchtberatungsstellen brauchen andere eigenständige und der Komplexität der Thematik angemessene Erfassungsverfahren.
Wichtige Anpassungen bestehender Items im KDS-F
Im KDS-F wurde die bisherige Kategorie „Angehörige“ erweitert auf „Personen aus dem sozialen Umfeld“, und es ist nun auch eine differenziertere Erfassung der Probleme aus der Sicht dieser Personen möglich.
Weiterhin fand eine Anpassung der Erhebung soziodemografischer Daten im KDS-F statt: Familienstand/Partnerbeziehung wurden ersetzt durch das Item „Lebenssituation“ (2.3.1); auf das bisherige Item zum Lebensunterhalt wurde verzichtet aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen mit dem Item „Erwerbssituation“ (2.3.7). Der insbesondere aus sozialpolitischer Sicht relevanten Risikosituation von Kindern wurde durch eine erweiterte Dokumentation Rechnung getragen, ebenso wurde die Dokumentation des Migrationsstatus neu geordnet.
Die Erfassung des Kostenträgers wurde spezifiziert. Sie bezieht sich jeweils auf die aktuell dokumentierte Betreuung/Behandlung: Bei einem Wechsel des Kosten-/Leistungsträgers ist nach den Manualregeln ein neuer Falldatensatz zu öffnen (also z. B. beim Wechsel aus einer institutionell geförderten Betreuung in eine leistungsfinanzierte Maßnahme ambulanter Suchtrehabilitation).
Die gesundheitspolitisch bedeutsame Dokumentation des HIV- bzw. Hepatitis-Status wurde auch aufgrund der bislang eher unzureichenden Dokumentationspraxis zweigeteilt: Zum einen werden Informationen zum Teststatus, zum anderen zum Infektionsstatus erfragt. Somit können die berechtigten Schutzinteressen des einzelnen Menschen berücksichtigt werden, gleichzeitig ist aber auch eine bessere Validität der erhobenen Daten möglich.
Wesentliche konzeptionelle Neuerungen im KDS-F
Neben der oben beschriebenen differenzierten Erfassungssystematik von Maßnahmen (und damit auch von Vorbehandlungen und Weitervermittlungen) bestehen die wesentlichen Neuerungen im aktualisierten KDS-F 3.0 in der differenzierten Erfassung psychosozialer Problembereiche, in der neuen Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik, in den (erweiterten) Dokumentationsmöglichkeiten für pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung und schließlich in der Dokumentation von Selbsthilfeanbindung.
Psychosoziale Problembereiche
Bislang ging der KDS implizit davon aus, dass Betreuungen in den Einrichtungen der Suchthilfe grundsätzlich durch eine Suchtproblematik ausgelöst sein und deshalb auch vorrangig eine Verbesserung/Behandlung dieser Suchtproblematik zum Ziel haben müssten. Während dies in Institutionen der medizinischen Behandlung unstrittig ist, stellen sich die Arbeitssituation der ambulanten Suchtberatungsstellen, aber auch die Angebote der Eingliederungshilfe vielschichtiger dar. Schon bei der letzten KDS-Überarbeitung war deshalb das Fehlen einer Einschätzung der psychosozialen Belastung kritisiert worden. Mit den Items 2.1.5 bzw. 2.6.7 zu Beginn und am Ende einer Falldokumentation bietet sich jetzt die Möglichkeit, aus Sicht der betreuenden Fachkraft die Probleme zu dokumentieren, die zur Kontaktaufnahme geführt haben bzw. die für eine angestrebte Veränderung zu berücksichtigen sind. Gleichzeitig wird über diese Item auch die Möglichkeit geschaffen, Entwicklungen im Lebensalltag der betreuten Menschen und damit potentielle Wirkungen von Betreuungsleistungen sichtbar zu machen. Zudem bieten diese Items die Option, vertiefte Wahrnehmungen einer komplexen Gesamtproblematik der betroffenen Menschen während der gesamten Betreuungszeit abschließend zu dokumentieren und damit auch für weitere Betreuungen aufgreifen zu können. Zusätzlich werden diese Items im Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) abgefragt, so dass dann grundsätzlich eine Drei-Punkt-Messung – wenn auch aus unterschiedlichen Quellen – möglich ist.
Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik
Bislang war der suchtbezogene Problembereich auf medizinische Diagnosen nach der IDC-10 und insbesondere auf eine Hauptdiagnose bezogen. Diese medizinische Diagnosesystematik ist im Bereich von Suchtbehandlungen weiter bedeutsam und unstrittig. Gleichzeitig sind aber in den vernetzten Versorgungsstrukturen auch die strukturellen Grenzen dieses Diagnosesystems deutlich geworden. So führt das Zeitkriterium von einem Jahr (die Diagnose substanzbezogener Störungen bezieht sich auf einen Ein-Jahres-Zeitraum) häufig dazu, dass gar keine aktuelle Diagnose vergeben werden kann. Auch sind relevante Konsummengenveränderungen im Diagnosesystem nicht oder nur unzureichend abbildbar. Mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten (z. B. 2.4.1 ff.) und Diagnosen (2.4.5) sind jetzt sehr viel differenziertere und damit auch wirklichkeitsnähere Dokumentationen möglich.
Gleichzeitig wurde die Liste der dokumentierbaren Substanzgruppen deutlich erweitert und so gestaltet, dass bei Bedarf während der Gültigkeit des KDS 3.0 auch Ergänzungen möglich sind. Dokumentiert werden können für (maximal 15) Substanzen die Lebenszeitprävalenz und die aktuelle Bedeutung dieser Substanz (gemessen in Konsumtagen). Erhoben wird auch, ob bestimmte Substanzen nur und vollumfänglich aufgrund ärztlicher Verordnung konsumiert wurden – eine Möglichkeit, der angesichts der Grauzone des Medikamentenmissbrauchs erhebliche Bedeutung zukommt. Mithilfe der dokumentierten Konsumdaten kann künftig eine Konsummengenreduzierung festgestellt werden, sowohl als unmittelbare Auswirkung einer entsprechenden Behandlungsmaßnahme als auch als Teileffekt einer eigentlich abstinenzorientierten Behandlung. Und schließlich lassen sich über eine differenzierte Konsumdokumentation auch teilhaberelevante Risiken leichter identifizieren (z. B. täglicher Alkoholkonsum bei Substituierten).
Dokumentation von pathologischem Glücksspielen und exzessiver Mediennutzung
Der neue KDS 3.0 bietet in weitgehender Analogie zu den substanzbezogenen Störungen auch für die Störungsformen pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung erweiterte bzw. neue Dokumentationsmöglichkeiten (2.4.8 bis 2.4.13). In Bezug auf Glücksspiele wurde die Liste an Spielformen (getrennt nach terrestrisch/stationär und online) erweitert.
Selbsthilfeanbindung
Und schließlich wurden in Zusammenarbeit mit den Verbänden der Sucht-Selbsthilfe zwei neue Items 2.6.3 und 2.6.4 in den KDS 3.0 eingebunden, die wirklichkeitsgerecht die Vernetzung mit den Aktivitäten der Sucht-Selbsthilfe abbilden können.
Kontakt:
Dr. Barbara Braun
IFT Institut für Therapieforschung
Parzivalstraße 25
80804 München
Tel. 089/36 08 04 34 braunbarbara@ift.de www.ift.de
Karl Lesehr, M.A.
Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
Hauptstraße 28
70563 Stuttgart
lesehr@paritaet-bw.de www.werkstatt-paritaet-bw.de
Angaben zu den Autoren:
Dr. Barbara Braun, Dipl.-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin (VT), leitet am IFT Institut für Therapieforschung in München den Bereich Therapie- und Versorgungsforschung sowie den Bereich Forschung Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern. Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).
Der Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) stellt eine Ergänzung zum „Deutschen Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe (KDS)“ dar. Er ist zwar als separates Modul entwickelt worden, die Ausarbeitung erfolgte jedoch mit Bezug auf die Systematik und Zielsetzung, die bereits für die Entwicklung des KDS-E (Einrichtung) und KDS-F (Fall) maßgeblich waren. Der KDS-Kat entstand im Rahmen eines Konsensprozesses zwischen den beteiligten Institutionen und den Mitgliedern des Fachausschusses Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Der Fachausschuss setzte sich dabei das Ziel, Minimalstandards für die Durchführung von Katamnesen zu erarbeiten und im vorliegenden Katamnesemodul zur Verfügung zu stellen. Die vorgesehene Katamneseerhebung verfolgt zwei Hauptziele:
a) Sie erfasst zum einen die Ausprägung relevanter Merkmale der Klient/innen und Patient/innen im Zeitfenster der Katamnese wie z. B. die Lebens- und Wohnsituation, den Konsum von Substanzen oder auch die Inanspruchnahme einschlägiger Hilfe und ist insofern Statusdiagnostik.
b) Sie erfasst zum anderen im Sinne einer Verlaufsdiagnostik auch Veränderungen, die im Verlauf des Zeitfensters in relevanten Lebens- und Problembereichen aufgetreten sind.
Vorher-Nachher-Vergleiche mit dem KDS-F und dem KDS-Kat
Bei der Auswahl der Items für den Katamnesefragebogen wurde insbesondere darauf geachtet, die Strukturen und Items aufzunehmen, die im KDS-F enthalten sind (Lebenssituation, Wohnverhältnis, Erwerbssituation, erhaltene Hilfen, Veränderungen). Damit stehen die Angaben potentiell als Daten zur Verfügung, mit deren Hilfe Vorher-Nachher-Vergleiche vorgenommen werden können, um Veränderungen und insbesondere Behandlungserfolge zu erfassen.
Die ausgewählten Fragen haben sich in Routine- und/oder Forschungskatamnesen bewährt. Alle Formulierungen der Items wurden im Konsens mit den Experten des Fachausschusses Statistik der DHS festgelegt. Die ausgewählten Items gelten als ‚Minimalstandard’, sie sollen in jedem Fall in der vorliegenden Form in die Katamnesefragebögen der Verbände, Träger und Einrichtungen aufgenommen werden. Es steht jedem Verband, Träger oder jeder Einrichtung jedoch frei, die vorliegenden Items um weitere Items zu ergänzen, damit spezifische, den Verband, Träger oder die Einrichtung interessierende Fragestellungen untersucht werden können.
Um bei den Befragten eine möglichst hohe Akzeptanz für eine Beantwortung zu erhalten, wurde der Fragebogen so kurz und übersichtlich wie möglich gehalten. Allerdings lässt sich die komplexe Struktur der Abstinenzanalyse nur bedingt vereinfachen. Grundlegend für die Abfrage ist die Unterscheidung von durchgehender Abstinenz, Abstinenz nach Rückfall (also in den letzten 30 Tagen wieder abstinent) und durchgehender Rückfälligkeit, die sich aus den Standards für die Berechnung von katamnestischen Erfolgsquoten ergibt. Zunächst wird die durchgehende Abstinenz erfragt, anschließend die mögliche Abstinenz nach Rückfall. Erfasst werden außerdem Abstinenzphasen, die ‚vorwärts’ ausgehend vom Behandlungsende und ‚rückwärts’ ausgehend vom Katamnesezeitpunkt abgefragt werden. Falls keine durchgehende Abstinenz vorliegt, wird erfragt, welche Substanz konsumiert wurde, allerdings mit einer gegenüber dem KDS-Fall etwas vereinfachten Substanzliste. Erfragt wird auch der Substanzkonsum in den letzten 30 Tagen vor dem Katamnesezeitpunkt bzw. die Häufigkeit des Konsums in Tagen.
Konsumveränderung und Verbesserung wesentlicher Teilhabeaspekte
Neu im KDS 3.0 ist die Abfrage der Konsumveränderung, die in den KDS-Fall bei Behandlungsende und in den KDS-Kat in gleicher Form integriert wurde. Es wird ganz bewusst nach einer subjektiven Einschätzung zur Veränderung gegenüber der Zeit vor der Behandlung gefragt. Bewertet wird mit einer symmetrischen 5er-Abstufung (deutlich verringert – leicht verringert – gleich geblieben – leicht gesteigert – deutlich gesteigert). Mit dieser Ergänzung eröffnen sich bei der Bewertung von Behandlungserfolgen zwei zusätzliche Optionen:
a) In der ambulanten Suchtberatung werden viele Angebote für Betroffene gemacht, die nicht nur die Abstinenz zum Ziel haben und deren Erfolg im Hinblick auf den Substanzkonsum (neben der Verbesserung anderer wesentlicher Teilhabeaspekte) somit differenzierter erfasst werden kann.
b) Auch in der abstinenzorientierten Behandlung kann es von Interesse sein, das Ergebnis nicht nur im Hinblick auf die ‚klassischen‘ katamnestischen Erfolgsquoten, sondern auch im Hinblick auf die Veränderung des Substanzkonsums (falls keine Abstinenz erreicht werden konnte) zu erfassen. Damit können ggf. auch Vergleiche mit Behandlungsangeboten erfolgen, die nicht auf vollständige Abstinenz abzielen.
Eine weitere Neuerung im KDS 3.0 ist die deutlich umfassendere Erhebung von Daten und Informationen zu nicht-substanzbezogenen Suchtformen. Im KDS-Kat sind daher als Standard die Items für Glücksspiel und exzessive Mediennutzung vorgesehen. Analog zum KDS-F werden bei diesen Items die Begriffe „Spiel“ und „Nutzung“ in Abgrenzung zu den Begriffen „Konsum“ und „Substanz“ verwendet, um die Fragen für die Betroffenen verständlicher zu machen. Der KDS-Kat bietet allerdings eine vereinfachte Auswahl der Spiel- bzw. Nutzungsformen an.
Grundsätzlich sollen bei allen Behandelten in der Katamnese alle Konsumformen abgefragt werden, unabhängig von der Hauptindikation der Behandlung. Hintergrund ist der erhebliche komorbide Zusammenhang bspw. zwischen Glücksspiel und Alkoholabhängigkeit oder zwischen Drogenabhängigkeit und Mediennutzung. Dadurch wird die Abstinenzabfrage zwar aufwändiger und umfangreicher, der Fachausschuss Statistik der DHS hält diese Sichtweise auf komplexe Suchtphänomene aber für relevant und zukunftsweisend.
Durch die genannten Differenzierungen wirkt die Item-Liste des KDS-Kat auf den ersten Blick sehr kompliziert und ggf. für Betroffene schwer verständlich. Daher wird im Manual des KDS auch ein Vorschlag zur Darstellung der Items in einem Fragebogen gemacht. Es bleibt aber festzuhalten, dass sich das Spannungsfeld zwischen korrekter Erfassung komplexer Suchtphänomene und möglichst einfacher bzw. verständlicher Abfrage bei den Betroffenen (auch mit Blick auf die dadurch beeinflussten Rückläuferquoten) nicht vollständig auflösen lässt. Der Fachausschuss Statistik empfiehlt daher, schon während der Behandlung auf die Bedeutung der Katamnese hinzuweisen und das Vorgehen bzw. die Befragung im Rahmen einer ‚Katamneseschulung’ oder Informationsveranstaltung zu erklären und zu vermitteln.
Kontakt:
Dr. Hans Wolfgang Linster
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Institut für Psychologie
Engelbergerstr. 41
79106 Freiburg im Breisgau hans.linster@psychologie.uni-freiburg.de
Angaben zu den Autoren:
Dr. Hans Wolfgang Linster war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Jetzt ist er im Ruhestand und dort weiterhin als Lehrbeauftragter tätig. Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Wohl in keinem anderen Bereich psychosozialer oder medizinischer Hilfen – sowohl in Deutschland wie auch im internationalen Vergleich – werden routinemäßig derart viele Versorgungsdaten erfasst wie in der Deutschen Suchthilfestatistik. Viele dieser Daten bilden die Grundlage für die europäische Drogenberichterstattung, stellen wichtige Bezugswerte für Forschungsarbeiten dar oder sind Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Therapiekonzepten und Versorgungsstrukturen.
Dennoch stellt sich nach der intensiven Überarbeitung des KDS die Frage, ob und inwieweit die damit dokumentierenden Einrichtungen diese differenzierte Fülle ihrer Daten nun auch besser für die eigenen fachlichen und versorgungspolitischen Interessen werden nutzen können. Die bekannten riesigen Tabellen der bisherigen Standardauswertungen haben mit ihrer Datenfülle vermutlich mit dazu beigetragen, dass viele Tätigkeitsberichte vor allem von ambulanten Einrichtungen sich seit Jahren unverändert auf nur wenige Daten zur Gesamtklientel und auf einzelne, meist behandlungsorientierte Maßnahmendaten beschränkten. Dabei ist sicher jedem Praktiker bewusst, wie wenig aussagekräftig solche Gesamtdaten in aller Regel für eine Einrichtung sind: Je offener der Zugang zur Einrichtung ist, je vielfältiger die Problemlagen und aktuellen Bedürfnisse der Hilfe suchenden Menschen sind und je differenzierter dann auch das Leistungsangebot der Einrichtung ist, desto inhaltsleerer sind zwangsläufig statistische Aussagen zur Gesamtklientel und zur Gesamtheit der Maßnahmen.
Interne Qualitätsentwicklung und fachlich sinnvolles Controlling
Mit der Aktualisierung zum KDS 3.0 wurde nun die bisherige Datenfülle ganz gezielt auf mehreren Ebenen noch ausdifferenziert und erweitert. Damit sollen den Einrichtungen bessere und auch neue Möglichkeit an die Hand gegeben werden, ihre dokumentierten Daten für Prozesse der internen Qualitätsentwicklung, aber auch für ein fachlich sinnvolles Controlling und für nutzerorientierte (politische) Steuerungen einzusetzen. Solche Dokumentationsdaten sind ja als Merkmalskombinationen ‚Indikatoren‘ für Versorgungswirklichkeiten und damit Bezugspunkte für notwendige fachliche und versorgungsorientierte Diskurse.
Ein wesentliches Element dieser Differenzierung ist die Trennung von Einrichtungstyp und Leistungsangebot im KDS-E, die an verschiedenen Stellen im KDS-E und im KDS-F aufgegriffen wird. Damit soll der zunehmenden Komplexität des Suchthilfesystems Rechnung getragen werden: Es werden immer mehr und immer neue Hilfeangebote und Leistungsmodule entwickelt, die zu möglichst sinnvollen und individuellen ‚Behandlungsketten’ zusammengefügt werden müssen. Diese Komplexität noch zu beherrschen, ist zu einer zentralen Herausforderung für die Leistungsanbieter in der Suchthilfe geworden. In den kommenden Jahren werden die auf der Basis des KDS erfassten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik eine sehr viel differenziertere Analyse der Entwicklungen im Hilfesystem ermöglichen.
Lebenslagen, Teilhabe und Konsumveränderung
Die Items zu psychosozialen Problemlagen bieten insbesondere den nicht ausschließlich mit Suchtbehandlung befassten Einrichtungen die Möglichkeit, Lebenslagen und aktuelle Hilfebedarfe ihrer Klienten differenziert abzubilden. Damit können in Relation zu Dauer und Intensität eigener Maßnahmen auch mögliche Wirkungen auf die Gesundheit und die Verbesserung sozialer oder beruflicher Teilhabe dieser Klienten in den Blick genommen werden – und zwar auch unabhängig von Änderungen in der Suchtdiagnostik.
Gleichzeitig wurde mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten und Suchtdiagnosen die Möglichkeit geschaffen, graduelle Verbesserungen im Konsumverhalten genauso zu erfassen wie Entwicklungen hin zu riskanten oder schädigenden Konsummustern. Diese Option ist keineswegs nur für die ambulante Suchthilfe mit ihren Angeboten zur Konsumreduzierung oder der Substitutionsbehandlung von Bedeutung, sondern eröffnet auch für die katamnestische Auswertung von Behandlungsleistungen eine differenziertere und alltagsrelevante Sicht.
Die mit der Aktualisierung des KDS entwickelte systematische Abbildung der Versorgungslandschaft im Vorfeld, während und im Anschluss an die aktuelle Betreuung schafft schließlich die Möglichkeit, über den eigenen Einrichtungshorizont hinaus das Ausmaß von Vernetzungen in der Versorgungslandschaft differenziert zu betrachten und – auch unabhängig von definierten Behandlungspfaden – die Notwendigkeit und Funktionalität dieser Vernetzung zu thematisieren: Wenn die öffentliche Hand an der besseren Wirksamkeit von Sozialleistungen und anderen gesellschaftlichen Maßnahmen sowie an der Verbesserung der beruflichen Teilhabe suchtkranker Menschen interessiert ist, dann muss über das Behandlungssystem hinaus auch die Leistungsfähigkeit des gesamten Netzwerks psychosozialer Hilfen und Institutionen in den Blick genommen werden.
Relation von Aufwand und Wirkung
In den letzten Jahren hat es zahlreiche Ansätze zur politischen Steuerung der ambulanten Suchthilfe gegeben, die zwar in ihrer fachlichen Qualität höchst unterschiedlich waren, die aber letztlich alle aufgrund der bisherigen Datenbasis auf eine Steuerung nach „Leistungsmengen“ und damit Fallkosten hinausliefen. Mit den genannten Erweiterungen des KDS 3.0 gibt es nun in der Deutschen Suchthilfestatistik erste Ansätze auch zu fundierten Aussagen über die Relation von Aufwand und Wirkung für einzelne Klientengruppen oder einzelne Maßnahmen. Eine solche Entwicklung zu „wirkungsorientierten Steuerungskonzepten“ ist für die ambulante Suchthilfe als Leistung der Daseinsvorsorge sicher nicht unproblematisch. Umso wichtiger wird sein, dass die Fachkräfte dieser Einrichtungen eine möglichst hohe Kompetenz darin entwickeln, an die Fülle ihrer eigenen Daten fachlich sinnvolle und politisch relevante (wirkungsorientierte) Fragen zu stellen, ohne dabei die individuellen Interessen der Hilfe suchenden Menschen und die Abhängigkeit der einzelnen Einrichtung von Vernetzungsstrukturen aus dem Blick zu verlieren. Nach der erfolgreich beendeten Aktualisierung des KDS 3.0 müsste es deshalb im Interesse der Suchthilfeverbände liegen, ihre Mitglieder bei einem solchen Kompetenzerwerb bestmöglich zu unterstützen.
Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung). Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Das Jahr 2016 ist für die Suchthilfe bislang kein gutes. Es setzt sich fort, was wir schon in den Vorjahren beobachten mussten: Die Prävention hangelt sich von Projekt zu Projekt, die ambulante Suchthilfe verhungert wegen ihrer immer kleineren Budgets, in der medizinischen Rehabilitation fallen die Fallzahlen, die Teilhabe für langzeitarbeitslose Suchtkranke ist kompliziert, ineffektiv und bürokratisch, und die Sorgen mit der Nachsorge bleiben. Das Frühjahr 2016 ist die Zeit der Berichte. Die Jahresberichte der Suchthilfeträger beschreiben diese wachsenden Schwierigkeiten eindrucksvoll und beschreiben dennoch eindrucksvolle Leistungen. Auch die Institutionen berichten.
Jahrbuch Sucht 2016: 278 Seiten geballte Information
Den Reigen eröffnete am 3. Mai die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen mit dem Jahrbuch Sucht 2016. Im Rahmen einer Pressekonferenz wurde das seit über einem halben Jahrhundert bewährte Nachschlagewerk präsentiert. Es liefert 25 Seiten „Daten, Zahlen und Fakten“ und ausführliche Beiträge zu Suchtstoffen, Suchtformen und ihren Auswirkungen, zum Beispiel im Straßenverkehr. 278 Seiten geballte Information, und dennoch bleibt ein schales Gefühl zurück: Im Jahr 2016 fehlt das Kapitel über die „Versorgung Suchtkranker“. Das ist irritierend, da doch die DHS als Zusammenschluss der Suchtkranke versorgenden Träger Herausgeberin des Jahrbuchs ist und die bemerkenswerte Analyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“ erst im vergangenen Jahr online gestellt wurde.
Europäischer Drogenbericht 2016: Grafik satt und voller Fakten
Am 31. Mai hatte die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) ihren Auftritt. Sie stellte den Europäischen Drogenbericht vor. Er ist, nach Aussage von Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, für europäische Entscheidungsträger ein hilfreiches Instrument für die Gestaltung von politischen Strategien und Maßnahmen zur Drogenbekämpfung. Nach einer vorangestellten Zusammenfassung beschreibt der Bericht in drei Kapiteln Drogenangebot und Markt, Prävalenz und Trends des Drogenkonsums sowie drogenbedingte Schädigungen und diesbezügliche Maßnahmen. Zehn Seiten mit Tabellen über Länderdaten runden das Angebot ab. Eine überwältigende Vielfalt von bunten Karten, Grafiken und Schmuckelementen lassen den Text fast schon in den Hintergrund treten, obwohl man ihn nicht unterschätzen sollte: Da steckt richtig viel Wissen drin! Wer sich die Zeit nicht nehmen will, den Bericht durchzuarbeiten, kann auch die Presseinformation zum Drogenbericht lesen.
3. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2016: Das Forum der Forderungen
Wieder eine Pressekonferenz, diesmal am 6. Juni: Der 3. Alternative Drogen- und Suchtbericht 2016 wird vorgestellt. Kernforderung: Eine andere Drogenpolitik und ein anderer Umgang mit Drogen. Das ist bei den Herausgebern akzept e. V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, Deutsche AIDS-Hilfe e. V. und JES Bundesverband e. V. keine besondere Überraschung. Die Forderungen werden untermauert auf 280 Seiten Text in vier Kapiteln: Es geht um alternative Drogenpolitik, um Risikokonstruktionen in Drogenforschung und -politik, um Verbraucher*innenschutz und Prävention und um die weitere Entwicklung der Drogenhilfe. In 37 Beiträgen entwerfen 55 Autoren*innen ihre Visionen einer anderen Drogenpolitik in Deutschland, die auch schon mal verwirren können – Seite 29: Kritik an Repräsentativbefragungen, Seite 78: Interpretation von Repräsentativbefragungen. Mindestens die Hälfte der Autoren*innen stammt aus dem akademischen Bereich, andere sind Journalisten*innen, und eine deutliche Minderheit stammt aus der Praxis der akzeptierenden Drogenarbeit, also der Suchthilfe. Das ist kein Zufall, denn die Herausgeber haben vor der Veröffentlichung einen Aufruf zur Einreichung von Beiträgen gemacht. Da kann es leicht passieren, dass Mitteilungsbedürfnis über Praxisbezug dominiert. Anregungen, politisch anders zu handeln, bietet der Bericht in Hülle und Fülle und auch einige sehr bemerkenswerte Beiträge, wie zum Beispiel den über „Hochglanz und Elend der Tabakkontrolle in Deutschland“ (zählt man alle Maßnahmen zur Verhaltens- und Verhältnisprävention zusammen, landet Deutschland auf dem vorletzten Platz bei der Tabakkontrolle in Europa), über „Synthetische Cannabinoide“ (ein praxisorientierter Erfahrungsbericht!) oder über „11 Jahre SGB II/Hartz IV – Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation suchtmittelabhängiger Menschen“ (der trotz guter statistischer Daten leider kaum Hinweise gibt, wie das Problem „Teilhabe an Arbeit“ für Suchtkranke zu lösen sei).
Drogen- und Suchtbericht 2016 der Drogenbeauftragten: Vor allem bunt
Die Drogenbeauftragte folgte am 9. Juni. Unter dem Motto „Mehr Achtsamkeit für unsere Gesundheit schaffen!“ wandte sie sich an die Presse, um ihren Drogen- und Suchtbericht 2016 zu präsentieren. Und es sind sogar zwei Berichte geworden. Der eine heißt „Drogen- und Suchtbericht“ und der andere ganz prosaisch „Anhang“. Im ersten finden sich fünf Kapitel zu den Themen „Suchtstoffe und Suchtformen“, „Schwerpunktthemen der Drogenbeauftragten“, „Suchtstoffübergreifende Prävention, Beratung und Behandlung“, „Gesetzliche Regelungen und Rahmenbedingungen“ und „Internationales“. Der Anhang zeigt, nach Mortlers Anmerkungen im Vorwort, „wie vielfältig die Drogen- und Suchtpolitik insgesamt ist“, indem er „eine Auswahl aktueller Projekte aus den Bundesländern, aus Vereinen und Verbänden“ enthält. Im Vorwort bemerkt die Drogenbeauftragte ferner, sie sei stolz darauf, den „Bericht in moderner, komprimierter und kurzweiliger Form präsentieren zu können“. Modern? Ja. Komprimiert? Und wie. Aber kurzweilig? Sucht- und Drogenprobleme sind nicht kurzweilig. Sie sind langwierig, dramatisch und existenzbedrohend.
Dieser Bericht ist eine bunte Aneinanderreihung von Fakten und Projektberichten und bietet eine unübersehbare Vielfalt. „Managing Diversity“ ist das Gebot der Stunde, aber hier wird die Vielfalt nicht organisiert, sondern willkürlich aneinandergereiht. Es ist und bleibt nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die eingereichten Beiträge zur Veröffentlichung ausgewählt wurden. Während die Verfasser*innen 22 Seiten mit dem Kapitel „Prävention“ füllen, umfasst das Kapitel zu Beratung und Behandlung zwei (!) Seiten Text. Darin fehlen Alkoholabhängige fast komplett, in Details werden stets die Konsumenten*innen illegaler Drogen, und davon vor allem Cannabiskonsumenten*innen, genannt.
Dem Versorgungssystem, das nach dem Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik für das Jahr 2014 341.963 ambulante Betreuungen und 49.297 stationäre Behandlungen in 837 ambulanten und 206 stationären Einrichtungen durchgeführt hat, gebührt mehr Platz. Zur Erinnerung: Insgesamt gibt es in Deutschland über 1.400 Suchtberatungsstellen, 13.000 stationäre Suchttherapie-Plätze und fast 25.000 Plätze in Wohnheimen der Sozialhilfe. Das sind zumindest halbwegs regelhaft finanzierte Angebote für Suchtkranke. Der Drogen- und Suchtbericht bezieht sich zum überwiegenden Teil auf kurzfristig finanzierte Präventionsprojekte, die nach der Modellphase häufig wieder eingestellt werden (müssen). Von einem regelhaften, bedarfsorientiert finanzierten Angebot der Suchtprävention und Gesundheitsförderung ist Deutschland weit entfernt. Auch wenn Gesundheitspolitik Ländersache ist – die Herstellung gleicher Lebensbedingungen ist Sache der Bundesregierung. Das steht sogar im Grundgesetz.
Es geht doch besser
Es gibt auch einen Bericht, der alle unsere Fragen beantwortet und sogar noch die, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben: Im November erscheint jährlich der Reitox-Bericht der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD). Da ist nun aber wirklich alles drin, was es an Fakten, Hintergrundinformationen, Zusammenhängen und Fragen rund um das Thema „illegale Drogen“ gibt. Na also, geht doch!
Epilog
„Das Jahr 2016 ist kein gutes für die Suchthilfe“, schrieb ich eingangs. Während das im Alternativen Drogen- und Suchtbericht zumindest anklingt und aus dem Reitox-Bericht heraus interpretiert werden kann, erfährt man bei den anderen berichterstattenden Institutionen nichts davon. Sucht- und Drogenprobleme zu beschreiben, heißt nicht, bei den Phänomenen zu verweilen und staatliche Ausgaben zu legitimieren. Sucht- und Drogenprobleme treffen den einzelnen Menschen in seiner Existenz, in seinem Lebensumfeld und in seinen Perspektiven. Das (immer noch) sehr gut ausgebaute Verbundsystem der Suchthilfe hilft, Abhängigkeitserkrankungen zu überwinden, gibt Menschen Hoffnung und Familien Rückhalt. Zehn Millionen von Suchterkrankungen betroffene und bedrohte Menschen und weitere zehn Millionen mitbetroffene Angehörige machen die Abhängigkeit zur Volkskrankheit. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Behandlung von Suchterkrankungen unter Rechtfertigungsdruck steht und in der Realität nur nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel erfolgen kann. Das soll an dieser Stelle auch berichtet werden.
Kontakt:
Jost Leune
Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V (fdr)
Gierkezeile 39
10585 Berlin leune@fdr-online.info
Angaben zum Autor:
Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.
Die aktuelle Belegungsumfrage des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) wurde zum Stichtag 30. September 2015 durchgeführt. Mit 127 Rückmeldungen konnte ein Rücklauf von rund 84 Prozent erreicht werden. 54 Prozent der Rückmeldungen stammen aus Alkohol-Einrichtungen und 43 Prozent aus Drogen-Einrichtungen. Drei Prozent der Rückmeldungen konnten keiner Indikation zugeordnet werden.
Belegung 2015
Die kumulierte Belegung in Alkohol-Einrichtungen hat sich gegenüber der letzten Befragung im Juli 2014 verschlechtert: Der Anteil an Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent ist leicht rückläufig (zwei Prozent geringer), die Anzahl an Alkohol-Einrichtungen mit einer Belegung zwischen 70 und 90 Prozent ist im Vergleichszeitraum um sechs Prozent gesunken, stattdessen gibt es deutlich mehr Einrichtungen mit einer Belegung von unter 70 Prozent. Von den Drogen-Einrichtungen hat rund ein Drittel eine unveränderte Auslastung von 70 bis 90 Prozent. Der Anteil an Drogen-Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent ist um vier Prozent gesunken, der Anteil an Einrichtungen mit einer Auslastung von unter 70 Prozent ist im gleichen Maße angestiegen (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Belegung 2015 in Alkohol- und Drogeneinrichtungen und in der Gesamtstichprobe
Insgesamt ergibt die Analyse der Gesamtstichprobe eine Verschlechterung der Belegung von 2014 auf 2015. Der Anteil an Einrichtungen, die eine Belegung von unter 70 Prozent aufweisen, hat gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent zugenommen. Hingegen ist bei Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent und Einrichtungen mit einer Belegung zwischen 70 und 90 Prozent ein Rückgang von drei bzw. vier Prozent zu verzeichnen. Die absolute Zahl der Einrichtungen mit einer sehr schlechten Belegung (< 70 Prozent) schwankt im Jahresvergleich: 2015 = 14 / 2014 = 5 / 2013 = 9 / 2012 = 16.
Belegungsentwicklung im Jahresvergleich
Betrachtet man die Belegung im Jahresvergleich, so ist der Anteil der Kliniken mit einer ‚guten‘ Belegung von über 90 Prozent seit dem Jahr 2008 insgesamt um zwölf Prozent (von rund 70 Prozent auf 58 Prozent) zurückgegangen. Der Anteil der Kliniken mit über 95 Prozent Auslastung liegt nur bei 39 Prozent und ist in den letzten sechs Jahren ebenfalls um 13 Prozent gesunken. Diese Auslastung wird i.d.R. für die Kalkulation der Vergütungssätze zugrunde gelegt. In Abbildung 1 ist der Verlauf der Belegungsanteile über 90 Prozent bzw. über 95 Prozent dargestellt, und zu den einzelnen Jahren wird auch die Zahl der Rückläufer bei der verbandsinternen Belegungsumfrage angegeben.
Abbildung 1: Belegung > 90% und > 95 % im Jahresverlauf 2005 bis 2015
Die Frage zur Belegungsentwicklung im Vergleich zum Vorjahr wurde von rund einem Drittel aller Einrichtungen als positiv beantwortet. Fast die Hälfte aller Einrichtungen berichtet von einer schlechteren Auslastung, und rund 20 Prozent der Einrichtungen berichten von gleichbleibender Auslastung gegenüber dem Vorjahr. Hier ist zu beachten, dass diese individuellen Aussagen zur Veränderung der Belegung von den o.g. Zahlen zur Auslastung im Jahresvergleich abweichen können, weil auch negative Veränderungen innerhalb einer Kategorie (bspw. > 90 Prozent) eine Verschlechterung der Belegung bedeuten. Im Hinblick auf die Ursachen für eine schlechtere Belegung waren Mehrfachnennungen möglich, Tabelle 2 zeigt die entsprechenden Anteile.
Tabelle 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung
Ähnlich wie im Vorjahr sehen über die Hälfte der Alkohol-Einrichtungen die Gründe für eine schlechtere Belegung darin, dass weniger Anträge gestellt wurden. Diese Beschreibung deckt sich mit Berichten vieler Träger der Deutschen Rentenversicherung über teilweise erhebliche Rückgänge bei den Anträgen für die Sucht-Rehabilitation. In Drogen-Einrichtungen stehen vor allem andere Ursachen im Vordergrund. Allerdings gilt es zu beachten, dass ein direkter Vergleich mit den Vorjahreswerten nicht unmittelbar möglich ist. Seit 2014 wurde in der Belegungsumfrage die Therapieverkürzung nicht mehr abgefragt, weil es keine entsprechenden Maßnahmen der Leistungsträger gab. Somit verschiebt sich das Verhältnis der Antworten. In Abbildung 2 sind die Anteile der kategorisierten Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe dargestellt.
Abbildung 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe
Neben den zwei Hauptursachen (weniger Bewilligungen, weniger Anträge) konnten in der Umfrage weitere Ursachen angegeben werden. Der mit Abstand am häufigsten genannte Aspekt war die abnehmende Verbindlichkeit seitens der Patienten (Nichtantritt, Abbruch) mit 23 Nennungen, fast doppelt so viele wie im letzten Jahr.
Jahresergebnis 2014
Eine wichtige Erkenntnis ergibt sich auch aus der Frage nach dem finanziellen Ergebnis. Da die Angaben zur kumulierten Belegung und zur Veränderung der Belegung sehr individuell interpretiert werden können (für manche Einrichtungen sind 90 Prozent schon eine wirtschaftlich gute Belegung, für manche reichen erst 98 Prozent zur Kostendeckung), wurde nach dem realisierten Betriebsergebnis für das Jahr 2014 gefragt (vgl. Abbildung 3).
Abbildung 3: Jahresergebnis 2014
Mehr als die Hälfte aller Einrichtungen kann also nach den Ergebnissen der Belegungsumfrage nicht kostendeckend arbeiten. Als Ursache der Unterfinanzierung geben rund 47 Prozent der Gesamtstichprobe eine schlechte Belegung an. 39 Prozent der Einrichtungen sehen die Ursache in den zu geringen Vergütungsätzen. Weitere 14 Prozent gaben andere Ursachen an. Wie im vorhergehenden Jahr werden hier insbesondere gestiegene Personal- und Investitionskosten zur Erfüllung der Strukturanforderungen angegeben (acht Nennungen). In Abbildung 4 ist die Finanzierungssituation der Einrichtungen im Zeitverlauf seit 2011 dargestellt.
Abbildung 4: Finanzierungssituation im Jahresvergleich
Zusammenfassung
Die wirtschaftliche Situation der Mitgliedseinrichtungen im Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe hat sich seit 2014 weiter verschlechtert. Neben den finanziellen Belastungen durch die Umsetzung der strukturellen und personellen Anforderungen der Leistungsträger sowie den überwiegend nicht kostendeckenden Vergütungssätzen ist als weiteres Problem der in vielen Regionen Deutschlands zu verzeichnende Rückgang von Anträgen für die Suchtrehabilitation hinzugekommen. Viele Kliniken können nur noch am Markt bestehen, weil sie Quersubventionierungen des Trägers erhalten. Andere müssen dauerhaft eine Belegung über 100 Prozent realisieren, um eine Kostendeckung zu erreichen, oder Kürzungen bei den Personalausgaben im Rahmen der Tarifbindung (Streichung von Jahressonderzahlungen) vornehmen.
Einzelne Träger mussten inzwischen feststellen, dass unter den aktuellen Bedingungen die meisten Suchtreha-Einrichtungen nicht mehr wirtschaftlich geführt werden können. Weitergehende Analysen der Belegungszahlen zeigen, dass auch voll ausgelastete Einrichtungen kein positives Betriebsergebnis erzielen können. Insbesondere in Bayern und Nordrhein-Westfalen wurden daher schon erste Einrichtungen geschlossen, für weitere Kliniken sind ähnliche Entscheidungen zu befürchten. Dabei kann nicht von einer ‚Marktbereinigung‘ aufgrund mangelnder Nachfrage die Rede sein, denn zum einen waren diese Einrichtungen teilweise gut belegt und zum anderen sind stationäre Einrichtungen wichtige Pfeiler im Suchthilfesystem. Mit ihrer Schließung werden in den betroffenen Regionen auch andere Angebote wegbrechen. Die Aufmerksamkeit für Suchtprobleme und die Erreichbarkeit von Suchtkranken, die generell problematisch ist, werden dadurch weiter abnehmen. Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation sind daher aufgefordert, ihre Strukturverantwortung wahrzunehmen und die vorhandenen finanziellen Spielräume dazu zu nutzen, den Einrichtungen einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zu ermöglichen. Erfreulicherweise haben einige Träger der Deutschen Rentenversicherung den Ernst der Lage erkannt und einen entsprechenden Dialog mit den Einrichtungen bzw. den Verbänden begonnen.
Kontakt:
Iris Otto
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
Wilhelmshöher Allee 273
34131 Kassel
Tel. 0561/77 93 51 iris.otto@suchthilfe.de www.suchthilfe.de
Angaben zu den Autoren:
Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel (buss) hat seine jährliche Auswertung von Basis- und Katamnesedaten aus den Mitgliedseinrichtungen vorgelegt. Die Basisdaten werden jedes Jahr als Gesamtauswertung und getrennt für die Einrichtungsarten stationäre Reha Alkohol, stationäre Reha Drogen, Adaption und Tageskliniken in kommentierten Tabellenbänden dargestellt. Die Katamnesedaten werden getrennt für Alkohol- und Drogeneinrichtungen ausgewertet. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der Basisdaten 2014 und der Katamnesedaten 2013 zusammengefasst. Die vollständigen Tabellenbände stehen allen Interessierten auf der Website des buss unter www.suchthilfe.de > Informationen > Statistik zur Verfügung.
Basisdaten 2014
Die Auswertung der Basisdaten des Entlassungsjahrgangs 2014 umfasst insgesamt 18.623 Fälle aus 105 Einrichtungen. Das durchschnittliche Alter liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, und in Tageskliniken mit 44,6 bzw. 44,5 Jahren am höchsten. Nach wie vor bilden Drogenabhängige die jüngste Gruppe mit durchschnittlich 29 Jahren. Das durchschnittliche Alter der Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen liegt bei 37,7 Jahren.
Der Anteil der Frauen liegt in Suchthilfeeinrichtungen bei rund einem Viertel. So sind in Adaptionseinrichtungen und Drogenfachkliniken weniger als 18 Prozent der Behandelten Frauen. In Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Frauenanteil bei 27,4 Prozent, in Tageskliniken sind mit 29,1 Prozent die meisten Frauen vertreten. Tabelle 1 fasst wesentliche Items aus den Basisdaten 2014 zusammen.
Tabelle 1: Basisdaten 2014
Berufliche und soziale Integration
Große Unterschiede bestehen je nach Einrichtungsart in Bezug auf die berufliche und soziale Integration der Rehabilitanden. Rehabilitanden in Tageskliniken sind am besten integriert, sie weisen mit 33,4 Prozent die geringste Arbeitslosenquote auf, und circa ein Drittel der Gruppe ist alleinstehend. In Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, beträgt der Anteil an Alleinstehenden 46,2 Prozent, die Arbeitslosenquote liegt bei 41,5 Prozent. In Drogenfachkliniken beträgt der Anteil an Alleinstehenden 62,1 Prozent, die Arbeitslosenquote 55,7 Prozent. Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen weisen die problematischsten Daten auf: 71,2 Prozent sind alleinstehend und 79,2 Prozent sind arbeitslos.
Behandlungsdauer
Die planmäßige Behandlungsdauer ergibt sich aus den jeweiligen Bewilligungen und Standardtherapiedauern der Leistungsträger sowie den individuellen Therapieverläufen. Die Behandlungsdauer bei planmäßiger Beendigung liegt in Alkoholfachkliniken bei durchschnittlich 91,6 Tagen (= 13 Wochen). In Adaptionseinrichtungen werden im Schnitt 95,1 Tage (13 bis 14 Wochen) erreicht. Die planmäßige Behandlung dauert in Drogenfachkliniken am längsten mit 137,8 Tagen (= 20 Wochen). Die Behandlungsdauer in Tageskliniken ist mit 85,3 Tagen (= 12 Wochen) am kürzesten. Zudem ist zu beachten, dass in der ganztägig-ambulanten Rehabilitation üblicherweise an Sonn- und Feiertagen keine Therapieleistungen erbracht werden. Die angegebene Dauer bezieht sich auf Kalendertage (Zeitraum zwischen Aufnahme und Entlassung) und nicht auf Behandlungstage.
Haltequote
Die Haltequote für den Entlassungsjahrgang 2014 liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, sowie in Tageskliniken bei über 84 Prozent. Die Haltequote in Adaptionseinrichtungen beträgt 75,7 Prozent. In Drogenfachkliniken beendet etwas mehr als die Hälfte der Rehabilitanden die Behandlung planmäßig. In Tabelle 2 und Abbildung 1 sind die Vergleichsdaten der letzten Jahre dargestellt.
Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014
Katamnesedaten 2013
Die Katamnesedaten für den Indikationsbereich Drogen stammen aus elf Rehakliniken, es wurden nur Einrichtungen mit mindestens zehn Prozent Rückläuferquote berücksichtigt. Von insgesamt 1.251 entlassenen Rehabilitanden haben 224 Rehabilitanden geantwortet. Die mittlere Rückläuferquote liegt bei 17,9 Prozent.
Von insgesamt 10.461 planmäßig entlassenen Rehabilitanden aus 47 Alkoholeinrichtungen (mindestens 25 Prozent Rückläuferquote) konnten die Daten von 4.059 Antwortern für die Katamnese berücksichtigt werden. Die mittlere Rückläuferquote beträgt 40,4 Prozent. Die Rückläuferquote ist in beiden Indikationsbereichen über die letzten fünf Jahre relativ konstant (s. Abbildung 2).
Abbildung 2: Katamnesedaten – Rückläuferquote 2009 bis 2013
Vergleich der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten 2013
In Tabelle 3 werden für den Entlassungsjahrgang 2013 die Daten der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten verglichen. Für das Jahr 2013 wurden die Basisdaten von 12.630 entlassenen Rehabilitanden aus Einrichtungen für Alkohol- und Medikamentenabhängige ausgewertet, davon haben 4.059 bei der Katamnese geantwortet. An der Katamnese in Drogeneinrichtungen nahmen 224 ehemalige Rehabilitanden teil, die Gesamtstichprobe, für die Basisdaten für 2013 vorliegen, umfasst 2.828 Fälle.
Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013
Das durchschnittliche Alter bei Betreuungsbeginn betrug in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen 44,5 Jahre, die Antworter sind mit durchschnittlich 47,9 Jahren etwas älter. In Drogeneinrichtungen ist das Durchschnittsalter mit knapp 30 Jahren zu Behandlungsbeginn und bei den Antwortern nahezu identisch.
Antworter, die in Kliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige behandelt wurden, waren durchschnittlich 88,9 Tage in stationärer Behandlung. In der Gesamtstichprobe liegt die Behandlungsdauer mit 90,1 Tagen etwas höher. Die durchschnittliche Behandlungsdauer in Drogeneinrichtungen liegt bei Antwortern bei 138,6 Tagen und in der Gesamtstichprobe bei 136,1 Tagen.
Von allen Rehabilitanden in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen wurden 84,0 Prozent planmäßig entlassen. Bei den Antwortern lag der Anteil an planmäßig Entlassenen bei 93,7 Prozent und damit deutlich höher. In Drogeneinrichtungen liegt die Haltequote bei den Katamnese-Antwortern mit 79,5 Prozent ebenfalls deutlich über der Haltequote in der Gesamtstichprobe (55,7 Prozent).
Unter den ehemaligen Rehabilitanden aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen antworten eher diejenigen, die einer Arbeit nachgehen und in einer Beziehung leben: Der Anteil Alleinstehender in der Gesamtstichprobe beträgt 50,2 Prozent, bei den Antwortern 46,7 Prozent. Von den Antwortern sind 36,2 Prozent arbeitslos, in der Gesamtstichprobe liegt der Anteil bei 43,0 Prozent. Die Gesamtstichprobe aus Drogeneinrichtungen weist einen Anteil von 58 Prozent Alleinstehenden und 58,2 Prozent Arbeitslosen aus. Interessanterweise ist der Anteil der Alleinstehenden unter den Antwortern höher (65,6 Prozent). Der Anteil der Arbeitslosen ist bei den Katamnese-Antwortern aus Drogeneinrichtungen ebenso wie bei den Antwortern aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen niedriger (48,7 Prozent).
Katamnestische Erfolgsquoten
Die katamnestische Erfolgsquote errechnet sich aus den Patienten/-innen, die in der Katamnese ‚abstinent‘ und ‚abstinent nach Rückfall‘ angeben. Die Berechnungsform DGSS 1 umfasst alle planmäßig entlassenen Antworter (positive Sichtweise = Überschätzung der tatsächlichen Quote), die Berechnungsform DGSS 4 umfasst alle – auch die nicht planmäßig – entlassenen Rehabilitanden und wertet die Nicht-Antworter als ‚definiert rückfällig‘ (negative Sichtweise = Unterschätzung der tatsächlichen Quote). Tabelle 4 und Abbildung 3 zeigen einen Überblick über DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013.
Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
Im Indikationsbereich Alkohol sind beide katamnestischen Erfolgsquoten über die letzten fünf Jahre relativ stabil: DGSS 1 = etwas über 80 Prozent, DGSS 4 = rund 40 Prozent. Die Quote DGSS 4 wird wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 45 Prozent berechnet, d. h., es werden nur Einrichtungen bei der Auswertung berücksichtigt, bei denen die Rückläuferquote mindestens 45 Prozent beträgt.
Die Werte im Indikationsbereich Drogen schwanken im selben Zeitraum: DGSS 1 = zwischen 66 Prozent und 53 Prozent, DGSS 4 = zwischen neun Prozent und 18 Prozent. Dieser Effekt kann im Wesentlichen durch die Veränderungen der Stichprobe und die unterschiedliche Zahl der teilnehmenden Einrichtungen erklärt werden (2012 = 15 Kliniken / 1.591 Fälle / 274 Antworter). Außerdem wird die Quote DGSS 4 ab 2013 wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 25 Prozent berechnet, was den deutlichen Anstieg erklärt.
Kontakt:
Iris Otto
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
Wilhelmshöher Allee 273
34131 Kassel
Tel. 0561/77 93 51 iris.otto@suchthilfe.de www.suchthilfe.de
Angaben zu den Autoren:
Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
Viele Krankenhäuser haben sich in den letzten Jahren nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen, www.ktq.de) zertifizieren lassen, so auch alle Kliniken in Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), ausgenommen die Einrichtungen der Suchtrehabilitation, die nach dem DIN-ISO-basierten deQus-Modell zertifiziert sind. Nun hat das LWL-Klinikum Gütersloh für den Krankenhausbereich – als Pilot im LWL – zur DIN EN ISO 9001:2008 gewechselt. Das LWL-Klinikum umfasst die Kliniken für Allgemeine Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Psychosomatische Medizin, Suchtmedizin sowie die Kliniken für Innere Medizin und Neurologie. Insgesamt handelt es sich um 449 Betten/Tagesklinik-Plätze, drei Ambulanzen und ca. 500 Stellen.
Ziel der Zertifizierung nach DIN ISO war es, Qualitätsmanagement (QM) als effektives Managementinstrument auszubauen, die Mitarbeitenden einzubeziehen und dabei ressourcensparend vorzugehen.
Warum DIN ISO?
Ein QM-System zu implementieren, macht Arbeit, unabhängig davon, an welchen Vorgaben eine Einrichtung sich orientiert. Aufbau- und Ablauforganisation müssen geklärt sein, regelmäßige Überprüfungen und Verbesserungen im Sinne des PDCA-Zyklus nach Deming (Plan – Do – Check – Act) sind nachzuweisen. Im LWL-Klinikum Gütersloh haben wir die DIN ISO gewählt, weil sich deren Anforderungen konkret auf diejenigen Prozesse richten, die tatsächlich in der Einrichtung ablaufen. Kernaufgabe ist es, in einem QM-Handbuch die wesentlichen Arbeitsabläufe und die sicherheitsrelevanten Prozesse darzustellen. Geregelt werden die Prozesse mit dem Ziel, ein reibungsloses Ineinandergreifen und Funktionieren zu gewährleisten, möglichen Risiken vorzubeugen und Schnittstellen zu optimieren.
Wir haben bei der Beschreibung der Prozesse die Sichtweisen der mit den Abläufen vertrauten Mitarbeitenden einbezogen, um die Regelungen wirklich an der Arbeitsrealität auszurichten. Ein solches Vorgehen erleichtert es zugleich, die Mitarbeitenden für das QM zu gewinnen, denn i. d. R. empfinden es Mitarbeitende als Wertschätzung, wenn sie gefragt werden, was ihre Arbeit ausmacht. In jährlichen internen Audits wird dann geprüft, ob die realen Arbeitsabläufe den Regelungen des Handbuchs entsprechen und ob die Regelungen geeignet sind, die Qualitätsziele der Einrichtung zu erfüllen. Gleichzeitig dienen die Audits dem Austausch zwischen der/dem Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB) und den Mitarbeitenden, Hinweise auf Verbesserungsbedarf gelangen dem Qualitätsmanagement zur Kenntnis, Maßnahmen werden mit den Mitarbeitenden vereinbart. Unmittelbare Praxisrelevanz erhält das QM-Handbuch aber erst dann so richtig, wenn Mitarbeitende sich damit aktiv auseinandersetzen und z. B. selbst darauf hinweisen, dass ein Arbeitsablauf zu Unsicherheiten, Konflikten oder Doppelarbeiten führt und deshalb geregelt werden sollte. Dann stehen wirklich diejenigen Prozesse im Fokus, bei denen Handlungsbedarf besteht, und die Kernfragen der QM-Arbeit sind „Was brauchen wir?“, „Was nützt unserer Einrichtung?“.
Zentral werden diese Fragen jährlich im Management-Review der obersten Führungsebene gestellt. Im Rahmen dieses strategischen Management-Instruments wird das gesamte QM-System überprüft und bewertet. Die Ergebnisse der Audits fließen ebenso mit ein wie die des Beschwerde-, Fehler- und Risikomanagements, und auf der Grundlage der Bewertung werden Qualitätsziele festgelegt und zukünftige Entwicklungsschwerpunkte definiert.
Zertifizierung als ‚Sahnehäubchen‘?
Die Mitarbeitenden in die Erarbeitung von Prozessbeschreibungen einbeziehen, sich in internen Audits regelmäßig über die Vorgaben austauschen, gemeinsam Verbesserungen erarbeiten – das sind wichtige Bausteine eines lebendigen Qualitätsmanagements. Die Zertifizierung selbst sollte dann einen weiteren Motivationsschub geben und keinesfalls als übermäßige Belastung erlebt werden.
Bei einer DIN-ISO-Zertifizierung werden alle Bereiche einer Einrichtung einbezogen. Uns besuchten zwei Auditoren vier Tage lang. Im Anschluss an ein dreistündiges Audit des Direktoriums und der Personalleitung auditierten sie nahezu alle Stationen sowie die Tageskliniken und Ambulanzen aller Klinken. Insgesamt waren 109 Mitarbeitende beteiligt. Sie alle haben eine direkte Rückmeldung über ihre Arbeit bekommen, da die Auditoren zum Abschluss eines jeden Audits die Stärken und die Verbesserungshinweise detailliert benannten.
Im Mittelpunkt des Zertifizierungsaudits stand die Patientin/der Patient im Krankenhaus, d. h. die beiden Auditoren haben versucht, den ‚Weg des Patienten‘ in seiner individuellen Behandlung nachzuvollziehen. Darüber hinaus stand das Sicherheits- und Risikomanagement im besonderen Fokus. Die Bewertungsperspektive der Auditoren war einerseits auf das Risikomanagement der Prozesse ausgerichtet, mit dem Ziel, uns Hinweise auf mögliche ‚blinde Flecken‘ zu geben und auf Gefahren hinzuweisen: ein nicht abschließbarer Medikamentenschrank, Risiken bei der Medikamentenvergabe, fehlende CE-Zeichen auf den älteren Geräten der Physiotherapie – durchaus wertvolle Hinweise, die unsere eigenen Ziele unterstützen, Risiken zu verringern und Qualität weiterzuentwickeln. Gleichzeitig fokussierten die Auditoren immer wieder die Ergebnisqualität und gaben Denkanstöße, wie die Qualität der Behandlung besser gemessen werden könnte. Dies ist bekanntermaßen gerade auch im Hinblick auf das neue Vergütungssystem PEPP ein sehr wichtiger Aspekt. Immer wieder ging die Reflexion dahin, wie Ergebnisse noch stärker in das Qualitätsmanagement einfließen können.
Im Audit der Leitung stand das Management von Qualität im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Direktorium erhielt Hinweise darauf, wie Qualitätsmanagement noch konsistenter als Führungsinstrument zur strategischen Planung genutzt werden kann.
Wie erlebten die Mitarbeitenden das Audit?
Nach Abschluss des Zertifizierungsprozesses haben wir die beteiligten Mitarbeitenden gebeten, das Audit anhand eines Fragebogens zu bewerten. 65 Bögen wurden zurückgegeben, die Rücklaufquote beträgt 60 Prozent. An der Befragung beteiligten sich alle Berufsgruppen, Antworten aus Pflege, Medizin und Therapie sind in nahezu gleicher Anzahl vertreten.
Etwa drei Viertel der Antwortenden bewerteten den Auditprozess als „sehr gut“ oder „gut“ und hatten den Eindruck, dass die Auditoren das Arbeitsfeld gut verstanden haben.
Weitere Fragen an die Mitarbeitenden waren:
Was hat Ihnen in dem Audit besonders gut gefallen?
Mitglieder der obersten Führungsebenen bewerteten positiv, dass nahezu alle Organisationseinheiten begangen wurden, dass das Audit einerseits keinen Prüfungscharakter hatte, andererseits aber Schwachstellen aufdeckte, und dass ein besonderer Fokus auf messbare Ergebnisqualität gelegt wurde.
Die Mitarbeitenden hoben die wertschätzende Haltung der Auditoren und ein authentisches Interesse für das jeweilige Arbeitsfeld durchweg als positiv hervor. Sie berichteten, dass ein direkter Praxisbezug hergestellt wurde, die Fragen am ‚Weg des Patienten‘ orientiert waren, Arbeitsabläufe kritisch hinterfragt wurden und verbesserungsbedürftige Prozesse zielgerichtet aufgedeckt wurden. Es sei ein offener und kommunikativer Austausch mit den Auditoren entstanden. Die Auditoren hätten positive Rückmeldungen gegeben, die Verbesserungsvorschläge seien konstruktiv und gut annehmbar gewesen.
Was hat Ihnen nicht gefallen?
Einzelne kritische Stimmen waren auch zu vernehmen: Der Auditor habe das Leistungsspektrum der Abteilung nicht genau gekannt. Der Ablauf des Audits sei etwas unübersichtlich gewesen. Drei ärztlich-therapeutischen Mitarbeitenden genügten die Psychiatriekenntnisse des Auditors nicht. Einem Antwortenden hat es nicht gefallen, dass sein Bereich keine Verbesserungsvorschläge erhalten hat.
Probleme mit dem Zeitmanagement wurden öfter genannt: Einigen war die Zeit zu knapp, anderen hat das Audit zu lange gedauert, in einem Fall wurde der geplante Zeitrahmen erheblich überzogen, in anderen Fällen begann das Audit mit Verspätung und es entstanden Wartezeiten für die Mitarbeitenden.
Haben Sie Verbesserungshinweise bekommen?
Mehr als drei Viertel der Antwortenden waren mit den Verbesserungshinweisen zufrieden. Ein Viertel bewertete die Verbesserungshinweise als „wenig nützlich“. Als Beispiele wurden angeführt: eine hohe Anspruchshaltung in Bezug auf die Visitenführung, Kritik an Fluchtwegen, obwohl diese feuerbehördlich abgenommen worden sind, die Fokussierung auf den Medikamentenschrank.
Welche Anregungen haben Sie bekommen?
Die Mitglieder der obersten Führungsebenen hoben die stärkere Nutzung des Qualitätsmanagements als Führungsinstrument, die weitergehende Adaptierung von Expertenstandards und Hinweise zum Risikomanagement als wertvolle Anstöße hervor. In den Bewertungen der Teammitglieder lassen sich folgende Schwerpunkte erkennen:
Schnittstellenmanagement: Verbesserung der Zusammenarbeit mit anderen Bereichen und Berufsgruppen, Abstimmung von Abläufen, Überprüfung von Kommunikationsstrukturen
Dokumentation: rechtssichere Dokumentation in den Ambulanzen, stärkere Strukturierung der Dokumentation im Krankenhausinformationssystem (KIS)
Risikomanagement: Hygiene und Desinfektion, Medikamentenvergabe, Aufklärungspflicht, Sicherheit auf der Station
Nachweis von Ergebnisqualität: Evaluierung der Arbeit, Erarbeitung von Soll- und Ist- Kriterien, Erarbeitung von Leistungskennziffern
Was halten Sie von den jährlichen Überwachungsaudits?
In den beiden Jahren bis zur Rezertifizierung kommen die Auditoren ebenfalls ins Haus, um Überwachungsaudits durchzuführen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass begonnene Entwicklungen kontinuierlich weitergeführt und die vereinbarten Maßnahmen verbindlich umgesetzt werden. Qualitätsmanagement kann so nachhaltig alle Organisationsbereiche einer Einrichtung durchdringen und die Entwicklung eines Qualitätsbewusstseins bei den Mitarbeitenden fördern.
Mehr als drei Viertel der Antwortenden finden es „sehr gut“ und „gut“, wenn die Auditoren jährlich ins Haus kommen. Wer die Verbesserungshinweise als nützlich bewertet, hofft, dass die jährliche Auditierung die Kontinuität der Qualitätsentwicklung unterstützt.
Es wurde der Wunsch geäußert, Qualitätsmanagement möge tatsächlich gelebt werden und ein authentischer Prozess mit einer fruchtbaren, berufsgruppenübergreifenden Diskussion möge entstehen.
Wir empfehlen: DIN ISO!
Unsere KTQ-Zertifizierung vor drei Jahren war erfolgreich – wir erreichten eine hohe Punktzahl und bekamen viel Lob von den Visitoren (so heißen die Auditoren bei der KTQ). Aber zusätzlich zum ganz normalen Aufbau eines QM-Systems hatten wir rund 250 Arbeitstage für das Verfassen von Berichten aufgewandt und etwa 800 Dokumente (sechs übervolle Aktenordner) kopiert und zur Einsichtnahme für die Visitoren zusammengestellt (und nach der Zertifizierung wieder entsorgt). Unsere Mitarbeitenden hatten wir mit Probevisitationen nervös gemacht, sodass sie versuchten, Prozessbeschreibungen und Berichte auswendig zu lernen. Visitiert wurden letztlich aber nur drei (!) Stationen (von 19). Nach der Zertifizierung war dann die Luft raus, und mit QM wollte keiner mehr etwas zu tun haben.
Unsere Befragungsergebnisse zeigen nun deutlich, dass die Mitarbeitenden an der Weiterentwicklung von Qualität in ihrem Arbeitsfeld interessiert sind und die Instrumente des Qualitätsmanagements akzeptieren, wenn sie den Nutzen für ihre Arbeit erkennen. Geregelte Abläufe und nachvollziehbare Risikostandards geben Mitarbeitenden Sicherheit. Die Begehung nahezu aller Organisationseinheiten bei der Zertifizierung, die direkten und wertschätzenden Rückmeldungen und Anregungen der Auditoren und im Ergebnis eine überschaubare Anzahl relevanter Verbesserungshinweise motivieren zur Bearbeitung und lassen Qualitätsmanagement in der gesamten Einrichtung erlebbar und lebendig werden.
Die Bernhard-Salzmann-Klinik (Suchtrehabilitation) ist seit 2003 nach dem deQus-Verfahren zertifiziert, daher waren wir von den Stärken einer DIN-ISO-Zertifizierung überzeugt. Überrascht und erfreut hat uns jedoch die positive Einschätzung der Mitarbeitenden auch im Krankenhausbereich.
Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation: Frank Zamath, Werner Höhl, Azize Kasberg, Detlef Mallach, Petra Köser, Nicolas Poss (v.l.n.r.)
Der Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation ist ein ehrenamtliches Expertengremium des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e. V. (DVE). In Zusammenarbeit mit dem DVE-Vorstand ist es seine Aufgabe, die Ergotherapie fachlich-methodisch und wissenschaftlich weiterzuentwickeln und die Qualitätssicherung im arbeitstherapeutischen und arbeitsrehabilitativen Fachbereich zu unterstützen.
MBOR und BORA
Dazu gehört u. a. auch die Beratung von Mitgliedern. In den vergangenen zwei Jahren erreichten den Verband viele Anfragen zur Umsetzung der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR), was zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auch im Fachausschuss Arbeit & Rehabilitation führte. Da die Arbeitstherapie mit dem Ziel der beruflichen (Wieder-)Eingliederung im Bereich der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter eine lange Geschichte hat, ist es zu begrüßen, dass hier durch die Deutsche Rentenversicherung ein Sonderweg beschritten wurde. Die bestehenden MBOR-Angebote wurden für die Suchtreha-Kliniken nicht einfach übernommen und ‚übergestülpt‘, sondern nach genauer Analyse des Integrationspotentials in die BORA-Empfehlungen eingearbeitet. Die in BORA formulierten Grundlagen und Zielsetzungen bieten eine sehr gute Grundlage für die Ausformulierung und Begründung der arbeitsbezogenen Konzepte und Angebote der Suchthilfe.
Moderne Ergotherapie
Die Arbeitstherapie in Suchtkliniken gehört nach unserem Verständnis zum klassischen Aufgabengebiet von ErgotherapeutInnen. Die qualitative Umsetzung der Arbeitstherapie nach der BORA-Empfehlung gelingt am ehesten in der interdisziplinären Zusammenarbeit z. B. mit Fachleuten aus handwerklichen Berufen mit Zusatzqualifikation. Eine Trennung der Begrifflichkeiten in Ergo- und Arbeitstherapie, geschweige denn die Verwendung des Begriffes Beschäftigungstherapie, entspricht nicht mehr dem aktuellen Verständnis und Wissensstand unseres mittlerweile auch akademischen Berufsbildes. Diese Kritik am Sprachgebrauch von BORA muss an dieser Stelle sein. Der Einbezug des modernen wissenschaftlichen ergotherapeutischen Wissens in die Konzepte der bestehenden arbeitstherapeutischen Strukturen kann in Zukunft viel zur qualitativen Entwicklung innerhalb der Einrichtungen wie auch zur Weiterentwicklung von Therapiestandards und Empfehlungen wie BORA beitragen.
Instrumente und Assessments
Der in BORA geforderte Einsatz von Instrumenten und Assessments bietet viel Raum, Know-how einzubringen. Die beschriebene Erhebung einer Berufs- und Bildungsanamnese und deren Inhalte entsprechen der aktuellen professionellen ergotherapeutischen Vorgehensweise. Die geforderte physiologische Befunderhebung im Rahmen der FCE-Systeme (functional capacity evaluation) lässt sich gut gemeinsam mit z. B. den PhysiotherapeutInnen umsetzen. Die bedeutsamen motorischen Funktionsstörungen sollen und müssen bei der relevanten Klientengruppe erfasst und ggf. auch therapiert werden. Ihren Stellenwert im Rahmen der arbeitsbezogenen Suchtrehabilitation schätzen wir jedoch als nicht so bedeutsam ein, wie er aktuell an mancher Stelle diskutiert wird. Im Vordergrund stehen sicherlich eher mentale Funktionen (ICF) bzw. die instrumentellen wie sozioemotionalen Arbeitsfähigkeiten (Köser 2013). Wir sehen die bewährten arbeitsdiagnostischen Instrumente wie die Dokumentationssysteme MELBA, MELBA+Mai und IMBA als relevant bei der Erhebung von Arbeitsfähigkeiten und des Jobmatchings an. AVEM und DIAMO können zu Beginn eines arbeitstherapeutischen Prozesses wertvolle Hinweise für eine klientenzentrierte Interventionsplanung liefern. Wünschenswert wäre, dass in Zukunft weitere evidenzbasierte (arbeitstherapeutische) Assessments Einzug in die Arbeitstherapie der Suchtkliniken halten, auch, um auf Dauer die dringend erforderlichen Wirksamkeitsnachweise erbringen zu können (Höhl, Köser, Dochat 2015).
Die bisher in vielen Kliniken schon gelebten partizipativen Zielerreichungsprozesse wurden nun in den BORA-Empfehlungen als feste Meilensteine festgeschrieben, um die Planung und die arbeitsbezogenen Maßnahmen den Bedürfnissen der KlientInnen anpassen zu können. Die ganzheitliche, teilhabeorientierte Ausrichtung von BORA und im Speziellen die Therapie- und Teilhabeplanung anhand der Komponenten der ICF ist nach heutigem Verständnis unabdingbar. Diese ressourcenorientierte, ganzheitliche Sicht der Lebenssituation von KlientInnen ist der Ergotherapie sehr vertraut.
Schnittstellenmanagement und die Zeit nach der Reha
Zu begrüßen ist ebenso die Betonung des Schnittstellenmanagements, der Verzahnung mit anderen beteiligten Institutionen, mit weiterbegleitenden und nachsorgenden Diensten. Hier wurde aus unserer Sicht eine gelungene Grundlage geschaffen, den Rehabilitanden eine möglichst große Chance zur Teilhabe zu ermöglichen. Die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation ermöglicht aufgrund ihrer Dauer – im Gegensatz zu vielen anderen arbeitstherapeutischen Angeboten – derzeit noch ein kompetenzbezogenes Training. Aber besonders die KlientInnen, die den Bezug zur Teilhabe am Arbeitsleben aufgrund von Erkrankung und Langzeitarbeitslosigkeit verloren haben, benötigen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation eine gründliche Arbeitsdiagnostik mit einem sich anschließenden längerfristigen Interventionsplan, der auch nach der Entlassung aus dem klinischen Umfeld nahtlos weitergeführt werden kann.
Realitätsnähe durch klinikinterne Aufgabenbereiche
BORA betont die Notwendigkeit von handlungsbezogenen arbeitstherapeutischen Angeboten. Die geforderte Einschätzung und Selbstwahrnehmung von Arbeitsfähigkeiten in einem Kontext, der Arbeitshandeln einzeln und in Gruppen ermöglicht und beobachtbar macht, unterstützt realistische prognostische Aussagen. Zu dem notwendigen (geschützten) Übungsrahmen zählen auch die klinikinternen Aufgabenbereiche, die eine realitätsnahe Ressource an Arbeitsmöglichkeiten darstellen, wenn sie, wie in BORA vorgesehen, zielgerichtet und begründet genutzt werden.
Alles in allem ist BORA sehr kompatibel mit modernen arbeitsbezogenen ergotherapeutischen Ansätzen. Die konzeptionelle Umsetzung im Zusammenhang mit der Neufassung der Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) und der zu erwartenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit stellt eine Herausforderung dar, die nur in einem engagierten multiprofessionellen Team gelöst werden kann.
Köser, P. (2013). Hilfen zur Befunderhebung/Arbeitsdiagnostik. 3. Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner
Höhl W., Köser P., Dochat A. (2015). Produktivität und Teilhabe am Arbeitsleben. Arbeitstherapie, Arbeitsrehabilitation, Gesundheitsförderung. Idstein: Schulz-Kirchner
Helga Meeßen-Hühne ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Sie beschreibt, welche Funktion die ambulante Suchthilfe auf Landesebene erfüllt und welche Strategien nötig und möglich sind, um ihre Finanzierung zu sichern. Der Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin im September 2014 auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des buss in Kassel gehalten hat.
1. Wer ist eigentlich die ambulante Suchthilfe?
„Die“ ambulante Suchthilfe gibt es nicht
Griffiger Titel – komplexe Gemengelage: Wer handelt in wessen Auftrag mit welchem Ziel in Kooperation mit wem? Verschiedenste gesetzliche Regelungen formulieren für den Suchtbereich jeweils unterschiedliche Anspruchsberechtigte, Erbringer und Ziele der Leistung: das SGB II über die Grundsicherung für Arbeitsuchende, das SGB V über die gesetzliche Krankenversicherung, das SGB VI über die gesetzliche Rentenversicherung und das SGB XII über die Sozialhilfe sowie die jeweiligen Landesgesetze über den Öffentlichen Gesundheitsdienst und über die Hilfen für psychisch Kranke. Nicht unerwähnt bleiben sollen Hilfen für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige nach dem SGB VIII. Alle genannten Gesetze und einige weitere Vorschriften haben Relevanz auch für die „ambulante Suchthilfe“ (Ministerium für Arbeit und Soziales 2011).
Suchtkranke und suchtgefährdete Menschen heißen – je nach Zuständigkeit – Kundinnen und Kunden, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, Klientinnen und Klienten oder seelisch Behinderte in Folge von Sucht. Im Wirkungsbereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind junge Menschen mit Suchtproblemen „von seelischer Behinderung in Folge von Sucht bedroht“ (§ 35a SGB VIII). Je nach Zuständigkeit geht es den Leistungsträgern z. B. um die Teilhabe am Arbeitsleben, die Sicherung und Wiederherstellung von Erwerbsfähigkeit oder die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Dass 80 Prozent aller Suchtkranken mindestens einmal pro Jahr ihren Hausarzt aufsuchen, ist zumindest in der (Sucht-)Fachwelt bekannt. Die wenigsten der niedergelassenen Ärzte zählen sich aber selbst zur „ambulanten Suchthilfe“. Einige Ärzte, die Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigen durchführen, zählen sich zur „ambulanten Suchthilfe“. Manchmal ordnen sich Tageskliniken von psychiatrischen Fachkrankenhäusern oder von Fachkliniken gem. SGB VI der ambulanten Suchthilfe zu.
Suchtberatungsstellen – Kern der ambulanten Suchthilfe
Die Suchtberatungs- und -behandlungsstelle mit ihren regional sehr unterschiedlich ausgestalteten Grund- und Spezialangeboten bildet sicherlich den Kern der ambulanten Suchthilfe. Sie ist der einzige Dienst, der wirklich allen von Sucht Betroffenen offensteht: Angehörigen, Kindern, Betriebsangehörigen, Lehrkräften, Betroffenen in allen Stadien einer Sucht – und dies zuverlässig und wohnortnah: vom ersten (möglicherweise angeordneten) Besuch bis zur Krisenintervention, unter Umständen Jahre nach dem Erreichen einer zufriedenen Abstinenz.
Bei allen weiteren notwendigen Hilfen steht der ratsuchende Mensch im Mittelpunkt. Qualität und Umfang der Kooperation mit Diensten in anderweitiger Zuständigkeit (z. B. mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst, der Arbeitsverwaltung, der Krankenversorgung, der Rehabilitation, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Schule) hängen allerdings von den jeweiligen Möglichkeiten der Suchtberatungsstelle und von den sehr unterschiedlich ausgeprägten kommunalen Vorgaben ab. Was dann vor Ort unter ambulanter Suchthilfe verstanden wird, unterscheidet sich entsprechend.
Suchtberatungsstellen tragen zu Förderung und Sicherung des Arbeitskräftepotentials vor Ort bei. Sie sind Kristallisationsorte für spezialisierte und innovative Hilfen und DAS Kompetenzzentrum für Abhängigkeitsfragen vor Ort. Sie haben hinsichtlich sich verändernder Suchtverhaltensweisen und Konsummuster eine Frühwarnfunktion (Beispiel: Methamphetaminkonsum „Crystal Meth“). Darüber hinaus helfen sie mit ihrer Kenntnis der regionalen und überregionalen Hilfen und Zuständigkeiten jedem Betroffenen und Mit-Betroffenen, die jeweils passende Hilfestellung zu finden. Damit haben sie für alle Beteiligten im Hilfeprozess Lotsenfunktion – nicht nur für die Betroffenen, auch für Angehörige, Kollegen, behandelnde Ärzte usw.
In der Regel kooperieren Suchtberatungsstellen mit Suchtselbsthilfegruppen. Nicht selten waren sie diesen in der Anfangsphase behilflich, waren vielleicht sogar an der Gründung beteiligt. Vielfach unterstützen Suchtberatungsstellen „ihre“ Suchtselbsthilfegruppen: mit Räumlichkeiten, bei der Beantragung finanzieller Unterstützung oder in Krisensituationen. Abstinent lebende Suchtkranke aus Suchtselbsthilfegruppen wiederum unterstützten Suchtberatungsstellen häufig bei Veranstaltungen. So fördern Suchtberatungsstellen Selbsthilfepotential und Ehrenamt.
Suchtprävention und die möglichst frühe Intervention gehören ebenfalls zu den Aufgaben: Neben schulischer Suchtprävention bieten viele Suchtberatungsstellen beispielsweise für Menschen mit hohem Alkoholkonsum manualgestützte krankenkassengeförderte Kurse zur Trinkreduktion an. Präventions- und Interventionsprojekte zum jugendlichen Rauschtrinken, aber auch Tabakentwöhnung gehören vielerorts zum Repertoire.
Suchtberatungsstellen kooperieren in lokalen und regionalen Gremien nicht nur mit Diensten und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, sondern auch mit Schule sowie mit der polizeilichen Kriminalprävention. Selbstverständlich sind sie auch mit regionalen Netzwerken zur Kindeswohlsicherung in Kontakt und haben längst nicht mehr „nur“ den suchtkranken Hilfesuchenden, sondern auch dessen familiäre Situation und damit die mitbetroffenen Kinder im Blick.
Insgesamt sind Suchtberatungsstellen Teil des gemeindenahen pluralen, öffentlichen Hilfeangebotes und tragen als „weicher Standortfaktor“ zur Verbesserung des sozialen Klimas vor Ort bei.
Sozialleistungsrechtliche Einordnung und Finanzierung
Die Aufgaben der Suchtberatung und -prävention gehören zu den kommunalen Pflichtaufgaben im eigenen Wirkungskreis, die in der Regel im jeweiligen Gesetz über das Öffentliche Gesundheitswesen fixiert sind. Allerdings sind diese Aufgaben in keinem Bundesland hinsichtlich der vorzuhaltenden Quantität und Qualität belastbar formuliert. Das SGB II zur Teilhabe am Arbeitsleben formuliert seit Januar 2005 erstmals einen Anspruch der „Kundinnen und Kunden“ auf Hilfen zur Überwindung von psychosozialen Vermittlungshemmnissen, darunter auch jene in Folge von Sucht. Allerdings lassen sich auch hieraus kaum planerische Größen qualitativer oder quantitativer Natur ableiten. Angesichts des zunehmenden Legitimationsdrucks der Ausgaben vieler öffentlicher Haushalte befinden sich Suchtberatungsstellen zunehmend in Konkurrenz um die Förderung zu anderen wenig normierten psychosozialen kommunalen Leistungen wie z. B. Ehe-, Familie- und Lebensberatung.
Weitere Normierungen u. a. für kommunale Aufgaben finden sich in den jeweiligen Landesgesetzen über die Hilfen und den Schutz für psychisch kranke Menschen (häufig PsychKG abgekürzt), zu denen auch Menschen mit Suchterkrankung zählen.
In allen Bundesländern gehören Suchtberatung und -prävention zu den Aufgaben, die an freie Träger delegiert werden können: Die weitaus überwiegende Anzahl der Suchtberatungsstellen befindet sich in Trägerschaft der Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die für das Angebot dieser kommunalen Dienstleistung auch Eigenmittel einbringen. Eigenmittel speisen sich v. a. aus Spenden und Kirchensteuern, zu einem Teil auch aus Leistungsentgelten wie z. B. ambulanter Rehabilitation. Die Art und Weise der Einbringung von Eigenmitteln divergiert von Kommune zu Kommune – je nach Verhandlungsstand.
In der Regel unterliegen Suchtberatungsstellen der Fehlbedarfsfinanzierung. Damit schmälern unter Umständen Einkünfte, die im laufenden Jahr höher als gedacht ausfallen, die kommunale und – je nachdem – auch die Landeszuwendung. Damit kann also in der Regel nicht das Leistungsvolumen der Suchtberatungsstelle im laufenden Haushaltsjahr vergrößert werden. Werden eigene Einnahmen höher angesetzt und fallen niedriger aus, so liegt das Gesamtfinanzierungsrisiko beim Träger.
Die Eigenmittel der Träger gehen tendenziell eher zurück. In den neuen Bundesländern stehen aufgrund der niedrigen Kirchenmitgliederquoten immer nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Die Anzahl der Bundesländer, die über Landesförderinstrumentarien Qualitätsdimensionen für regionale Suchtberatung definieren, nimmt ab. Unter wachsendem Spardruck muss die jeweilige Landesförderung zunehmend politisch erstritten werden – unter Umständen für jeden Haushaltszeitraum neu –, sofern die Landesförderung noch nicht in den kommunalen Finanzausgleich eingestellt worden ist. Dabei wissen die Länder in der Regel um ihr eigenes Interesse an der Arbeit von kommunalen Suchtberatungsstellen, beispielsweise weil sie vermeidbaren Bedarfen in der Eingliederungshilfe vorbeugt, weil sie Frühberentung vermeiden hilft oder weil sie zur Sicherung des Kindeswohls beiträgt. Dieses Interesse aus Sicht der Länder bildet die Legitimation für die freiwillige Förderung einer kommunalen Leistung.
Koordination und Kooperation vor Ort – Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften (PSAG)
In den Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften kann für die jeweilige Kommune definiert werden, was unter „ambulanter Suchthilfe“ zu verstehen ist. Häufig geht von den PSAGen der Impuls zur Abstimmung von Informationen über die Hilfeangebote für Bürgerinnen und Bürger aus. PSAGen arbeiten in der Regel unter der Leitung eines/-r Psychiatriekoordinators/-in. Einige Bundesländer schreiben in ihrem PsychKG einen solchen Koordinator in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt vor. Je nach politischem Willen und Situation vor Ort findet in den entsprechenden Arbeitskreisen „Sucht“ mehr oder weniger verbindliche und lebendige Kooperationsplanung von Diensten und Einrichtungen statt. Dabei hat die Psychiatriekoordination hier weniger Steuerungs- als Moderationsfunktion: Echte Steuerung ist an Mitteleinsatz gebunden. Das Spektrum der inhaltlichen Arbeit in den PSAG-Arbeitskreisen reicht von der Planung klientzentrierter Kooperation bis zur Beobachtung der Konkurrenzsituation.
2. Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation legitimieren die ambulante Suchthilfe
Wappen Sachsen-Anhalt
Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)
Wie können Suchtberatungsstellen ihren Wert für das regionale Hilfesystem darstellen und damit ihre weitere Finanzierung sichern? Hilfreich ist die Kooperation mit einer Bündelungsorganisation wie den Landesstellen für Suchtfragen. Diese gibt es in fast allen Bundesländern (Bundesarbeitsgemeinschaft 2010).
Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) fungiert als Landesfachstelle Sucht für die Landesregierung mit abgestimmter Aufgaben- und Jahresplanung. Die LS-LSA bündelt die Erkenntnisse und Anforderungen aus den Praxisfeldern der Suchtkrankenhilfe und Suchtprävention. Die sich daraus ergebenden Bestandsaufnahmen und Weiterentwicklungsbedarfe sind die Basis für die vielfältigen Aktivitäten der LS-LSA. Mitglieder der LS-LSA sind neben den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege alle landesweit tätigen Fachverbände in den Themenfeldern Suchtselbsthilfe, Suchtkrankenhilfe und Prävention. Rechtlich ist die LS-LSA ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA). Damit hat sie einen direkten Zugang zu allen Themenfeldern der psychosozialen Arbeit der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Da Sucht und Suchtvorbeugung Querschnittsthemen mit Relevanz für nahezu alle psychosozialen Versorgungsfelder darstellen, ist diese Einbindung wertvoll.
Aufgrund der überdurchschnittlichen Problembelastung im Bereich der legalen Suchtmittel (vgl. Abb. 1) hat sich Sachsen-Anhalt unter anderen das Gesundheitsziel „Senkung des Anteils an Rauchern in der Bevölkerung und der alkoholbedingten Gesundheitsschäden auf Bundesdurchschnitt“ gesetzt. Die Arbeitsgruppe zu diesem Gesundheitsziel, in der Schlüsselinstitutionen der medizinischen Versorgung sowie Suchtfachkliniken mit Vertretern/-innen der GKV zusammenarbeiten, wird von der LS-LSA gemeinsam mit einem Vertreter der AOK Sachsen-Anhalt geleitet. Hieraus ergibt sich insgesamt eine gute Vernetzung der Themen, Aufgabenfelder und Akteure der Suchtkrankenhilfe und -prävention. Auch für die Deutsche Rentenversicherung in Mitteldeutschland übernimmt die LS-LSA Koordinierungsaufgaben, für die sie ebenfalls gefördert wird.
Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt
Daten zum Suchtgeschehen auf Landesebene in Sachsen-Anhalt
In der Diskussion über die Notwendigkeit von Suchtberatung und -prävention, die dann auch die Förderung legitimiert, werden in Sachsen-Anhalt vor allem folgende Datenquellen genutzt:
die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Landes und des Bundes, v. a. Daten der Krankenhausberichterstattung: Diese Daten waren und sind wesentlich für die Formulierung der Gesundheitsziele des Landes.
die Daten der Deutschen Rentenversicherung: Hier sind v. a. die Informationen über den Zugang zur Rehabilitation, aber auch die Erwerbsunfähigkeitsquoten im Länder- und Bundesvergleich interessant.
die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik: Diese werden v. a. im Hinblick auf die Anzahl von Straftaten unter Einfluss von Alkohol bzw. Betäubungsmitteln genutzt.
länderspezifische Erhebungen wie MODRUS – Moderne Drogen- und Suchtprävention; leider war 2008 das letzte Erhebungsjahr.
die Deutsche Suchthilfestatistik – Auswertung Sachsen-Anhalt (DSHS LSA): Die Datensammlung erfolgt seit 2001 als Vollerhebung mit dem System Ebis der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung München (GSDA) an den 32 Suchtberatungsstellen in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, koordiniert durch die LS-LSA. Die DSHS LSA liefert Informationen zum Ausmaß der Hilfeinanspruchnahme sowie soziodemografische Informationen und spiegelt seismografisch das Suchtgeschehen im Zeitverlauf.
Die LS-LSA führt die Daten anlassbezogen thematisch prägnant zusammen.
Daten zum Suchtgeschehen auf regionaler Ebene: der standardisierte Sachbericht der Suchtberatungsstellen
Den standardisierten Sachbericht für Sachsen-Anhalt (http://www.ls-suchtfragen-lsa.de/data/mediapool/vorlage_2014.pdf) als Auszug aus den umfangreichen Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes generiert jede Suchtberatungsstelle aus dem Datenerfassungs- und Auswertungsprogramm. Abgebildet werden die personelle Situation und wesentliche klientbezogene Daten, aber auch Aktivitäten der Suchtberatungsstelle. Dieser Datenüberblick bildet ein übersichtliches und prägnantes Instrument für die eigene fachpolitische Arbeit vor Ort. Da alle Suchtberatungsstellen mit dem standardisierten Sachbericht arbeiten, können beispielsweise Daten in Kooperation mit den anderen Suchtberatungsstellen in der Region regional zusammengeführt, aber auch in Bezug zu Landesdaten gesetzt werden.
3. Beispiele für die Datennutzung
Die LS-LSA verzichtet auf die Herausgabe von umfangreichen Berichten. Die Erfahrung zeigt, dass Politik und Verwaltung Informationen gern zur Kenntnis nehmen (und bestenfalls in politisches Handeln einbeziehen), wenn sie themenbezogen, belastbar und knapp aufbereitet sind. Am besten ist, wenn Politik und Verwaltung selbst Informationen nachfragen. Die themenbezogenen Arbeiten der LS-LSA werden bei Bedarf von den Suchtberatungsstellen in den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten auf die Region bezogen beschrieben. Die Daten hierfür liegen ja allen Suchtberatungsstellen vor.
2005: SGB II – Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit
Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen hat die LS-LSA 2005 für die neu eingeführten Fallmanager der ARGEn (heute: Jobcenter) mit der Veranstaltung „Basiswissen Suchtfragen – Versorgungsstrukturen und Behandlungskonzepte in Sachsen-Anhalt“ den Grundstein für die gute Kooperation der Suchtberatungsstellen (und auch der stationären Suchthilfe) mit den Jobcentern gelegt. Da die Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes damals noch keine genauen Auskünfte zur Dauer der Arbeitslosigkeit lieferten, konnte in Spezialerhebungen und mit Unterstützung der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung (GSDA) der Erfahrungshorizont der Suchtberatungsstellen in der Arbeit mit längerfristig arbeitslosen Menschen gezeigt werden. Dies trug zur Akzeptanz der Suchtberatungsstellen durch die ARGEn bei. In der Folge organisierten Suchtberatungsstellen Weiterbildung zu Suchtfragen für „ihre“ ARGE und verhandelten Kooperationsvereinbarungen fachlich auf Augenhöhe.
2009: Handlungsempfehlung: Beitrag zur Kindeswohlsicherung durch Suchtberatungsstellen
Nach Inkrafttreten des § 8a Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG) im Jahr 2005 stellte sich auch für Suchtberatungsstellen die Frage, wie die Kinder der bei ihnen Rat Suchenden systematisch in den Blick genommen werden können. Die Daten aus der DSHS LSA machten unmittelbar den Handlungsbedarf deutlich: „Im Jahr 2007 wurden durch die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt rund 6.000 Menschen mit Alkoholproblemen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 4.000 eigene Kinder. Etwa 1.700 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen. Bei Suchtproblemen mit den illegalen Drogen Opiate, Cannabis, Kokain und Stimulanzien wurden insgesamt rund 2.000 Menschen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 800 eigene Kinder. Etwa 600 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen.“ (LIGA et al. 2009)
Die mit allen relevanten Partnern abgestimmte Handlungsempfehlung gibt den Suchtberatungsstellen eine Orientierung für stringentes klientzentriertes Handeln in diesem heiklen Themenfeld. Mit der Veröffentlichung der Handlungsempfehlung wurden die Suchtberatungsstellen in die regionalen Initiativen zur Kindeswohlsicherung verstärkt einbezogen. Unter dem Aspekt, dass die Arbeit an der eigenen Problematik der erwachsenen Ratsuchenden immer auch den Kindern zu Gute kommt, erfuhr die Nützlichkeit von Suchtberatungsstellen verstärkte Aufmerksamkeit.
2009 bis 2011: Neustrukturierung der Beratungslandschaft in Sachsen-Anhalt
Im Auftrag des Landtags erarbeitete eine Gruppe unter Federführung des Ministeriums für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt eine umfangreiche Bestandsaufnahme zu den landesgeförderten Beratungsstellen und den Landesstellen. Ziel war u. a. die Überprüfung des Landesinteresses. Für die Suchtberatungsstellen konnte die LS-LSA anhand der DSHS LSA und anhand eigener Erhebungen belastbare Informationen zu Personalentwicklung und Versorgungsquote, zu den Beratungsbedarfen und Betreuungen, aber auch zu „neuen“ Problemfeldern wie der problematischen Mediennutzung beisteuern. Im Resultat wurde das Landesinteresse bestätigt, sowohl an den Suchtberatungsstellen als auch an der LS-LSA.
Seit 2010: ICD-10 F15 und Crystal
Nach den Problemanzeigen zunächst einzelner Suchtberatungsstellen hat die LS-LSA die Crystal-Thematik landesweit im Facharbeitskreis der Suchtberatungsstellen und im Facharbeitskreis Suchtprävention mit einem Dezernenten des Landeskriminalamtes diskutiert. Der Anstieg der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 – Stimulanzien zeichnet sich in der DSHS LSA seit dem Jahr 2007 deutlich ab (Meeßen-Hühne 2014).
Ob es sich hier tatsächlich um Betreuungen von Klienten/-innen mit der Hauptdiagnose Methamphetaminkonsum handelt, wurde mit einer Zusatzabfrage erhoben. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2011 38 Prozent, das entspricht etwa 241 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 276 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2012 bereits 54 Prozent, das entspricht etwa 549 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 734 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im ersten Trimester 2013 etwa 82 Prozent und steigerte sich im Jahresverlauf auf nahezu 100 Prozent. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 1.177 Crystal-Klienten betreut.
Eine Zunahme der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose Stimulanzienkonsum zeigt sich in allen Altersgruppen. 2012 waren erstmals unter 14-Jährige, aber auch über 50-Jährige wegen Problemen mit Crystal in Beratung. Der Anteil weiblicher Ratsuchender mit Stimulanzienproblematik lag über die Jahre konstant bei etwa einem Drittel.
Um sicherzugehen, dass die Betreuungsfälle nicht nur das Geschick der Suchtberatungsstellen, sondern echte Konsumtrends abbilden, wurden die Daten der Suchtberatungsstellen denen der Krankenhausberichterstattung gegenübergestellt. Darüber hinaus wurden die Betreuungsfälle landkreisbezogen dargestellt.
Mit den Daten der DSHS lässt sich auch die Entwicklung der Betreuungszahlen in den anderen Hauptdiagnosen zeigen, auch in Bezug zur Bevölkerungsentwicklung. Damit wird zweierlei klar: 1. Trotz sinkender Einwohnerzahlen geht der Bedarf an Suchtberatung nicht zurück. 2. Bei gleichbleibender Personalausstattung kann es in den Anteilen der Betreuungen im legalen (v. a. Alkohol) und illegalen Hilfebereich nur Verschiebungen geben.
2013 war die LS-LSA Kooperationspartner der Fachhochschule Polizei bei Organisation und Durchführung der Fachtagung „Neue Drogentrends“. Auf der Tagung wurden das Datenmaterial der LS-LSA zur Crystal-Problematik und die besonderen Herausforderungen für die Suchtprävention im Bereich der illegalen Drogen vorgestellt, und auch die FH Polizei forderte in der Presseinformation zur Veranstaltung die bedarfsentsprechende Ausstattung von Suchtberatung und -Prävention.
Im Rahmen einer Zuarbeit zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage aus dem Landtag Sachsen-Anhalt wurden die aktualisierten Daten weiterverwendet. Auch der Psychiatrieausschuss des Landes verwertete diese Informationen in seinem 21. Bericht an den Landtag und an das Ministerium für Arbeit und Soziales und forderte eine angemessene Personalausstattung der Suchtberatungsstellen (Psychiatrieausschuss Sachsen-Anhalt 2014).
Mit der belastbaren Aufbereitung der Daten zur Betreuungssituation und der Problemsicht in den Suchtberatungsstellen trägt die LS-LSA wesentlich zur Gesamtschau der Crystal-Problematik vor allem aus der Perspektive der ambulanten Suchthilfe bei, und diese Expertise wird durch Politik und Verwaltung angefragt.
„Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“
Angesichts der Finanzlage des Landes insgesamt standen die landesseitig „freiwilligen Leistungen“ in jeder Haushaltsverhandlung neu zur Disposition. Mit dem „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“ vom 13.08.2014 scheint die Sicherung der Landesförderung für Suchtberatungsstellen und für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen gelungen zu sein.
Zugleich bietet das Gesetz die Chance auf Weiterentwicklung der Hilfequalität: Mit Beantragung der einwohnerbezogenen Landesförderung müssen die Landkreise und kreisfreien Städte erstmalig zum Oktober 2015 eine „Sozial- und Jugendhilfeplanung“ vorlegen, die mit Trägern und Regionalpolitik abgestimmt sein muss. Die Versorgung von „Multi-Problem-Familien“ soll mit ressortübergreifender integrierter Beratung verbessert werden. Neben Suchtberatungsstellen und Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen sind auch die Insolvenz-, Schuldner- und die Schwangeren- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen beteiligt. An der Umsetzung dieser Idee der LIGA arbeiten die Träger der freien Wohlfahrtspflege in den Gebietskörperschaften schon seit geraumer Zeit. Die ersten Kooperationsvereinbarungen stehen vor dem Abschluss, Diagnose- und Dokumentationsinstrumente für die Abbildung von Multi-Problem-Familien und Beratungsverläufen werden entwickelt (LIGA 2012).
4. Fazit
Der Nutzen von Suchtberatungsstellen konnte in den letzten Jahren anhand einzelner Themen auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder verdeutlicht werden. Insgesamt hat sich dadurch die allgemeine Zustimmung zu dieser Leistungsform verbessert. In einigen Bereichen wurde die knappe Personalsituation stabilisiert, in einer Kommune wurde eine weitere Suchtberatungsstelle eingerichtet. Für die Weiterentwicklung im Rahmen der integrierten Beratung sind die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt gut gerüstet.
Suchterkrankungen führen zu Störungen in vielen Lebensdimensionen. „40 Prozent aller Erkrankungen und vorzeitigen Todesfälle lassen sich auf nur drei vermeidbare Risikofaktoren zurückführen: Rauchen, Alkoholmissbrauch und Verkehrsunfälle, die selbst oft durch Alkohol verursacht werden.“ (WHO 2011 zit. n. DHS 2014) Nach unserer Erfahrung wird die ambulante Suchthilfe weiter Bestand haben, wenn sie weiterhin ihren Nutzen für alle Finanzierungsebenen belegen kann, wenn alle relevanten Partner sie weiter nützlich finden und ihrerseits Lobby-Funktion ausüben.
Kontakt:
Helga Meeßen-Hühne
Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)
Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e.V.
Halberstädter Str. 98
39112 Magdeburg
Tel. 0391/543 38 18 info@ls-suchtfragen-lsa.de www.ls-suchtfragen-lsa.de
Angaben zur Autorin:
Helga Meeßen-Hühne, Dipl.-Sozialpädagogin und Suchttherapeutin, ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Die LS-LSA ist ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA FW), dem Zusammenschluss der im Land tätigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Wesentliche Aufgaben der LS-LSA sind Förderung und Koordination von Suchtprävention und Suchtkrankenhilfe.
LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V., LIGA-Fachausschuss „Landesstelle für Suchtfragen“, Helga Meeßen-Hühne (Hrsg., 2009): Handlungsempfehlung: Beitrag zur Kindeswohlsicherung durch Suchtberatungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt, http://www.ls-suchtfragen-lsa.de/veroeffentlichungen-downloads/arbeitsmaterialien/#Beratung
LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt (2012): „Wir können Beratung“ … durch Integrierte psychosoziale Beratung vor Ort, Vortrag im Rahmen der Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Landtages Sachsen-Anhalt am 11.04.2012, http://www.liga-fw-lsa.de/downloads/a-11042012.pdf
Ministerium für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt (2011): Bericht über die Arbeit der Projektgruppe „Neustrukturierung der Beratungslandschaft in Sachsen-Anhalt“ und Anhang