Schlagwort: Drogen

  • Drogenabhängige zwischen Therapie und Strafe

    Seit über 45 Jahren gibt es ‚Drogenhilfe‘ in Deutschland. Eine der ersten Drogenberatungsstellen wurde 1972 in München eröffnet. Federführend dabei: Alexander Eberth, damals Vereins-, heute Aufsichtsratsvorsitzender von Condrobs e. V., einem der größten deutschen Suchthilfeträger. Im Hauptberuf ist er seit 1972 Rechtsanwalt und hat sich als Experte für Betäubungsmittelrecht einen Namen gemacht. Ein ‚Betäubungsmittelgesetz‘ gibt es in Deutschland seit 1971. 1981 wurde es um die heftig umstrittenen Therapiebestimmungen für betäubungsmittelabhängige Straftäter ergänzt.

    In einem KONTUREN-Interview gab Alexander Eberth Anfang November Auskunft darüber, was in den vergangenen 35 Jahren aus den „Therapie statt Strafe“-Regelungen im Betäubungsmittelgesetz geworden ist. Angesichts der Doppelbelastung, die drogenabhängige Menschen durch ihre Abhängigkeitserkrankung und die Strafbestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes erleben, erläuterte er, was Fachkräfte bei der Beratung und Behandlung Drogenabhängiger unbedingt berücksichtigen müssen. Schließlich formulierte er seine Wünsche an die Zukunft der Rechtsprechung im Bereich Betäubungsmittelkriminalität.

    Es bleibt ein desillusionierendes Fazit: Das Betäubungsmittelgesetz mit seinen Therapiebestimmungen hat sich in den vergangenen 35 Jahren zu einem Strafverfolgungsrecht verdichtet. Die Interessen der Drogenabhängigen – Verbesserung und Schutz ihrer Gesundheit – verlieren sich heute in einer rigorosen Verfolgung und dem (Irr)Glauben, durch Verknappung und verschärftes Recht das Drogenproblem in den Griff bekommen zu können. Alle Maßnahmen, die bisher eingeleitet wurden, sind kontraproduktiv, weil sie Drogenabhängige daran hindern, Hilfeangebot anzunehmen, denn sie müssen bei einer Offenlegung ihrer Abhängigkeit immer damit rechnen, dass strafrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Das Interview führte Jost Leune vom Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V.

    Jost Leune

  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems

  • Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit

    Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit

    Unter den Flüchtlingen, die in den zurückliegenden Jahren Deutschland erreicht haben, findet sich eine nennenswerte Gruppe von Menschen mit riskantem, schädlichem oder abhängigem Konsummuster von psychoaktiven Substanzen. Dies betrifft nach unserer Beobachtung sämtliche gebräuchliche legale wie illegale Substanzen. Für die Suchthilfe ergeben sich hierdurch neue Herausforderungen. Zusätzlich bestehen etliche Hürden, die eine angemessene Behandlung dieser Patienten erschweren. In besonderem Maße gilt dies für Flüchtlinge mit einer Opioidabhängigkeit.

    Hintergrund

    Flüchtlinge aus Vorder- und Mittelasien, die seit 2014 nach Deutschland kommen, stammen vielfach aus Herkunftsländern, in denen der Opioidgebrauch endemisch (= örtlich begrenzt gehäuft auftretend, Anm. d. Red.), kulturell akzeptiert oder toleriert ist. Wir sehen Flüchtlinge aus Afghanistan, die bereits im Säuglings- oder Kleinkindalter mit Opium in Berührung kamen, da es gegen Durchfall und Husten in weiten Teilen des Landes sonst keine wirksamen Medikamente gibt. In Iran wird traditionell bei Schmerzen oder als Einschlafhilfe Opium konsumiert oder aus hedonistischen Gründen. Afghanistan und Iran zählen weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Konsum von Opium und Heroin. Die spärlichen Quellen aus Irak und Berichte irakischer Patienten hierzulande weisen auf eine steigende Anzahl von Opioidkonsumenten (Opium/Theriak) hin. Syrien weist wie andere arabische und nordafrikanische Länder eine zunehmende Prävalenz für das synthetische Opioid und Schmerzmittel Tramadol auf. Auch Stimulanziengebrauch wird in diesen Regionen beobachtet.

    (Bürger-)Krieg, Vertreibung, Flucht und (Opioid-)Abhängigkeit

    Seit 1979 herrschen in Afghanistan Krieg, Vertreibung und Flucht, Iraner fliehen seit den 1960er Jahren nach Europa, und auch Flüchtlinge aus Irak und Syrien bringen seit einigen Jahren nicht selten eine manifeste Opioidabhängigkeit mit. Hintergrund sind häufig Traumata infolge der kriegerischen und/oder tyrannischen Verhältnisse in ihren Heimatländern, unzureichend behandelte Schmerzen nach (Kriegs- )Verletzungen und/oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Gewalterlebnisse, Entwurzelung und Migration sind generell Risikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung, so dass wir auch Patienten aus den aktuellen und anderen Herkunftsländern kennen, die erst hierzulande eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt haben.

    Behandlungsmöglichkeiten in den Herkunftsländern und auf der Flucht

    Afghanistan bietet lediglich in der Hauptstadt Kabul eine substitutionsgestützte Behandlung an. In Iran existiert ein entwickeltes Drogenhilfesystem mit Prävention, Entzugs- und Behandlungsmöglichkeiten, es werden mehr als 100.000 Patienten substituiert, u. a. in Gefängnissen. In Irak (mit irakisch Kurdistan) gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten außer ‚kalten‘ Entzügen. Das syrische Gesundheitswesen ist nahezu völlig zerstört. Auf den Fluchtrouten nach Europa ist in Iran die Behandlung mit Methadon und Buprenorphin erlaubt, in Libanon und in der Türkei lediglich die Substitution mit Buprenorphin (für Flüchtlinge nicht zugänglich); in Griechenland ist die Zahl der Substitutionsplätze schon für einheimische Abhängige sehr begrenzt, das gilt auch für die nach Norden liegenden Balkanländer. Erst in Wien gibt es niedrigschwellige Zugänge zur Substitutionsbehandlung. Andere Hilfen wie niedrigschwellige Kontakt- und Informationsangebote, frühintervenierende und schadensmindernde Maßnahmen u. a. fehlen auf den Fluchtrouten fast vollständig.

    Die aktuelle Lage

    Aus den metropolitanen Regionen München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin melden niedrigschwellige Kontaktstellen, Drogenberatungsstellen, klinische Entzugsabteilungen und Substitutionspraxen/-ambulanzen spätestens seit der Jahreswende 2015/16 und deutlich früher als erwartet eine merkliche Zunahme von Anfragen zur Beratung und Behandlung von Flüchtlingen mit Substanzstörungen unterschiedlicher Art und Ausprägung:

    • Heroinabhängigkeit von Menschen aus Afghanistan, Iran und Irak
    • Problematischer Gebrauch von Alkohol unter Flüchtlingen, die aus kulturellen und/oder religiösen Gründen den Umgang mit dieser Substanz nicht gelernt haben und mit dem leichten Zugang zum Alkohol nicht umgehen können
    • Problematischer Gebrauch von Schmerzmitteln und Stimulanzien bei Flüchtlingen aus arabischen Ländern
    • Überwiegend inhalativer Konsum von Opioiden und (Meth-)Amphetamin von jungen Geflüchteten aus Syrien, die teilweise erst in Europa mit dem Konsum begonnen haben
    • Konsum von Amphetaminen und anderen Stimulanzien unter Flüchtlingen, die diese Substanzen als aufputschende Kriegsdrogen in regulären oder irregulären militärischen Verbänden kennengelernt haben
    • Problematischer Gebrauch von Cannabis unter jugendlichen Einwanderern aus dem Maghreb
    • Spielsucht bei Einwanderern der ersten und zweiten Generation mit islamischem Hintergrund

    Exakte Zahlen liegen nicht vor. Aus Flüchtlingscamps entlang der Fluchtrouten sind Vorfälle bekannt, bei denen es unter dem Einfluss von Alkohol zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen ethnischen Gruppen kommt. Die eingangs geschilderte Prävalenz der Opioidabhängigkeit in den Herkunftsländern lässt erwarten, dass diese Entwicklung in den kommenden Monaten und Jahren zunehmen wird. Entwurzelung und erschwerte Integration von jungen männlichen Einwanderern bzw. Flüchtlingen sind erfahrungsgemäß der Nährboden für die Entwicklung von kriminellen Strukturen. Aus Flüchtlingslagern und Konsumräumen wurden erste Anhaltspunkte für ethnisch geprägte Konsumentengruppen und Händlerstrukturen berichtet.

    Hürden zur Behandlung

    • Bei Geflüchteten, insbesondere denjenigen, die erst während oder nach der Flucht eine Substanzstörung bzw. eine Sucht entwickelt haben, ist zu berücksichtigen, dass viele kein Verständnis von ihrer Erkrankung haben und eine Entzugssymptomatik nicht kennen oder nicht als solche deuten. Die meisten geflüchteten Süchtigen haben keine Vorstellung von den sozialen und medizinischen Hilfemöglichkeiten jenseits von staatlicher Repression. Generell wird Sucht eher nicht als Krankheit, sondern als moralische Verfehlung oder als unglücklicher Schicksalsschlag angesehen.
    • Für viele Flüchtlinge (und Migranten der vorherigen Jahre) stehen die hierzulande etablierten Behandlungsmöglichkeiten bestenfalls eingeschränkt zur Verfügung:
    • Der „Notfallschein“ (24-Stunden-Kostenübernahmeschein) berechtigt allenfalls zur Entzugsbehandlung bei Abhängigkeit von Opioiden, Alkohol, Benzodiazepinen und anderen Substanzen. Dies führt überdies zu der paradoxen Situation, dass Patienten nach der Entlassung nicht ambulant abstinenzorientiert weiterbehandelt werden können.
    • Erst mit der Ausstellung einer Gesundheitskarte für Asylbewerber (in NRW, Bremen, Hamburg und seit kurzem auch in Berlin) ist eine ambulante abstinenzorientierte Therapie bzw. bei Opioidabhängigkeit eine Substitution möglich.
    • Abstinenzorientierte stationäre Langzeitbehandlungen stehen generell nicht zur Verfügung, tagesstrukturierende, alltagsorientierte und stabilisierende abstinenzbasierte Hilfen ebenfalls nicht.
    • Eine weitere Hürde besteht darin, dass für Anamnese, Untersuchungen und Folgegespräche keine Sprachmittler/Dolmetscher zur Verfügung stehen oder diese nicht von den Kostenträgern bezahlt werden. Benötigt werden nicht nur Sprachmittler mit notwendigen (sub)kultur- und fluchtsensiblen Kenntnissen für den Arztkontakt, sondern auch zur vorbereitenden und begleitenden Motivationsarbeit, damit eine Intervention nicht schon vor oder mit dem Beginn scheitert.
    • Es fehlt eine Plattform, auf der bisherige Veröffentlichungen zum Thema, Seminarberichte, Ankündigungen von Veranstaltungen und Fortbildungen, muttersprachliche Materialien u. ä. zur Verfügung stehen.
    • Ebenfalls ungeklärt und unvorbereitet ist die psycho-soziale Begleitung hinsichtlich Finanzierung, Kulturkompetenz und sprachlicher Verständigung. Zu klären ist, wie „erforderliche psychiatrische, psychotherapeutische oder psycho-soziale Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen“ erbracht werden können, wie die BtMVV (= Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, Anm. d. Red.) formuliert. Die KVen (= Krankenversicherungen, Anm. d. Red.) sehen das regional durchaus unterschiedlich.
    • Es stehen keine Informationsmaterialien in den Sprachen der hauptsächlich betroffenen Konsumentengruppen zur Erkrankung selbst, zu den unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten, zur Schadensminderung/safer use, zu Begleiterkrankungen u. a. zur Verfügung. Bei einem nennenswerten Anteil der Geflüchteten handelt es sich um Analphabeten, so dass auch Bilder und gesprochene Informationen (Audiodateien) zur Verfügung gestellt werden müssen.
    • Beschaffungskriminalität im Zusammenhang mit der Opioidabhängigkeit und praktisch der Konsum selbst können ein Abschiebegrund sein. Dies hindert Konsumenten am Zugang zur Beratung und Therapie.
    • Viele Flüchtlinge sind in ländlichen Regionen untergebracht. Es ist damit zu rechnen, dass substanzabhängige Flüchtlinge auf der Suche nach suchtmedizinischer Hilfe vom Land in die Städte kommen werden und sich dabei ihre rechtliche, soziale und gesundheitliche Lage zusätzlich destabilisiert.
    • Es steht zu befürchten, dass Opioidkonsumenten von Tabletten oder inhalativem Heroinkonsum auf das Spritzen von Heroin umsteigen mit den bekannten Risiken für Infektionskrankheiten.
    • Wir beobachten, dass nicht nur einzelne Geflüchtete in die Beratung und Behandlung kommen, sondern diese zu mehreren erscheinen. Teilweise leben sie in einem Zimmer in der Unterkunft zusammen, hausen in einer Notunterkunft oder haben sich zu sozialen Zweckbündnissen zusammengeschlossen. Hier ist zu überlegen, wie mit solchen sozialen Netzwerken und deren hoher Bindungskraft (im Guten wie im Schlechten) umzugehen ist.
    • Den sozialarbeiterischen und medizinischen Teams in den Aufnahmestellen ist die Symptomatik einer Opioidabhängigkeit und anderer Abhängigkeitserkrankungen in der Regel nicht bekannt. Deshalb kann dort auch keine gezielte Beratung und Vermittlung stattfinden.

    Schlussfolgerungen

    Abhängigkeitserkrankungen sind unter Flüchtlingen und Einwanderern kein seltenes, vor allem aber ein jeweils komplexes Phänomen. Drogenpolitik und Suchthilfe haben darauf bisher unzureichend reagiert. Zu entwickeln ist ein Konzept, das alle Formen der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen einschließt. Die Entwicklung der Opioidabhängigkeit in der Gruppe der jüngst nach Deutschland geflüchteten Menschen kann sich zu einem besonderen Problem ausweiten – aus dem Blickwinkel von Public Health wie aus Sicht der Inneren Sicherheit. Die Drogenpolitik in Bund und Ländern, Polizeibehörden, Fachverbände, Drogenhilfeträger sowie die Kostenträger sollten sich deshalb gemeinsam mit diesem Thema beschäftigen und ein aktuelles Lagebild erstellen. Die Hürden zur Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen, vordringlich bei Opioidabhängigkeit, müssen aus den vorgenannten Gründen beseitigt werden. Schnelles, abgestimmtes und kompetentes Handeln kann viel Leid für die Betroffenen und ihre Familien abwenden und Schaden für die Gesellschaft verhindern.

    Dieser Text entstand nach dem Fachaustausch zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – eine Herausforderung auch für die Sucht- und Drogenpolitik?“ am 25. Mai 2016, zu dem die Drogenbeauftragte der Bundesregierung eingeladen hatte.

    Kontakt:

    Hans-Günter Meyer-Thompson
    meyerthompson@gmail.com

    Angaben zu den Autoren:

    Dieter Ameskamp: Sozialpädagoge bei Asklepios Hamburg Nord Ochsenzoll, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Ambulanz Altona
    Dr. med. Thomas Kuhlmann: Chefarzt und Ärztlicher Leiter, Psychosomatische Klinik Bergisch Gladbach
    Astrid Leicht: Diplom-Pädagogin, Geschäftsführung Fixpunkt Berlin
    Hans-Günter Meyer-Thompson: Arzt bei Asklepios Hamburg Nord Ochsenzoll, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Ambulanz Altona
    Dr. med. Sibylle Quellhorst: FÄ für Allgemeinmedizin, Koordination der medizinischen Versorgung Flüchtlinge, Gesundheitsamt Hamburg-Altona
    Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter: Bayerische Akademie für Suchtfragen in Forschung und Praxis BAS e. V., 2. Vorsitzender
    Dr. Theo Wessel: Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) Fachverband der Diakonie Deutschland, Geschäftsführer

  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

    LogoLeiste

    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de

  • EMCDDA veröffentlicht den 20. Europäischen Drogenbericht

    EMCDDA veröffentlicht den 20. Europäischen Drogenbericht

    18268992180_b007810b75_k
    Beim Launch des Europäischen Drogenberichts 2015 am 4. Juni in Lissabon (v.l.n.r.): João Goulão, Vorsitzender des Verwaltungsrates der EMCDDA, Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Wolfgang Götz, EMCDDA-Direktor. Foto©EMCDDA

    Veränderte Dynamiken auf dem Heroinmarkt, aktuelle Auswirkungen des Cannabiskonsums und neue Merkmale und Dimensionen der Szene für Stimulanzien und „neue Drogen“ gehören zu den Themen, die von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in ihrem gerade in Lissabon veröffentlichten „Europäischen Drogenbericht 2015. Trends und Entwicklungen“ behandelt werden. In ihrem Jahresbericht lässt die EMCDDA 20 Jahre Beobachtungsarbeit Revue passieren und untersucht die globalen Einflüsse und lokalen Auswirkungen der in stetem Wandel begriffenen europäischen Drogenproblematik. Die Daten in diesem Bericht beziehen sich auf das Jahr 2013 bzw. das letzte verfügbare Jahr.

    Heroin verliert zwar an Bedeutung, doch Marktveränderungen erfordern genaue Beobachtung

    Der EMCDDA zufolge machen Probleme im Zusammenhang mit Heroin zwar immer noch einen großen Anteil an den drogenbedingten Gesundheits- und Sozialkosten in Europa aus, jedoch wiesen die jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich in eine ‚positivere‘ Richtung. Insgesamt stagniere die Nachfrage nach dieser Droge. Mittlerweile würden weniger Menschen als früher erstmals eine spezialisierte Behandlung wegen Heroinproblemen beginnen: Im Jahr 2013 waren dies 23.000 gegenüber 59.000 im Jahr 2007. Schätzungen zufolge unterzieht sich über die Hälfte (700.000) der 1,3 Millionen europäischen Opioidkonsumenten (d. h. Langzeit- bzw. abhängige Konsumenten) derzeit einer opioidgestützten Substitutionstherapie. Bei den Daten in Bezug auf gemeldete Sicherstellungen, die einen Einblick in die Entwicklung des Heroinangebots ermöglichen, sind ebenfalls Rückgänge zu verzeichnen. Die im Jahr 2013 in der EU sichergestellte Heroinmenge (5,6 Tonnen) war eine der niedrigsten gemeldeten Mengen seit zehn Jahren und entspricht in etwa der Hälfte der im Jahr 2002 sichergestellten Menge (10 Tonnen). Die Zahl der Heroinsicherstellungen fiel ebenfalls von 45.000 im Jahr 2002 auf 32.000 im Jahr 2013. Vor diesem insgesamt positiven Hintergrund erläutert die EMCDDA eine Reihe von Marktveränderungen, die eine genaue Beobachtung erfordern.

    Jüngsten Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge hat die Opiumproduktion in Afghanistan in den Jahren 2013 und 2014 deutlich zugenommen. So liefert das Land den Großteil des in Europa konsumierten Heroins. Diese Entwicklung könnte zu einer höheren Verfügbarkeit von Heroin auf dem europäischen Markt führen. Ferner werden Anzeichen für Neuerungen im Heroinmarkt hervorgehoben, einschließlich der erstmals seit den 1970er Jahren erfolgten Entdeckung von Labors zur Heroinaufbereitung in Europa. In den Jahren 2013 und 2014 wurden in Spanien zwei Labors zur Umwandlung von Morphin in Heroin entdeckt.

    Des Weiteren werden Veränderungen beim Heroinnachschub nach Europa beobachtet. Während die traditionelle „Balkanroute“ nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, gibt es Anzeichen, dass die „südliche Route“ an Bedeutung gewinnt. Diese beginnt in Iran und Pakistan und erreicht Europa direkt oder indirekt über die Länder der Arabischen Halbinsel und Ost-, Süd- und Westafrikas. Eine gerade veröffentlichte Studie über den Opioidhandel von Asien nach Europa deutet auf eine Diversifizierung der gehandelten Produkte (z. B. Morphinbase und Opium neben Heroin) und der genutzten Transportmittel und Routen hin (siehe Perspectives on Drugs/POD).

    Neben Heroin stellten die Strafverfolgungsbehörden 2013 in europäischen Ländern eine Reihe weiterer Opioide sicher: Opium, Rohopiumzubereitungen (z. B. „Kompott“), Arzneimittel (Morphin, Methadon, Buprenorphin, Fentanyl und Tramadol) sowie neuartige synthetische Opioide.

    Ältere Opioidkonsumenten benötigen maßgeschneiderte Therapieangebote

    Opioidabhängigkeit ist häufig ein chronischer Zustand, weshalb die Bereitstellung geeigneter Behandlungs- und Pflegeangebote für Langzeitkonsumenten von Opium inzwischen eine immer größere Herausforderung für Behandlungs- und Sozialdienste darstellt. Im Bericht wird gezeigt, wie sich das Durchschnittsalter der Personen, die sich wegen Opioidproblemen in Behandlung begeben, entwickelt. So stieg das Durchschnittsalter zwischen 2006 und 2013 um fünf Jahre. Ein bedeutender Teil der Opioidkonsumenten in Europa mit einer langen Vorgeschichte des Mehrfachkonsums befindet sich mittlerweile im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt. Ein seit langem bestehender schlechter körperlicher und psychischer Gesundheitszustand, ungünstige Lebensbedingungen, Infektionen und der missbräuchliche Mehrfachkonsum (u. a. auch von Alkohol und Tabak) machen diese Konsumentengruppe anfällig für eine Reihe von chronischen Gesundheitsproblemen (z. B. kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen und Hepatitis).

    Benötigt werden laut Bericht klinische Leitlinien, die den demografischen Wandel unter Europas problematischen Opioidkonsumenten berücksichtigen. Solche Leitlinien würden eine wirksame klinische Praxis begünstigen und folgende Themen umfassen: Mitnahme-Dosen von Arzneimitteln für die Substitutionstherapie (z. B. Methadon und Buprenorphin), Schmerztherapien und die Behandlung von Infektionen. Wenige Länder melden die Verfügbarkeit zielgerichteter Programme für ältere Drogenkonsumenten. Diese Personengruppe wird in der Regel in bestehende Drogentherapieangebote integriert. Die Niederlande sind eines der Länder, in denen Altenpflegeheime eingerichtet wurden, die an die Bedürfnisse älterer Drogenkonsumenten angepasst sind.

    Verbesserte Therapien bei Hepatitis C und stagnierende Zahlen bei HIV-Neudiagnosen

    Aufgrund der Übertragung durch die gemeinsame Nutzung von Nadeln, Spritzen und anderem Spritzbesteck ist Hepatitis C die am häufigsten vorkommende Infektionskrankheit unter drogeninjizierenden Personen in Europa. Nationale Stichproben im Zeitraum 2012/2013 bei dieser Personengruppe ergaben eine Hepatitis C-Virus-Infektionsrate zwischen 14 und 84 Prozent. Eine Hepatitis C-Infektion verläuft anfänglich häufig ohne Symptome und kann jahrzehntelang unentdeckt bleiben. Viele Infizierte entwickeln später eine chronische Hepatitis, wodurch sich ihr Risiko für die Entwicklung von Lebererkrankungen (z. B. Leberzirrhose und Leberkrebs) erhöht.

    Eine wachsende Anzahl von Ländern haben spezifische Hepatitis C-Strategien verabschiedet oder arbeiten zurzeit daran. Diese Strategien sollen insbesondere den Zugang zu Hepatitis C-Tests sicherstellen. Obwohl aktuell antivirale Arzneimittel erhältlich sind, die den Fortschritt der Erkrankung verhindern oder eine vollständige Genesung ermöglichen, beschränken fehlende Diagnostik und hohe Arzneimittelkosten die Reichweite dieser neuen Behandlungsangebote.

    2011 und 2012 sind die Zahlen neuer HIV-Diagnosen, die dem injizierenden Konsum zugeordnet waren, angestiegen, hauptsächlich bedingt durch HIV-Krankheitsausbrüche in Griechenland und Rumänien. Die neuesten Zahlen zeigen, dass der Anstieg inzwischen gestoppt und die Gesamtzahl der Fälle in der EU auf ein Niveau wie vor den Ausbrüchen gesunken ist. Vorläufige Zahlen für 2013 weisen 1.458 neu gemeldete HIV-Infektionen gegenüber 1.974 im Jahr 2012 aus. Damit kehrt sich der seit 2010 bestehende Aufwärtstrend um. Trotz der in diesem Bereich erzielten Fortschritte hält die EMCDDA es für notwendig, wachsam zu bleiben und ein angemessenes Behandlungsangebot bereitzustellen.

    Bekämpfung von Überdosierungen – eine gesundheitspolitische Herausforderung

    Die Verringerung der Zahl tödlicher Überdosierungen und anderer drogenbedingter Todesfälle (z. B. als Folge von drogenbedingten Erkrankungen, Unfällen und Suizid) ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der aktuellen Gesundheitspolitik. Schätzungen zufolge soll es im Jahr 2013 zu mindestens 6.100 Todesfällen aufgrund von Überdosierung, meist im Zusammenhang mit Heroin und anderen Opioiden, gekommen sein.

    In einer den aktuellen Bericht begleitenden neuen Analyse wird der Missbrauch von Benzodiazepinen unter Hochrisiko-Opioidkonsumenten, die diese Arzneimittel zur Selbstmedikation oder zur Verstärkung der Wirkung von Opioiden nehmen, näher beleuchtet (siehe POD). Die Analyse zeigt, wie der kombinierte Konsum von Opioiden, Benzodiazepinen und anderen zentralnervös wirksamen Beruhigungsmitteln (z. B. auch Alkohol) zu einer erhöhten Lebensgefahr durch Überdosierung beiträgt. Verschreibungen und Leitlinien für die klinische Praxis könnten für die Bewältigung dieses komplexen Problems eine entscheidende Rolle spielen.

    Maßnahmen zur Vorbeugung von Überdosierungen umfassen zielgerichtete Strategien, Aufklärung über Risiken des Drogenkonsums sowie mögliche Hilfen bei Überdosierungen, einschließlich der Verteilung von Naloxon in Mitnahme-Dosen. Einige Länder haben eine seit langem bewährte Praxis der Bereitstellung von Drogenkonsumräumen. In sechs europäischen Berichtsländern der EMCDDA werden derartige Dienste derzeit in insgesamt rund 70 Einrichtungen angeboten (Dänemark, Deutschland, Spanien, Luxemburg, Niederlande und Norwegen), während in Frankreich vor kurzem ein Modellversuch von Drogenkonsumräumen genehmigt wurde. Eine Überprüfung der in diesen Einrichtungen erbrachten Dienstleistungen ergänzt die diesjährige Analyse (siehe POD) und zeigt, wie mittels Drogenkonsumräumen eine ‚lokale Antwort‘ auf ‚lokale Probleme‘ gegeben wird. Unter anderem können Drogenkonsumräume eine Rolle bei der Reduzierung drogenbedingter Schäden (einschließlich Todesfälle durch Überdosierung) spielen und hilfreich sein, um schwer erreichbare Drogenkonsumenten an Gesundheitsdienste heranzuführen.

    Wachsende Bedeutung von Cannabis innerhalb der Drogenbehandlungssysteme in Europa

    Cannabis ist nach wie vor die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Europa: 19,3 Millionen Erwachsene im Alter zwischen 15 und 64 Jahren geben an, die Droge in den vergangenen zwölf Monaten konsumiert zu haben. 14,6 Millionen davon sind junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Schätzungen zufolge konsumiert ein Prozent aller Erwachsenen die Droge täglich oder nahezu täglich.

    Aus Erhebungen unter der Allgemeinbevölkerung von drei Ländern (Deutschland, Spanien und das Vereinigte Königreich) geht eine rückläufige oder stagnierende Prävalenz des Cannabiskonsums in den letzten zehn Jahren hervor. Steigerungen wurden dagegen in Bulgarien, Frankreich und vier nordischen Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen) beobachtet. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der aktuellen Erhebungen uneinheitliche Trends im Cannabiskonsum der letzten zwölf Monate bei jungen Erwachsenen.

    Die hohe Prävalenz der Droge spiegelt sich in der Anzahl an Personen wider, die eine spezialisierte Drogentherapie beginnen. So gibt die größte Gruppe von Erstpatienten inzwischen Cannabis als ihr Hauptdrogenproblem an. Die Gesamtzahl der Patienten in Europa, die sich erstmals wegen Cannabisproblemen in Behandlung begaben, stieg von 45.000 im Jahr 2006 auf 61.000 im Jahr 2013. Während sich viele der eine Behandlung beginnenden Cannabispatienten selbst einweisen (34 Prozent), geht aus der Analyse hervor, dass etwa ein Viertel derjenigen, die eine Behandlung wegen Cannabis als Primärdroge begannen (23.000), fremdmotivierte Überweisungen aus dem Strafjustizsystem waren. Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen für psychosoziale Interventionen bei der Behandlung von Drogenproblemen. Bei der Behandlung von Problemen im Zusammenhang mit Cannabis wird von diesen auch umfassend Gebrauch gemacht. Diese Ansätze werden in einer den Bericht begleitenden Analyse (siehe POD) und in einer aktuellen Insights-Ausgabe der EMCDDA erforscht.

    Akute Notfälle im Zusammenhang mit Cannabiskonsum können – wenngleich selten – nach dem Konsum der Substanz, insbesondere in hohen Dosen, auftreten (siehe unten den Abschnitt zum Reinheitsgrad). In einer in Notfalleinrichtungen durchgeführten aktuellen Studie wurde in elf von 13 untersuchten europäischen Ländern im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 ein Anstieg der Zahl der Notfälle im Zusammenhang mit Cannabiskonsum festgestellt.

    Im aktuellen Bericht wird die zentrale Rolle von Cannabis in Statistiken über Drogenkriminalität hervorgehoben, denen zufolge 80 Prozent der Sicherstellungen auf die Droge und 60 Prozent aller gemeldeten Drogendelikte in Europa auf den Konsum oder Besitz von Cannabis für den eigenen Gebrauch entfallen.

    Die Zahl der Sicherstellungen von Cannabiskraut in Europa überstieg im Jahr 2009 die von Cannabisharz, und diese Kluft hat sich noch weiter vergrößert. Im Jahr 2013 entfielen von den 671.000 in der EU gemeldeten Cannabis-Sicherstellungen 431.000 auf Cannabiskraut (Marihuana) und 240.000 auf Cannabisharz (Haschisch). Dieser Trend liegt vermutlich zum großen Teil in der Tatsache begründet, dass immer mehr in Europa gezüchtetes Cannabiskraut verfügbar ist, was sich an der wachsenden Zahl der Beschlagnahmungen von Cannabispflanzen zeigt. Dennoch ist die in der EU sichergestellte Menge an Cannabisharz immer noch deutlich höher als die Menge an sichergestelltem Cannabiskraut (460 Tonnen gegenüber 130 Tonnen).

    Mehr als 130 verschiedene synthetische Cannabinoide, die als legaler Ersatz für Cannabis verkauft werden und dem Cannabismarkt eine neue Dimension hinzufügen, wurden bislang über das EU-Frühwarnsystem entdeckt. Der Konsum dieser Substanzen kann gesundheitsschädliche Auswirkungen haben (z. B. Nierenschäden, kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen und Krämpfe). Jüngste Todesfälle und akute Vergiftungen in Europa und der Welt im Zusammenhang mit diesen Substanzen haben die EMCDDA dazu bewegt, Warnmeldungen in Bezug auf die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit herauszugeben.

    Wettbewerb im umkämpften Stimulanzienmarkt

    Europa steht einem hart umkämpften Stimulanzienmarkt gegenüber, auf dem sich das Angebot von Kokain, Amphetaminen, Ecstasy und einer wachsenden Anzahl an synthetischen Drogen an ähnliche Konsumentengruppen richtet. Kokain ist nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Stimulans in Europa, doch konzentriert sich die Mehrheit der Konsumenten auf eine kleine Zahl von westlichen EU-Ländern. Schätzungsweise 3,4 Millionen Erwachsene der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren haben in den zurückliegenden zwölf Monaten Kokain konsumiert. Davon waren 2,3 Millionen junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Nur wenige Länder meldeten für die letzten zwölf Monate eine Kokainprävalenz unter jungen Erwachsenen von mehr als drei Prozent. Bei den neuesten Daten ist ein Rückgang des Kokainkonsums feststellbar. Von den Ländern, die seit 2012 Erhebungen durchführen, meldeten acht niedrigere Schätzungen und drei höhere Schätzungen im Vergleich zur vorangegangenen Erhebung.

    Der Konsum von Amphetaminen, darunter Amphetamine und Metamphetamine, liegt insgesamt auf niedrigerem Niveau als der Kokainkonsum in Europa. So gaben etwa 1,6 Millionen Erwachsene an, in den letzten zwölf Monaten eine dieser Drogen konsumiert zu haben. 1,3 Millionen davon waren junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Der aktuelle Bericht beleuchtet ferner neue Muster des Metamphetaminkonsums. So wurde in der Tschechischen Republik ein deutlicher Anstieg des hochriskanten Metamphetaminkonsums (vor allem injizierender Konsum) beobachtet, wobei die Zahl der Konsumenten Schätzungen zufolge von rund 21.000 im Jahr 2007 auf über 34.000 im Jahr 2013 gestiegen ist. Des Weiteren wird aus einer Reihe von europäischen Ländern der injizierende Konsum von Metamphetamin in Kombination mit anderen Stimulanzien (z. B. synthetische Cathinone) unter kleinen Gruppen von Männern, die Geschlechtsverkehr mit anderen Männern praktizieren, gemeldet. Diese als „Slamming“ bezeichneten Praktiken geben aufgrund der Kombination von hochriskantem Drogenkonsum und riskantem Sexualverhalten Anlass zur Besorgnis.

    Schätzungsweise 2,1 Millionen Erwachsene der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren haben in den zurückliegenden zwölf Monaten Ecstasy konsumiert. Davon waren 1,8 Millionen junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Nach einem Zeitraum, in dem als Ecstasy verkaufte Tabletten unter Konsumenten im Ruf standen, von schlechter Qualität bzw. Produktfälschungen zu sein, ist hochreines MDMA in Pulver- und Tablettenform inzwischen weiter verbreitet (siehe unten den Abschnitt zum Reinheitsgrad).

    Synthetische Cathinone wie Mephedron, Pentedron und MDPV sind in einigen europäischen Ländern inzwischen zu einer festen Größe auf dem Markt für illegale Stimulanzien geworden und werden häufig abwechselnd mit Amphetamin und Ecstasy konsumiert. Der injizierende Konsum synthetischer Cathinone ist – obgleich in Europa kein besonders weit verbreitetes Phänomen – in einigen Ländern ein lokales Problem bei Gruppen von Hochrisiko-Drogenkonsumenten. Steigender Behandlungsbedarf im Zusammenhang mit dem Konsum dieser Substanzen wird aus Ungarn, Rumänien und dem Vereinigten Königreich gemeldet.

    Zunahme des Wirkstoffgehalts und des Reinheitsgrads gibt Anlass zur Besorgnis

    Ein zentraler Befund des diesjährigen Berichts ist der deutliche Anstieg des Wirkstoffgehalts und des Reinheitsgrads der europaweit am häufigsten konsumierten illegalen Drogen, was Bedenken hinsichtlich der Gesundheit der Konsumenten hervorruft, die bewusst oder unbewusst möglicherweise stärkere Produkte konsumieren. Die Gesamtentwicklung im Zeitraum 2006 bis 2013 zeigt, dass in den Ländern, die regelmäßig Meldungen übermitteln, ein Anstieg des Wirkstoffgehalts von Cannabis (THC-Gehalt), des Reinheitsgrads von Kokain und des MDMA-Gehalts in Ecstasy-Tabletten zu verzeichnen ist. Der Reinheitsgrad von Heroin ist 2013 ebenfalls gestiegen. Technische Innovation und Wettbewerb sind zwei Faktoren, die aller Wahrscheinlichkeit nach für diesen Trend verantwortlich sind.

    Hervorgehoben werden Bedenken angesichts von Ecstasy-Tabletten mit hohem MDMA-Gehalt, die oft in individuellen Formen und mit markanten Logos angeboten werden. Im Laufe des vergangenen Jahres haben die EMCDDA und Europol Warnmitteilungen zu Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit dem Konsum derartiger Produkte herausgegeben. Weitere Warnmitteilungen, die nach einer Reihe von Todesfällen herausgegeben wurden, betrafen Tabletten, die als Ecstasy verkauft wurden, aber andere schädliche Substanzen wie PMMA enthielten.

    Zwei „neue Drogen“ pro Woche entdeckt

    Pro Woche wurden in den letzten zwölf Monaten in der EU zwei neue psychoaktive Substanzen (NPS oder „neue Drogen“, häufig als „Legal Highs“ verkauft) entdeckt. Insgesamt wurden dem EU-Frühwarnsystem im Jahr 2014 101 neue Substanzen gemeldet (gegenüber 81 Substanzen im Jahr 2013). Damit setzte sich der Aufwärtstrend bei Substanzen, die innerhalb eines einzelnen Jahres gemeldet wurden, fort. Die Gesamtzahl von Substanzen, die von der Beobachtungsstelle überwacht werden, steigt so auf über 450, wobei mehr als die Hälfte allein in den zurückliegenden drei Jahren identifiziert wurde.

    Im Jahr 2014 wurde die Liste der gemeldeten Substanzen einmal mehr von zwei Gruppen dominiert: von synthetischen Cathinonen (31 Substanzen) und synthetischen Cannabinoiden (30 Substanzen), die jeweils häufig als legaler Ersatz für Stimulanzien bzw. Cannabis angeboten werden. Diese beiden Gruppen sind die größten der über das EU-Frühwarnsystem beobachteten Gruppen und machen zusammen fast zwei Drittel der im Jahr 2014 gemeldeten neuen Drogen aus. Neue Daten zu Sicherstellungen zeigen, dass im Jahr 2013 in der EU etwa 35.000 Sicherstellungen von NPS gemeldet wurden. Diese Zahl ist in Ermangelung von routinemäßigen Meldungen in diesem Bereich als Mindestschätzung anzusehen. Die am häufigsten sichergestellten Drogen waren synthetische Cannabinoide und synthetische Cathinone.

    Neue Studien und Erhebungen gewähren zunehmend Einblicke in den Konsum von NPS, wobei neun Länder die NPS-Prävalenz mittlerweile in ihre nationalen Drogenerhebungen aufgenommen haben. Die meisten EU-Länder weisen eine niedrige Prävalenz des Konsums dieser Substanzen auf. Allerdings kann aufgrund der hochtoxischen Eigenschaften einiger NPS auch ein begrenzter Konsum dieser Substanzen problematisch sein. Die gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung der durch neue Drogen entstehenden Herausforderungen gewinnen an Dynamik und umfassen das gesamte Spektrum an Maßnahmen zur Bekämpfung der stärker etablierten Drogen (z. B. Aufklärungsarbeit, internetbasierte Interventionen und Nadel- und Spritzenaustauschprogramme).

    Das Internet und Apps: Entwicklung eines virtuellen Drogenmarkts

    Das Internet spielt beim Nachschub und der Vermarktung von Drogen in Europa eine immer wichtigere Rolle. So werden sowohl NPS als auch etablierte Drogen online zum Kauf angeboten. Die Nutzung des über die einschlägigen Suchmaschinen zugänglichen „Surface Web“ zum Verkauf von NPS hat in den letzten zehn Jahren größere Aufmerksamkeit erfahren. So identifizierte die EMCDDA rund 650 Websites, auf der „Legal Highs“ für die europäische Kundschaft angeboten werden. Eine problematische Entwicklung auf dem Online-Markt ist der Verkauf illegaler Drogen auf „Kryptomärkten“ oder auf Online-Marktplätzen im „Deep Web“, die über Verschlüsselungssoftware zugänglich sind. Auf derartigen Plattformen können Waren und Dienstleistungen anonym zwischen den Parteien ausgetauscht werden. Dabei werden häufig „Kryptowährungen“ (z. B. Bitcoin) eingesetzt, um verborgene Transaktionen zu erleichtern. So genannte „graue Märkte“ sind ebenfalls zunehmend zu finden. Hierbei handelt es sich um Websites, die sowohl im „Surface Web“ als auch im „Deep Web“ betrieben werden. Im Bericht wird erläutert, wie soziale Medien und Apps bei derartigen Drogengeschäften eingesetzt werden – entweder direkt zum Kaufen und Verkaufen von Drogen oder indirekt zu Zwecken des Marketings, der Meinungsbildung oder des Erfahrungsaustausches.

    „Insgesamt stellt das Wachstum der Online- und virtuellen Drogenmärkte Strafverfolgung und Drogenkontrollpolitik vor große Herausforderungen“, lautet eine zentrale Aussage des Berichts. Bestehende Regulierungsmodelle müssten angepasst werden, um in einem globalen und virtuellen Kontext zu funktionieren.

    João Goulão, Vorsitzender des Verwaltungsrates der EMCDDA, zieht folgendes Fazit: „Diese 20. Analyse der europäischen Drogenproblematik macht deutlich, wie viel sich seit der Veröffentlichung des ersten Berichts der EMCDDA im Jahr 1996 geändert und wie sehr die Beobachtungsstelle ihre Kenntnisse in diesem Bereich vertieft hat. Die Drogenproblematik ist inzwischen weitaus komplexer, da viele der in diesem Bericht genannten Substanzen vor zwei Jahrzehnten praktisch unbekannt waren. Die Grenzen zwischen alten und neuen Drogen verschwimmen ebenfalls immer mehr, da neuartige Substanzen zunehmend kontrollierte Drogen nachahmen. Dieser jährliche Einblick in die Drogenproblematik in Europa bildet eine wertvolle Grundlage für fundierte Diskussionen über die aktuelle Drogenpolitik. Außerdem vermittelt er wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf politische Strategien, die in der Zukunft benötigt werden.“

    Das vollständige Informationspaket „Europäischer Drogenbericht 2015“ ist erhältlich unter www.emcdda.europa.eu/edr2015.

    Pressestelle der EMCDDA, 04.06.2015

  • Drogenpatienten sind anders

    Drogenpatienten sind anders

    Andreas Reimer
    Andreas Reimer

    Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, „den Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.“ Insbesondere in der medizinischen Rehabilitation drogenabhängiger Menschen erfordert die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe besondere Maßnahmen.

    Soziodemografische Merkmale und berufliche Problemlagen

    In Abgrenzung zu anderen Indikationsbereichen in der medizinischen Rehabilitation (Somatik, Psychosomatik, Alkoholabhängigkeit) ergeben sich Unterschiede bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die von illegalen Drogen abhängig sind. Drogenabhängige Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    • sind im Durchschnitt deutlich jünger,
    • sind häufiger arbeitslos,
    • sind häufiger Schulabbrecher,
    • haben häufiger keine abgeschlossene Berufsausbildung,
    • sind häufiger vorbestraft oder kommen direkt aus der Haft in die Reha,
    • haben häufiger Brüche in ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie,
    • sind impulsiver in ihrem Entscheidungsverhalten.

    Berufsbezogene Maßnahmen für Abhängige von illegalen Drogen müssen diese Aspekte berücksichtigen.

    In den Einrichtungen des Deutschen Ordens (Hauptindikation: Abhängigkeit von illegalen Drogen) wird seit Ende 2013 das in den BORA-Empfehlungen u. a. genannte Würzburger Screening angewendet, um Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen zu identifizieren und die arbeitsbezogenen Behandlungsmaßnahmen an den besonderen Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Bis einschließlich Februar 2015 wurden insgesamt 1.156 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit diesem Instrument gescreent.

    Das Durchschnittsalter lag bei 32,5 Jahren. 1.004 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme arbeitslos (86,9 Prozent). 1.022 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zeigten nach dem Würzburger Screening eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (88,4 Prozent), 34 eine hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen (2,9 Prozent) und 100 keine beruflichen Problemlagen (8,7 Prozent). Die bei Aufnahme arbeitslosen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren durchschnittlich 3,1 Jahre vor der Aufnahme ohne Arbeit. 230 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme unter 25 Jahre alt (19,9 Prozent). Davon waren 197 (85,7 Prozent) arbeitslos. Auch diese jüngeren Rehabilitandinnen und Rehabilitanden waren bei Aufnahme bereits durchschnittlich 2,1 Jahre ohne Arbeit.

    Arbeitsbezogene Basisfähigkeiten fördern

    Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Klientel in der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger in der überwiegenden Mehrzahl besondere berufliche Problemlagen aufweist und lange dem Arbeitsleben entwöhnt ist oder u .U. auch noch nie gearbeitet hat. Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden fehlen vielfach basale Grundarbeitsfähigkeiten.

    In einer Online-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) aus dem Jahr 2013 unter mehr als 15.000 Betrieben gaben die Arbeitgeber Defizite bei Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Ausbildungsreife im Bereich arbeitsbezogener Basisfähigkeiten wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin an. Aus dem Alltag in unseren Einrichtungen wissen wir, dass ein großer Teil unserer Klientel exakt in diesen Bereichen ebenfalls deutliches Entwicklungspotential hat.

    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)
    Quelle: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung (www.dihk.de)

    Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrieren die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern. Es liegt nahe, während der Rehabilitationsmaßnahme auch insbesondere auf diese Aspekte zu fokussieren und den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden die zentrale Wichtigkeit dieser Inhalte zu vermitteln.

    Die BORA-Empfehlungen

    Die nun vorliegenden Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14.11.2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA), bieten eine fundierte Grundlage, um die arbeitsbezogenen Teilhabechancen der drogenabhängigen Klientel zu verbessern. Die Arbeitsgruppe hat durch ihre Zusammensetzung aus Vertreterinnen und Vertretern der Rentenversicherung wie auch von Suchtverbänden die Anforderungen der Rentenversicherung mit den Erfahrungen der Praktiker in einem schlüssigen Konzept vereint. Kern dieses Konzeptes ist, dass auf der Grundlage eines Befundes oder einer Ausgangssituation arbeitsbezogene Ziele formuliert und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vereinbart werden. Nach einem anfangs definierten Zeitraum wird die Zielerreichung überprüft, und es werden entweder neue Ziele formuliert oder die Maßnahmen angepasst, falls die Ziele nicht erreicht wurden.

    Neben der ausbildungs- und arbeitsbezogenen Anamnese gehört ein Instrument wie das Würzburger Screening zur Erhebung der Ausgangssituation. Ähnlich der Kategorisierung der beruflichen Problemlagen im Würzburger Screening (drei Kategorien, s. o.) schlägt das BORA-Konzept die Einteilung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in fünf Gruppen vor, aus denen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten lassen.

    Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil

    In den ersten Wochen des Aufenthaltes wird durch Verhaltensbeobachtung in den angebotenen Arbeitsbereichen ein Fähigkeitsprofil erarbeitet und mit dem Anforderungsprofil einer angestrebten Tätigkeit oder des allgemeinen Arbeitsmarktes abgeglichen. Dabei sollte  der Fokus u. a. auch auf die von den Arbeitgebern favorisierten Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin gelegt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Ziele mit den Betroffenen vereinbart, die sich einerseits auf Verbesserungen in den arbeitsbezogenen Basisfähigkeiten und andererseits auf die nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme angestrebte Tätigkeit beziehen. Zur Zielerreichung werden mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden bestimmte Maßnahmen vereinbart, und es wird ein Zeitpunkt festgelegt, zu dem überprüft wird, ob die Ziele erreicht wurden. Maßnahmen zur  Zielerreichung können sein:

    • interne und externe Arbeitserprobung (Training),
    • Festlegung eines Trainingsbereiches,
    • Inhalte des arbeitsbezogenen Trainings,
    • Besuch von arbeitsbezogenen Indikativgruppen,
    • PC-Schulung,
    • Bewerbungstraining,
    • Sozialberatung,
    • Vorstellung im Berufsförderungswerk.

    Dieses in den BORA-Empfehlungen vorgeschlagene Vorgehen macht den Prozess der arbeitsbezogenen Zielformulierung und Maßnahmenfestlegung für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wie auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent und nachvollziehbar.

    In dem Konzept werden noch weitere diagnostische Instrumente (Assessments und zusätzliche Module) vorgeschlagen, die in Einrichtungen zum Teil schon Anwendung finden und auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

    Interne Trainingsfelder

    Wie oben schon betont, wird es bei den meisten drogenabhängigen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden wegen der relativen Arbeitsmarktferne im Wesentlichen um das Training von arbeitsbezogenen Grundfähigkeiten gehen. Diese lassen sich nicht theoretisch erlernen, sondern müssen im praktischen Tun trainiert werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, dass das BORA-Konzept als Trainingsfelder für die interne Belastungserprobung z. B. auch „Garten-, Renovierungs-, Küchen- und andere allgemeine Tätigkeiten“ nennt. Voraussetzung ist eine individuelle Indikationsstellung, d.h. es muss vor Beginn der Maßnahme in einem bestimmten Trainingsbereich festgelegt werden, welche Fähigkeiten mit welchem Ziel trainiert werden sollen.

    Unter dieser Voraussetzung ist sichergestellt, dass Einrichtungen sich nicht mehr der Kritik erwehren müssen, von den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden so genannte systemerhaltende Arbeiten durchführen zu lassen. Letztlich ging es den Leistungserbringern immer darum, den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden arbeitsbezogene Grundfertigkeiten anzutrainieren. Durch das jetzt im Konzept beschriebene indikationsgeleitete strukturierte Vorgehen eröffnet sich wieder die Chance, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Arbeitsbereichen zu trainieren, aus denen sie zum Teil vorübergehend ausgeschlossen waren (z. B. Küche und Renovierungsarbeiten).

    Anpassung der Personalausstattung

    Auch wenn die Einführung von BORA sehr begrüßenswert ist, so stehen die beschriebenen erhöhten Anforderungen in krassem Gegensatz zu der Personalausstattung, die in den Strukturanforderungen 2014 beschrieben ist. Wenn über 80 Prozent der Klientel eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit von beruflichen Problemlagen aufweisen und entsprechend in die BORA-Gruppen 3 und 4 mit den höchsten Unterstützungsbedarfen einzuordnen sind und gleichzeitig mit dem BORA-Konzept die besondere Wichtigkeit der Fokussierung auf arbeitsbezogene Maßnahmen festgeschrieben wird, dann muss der Bereich Arbeits- und Ergotherapie auch entsprechend personell ausgestattet sein. Mit nur 4,5 Stellen im Bereich Ergo-, Beschäftigungs- und Kreativtherapie auf 100 Betten (s. Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung 2014) ist die Umsetzung eines solchen Konzeptes unrealistisch.

    Kontakt:

    Andreas Reimer
    Deutscher Orden Ordenswerke
    Geschäftsbereich Suchthilfe
    Klosterweg 1
    83629 Weyarn
    andreas.reimer@deutscher-orden.de
    www.deutschordenswerke.de

    Angaben zum Autor:

    Andreas Reimer ist leitender Arzt im Geschäftsbereich Suchthilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, und Mitherausgeber von KONTUREN online.