Schlagwort: Eingliederungshilfe

  • Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Einleitung

    Im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe (EGH) aktuell mit der Umstellung auf das neue Leistungssystem beschäftigt. Dies umfasst die Neujustierung der Fachkonzepte, die Schulung der Mitarbeitenden und die Prozessorganisation in den Angeboten. Diese Umstellung beinhaltet zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit den reformierten behinderungspolitischen Leitideen.

    Für die Suchthilfe bietet dieser Prozess verschiedene fachliche Gestaltungsoptionen. Es besteht die Chance, arbeitsfeldspezifische Paradigmen wie die Abstinenzorientierung neu zu bewerten und die Praxis der Suchthilfe durch die systematische Implementierung von fachlichen Konzepten und Verfahren weiter zu professionalisieren. Hierbei kann der Fokus um zeitgemäße partizipative und sozialräumliche Ansätze erweitert werden. Die Entwicklungen lassen sich für die gezielte Vernetzung mit relevanten Akteuren nutzen und auf andere Segmente der Suchthilfe jenseits der EGH und weitere Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens übertragen.

    Grundsatz Selbstbestimmung

    Ein zentraler Grundsatz des BTHG bezieht sich auf das Recht auf Selbstbestimmung. Gemäß § 8 SGB IX lassen Leistungen, Dienste und Einrichtungen „den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung“. Laut Beyerlein (2021) bedeutet Selbstbestimmung als gesetzliches Ziel, „die Betroffenen bei der Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in ihrer Persönlichkeit zu achten und dementsprechend zu handeln und sie darüber hinaus zu aktivieren und in die Lage zu versetzen, autonom darüber zu entscheiden, in welcher Weise die gleichberechtigt Teilhabe stattfinden soll“ (S. 21). In der Suchthilfe ist der Umgang mit Selbstbestimmung elementar im Hinblick auf das Abstinenzpostulat, das trotz vorliegender alternativer Therapieansätze wie die Trinkmengenreduktion vielfach noch vorherrscht. Die Kritik, dass Abstinenz als vorgegebenes Behandlungsziel nicht dem Willen vieler Betroffener entspreche und zudem autonomieverletzend sei (vgl. Körkel 2002; Körkel und Nanz 2016), trifft ins Mark des Selbstbestimmungsgrundsatzes im BTHG. Dies erfordert insbesondere von hochschwellig ausgerichteten Anbietern bei der Erarbeitung der Fachkonzepte eine intensive Auseinandersetzung mit der fachlich-therapeutischen Haltung des Trägers und seiner Mitarbeitenden. Nur auf konzeptionell geklärter Grundlage ist der Rechtsanspruch auf selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Substanzkonsumstörungen umsetzbar.

    Grundsatz Partizipation

    Zu den wesentlichen Prinzipien des BTHG zählt die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, die sich aus dem Partizipationsbegriff ableitet und soziales Einbezogensein, politische Beteiligung und Einflussnahme auf zentrale Entscheidungen in diesen Lebensbereichen beinhaltet (vgl. Rambausek-Haß und Beyerlein 2018). Hieraus ergeben sich Aufgaben für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen, die sich auf ressourcenorientierte Befähigungsleistungen und die partizipative Weiterentwicklung der Angebote beziehen und eng mit den fachlichen Grundlagen, wie z. B. einer Ausrichtung am Recovery-Ansatz, verbunden sind.

    Partizipation bezieht sich auf die aktive Einbeziehung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse, die sie selbst betreffen (wie Bedarfsermittlung, Vereinbarung von Zielen und Teilhabeplanung), und ihre Beteiligung an der Entwicklung der Strukturen, in die sie eingebunden sind (z. B. Angebote der Suchthilfe sowie sozialräumliche, kommunale und weitere Entwicklungen und Entscheidungen). Sowohl in der EGH als auch in der Suchthilfe gilt Partizipation als ein Prozess, der an vorhandene Ressourcen und bisherige Erfahrungen gebunden ist. Damit Beteiligung als sinnvoll und attraktiv bewertet werden kann, müssen Befähigungsleistungen ggf. vorgeschaltet werden (vgl. Mattern et al. 2023). Zentrale Grundlage zur Umsetzung von Partizipation sind eine Empowerment-geleitete fachliche Haltung der Mitarbeitenden und eine beteiligungsorientierte Ausrichtung der Organisation. Beides kann z. B. durch methodische Anleihen bei dem Projekt „Hier bestimme ich mit – Ein Index für Partizipation“ (vgl. BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe 2020; 2021) weiterentwickelt werden.

    Leitkriterium Sozialraumorientierung

    Eng mit Partizipationsprozessen ist die Sozialraumorientierung (SRO) verbunden, die als neues Leitkriterium in das SGB IX eingeführt worden ist. Sie lässt sich mit Hilfe des sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzepts SRO operationalisieren. Das Konzept ist ein mehrdimensionaler Theorie- und Handlungsansatz und fußt auf den drei Handlungsebenen der fallspezifischen, fallübergreifenden und fallunspezifischen (personenunabhängigen) Ebene (vgl. Hinte 2019; 2020). Es lässt sich um die organisatorische Ebene der Leistungserbringer erweitern und stellt eine umfassende Sammlung an Methoden und Techniken zur Verfügung (vgl. Früchtel et al. 2007a; 2007b), die auch in der Suchthilfe einsetzbar sind.

    Zu den wesentlichen Handlungsprinzipien der Sozialraumorientierung zählen:

    • die Ausrichtung am Willen und den Interessen der Betroffenen,
    • die Stärkung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
    • die Fokussierung der personellen und sozialräumlichen Ressourcen,
    • zielgruppen- und bereichsübergreifende Aktivitäten und
    • die Kooperation und Vernetzung mit Fachdiensten, umgebenden Einrichtungen und weiteren Akteur:innen etc. im Quartier.

    Die Ausrichtung am Willen der Betroffen und der Sozialraum- und Lebensweltbezug im sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzept decken sich mit den Kriterien des Gesamtplanverfahrens inkl. der Bedarfsermittlung nach § 117 SGB IX. Diese Passung bezieht sich auch auf die Haltung. Zur Umsetzung der Sozialraumorientierung ist eine ressourcenorientierte Haltung jenseits paternalistischer Fürsorge erforderlich, die der im BTHG formulierten Erwartung des Gesetzgebers an die professionelle Beziehungsgestaltung und Rollenklarheit bei den Mitarbeitenden entspricht: „Der Begriff der Assistenz bringt in Abgrenzung von förderzentrierten Ansätzen der Betreuung, die ein Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten bergen, auch ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck“ (BT-Drucks. 18/9522, S. 261). Durch die zielorientierte Vernetzung und Kooperation zur wirksamen Leistungserbringung kann das Konzept einen wesentlichen Beitrag zur Entsäulung innerhalb der Suchthilfe leisten.

    Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der EGH im Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht der EGH sieht vor, dass bei der Umstellung auf das neue Leistungssystem für alle Angebote Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen werden, die Inhalt, Umfang, Qualität, Wirksamkeit und Vergütung der Leistungen regeln. Referenzrahmen der Vereinbarungen sind die neuen Fachkonzepte, die gemäß Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS 2021) die fachliche Ausrichtung der Suchthilfe-Angebote beschreiben und Wirkannahmen für die angebotenen Leistungen sowie Qualitätsstandards enthalten sollen, um die „qualitative Leistungserbringung, Fachlichkeit und Sinnhaftigkeit der Maßnahme“ (BAGüS 2021, S. 12) zu gewährleisten.

    Die wirksamkeits- und qualitätsfokussierte Ausrichtung der EGH ermöglicht nun die finanzielle Berücksichtigung von Ansätzen und Verfahren der Suchthilfe, die früher in der Regel als im weitesten Sinne therapeutisch und daher nicht EGH-konform abgelehnt worden sind. Die verbindliche Umsetzung der Fachkonzepte ist im Kontext der sanktionsbewehrten Prüfungen nach § 128 SGB IX von den Leistungserbringern sicherzustellen. Das erforderliche regelmäßige Qualitätsmonitoring wird professionalitätssteigernde Effekte mit sich bringen. Dazu trägt auch die Vorgabe bei, dass sich sämtliche Merkmale des fachlichen Handelns in der Dokumentation der Leistungserbringung und in der reflektierten Ergebnisqualität zeigen müssen (vgl. BAGüS, S. 13). Dies wiederum setzt geschulte Mitarbeitende voraus, die sich mit den fachlichen Grundlagen auseinandergesetzt haben.

    Exkurs: Potenziale des Vertragsrechts für die Psychosoziale Begleitung von substituierten Opioidabhängigen (PSB)

    Mit Herauslösung der EGH aus dem Sozialhilferecht werden die Leistungen auf Antrag gewährt und sind mit neuen Verwaltungsverfahren und Zugangswegen ins System verbunden. Diese können für Teilgruppen der Anspruchsberechtigten zu hochschwellig sein und de facto den Ausschluss von der Leistung bedeuten. Diese Situation trifft für substituierte Opioidabhängige und das spezifische Angebot PSB in den Fällen zu, in denen es über die EGH finanziert wird. Die besonderen Bedarfe des Personenkreises und die organisatorischen Anforderungen an die Leistungserbringer lassen sich unter den administrativen und ökonomischen Rahmenbedingungen des neuen Leistungsrechts für das Gros der Betroffenen nicht abbilden. Das Vertragsrecht enthält jedoch Optionsrechte gemäß § 125 Abs. 3 Satz 4 SGB IX und § 132 SGB IX, auf deren Grundlage die PSB als personenorientierte und wirksame Leistung der EGH konfigurierbar wird (vgl. Gellert-Beckmann 2022). Da die Anwendung der Optionsrechte als Kann-Regelung im Ermessen der Leistungsträger liegt, besteht für die Leistungserbringer kein Anspruch auf ihre Nutzung. Dieser lässt sich aus der Perspektive der Leistungsberechtigten jedoch aus deren Recht auf diskriminierungsfreie Angebote und Zugänge aus den Artikeln 3, 4, 19, 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ableiten.

    Fachliche Grundlagen für die Umsetzung des BTHG

    Für die Leistungskonzeptionierung und -erbringung in der geforderten Qualität ist der Rückgriff auf fachlich bzw. wissenschaftlich anerkannte Verfahren und Konzepte notwendig, die insbesondere in S3-Leitlinien dargestellt werden. Geeignete psychosoziale Interventionen, die mit den Rehabilitationszielen der EGH kompatibel sind, finden sich in der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (DGPPN 2018). Sie sind auf die psychiatrische Teilgruppe der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen übertragbar (vgl. Gellert-Beckmann 2023a). Aus den suchtspezifischen Leitlinien lassen sich im Vergleich dazu weniger geeignete evidenzbasierte Ansätze in Bezug auf die Reha-Leistungen der EGH entnehmen, deren Umsetzungsmöglichkeit im Rahmen des BTHG analysiert und bestätigt worden ist (Gühne und Konrad 2019).

    Die psychosozialen Interventionen aus der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen zielen auf psychische und physische Stabilisierung, die Aktivierung von Motivation und Ressourcen und die Entwicklung von Fähigkeiten für eine weitestgehend selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung. Für die Erstellung der Fachkonzepte und die Festlegung auf fachliche Grundlagen bieten sie eine Vielzahl konkreter Verfahren, die sich mit weiteren suchthilfespezifischen Ansätzen verbinden lassen.

    Zentrale Ansätze der Leitlinie sind Recovery und Empowerment, die für das praktische Handeln operationalisiert und in der Arbeitsorganisation verankert werden müssen. Recovery-Elemente umfassen z. B. eine partnerschaftlich-professionelle und autonomiefördernde Arbeitsbeziehung und einen stärkenorientierten Ansatz, der die Klient:innen bei der (Wieder-)Entdeckung ihrer Ressourcen unterstützt. Angestrebt wird die Förderung von Selbstbestimmung, sozialer und beruflicher Teilhabe sowie der (Bürger:innen-)Rechte (DGPPN 2018, S. 52). Die Recovery-Prinzipien sind in die Angebotsstrukturen und Ablauforganisation einzubetten. Sie müssen für die Klient:innen erfahrbar und auch für die Mitarbeitenden greifbar werden in Form von Leistungen, die systematisch die Partizipation der Klient:innen integrieren und somit einen Bogen zu den Zielen des BTHG spannen.

    Die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen enthält Schnittstellen zu den evidenzbasierten suchthilfespezifischen Verfahren Motivational Interviewing und Community Reinforcement Approach sowie zu allen suchthilfespezifischen Verfahren, die mit dem Empowerment-Ansatz assoziiert sind. Empowerment zielt als wichtiger Bestandteil von Recovery auf die Förderung von Selbstbefähigung, Eigeninitiative und Selbsthilfe – Kompetenzen, die in der Suchthilfe in Form von Selbsthilfegruppen, Lotsenkonzepten und Peer-Support unterstützt werden. Gemäß Leitlinien-Empfehlung ist Selbstmanagement „ein bedeutender Teil der Krankheitsbewältigung und sollte im gesamten Behandlungsprozess unterstützt werden“ (DGPPN 2018, S. 65). Selbstmanagement in der Suchthilfe umfasst Trainingsprogramme wie Psychoedukation, Konsumreduktionsprogramme wie Kontrolliertes Trinken und Kontrolle im selbstbestimmten Konsum, Rückfallprophylaxe und Training sozialer Fertigkeiten.

    Eine wesentliche Grundlage sowohl der Leitlinie als auch der Suchthilfe und der EGH stellt die professionelle Beziehungsgestaltung dar. Deren Qualität ist Bestandteil anderer Ansätze, z. B. des Wirkfaktorenmodells nach Grawe (vgl. DGPPN 2018, S. 58). Dieses Konzept fokussiert darüber hinaus Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Befähigung zur Problembewältigung, die wiederum an den Befähigungsaspekt des neuen Leistungstatbestands der qualifizierten Assistenzleistung im SGB IX anschließt.

    Mit der partizipativen Entscheidungsfindung sollen die Rechte auf Autonomie und Selbstbestimmung respektiert und die aktive Beteiligung an der Behandlungsgestaltung im Recovery-Prozess sichergestellt werden (vgl. DGPPN 2018). Ein Anknüpfungspunkt zu dieser Recovery-Orientierung besteht u. a. für das Konzept der Zieloffenen Suchtarbeit nach Körkel.

    Für Suchthilfe-Angebote bietet sich an, die konzeptionelle Berücksichtigung von Case Management im Kontext der Assistenz zur persönlichen Lebensplanung gemäß § 78 Abs. 1 SGB IX zu prüfen und zielgruppenspezifisch auszuformen. Hierfür steht exemplarisch das Modellprojekt „Alters-CM3“ für die Arbeit mit älteren Drogenkonsument:innen (Schmid 2018). Das Modell verknüpft „Motivational Case Management“ (Case Management, das Motivational Interviewing methodisch integriert) mit Elementen eines stärkenorientierten Ansatzes und der „Problem Solving Therapy“. Somit lassen sich Verbindungen zu Recovery und zum Graw’schen Wirkfaktorenmodell herstellen.

    Als Basisleistung für die Bereiche „Navigation zur Strukturierung der Lebensgestaltung, Erschließung weiterer notwendiger Sozialleistungen, Krisenplanung“ (Konrad 2020, S. 29) kann Case Management von der Suchthilfe genutzt werden, um sozialarbeiterische Expertise im Bedarfskontext der Zielgruppe zu begründen.

    Aufgrund der hohen Prävalenz somatischer und psychiatrischer Komorbiditäten bei Substanzkonsumstörungen sollten auch Leistungen zum Lebensbereich Gesundheit im Hinblick auf die Bewältigung der zusätzlichen Erkrankungen regelhaft angeboten werden. Ein Mindestmaß an Gesundheit ist Voraussetzung für Teilhabe und unabdingbar für Lebensqualität und das Vermeiden vorzeitiger Mortalität. Gesundheitsbezogene Interventionen und Angebotsstrukturen und -prozesse auf System- und Einzelfallebene lassen sich in der EGH mit dem von der Dt. Vereinigung für Rehabilitation erarbeiteten Konzept der Gesundheitssorge (vgl. DVfR 2021) für die Suchthilfe entwickeln (vgl. Gellert-Beckmann 2023b). Das Konzept ist hilfreich für die Bedarfsermittlung, die individuelle Maßnahmenplanung und die organisationsstrukturelle Implementierung entsprechender Angebote. Hierzu zählen psychoedukative Trainings, das Schaffen von Zugängen zu Informationen und Angeboten, spezifische Fortbildung der Mitarbeitenden, Gruppenangebote zur Förderung der Gesundheitskompetenz und personenunabhängige Sozialraumarbeit zur Etablierung einer gesundheitskompetenzförderlichen Umgebung (vgl. AOK 2021).

    Ein Großteil der Verfahren ist über die EGH hinaus auch in anderen Settings der Sucht- und Drogenhilfe wie Beratungs- und Kontaktstellen einsetzbar.

    Neue Verfahrensregelungen im SGB IX

    Chancen für eine bessere Zusammenarbeit liegen auch in den neuen Verfahrensregelungen im Teil 1 des SGB IX für die Reha-Träger. Letztere sollen durch koordiniertes Handeln schnelle und wirkungsvolle Rehabilitationsleistungen ermöglichen. Die optimierte Kooperation der Leistungsträger soll unter Einbezug der weiteren Prozessbeteiligten erfolgen, da die übergreifende Zusammenarbeit als erfolgskritische Voraussetzung der Rehabilitation gilt. In der „Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess“ (BAR 2019) sind in § 3 die beteiligten Akteure aufgelistet, die Einrichtungen und Dienste der Suchthilfe umfassen. Zu entwickeln sind mit den relevanten Beteiligten „verbindliche Strukturen, die ein regelhaftes und verlässliches System zum Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit sicher stellen, das der möglichst frühzeitigen Erkennung eines Teilhabebedarfs und Einleitung von Leistungen zur Teilhabe dient“ (§ 16 Abs. 3 GE Reha-Prozess).

    Werden die in der Gemeinsamen Empfehlung formulierten Vorgehensweisen realisiert, profitieren einerseits Menschen mit Substanzkonsumstörungen von den vom Gesetzgeber angestrebten Verbesserungen, da sämtliche Leistungsgruppen gemäß § 5 SGB IX für sie relevant sein können. Andererseits lassen sich für die Suchthilfe und die angrenzenden Arbeitsfelder systematisch Vernetzungspotenziale heben, die zusammen mit den oben dargestellten Konzeptansätzen eine neue konstruktive Grundlage schaffen für die Überwindung von Schnittstellenproblemen (vgl. DHS 2019, S. 5).

    Kinder von suchtkranken Eltern

    Die Assistenzleistungen gemäß § 78 SGB IX umfassen auch Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Mittels pädagogischer Anleitung, Beratung und Begleitung sollen Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen unterstützt werden, um ihrer Elternrolle gerecht zu werden und z. B. die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können (vgl. BMAS 2018, S. 44). Es lassen sich Angebote der begleiteten Elternschaft entwickeln, die in Modellprojekten erprobt worden sind (vgl. AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. 2019; Dachverband Gemeindepsychiatrie 2019).

    Ausblick

    Die Potenziale des BTHG und der reformierten EGH lassen sich für weitere Bereiche der Suchthilfe nutzen. Der systematische fachliche Fokus als Folge der Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen in der EGH erfordert finanzielle Ressourcen, die zunächst zu verhandeln und in Umsetzung zu bringen sind. Als Professionalisierungstreiber kann er für die Weiterentwicklung anderer sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder und Angebote in der Suchthilfe genutzt werden, die sich der Kritik häufig fehlender fachlicher Standards der Leistungserbringung stellen müssen (vgl. Arendt 2019). Auch die Auseinandersetzung mit den Prämissen der UN-BRK und des BTHG und die Übersetzung der menschenrechtsbasierten und behinderungspolitischen Grundlagen in fachliches Handeln kann den Fachdiskurs über die EGH hinaus bereichern, zumal die UN-BRK als mächtiger Hebel für die Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Diskriminierungskontext Chancen für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen enthält, die noch lange nicht aufgegriffen sind.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Gellert-Beckmann ist Geschäftsführerin der Suchthilfe Wuppertal gGmbH,
    Hünefeldstr. 10a, 42285 Wuppertal.
    www.sucht-hilfe.org
    stefanie.gellert-beckmann(at)sucht-hilfe.org

    Literatur
    • Arendt I. Case Management in der Sucht- und Drogenhilfe. Soziale Arbeit 2018; 9/10: 360-366 
    • AOK-Bundesverband GbR. Forschungsprojekt QualiPEP/ Qualitätsorientierte Prävention- und Gesundheitsförderung in Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe. 2021. Im Internet: www.aok-qualipep.de; Stand: 07.04.2023
    • AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (Hg.). Abschlussbericht Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern. 2019: 14ff.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Fragensammlung zur Partizipation. 2. Auflage, Berlin 2021.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Informationen für mehr Mitbestimmung. Berlin 2020.
    • Beyerlein M. Kurzgutachten zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern. Analyse von Regelungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Landesrahmenverträgen nach § 131 SGB IX (2021: 21).
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR). Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess. Frankfurt 2019.
    • Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS). Orientierungshilfe zur Durchführung von Prüfungen der Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit nach § 128 SGB IX. 2021
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG). 25. Oktober 2018. Im Internet: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Fragen-und-Antworten-Bundesteilhabegesetz/faq-bundesteilhabegesetz.html; letzter Zugriff: 03.05.2024
    • Bundestags-Drucksache 18/9522. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). 05.09.2016
    • Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. (Hg.). Unterstützung für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Leuchtturmprojekte. Köln: Psychiatrie-Verlag 2019.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analyse der Hilfen und Angebote und Zukunftsperspektiven. Update 2019
    • Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR). Gesundheitssorge – Erhalt und Förderung von Gesundheit für Menschen mit Behinderungen unter besonderer Berücksichtigung der Eingliederungshilfe. Positionspapier der DVfR, 2021.
    • DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. 2. Auflage, Berlin: Springer 2018: 65. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-58284-8
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007a). Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007b): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Gellert-Beckmann S. Analyse der BTHG-bezogenen Chancen und Grenzen für die Suchthilfe. Suchttherapie 2023; DOI 10.1055/a-2159-8397 (2023a)
    • Gellert-Beckmann S. Gesundheitssorge als spezifische Teilhabeleistung der Eingliederungshilfe im Arbeitsfeld Suchthilfe. Nachrichtendienst des deutschen Vereins 2023; 1: 20 – 27 (2023b).
    • Gellert-Beckmann S. Überlegungen zur psycho-sozialen Betreuung für substituierte opioidabhängige Menschen im Kontext der UN-BRK und des BTHG – Personenzentrierte Verfahren und Zielvereinbarungen gemäß Kapitel 8 SGB IX; Beitrag E1-2022 unter www.reha-recht.de; 09.08.2022
    • Gühne U, Konrad M. Chancen zur Umsetzung der Leitlinienempfehlungen zu psychosozialen Therapien im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG); Psychiat Prax 2019; 46: 468 – 475. DOI: https://doi.org/10.1055/a-1011-9606
    • Hinte W. Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“ – Grundlage und Herausforderung für professionelles Handeln, ln: Fürst R, Hinte W (Hg.). Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten, 3. Auflage., Stuttgart: UTB; 2019: 13–32.
    • Hinte W. Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung? In: Fürst R, Hinte W. Sozialraumorientierung 4.0. Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven, Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG; 2020: 11 -26.
    • Körkel J, Nanz M. Das Paradigma Zieloffener Suchtarbeit. In: akzept e. V., Dt. Aidshilfe, JES e. V., (Hg.). 3. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2016. Berlin: Pabst Science Publishers; 2016: 196 – 204.
    • Körkel J. Kontrolliertes Trinken. Eine Übersicht. Suchttherapie 2002; 3: 87–96.
    • Konrad M. Assistenzleistungen zur Sozialen Teilhabe als Rechtsanspruch nach dem Bundesteilhabegesetz (BTGH). Webinar der Umsetzungsbegleitung BTHG 05.06.2020. Im Internet: https://www.lag-avmb-bw.de/Teilhaberecht/Assistenzleistung_BTHG-2006.pdf
    • Mattern, L, Peters, U, Rambausek-Haß, T (2023). Zur Umsetzung der Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung – Forschungsstand; Beitrag D5-2023 unter www.reha-recht.de; 25.04.2023.
    • Rambausek-Haß, T, Beyerlein, M. Partizipation in der Bedarfsermittlung – Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz? – Teil II; Beitrag D28-2018 unter www.reha-recht.de; 31.07.2018.
    • Reker M. Zur Implementation eines evidenzbasierten Therapieverfahrens in die deutsche Suchtkrankenversorgung: Der Community Reinforcement Approach. Suchttherapie 2013; DOI 10.1055/s-0033-1341430
    • Schmid M. Case Management für ältere Drogenabhängige – Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt. In: Schmid M, Arendt I. „Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe …“ – Ältere Drogenabhängige, Hilfesysteme und Lebenswelten: Dokumentation zur Fachtagung des Verbundprojekts Alters-CM³ – Case Management für ältere „Drogenabhängige“. Koblenz: Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW), Hochschule Koblenz 2018: 5-14.
  • Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit

    Wirkungsorientierung in der Sozialen Arbeit

    Sandra Schneider
    David Schneider
    Konstantin Loukas
    Frank Löbler

    Der Fachdiskurs der Sozialen Arbeit beschäftigt sich zunehmend mit dem Einsatz wirkungsorientierter Instrumente. Im folgenden Text plädieren wir dafür – trotz mitunter vorgetragener methodischer Bedenken –, mittels praktikabler Verfahren in die wirkungsorientierte Praxisforschung einzusteigen. Dabei wird auf den Vorzug teilhabe- und lebensqualitätsorientierter Instrumente im Kontext der Wirkungs­analyse verwiesen. Am Beispiel der Suchthilfe wird deutlich: Es geht um Beeinträchtigungen und Ressourcen in der gesamten Lebenswelt, in der auch die Soziale Arbeit mehrdimensional ansetzt.

    Auf Basis der Erfahrungen mit der Personal Outcomes Scale, einem teilhabeorientierten Interviewverfahren, wird deutlich, dass Wirkungsorientierung realistisch ist und das Interview als Instrument sich besonders dazu eignet, klienten- und organisationsbezogene Informationen zu erheben und auszuwerten. Die Träger Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. in Frankfurt und das Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen haben in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Menschen in unterschiedlichen Betreuungssettings – wie der Eingliederungshilfe oder dem stationären Wohnen – zu ihrer Lebensqualität interviewt. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Wirkungsorientierung als Chance

    Spätestens seit der Einführung des BTHG wird in der Eingliederungshilfe verstärkt über die Wirkung von Hilfeleistungen gesprochen. Aber nicht nur dort, sondern in der gesamten Sozialen Arbeit ist die Wirkungsorientierung seit Jahren ein mitunter kontrovers diskutiertes Thema. In der Praxis geht es allerdings oft schleppend voran. Die Gründe für eine stärkere Orientierung an der Wirkung sind bei alledem evident: Zunächst geht es um die Verpflichtung gegenüber interessierten Parteien wie den Leistungsträgern oder der öffentlichen Hand. Die Qualität der Angebote hat sich daran zu messen, ob die Angebote nachweislich die gesellschaftliche Teilhabe der Klientinnen und Klienten erhalten bzw. fördern. Eine evidenzbasierte Evaluation der Maßnahmen und Betreuungsformen dient aber auch der eigenen Positions­bestimmung und liefert Hinweise auf Veränderungs- und Verbesserungs­potentiale der angebotenen Leistungen (Sozial.de, 2020). Ebenso sollte die Erfassung und Interpretation von Veränderungen seitens der Klientel hinsichtlich ihrer Lebenswelt und Lebensqualität als Gradmesser für die Wirkung Sozialer Arbeit fungieren.

    Neben dem professionseigenen Anspruch der Sozialen Arbeit, wirksame Arbeit zu leisten, wird Wirkungsorientierung auch im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz und den Landesrahmenverträgen gefordert. Dennoch erfolgte bislang keine abschließende Definition der Begriffe Wirkung und Wirksamkeit und auch keine Benennung von Verfahren und Instrumenten, mit denen die Wirkungsanalyse bzw. Wirksamkeitsmessung seitens der Leistungserbringer durchgeführt werden könnte. Vielmehr finden sich bei der Durchsicht der Landesrahmenverträge unterschiedliche Begriffsinterpretationen und Ansätze (Deutscher Verein 2022, S. 6 ff.). Dass sich hier noch keine routinierte oder gar einheitliche Handhabung durchgesetzt hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass in der Eingliederungshilfe Erfahrungen mit dem Nachweis von Wirkung fehlen. Die Bunderegierung stellte im Dezember 2022 fest: „(…) knapp sechs Jahre nach der Verabschiedung des BTHG ist die angestrebte Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe (…) noch nicht vollständig in der Praxis umgesetzt.“ (Deutscher Bundestag 2022, S. 18) Diese Unschärfe verschafft den Leistungserbringern allerdings auch Gestal­tungs­spielräume, um eigene Positionen zur Wirkungsorientierung erfahrungs- und evidenzbasiert zu entwickeln.

    Wie lässt sich „Wirkung“ in der Eingliederungshilfe feststellen und beurteilen?

    Heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Ergebnisse der Sozialen Arbeit messbar und die Prozesse steuerbar sind. Gestritten wird lediglich darüber, welche Verfahren angewandt werden und wie wissenschaftlich anerkannt diese sind. Es gibt gute Gründe für experimentelle Designs zum Nachweis kausaler Effekte: Randomisierte kontrollierte Studien und Metaanalysen gelten als Goldstandard der evidenzbasierten Forschung. Sie gelten als die sicherste Methode, Nutzen und Risiken von Therapien zu bewerten. Hier kann von „Wirkungsmessung“ gesprochen werden.

    Studien, die ohne Theoriebildung, Formulierung von Hypothesen, experimentelle Variation von Bedingungen, Kontrollgruppe und Randomisierung durchgeführt werden, sollten indes nicht von „Wirkungsmessung“ sprechen, denn dies suggeriert, dass bestimmte Effekte unmittelbar auf diese oder jene Intervention zurückzuführen sind. „Wirkungen in der sozialen Arbeit sind allerdings komplexer und lassen sich oft nicht im Sinne der korrelativen Rückführbarkeit auf einzelne Interventionen ‚messen‘“, heißt es im „Kursbuch Wirkung“ (Kurz & Kubek, 2013, S. 49 f.). Deshalb wird dort der Begriff „Wirkungsanalyse“ als der passendere vorgeschlagen.

    In diese Richtung argumentieren auch Ottmann, König und Gander (2021). Sie schlagen eine theoriebasierte „Wirkungsplausibilisierung“ vor. „Die Realisierung von klassisch experimentellen Studien erscheint innerhalb der Sozialen Arbeit und der Eingliederungshilfe meist als schwierig und ethisch bedenklich, da bei diesen nur der Zufall entscheiden kann, ob einer bestimmten Person eine bestimmte Maßnahme, also Hilfe, zugeteilt wird oder nicht.“

    Mit teilhabeorientierten Instrumenten Veränderungen darlegen

    Wirkungsorientiert, wirkungsanalytisch oder mit dem Ziel der Wirkungsplau­sibilisierung in der Eingliederungshilfe der Suchthilfe zu arbeiten, heißt, auf der Basis von Fall-, Text- und Dokumentanalysen sowie von klientenbezogenen Verlaufsbetrachtungen eine Einschätzung zu gewinnen, „ob und in welchem Umfang gefundene Effekte, also beobachtbare Veränderungen oder Stabilisierungen, auf die Angebotsformen oder Formen der Leistungserbringung (Art, Inhalt, Umfang) auch tatsächlich zurückgehen“ (Ottmann et al., 2021).

    Eine so verstandene Wirkungsorientierung wird dann ein erfolgreiches und nachhaltiges Projekt, wenn es gelingt, ein realistisches, sinnhaftes und vor allem auch praxiskompatibles Verfahren einzusetzen, um die Entwicklung der Lebensqualität der Klientinnen und Klienten zu dokumentieren und zu evaluieren. In diesem Sinn plädieren wir für eine im Dienst der Qualitätsentwicklung stehende Praxisforschung, die Veränderungen erfasst und plausibel macht, in welchem Verhältnis diese zu bestimmten Angeboten oder Settings stehen.

    Experimentelle Studien und qualitativ ausgerichtete Praxisforschung sollten nicht als Gegensätze verstanden werden. Im Gegenteil: Den Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft gilt es zu intensivieren, wozu beispielsweise auch seitens der Politik nachdrücklich aufgerufen wurde (Deutscher Suchtkongress, 2022). Zwingende Voraussetzung für die Praxisforschung in der Sozialen Arbeit sind Instrumente und Methoden, die darauf zielen, die psychosoziale Komplexität eines Falles sowie seine soziale bzw. gesellschaftliche Dimension zu erfassen. Teilhabeorientierte Instrumente bieten sich hierbei als Klammer für die Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen und Systeme in der Sozialen Arbeit an. Sie ermöglichen zudem Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf.

    Eine pragmatische wirkungsorientierte Arbeit muss in der Lage sein, Veränderungen plausibel und nachvollziehbar darzulegen. Dafür braucht es gut begründete theoretische Annahmen darüber, welche Wirkungen die jeweiligen Angebote in den Einrichtungen zur Folge haben sollten. Diese Annahmen können dann mit empirischem Material, das aus Verlaufsmessungen resultiert, abgeglichen werden.

    Wie werden diese Verlaufsmessungen durchgeführt? Ein geeignetes Instrument ist das Interview. Es ermöglicht die Erhebung und Auswertung subjektiver Deutungen und orientiert sich an individuellen und lebensweltlichen Besonderheiten. So kann qualitative Sozialforschung Lebensrealitäten erfassen, Problemlagen erkennen und Veränderungen anregen. Sie ermöglicht ferner Flexibilität ihren Gegenständen und Aufgaben gegenüber (Flick, 2012). Im Vergleich zu klassischen Fragebogen-Befragungen bieten Interviews den Vorteil, dass facettenreichere Aussagen gemacht werden. Die interviewende Person kann zudem flexibel nachhaken. Das Interview bietet die Möglichkeit, subjektive Deutungsmuster spezifisch zu thematisieren. Es existieren Vorannahmen und thematische Eingrenzungen, die aber gleichwohl die Möglichkeit offenlassen, im Interview Relevantes zu vertiefen. „Eigentliches Ziel des Interviews sind die subjektiven Erfahrungen der Personen, die sich in der vorweg analysierten Situation befinden.“ (Merton, 1979)

    Lebensqualität als Maßstab von Veränderung – die Personal Outcomes Scale (POS)

    In der Eingliederungshilfe werden die Kosten der Betreuung an die Ziele und Maßnahmen von Hilfeplänen geknüpft. Diese strikte Ableitung der Kosten von den Maßnahmen zur Zielerreichung führt in einem prospektiven System zwangsläufig zu Unschärfen, da sich die Bedarfe oft im Lauf der Unterstützung ändern. Das Erfahren von Teilhabe als Ausdruck von Wirkung ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Erreichung von Zielen in einem Hilfeplan. Daher müssen sich Instrumente zur Messung von Teilhabequalität auch nicht ausschließlich mit der Frage auseinandersetzen, wie der Grad der Zielerreichung gewesen ist. Vielmehr gilt hier das subjektive Teilhabeempfinden als Indikator für eine wirksame Eingliederungshilfe. Aber wie kann Teilhabe gemessen werden, wenn diese doch eine grundlegende subjektive Komponente hat? Dies funktioniert auf der Basis evidenzbasierter Interviewverfahren.

    Im Rahmen der Sozialen Arbeit spricht vieles für einen personen- und teilhabezentrierten Ansatz, bei dem die individuelle Verbesserung der Qualität des Lebens derjenigen Person, bei der Assistenz geleistet wird, das übergeordnete und primäre Wirkziel ist. Die Messung der individuellen Qualität des Lebens erfolgt mit dem Instrument der Personal Outcomes Scale (POS), einem wissenschaftlich fundierten, validen und reliablen und gleichzeitig praxistauglichen Messinstrument, welches im Rahmen eines iterativen Prozesses unter der Einbeziehung von Menschen mit Assistenzbedarf im Forschungskontext der belgischen Universität Gent entwickelt wurde (Claes et al., 2010).

    Qualität des Lebens ist dabei im Sinne von Robert L. Schalock und Miguel A. Verdugo als mehrdimensionales Phänomen zu verstehen, das sich aus Kernbereichen zusammensetzt, die von persönlichen Merkmalen, Werten und Umweltfaktoren beeinflusst werden. Im Rahmen von internationalen Forschungsarbeiten wurden acht Lebensbereiche, die sogenannten Domänen, identifiziert, welche die individuelle Qualität des Lebens einer Person ausmachen. Die acht Domänen (Schalock & Verdugo, 2019) sind in Tabelle 1 dargestellt.

    Tab. 1: Die acht Domänen der Qualität des Lebens. Quelle: Sozialwerk St. Georg (2021-2023)

    Die POS basiert auf den acht Domänen der Qualität des Lebens und beinhaltet insgesamt 48 Fragen, jeweils sechs pro Domäne. Seit der Veröffentlichung der POS im Jahr 2008 wurde das Instrument in zwölf Sprachen übersetzt – darunter auch ins Deutsche (vgl. DGQ, 2019, S. 15) – und findet international aktuell in elf Ländern Anwendung (van Loon et al., 2012).

    Die Qualität des Lebens wird im Rahmen eines von qualifizierten Interviewerinnen und Interviewern geführten Gesprächs mit der Person mit Assistenzbedarf erhoben. Hierfür stehen zur Unterstützung auch Piktogramme sowie eine Version des Fragebogens in Leichter Sprache zur Verfügung. Neben der subjektiven Selbsteinschätzung, der eine zentrale Bedeutung beigemessen wird, ist auch eine ergänzende fachliche Erhebung im Rahmen eines Interviews mit einer Person aus dem Unterstützungsnetzwerk möglich. Sollte ein POS-Interview nicht mit der Person selbst durchgeführt werden können, kann alternativ ein sogenanntes Report-by-Others-Interview durchgeführt werden. Hierbei handelt es sich um ein moderiertes Konsensgespräch zweier Vertrauenspersonen, die die eigentlich zu interviewende Person gut kennen, z. B. eine mitarbeitende Person (professionelles Netzwerk) und ein Familienmitglied (soziales Netzwerk).

    Wichtig für die Erhebung der Qualität des Lebens mittels der POS ist die Qualifizierung der Interviewerinnen und Interviewer. Dazu wurde ein Schulungskonzept entwickelt, welches zu einem international gültigen Zertifikat führt. Im Rahmen einer Grundlagenschulung wird den Interviewerinnen und Interviewern das Konzept der Qualität des Lebens vermittelt sowie der Einsatz und der Aufbau des Fragebogens mit den Indikatoren und den Antwortmöglichkeiten verdeutlicht. Darüber hinaus werden die Themen Interviewführung, Gesprächsablauf und Haltung besprochen. Die Interviewer:innen sollen befähigt werden, die Fragen methodisch so zu kommunizieren, dass sie von den Befragten inhaltlich verstanden werden und die Antworten den zur Verfügung stehenden Antwortmöglichkeiten zutreffend zugeordnet werden können. Ergänzt wird die Schulung durch begleitete Erst-Interviews.

    Voraussetzung dafür, dass die Qualität des Lebens erfolgreich erhoben und ausgewertet werden kann, ist, den gesamten Prozess der Einführung und Durchführung der POS in das Qualitätsmanagement zu integrieren. Der Einsatz der POS muss systematisch und kontinuierlich verfolgt werden. Darin eingebunden sind neben den Interviewerinnen und Interviewern die Prozessverantwortlichen ebenso wie das Analysenetzwerk, in dem die Ergebnisse aufbereitet und ausgewertet werden.

    Die Antworten zu den 48 Indikatoren werden mit Punktwerten von 1 bis 3 (3er Likert-Skala) hinterlegt. Aufsummiert ergeben sie einen POS-Wert zwischen 48 und 144 Punkten, der die individuelle Qualität des Lebens auf der Personal Outcomes Scale angibt. Tabelle 2 zeigt POS-Ergebnisse für zwei verschiedene Angebote des Sozialwerks St. Georg aus dem Jahr 2022. Um festzustellen, ob den vorhandenen Unterschieden eine Bedeutung beigemessen werden kann oder ob sie zufällig entstanden sind, wurden mittels des Statistikprogramms SPSS t-tests für unabhängige Stichproben bzw. bei gleichen Personen t-tests für verbundene Stichproben durchgeführt. Das Signifikanzniveau ist auf p < 0.05 festgelegt. Dies entspricht einer maximalen Irrtumswahrscheinlichkeit von fünf Prozent.

    Tab. 2: POS-Ergebnisse zweier Angebote im Vergleich; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Darüber hinaus besteht im Rahmen der POS-Interviews die Möglichkeit, über qualitative Kommentare herauszustellen, welche Themen den Befragten besonders wichtig sind, welche Ziele und Wünsche (vgl. Tabelle 3) sie im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Qualität des Lebens haben und welche Unterstützung sie dahingehend noch benötigen.

    Tab. 3: Themenfelder der am häufigsten genannten Wünsche der Klientinnen und Klienten im Jahr 2022. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, über den Vergleich der POS-Interviews der gleichen Befragten über mehrere Jahre hinweg Entwicklungsverläufe und Veränderungen in der Qualität des Lebens zwischen verschiedenen Zeitpunkten nachzuweisen, sowohl für die einzelne befragte Person als auch aggregiert für ganze Einrichtungen oder Organisationen. Tabelle 4 zeigt die Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten im Sozialwerk St. Georg.

    Tab. 4: Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten; MW = Mittelwert; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)

    Den Einzelfall in den Blick nehmen

    In soziologischen Schriften zur Enttraditionalisierung und Flexibilisierung von gesellschaftlichen Lebensverhältnissen wird überzeugend argumentiert, dass Veränderungen der Lebensbedingungen auch Veränderungen der individuellen Wahrnehmung zur Folge haben (vgl. Menke, 2010; Honneth et al., 2005; Rosa, H., 2005; Busch, 2001; Beck 1986).

    Die immer individuelleren Lebensentwürfe der modernen Gesellschaft führen dazu, dass die Sozialforscher mit klassischen Kategorienbildungen die Dimensionen des Einzelfalls nicht mehr hinreichend erfassen. Daraus haben Vertreter der qualitativen Sozialforschung die Konsequenz gezogen, die lokalen und lebensweltlichen Besonderheiten des einzelnen „Falls“ verstärkt in den Blick zu nehmen, anstatt mittels standardisierter Verfahren davon zu abstrahieren. Dort, wo es um die realistische Unterstützung von Menschen geht, ist die Fokussierung auf konkrete subjektiv erlebte Teilhabebeeinträchtigungen besonders wichtig, sonst entstehen schnell Überforderung und Belastung.

    Die im Sozialwerk St. Georg durchgeführte Studie mit den POS-Interviews ist nicht als randomisierte kontrollierte Studie nach „Goldstandard“ konzipiert. Das POS-Verfahren begreifen wir als wirkungsorientierte Evaluation der Lebensqualität von Menschen mit Assistenzbedarf in der Eingliederungshilfe. Eine randomisierte Verteilung auf Interventions- und Kontrollgruppe ist hier praktisch ebenso wenig durchführbar wie eine Kontrollbedingung, bei der Abhängige nicht oder später behandelt werden (Warte-Kontroll-Bedingung). Die Aussagekraft der Studie wird dadurch begrenzt. Die Ergebnisse sind nicht generalisierbar, ebenso wenig behaupten wir kausale Nachweise im Sinne eines Ursache-Wirkungszusammenhangs (Treischl & Wolbring, 2020).

    Von der Veränderungsfeststellung zur Plausibilisierung

    Wirkung muss nachvollziehbar beschrieben werden (Weiland, 2019). Die systematische Messung der individuellen Qualität des Lebens gibt Aufschluss darüber, ob gewünschte Veränderungen erreicht werden konnten oder ob negative Entwicklungen eingetreten sind, die nicht intendiert waren. Zudem kann beurteilt werden, ob ein stabiler Zustand positiv, wie geplant, gehalten wurde oder ob sich die Lebensqualität verschlechtert hat. Die systematische Auseinandersetzung mit den erhobenen Daten ist Bedingung für eine Plausibilisierung von Veränderungen.

    Die plausibilisierte Beschreibung des Zustandekommens des Outputs – und seiner Bedeutung für die Person (persönliches Outcome) – ist wesentlich für die Messung der individuellen Qualität des Lebens. Dieses Wissen führt, sofern es reflektiert und genutzt wird, auch zur Erweiterung der Handlungskompetenz und stärkt die Selbstwirksamkeit. Der/die Betreffende lernt aus dem Prozess und ist für die Zukunft besser gewappnet. Somit entsteht ein langfristiger Nutzen.

    Auch für Einrichtungen und die Prozessbeteiligten ist es sinnvoll, Wirkungsorientierung zu etablieren. Es ist zu definieren, aufgrund welcher Faktoren sich Effekte manifestieren. Hier sind die Organisationen aufgefordert, herauszuarbeiten und zu gewichten, in welchen Kontexten sich Wirkung darstellt. Wirkung kann in drei Dimensionen festgestellt werden: auf der individuellen Ebene (Deutscher Verein, 2022, S. 9 u. 12), im Bereich des Sozialraums sowie innerhalb der Organisationskultur. Welchen Einfluss haben z. B. Fachkräftemangel und ÖPNV-Situation? Ferner wären Klientenbeiräte zu bilden, die sich an Fokusgruppen zur Auswertung beteiligen. Schließlich sind Managementteams gefragt, die die Ergebnisse der betrieblichen Planungsprozesse im Hinblick auf ökonomische, rechtliche, inhaltliche, aber auch organisationskulturelle Wirkfaktoren auswerten. Wie ist der Stand beim Thema „gelebtes Leitbild“, gibt es eine Organisationskultur, die Mitarbeitende einbezieht?

    Der Königsweg könnte also ein innerbetrieblicher Reflexionsprozess sein, der die wichtigsten und dringendsten Wirkannahmen herausarbeitet. Diese Annahmen sollten mit denjenigen empirischen Informationen abgeglichen werden, die man aus den POS-Interviews ziehen kann. Wo taucht z. B. Corona, Sozialraum, ÖPNV auf, welche Auswirkung hat dies individuell? Und auch mit 100 Interviews pro Jahr lässt sich eine Querschnittsanalyse erstellen, mit der die Organisation arbeiten kann, um einen Wirksamkeitsnachweis zu erhalten. (Die drei deutschen POS-Anwenderorganisation haben 2022 insgesamt 1.049 POS-Interviews durchgeführt.)

    Mut zur Wirkungsanalyse

    In der Praxis wird deutlich, dass die POS auf drei Ebenen ihre Wirkung entfaltet. Auf der Mikroebene liefert sie Ergebnisse über die individuelle Qualität des Lebens einer Person und ermöglicht es somit, konkrete Rückschlüsse auf die direkte Klientelarbeit zu ziehen. Aus den Einschätzungen und Aussagen der Klientel können Impulse für die Unterstützung, die Angebote und das Setting gewonnen werden. Diese Ebene betrifft die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen Klient:innen und Assistenz und dient dazu, die gewonnenen Informationen in die Klientelarbeit im Sinne eines individuellen Unterstützungsplans zu überführen und Veränderungen im Laufe der Jahre zu verstehen. Dabei sind insbesondere auch die qualitativen Anmerkungen von Bedeutung, die während des POS-Interviews zusätzlich zur Eintragung in die Skalen festgehalten werden.

    Im Hinblick auf die Organisationsentwicklung sollen die gewonnenen POS-Ergebnisse in Kombination mit anderen Evaluationsergebnissen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Angebote beitragen. Diesen Prozess gilt es konzeptionell zu planen und zu steuern. Er ermöglicht die passgenaue Ausrichtung von Strukturen und Prozessen auf die Teilhabewünsche und Teilhabeerfordernisse der Klientinnen und Klienten. Dabei verfolgen wir das Ziel, mithilfe von Fach- und Analyseteams Wirkfaktoren zu ermitteln, mit denen Veränderungen hinsichtlich der Lebensqualität der Klientel – empiriegestützt (vgl. z. B. die Corona-Studie von Sozialwerk St. Georg/XIT, 2021) und theoretisch plausibel – erklärt werden können. Zu diesen Wirkfaktoren gehören beispielweise Personalprobleme, die zu mehr Fremdarbeitseinsatz führen, oder die Kontinuität von Leitungen und Teams, die zu mehr oder weniger stabiler Teilhabearbeit führt, oder die Organisation der BTHG-Umsetzung, die Einfluss auf Ziele und Wirkungen hat.

    Im nächsten Entwicklungsschritt werden aggregierte Interviewergebnisse über mehrere Jahre hinweg erfasst, evaluiert und zur operativen und strategischen Entwicklung nutzbar gemacht.

    Ferner können auch die aggregierten, visualisierten qualitativen Kommentare zur Rückkopplung der Ergebnisse genutzt werden. Die Trends aus den Interviews können gemeinsam mit der Klientel (in Gruppensitzungen oder in Arbeitskreisen) konkretisiert und für die Assistenz fruchtbar gemacht werden.

    Auf der Makroebene geht es um das Benchmarking von gleichen oder unterschiedlichen Einrichtungstypen, um Erkenntnisse darüber, wie Einrichtungstypen sich auf die Teilhabequalität der Klientel auswirken und welchen Einfluss bestimmte (auch externe) Faktoren haben. Diese Informationen sind zunächst losgelöst von der praktischen Einrichtungsebene und können nach Auswertung wieder in die Einrichtungen zurückgeführt werden. Zudem können die gewonnenen Erkenntnisse Eingang in den sozialpolitischen Diskurs finden (Kurz & Kubek, 2013).

    Letztlich geht es darum, die gewonnenen Erkenntnisse für die Betreuungssituation nutzbar zu machen. Wenn keine kausalen Wirkungsnachweise erbracht werden können, ist die Darstellung von Wirkungsplausibilität das Mittel der Wahl. Ein teilhabeorientiertes Interview weist in diesem Kontext im Vergleich zu Fremdratings oder anderen Verfahren deutliche Vorteile auf, vor allem ist die Durchführung der POS-Interviews im Arbeitsalltag wesentlich unaufwändiger als eine andere im wissenschaftlichen Setting durchgeführte Untersuchung. Interviews liefern außerdem zusätzlich Anamnesedaten und Erkenntnisse über Bedarfe.

    Mit der POS steht ein Instrument zur Verfügung, welches Aussagen zur Teilhabe und Wirkungsorientierung liefert. Dieses Instrument gilt es nun in der Kombination von Wissenschaft und Praxis zum Wohle der Klientel nutzbar zu machen, damit wir uns endlich über Ergebnisse austauschen, nicht bloß über Annahmen.

    Kontakt und Angaben zu denAutor:innen

    Frank Löbler
    Sozialwerk St. Georg e.V.
    Ressortleiter Qualität/Qualitätsmanagementbeauftragter
    Master Trainer POS-Deutschland
    Uechtingstraße 87, 45881 Gelsenkirchen
    Telefon: 0209 7004 320
    f.loebler@sozialwerk-st-georg.de

    Sandra Schneider
    Sozialwerk St. Georg e.V.
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    Ressort Qualität
    Telefon: 0209 7004 322
    S.Schneider@sozialwerk-st-georg.de

    David Schneider, Dipl.-Soziologe
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Evaluation & Bildungskoordination
    Gutleutstraße 160-164, 60327 Frankfurt
    Telefon: 069 743480 13
    david.schneider@jj-ev.de

    Konstantin Loukas, Dipl.-Soziologe
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Fachbereichsleitung Eingliederungshilfe
    Telefon: 069 743480-49
    konstantin.loukas@jj-ev.de

    Literatur:
    • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main.
    • Bernshausen, G., Löbler, F. (2019): Innovation personenbezogener Dienstleistungen als Prozess.
    • Busch, Hans-Joachim (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Weilerswist
    • Claes, C., Van Hove, G., van Loon, J., Vandevelde, S., & Schalock, R. L. (2010): Quality of life measurement in the field of intellectual disabilities: eight principles for assessing quality of life-related personal outcomes. SOCIAL INDICATORS RESEARCH, 98(1), 61–72. https://doi.org/10.1007/s11205-009-9517-7
    • DGQ – Deutsche Gesellschaft für Qualität (2019). Wirkung sozialer Dienstleistungen erfassen. Fachkreis QM in der sozialen Dienstleistung. Whitepaper, November 2019.
    • Deutscher Suchtkongress (2022): Neue Wege in Behandlung, Prävention und Forschung. Programmheft, Lübeck, S. 3 f.
    • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2022): Eckpunkte zu Wirkung und Wirksamkeit in der Eingliederungshilfe (DV26/10), verabschiedet vom Präsidium am 07.12.2022.
    • Deutscher Bundestag. Unterrichtung durch die Bundesregierung (2022): Bericht zum Stand und zu den Ergebnissen der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 des Bundesteilhabegesetzes. Drucksache 20/5150 vom 23.12.2023.
    • Flick, U. (2012): Qualitative Sozialforschung (Bd. 5. Auflage). Hamburg, 37.
    • Kurz, B., Kubek, D. (2013): Kursbuch Wirkung. Das Praxishandbuch für alle, die Gutes noch besser tun wollen. In Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung. Berlin. Online verfügbar https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_PHINEO_Kursbuch_Wirkung.pdf; letzter Zugriff 09.12.2022
    • Honneth, A. (Hg.) 2005): Befreiung aus der Mündigkeit. Frankfurt am Main. 141-159.
    • Menke, C., Rebentisch, J. (Hg.) (2010): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt am Main. 2010.
    • Merton, R. K., Kendall, L. P. (1979). Das fokussierte Interview. In: Hopf, C., und Weingarten, E. Qualitative Sozialforschung, 171.
    • Ottmann, S. K., König, J., Gander, C. (2021). Wirkungsmodelle in der Eingliederungshilfe. Zeitschrift für Evaluation, 20. Jahrgang, Heft 2, 319.
    • Rosa, H., (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
    • Schalock R. L., Miguel A. Verdugo M. A., (2012). Handbook on Quality of Life for Human Service Practioners. Washington.
    • Schalock, R.L., Keith, K., Verdugo, M.A. & Gomez, L.E. (2010). Quality of Life Model Development and Use in the Field of Intellectual Disability. In: R. Kober (Hrsg.), Enhancing the Quality of Life of People with Intellectual Disabilities (S. 17-32). Dordrecht, Heidelberg, London, New York, 2012.
    • Sozial.de. Das Nachrichtenportal (2020), Interview mit Axel Rothstein und Frank Löbler, „Wer die guten Ergebnisse seiner Arbeit nicht nachweisen kann, hat das größere Problem“, 15.09.2020; https://www.sozial.de/wer-die-guten-ergebnisse-seiner-arbeit-nicht-nachweisen-kann-hat-das-groessere-problem.html; letzter Zugriff 28.04.2023
    • Sozialwerk St. Georg e.V. (2023): Bericht 2022. Qualität des Lebens/Personal Outcomes Scale. Broschüre, Gelsenkirchen.
    • Sozialwerk St. Georg e.V./Xit (2021): Qualität des Lebens von Menschen mit Assistenzbedarf – trotz Corona-Krise. Empirische Analyse der Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Eingliederungshilfe: Messung der Qualität des Lebens im Sozialwerk St. Georg mit der personal Outcomes Scale. Nürnberg/Gelsenkirchen.
    • Treischl, E., Tobias Wolbring, T. (2020): Wirkungsevaluation, Juventa 2020, 55.
    • van Loon, J. B., Bernshausen, G., Löbler, F., Buchenau M. (2012): POS Personal Outcomes Scale. Individuelle Qualität des Lebens messen. Gelsenkirchen. BoD.
    • Weilandt, T. (2019). https://www.dashoefer.de/newsletter/artikel/. Abgerufen am 10. Oktober 2022 von https://www.dashoefer.de/newsletter/artikel/
  • Update zur Umsetzung des BTHG

    Update zur Umsetzung des BTHG

    Dr. Mignon Drenckberg

    Das Bundesteilhabegesetz (BTHG), welches innerhalb der letzten Jahre in Kraft getreten ist, ordnet nicht nur die Eingliederungshilfe (EGH) vollkommen neu, sondern verschafft auch den bisher schon im Sozialgesetzbuch neun (SGB IX) verankerten Passagen mit Aussagen zu Behinderung, Rehabilitation und Teilhabe mehr Geltung und regelt Aspekte des Schwerbehindertengesetzes neu.

    In diesem Artikel wird es in erster Linie um die Eingliederungshilfe gehen, weil dieser Teil im SGB IX neu die größten Veränderungen erfahren hat. Zusätzlich soll auf den Teilhabeverfahrensbericht eingegangen werden, der unter anderem das Antrags- und Bewilligungsverfahren aller Rehabilitationsträger dieses Gesetzes in einem jährlichen Bericht beleuchtet. Alle zitierten Paragrafen beziehen sich auf das SGB IX neu, sofern nicht anders angegeben.

    Grundsätzlich wurde das BTHG – wie so viele andere Gesetze auch – bereits mehrfach verändert und konkretisiert, zum Beispiel durch das Angehörigenentlastungsgesetz. Einige wesentliche Teile sind über Gesetze und Verordnungen der Länder bzw. der zuständigen Kostenträger zu regeln bzw. geregelt worden.

    Zugang zur Eingliederungshilfe (§ 99)

    Die letzten Teile der Regelungen zur EGH wurden bereits zu Anfang des Jahres 2020 als Teil 2 des Bundesteilhabegesetzes wirksam. Allerdings wurde der Zugang zur Eingliederungshilfe (§ 99) erst mit dem Teilhabestärkungsgesetz vom Juni 2021 neu geregelt und am 1. Juli 2021 in Kraft gesetzt. Dabei wurde zum einen auf eine Sprachregelung analog der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und zum anderen auf die bestehende Eingliederungshilfe-Verordnung Wert gelegt:

    § 99 Leistungsberechtigung, Verordnungsermächtigung

    (1) Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann.

    (2) Von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind Menschen, bei denen der Eintritt einer wesentlichen Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

    (3) Menschen mit anderen geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen, durch die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind, können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.

    (4) Die Bundesregierung kann durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Bestimmungen über die Konkretisierung der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe erlassen. Bis zum Inkrafttreten einer nach Satz 1 erlassenen Rechtsverordnung gelten §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung entsprechend (Drucksache 19/27400-24, Dt. Bundestag).

    Große Veränderungen im Vergleich zu den Regelungen aus dem früheren SGB XII sind damit nicht erfolgt, da sich die Arbeitsgruppe auf Bundesebene, die eine Neuformulierung des Zugangs zur Eingliederungshilfe entwickeln sollte, auf keine weitergehenden, an die ICF (Kapitel zu Aktivitäten und Teilhabe) angelehnten Formulierungsvorschläge einigen konnte. Außerdem war auch der Bundesrat mit einigen Formulierungsvorschlägen nicht einverstanden, so dass die nun gefundene Regelung als Minimalkonsens verstanden werden kann. Dies dürfte für die Suchthilfe allerdings von Vorteil sein, weil eine Untersuchung auf Bundesebene zu unterschiedlichen Eingangsdefinitionen bei den meisten Varianten ergeben hat, dass gerade die seelisch behinderten Menschen, und darunter vor allem die suchtkranken Menschen, keinen Anspruch mehr auf Eingliederungshilfe gehabt hätten. Die im BTHG vorgeschriebene Erprobung des Zugangs (Artikel 25, Abs. 3, Satz 2) wurde mit dem Teilhabestärkungsgesetz (Artikel 8) aufgehoben, da sie bereits erfolgt ist.

    Die in Absatz 4 erwähnte Eingliederungshilfe-Verordnung ist in ihrer letzten Fassung noch aus dem Jahre 2003, so dass sich auch hier keine substanziellen Änderungen ergeben haben. In dieser Verordnung werden unter § 3, Punkt 3 die „Suchtkrankheiten“ als ein Teil der seelischen Behinderungen aufgeführt, die insgesamt nur vier Punkte umfassen. Die neue Rechtsverordnung aus Satz 4 des § 99 neu wird in einer Arbeitsgruppe auf Bundesebene erstellt werden. Dadurch wird dann erst der Zugang zur EGH endgültig im Detail geregelt.

    Bedarfsermittlung

    Bei der Bedarfsermittlung ist zu beachten, dass für alle Rehabilitationsträger die Vorschriften zur Teilhabeplanung (§§ 19-22) gelten. Für die EGH ist die Gesamtplanung (§§ 117-122) verpflichtend, die wesentlich detaillierter beschrieben ist. In beiden Fällen kann die Ermittlung des Bedarfs rein schriftlich erfolgen, falls der/die Betroffene keine Konferenz einfordert oder diese mit einem unzumutbar hohen Aufwand verbunden wäre. Außerdem besteht eine Antragserfordernis für die Leistungen der EGH (§ 108), wobei diese nicht genauer definiert ist und die Vorgabe damit auch durch einen formlosen Antrag erfüllt werden kann.

    Die Bedarfsermittlung in der Gesamtplanung hat nach den Bereichen der Aktivitäten und Teilhabe der ICF zu erfolgen, und die Instrumente werden von den jeweiligen Kostenträgern entwickelt. Dabei fällt auf, dass die Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren) oft zu wenig berücksichtigt werden, da ihre Ermittlung schwierig erscheint und es wenige Beschreibungen dazu gibt.

    Bisher waren häufig die Leistungserbringer bei der Bedarfsermittlung federführend, doch das Gesetz schreibt diese Aufgabe klar dem Kostenträger zu. Da bei vielen Kostenträgern die Ressourcen dafür nicht vorhanden sind, behelfen sich einige damit, dass die Bedarfserhebung die Leistungserbringer durchführen und die eigentliche Bedarfsermittlung auf dieser Grundlage dann der Kostenträger.

    Nach der Ermittlung des Bedarfs erfolgt die Bedarfsfeststellung und damit die Beschreibung der notwendigen Leistung für den/die Betroffene/n, die der Kostenträger in einem offiziellen Bescheid mitteilt. Nur gegen diesen kann dann – wenn notwendig – ein Widerspruch eingelegt werden.

    Entscheidend in dem weiteren Verfahren sind das Berichtswesen und die Verlaufsdokumentation. Dabei müssen die Ziele und Maßnahmen auf der Grundlage der Bedarfsermittlung überprüft und gegebenenfalls angepasst werden (zum Beispiel auch eine Teilhabezielvereinbarung nach § 122). Hier stellt sich die Frage, wer diese Überprüfung durchführt, da sicherlich der Leistungserbringer eine größere Nähe zu den Betroffenen und deren Bedürfnissen hat. Diese Frage ist nicht unwichtig, weil die Zielerreichung im Allgemeinen mit der Wirkung und damit auch der Wirksamkeit verknüpft wird und infolgedessen auch Prüfungen unterliegt.

    Assistenzleistungen

    Die Leistungserbringung im Bereich der sozialen Teilhabe soll über Assistenzleistungen erfolgen. Dabei wird im zweiten Absatz das Angebot der qualifizierten Assistenz definiert.

    § 78 Assistenzleistungen (Auszug)

    (1) Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.

    (2) Die Leistungsberechtigten entscheiden auf der Grundlage des Teilhabeplans nach § 19 über die konkrete Gestaltung der Leistungen hinsichtlich Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme. Die Leistungen umfassen

    1. die vollständige und teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie die Begleitung der Leistungsberechtigten und
    2. die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung.

    Die Leistungen nach Nummer 2 werden von Fachkräften als qualifizierte Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere die Anleitungen und Übungen in den Bereichen nach Absatz 1 Satz 2.

    Für die Aufgaben im Bereich der Suchthilfe wird es darauf ankommen, sie so klar und eindeutig zu beschreiben, dass die Zuordnung für den überwiegenden Teil der Leistung als qualifizierte Assistenz möglich ist, um die bisherige Qualität zu erhalten und die Klientel weiterhin effektiv versorgen zu können. Im gemeinschaftlichen Wohnen muss die Fachleistung in ausreichender Quantität vorhanden sein, um auf der einen Seite Betreuungsabbrüche zu vermeiden und auf der anderen Seite auch die Mitarbeitenden nicht zu überfordern. Im ambulanten Bereich wie im gemeinschaftlichen Wohnen dürfen die Leistungen, die als eine Art Basisfachleistung beschrieben werden können (zum Beispiel Gesamtplanung, Koordination, Angehörigenarbeit, Sozialraumarbeit, Übergabezeiten, Teambesprechungen), nicht zu gering angesetzt werden, auch wenn viele Leistungsträger der Meinung sind, dass Personenzentrierung heißt, dass ausschließlich Leistungen direkt an / mit der Klientel erbracht werden. Wichtig ist auch eine gute Beschreibung der „gemeinschaftlichen Inanspruchnahme der Leistungen“ (sog. Poolen, § 116).

    Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht sieht nach § 131 Landesrahmenverträge vor, die „gemeinsam und einheitlich“ zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern geschlossen werden sollen. Dabei ist grundsätzlich anzumerken, dass die Kostenträger die Hilfe für die Anspruchsberechtigten personenzentriert und unabhängig vom Ort der Leistungserbringung sicherzustellen haben (§ 95) und unter Federführung der jeweiligen Länder Arbeitsgemeinschaften zur „Weiterentwicklung der Strukturen der EGH“ zusammen mit den Leistungserbringern und den Verbänden der Menschen mit Behinderungen bilden sollen (§ 94, Absatz 4). Die Leistungsträger sind damit viel weitgehender als bisher für die Sicherung der Angebote und die Weiterentwicklung der Hilfelandschaft verantwortlich.

    Inhalte der Rahmenverträge sind unter anderem:

    • die Festlegung der Vergütungspauschalen nach Zuordnung zu den Kostenarten,
    • die Kriterien für die Ermittlung und die Höhe der Leistungspauschalen,
    • Richtwerte für die personelle Ausstattung und
    • die Grundsätze und Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit.

    Die einzelnen Bundesländer haben sich offenbar mit den nicht sehr konkreten Vorgaben des Gesetzes unterschiedlich schwergetan und teilweise Konkretisierungen in weitere Verträge, Verordnungen, Anlagen und Glossare ausgelagert.

    In den Einzelvereinbarungen nach § 125 werden weitere Inhalte auf dieser Grundlage als Vergütungs- und Leistungsvereinbarung schriftlich fixiert, wie der betreute Personenkreis, die personelle und sächliche Ausstattung und Art, Umfang, Ziel und Qualität der Leistung.

    Diese Vereinbarungen sind zusammen mit der konkreten Leistungserbringung für die Klientel die Grundlage für Prüfungen, die anlassbezogen und – falls die Bundesländer dies entsprechend geregelt haben – auch nicht anlassbezogen erfolgen können. Sie sind ohne vorherige Ankündigung möglich und das Verfahren wird in den Landesrahmenverträgen geregelt. Der Gegenstand der Prüfungen umfasst „Inhalt, Umfang, Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der erbrachten Leistungen“ (§ 128). Um für Prüfungen gut aufgestellt zu sein, ist es entscheidend, dass in der zuvor geschlossenen Leistungsvereinbarung die Angebote und Leistungen und der zu betreuende Personenkreis ausführlich beschrieben worden sind, genauso wie die aus den Bestandteilen Struktur, Prozess und Ergebnis bestehende Qualität. Ein großes Problem besteht in der Prüfung der Wirksamkeit, da im Sozialbereich eine Definition für diesen Begriff fehlt und sie oft fälschlicherweise mit Qualität gleichgesetzt wird. Wirkung lässt sich vermutlich noch aus der Zielerreichung nach der Gesamtplanung im Einzelfall erheben, aber Wirksamkeit müsste durch randomisierte, kontrollierte Studien erforscht werden. Ein Problem könnte sich dadurch ergeben, dass der Gesetzgeber die Wirksamkeit in die Prüfungen eingeschlossen hat und gleichzeitig bei der Feststellung einer „Pflichtverletzung“ die Kürzung der Vergütung zulässt (§ 129). Zwar müssen sich die Beteiligten über die Höhe der Kürzung einigen (ansonsten entscheidet die Schiedsstelle), aber es ist trotzdem darauf zu achten, dass in den Landesrahmenverträgen klargestellt wird, dass die Prüfung der Wirksamkeit keine Auswirkungen auf die Vergütung hat, solange es keine klaren Parameter und Definitionen in diesem Bereich gibt.

    Daten aus dem Teilhabeverfahrensbericht

    Einige interessante Aspekte der Leistungsgewährung durch die Rehabilitationsträger listet der Teilhabeverfahrensbericht 2020 (THVB) mit den Zahlen aus dem Jahr 2019 der Bundearbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) auf. Dieser Bericht beruht auf den Zahlen, die alle Rehabilitationsträger nach § 41 verpflichtend melden müssen. Insgesamt wurden für die Rehabilitation und Teilhabe über 40 Milliarden Euro ausgegeben, wobei die EGH der größte Rehabilitationsträger ist und über 940.000 Personen mit rund 19 Milliarden Euro versorgt hat. Der THVB umfasst die Daten von fast 1.000 Rehabilitationsträgern, wobei die EGH ungefähr 250 Träger umfasst (die Angaben der EGH-Träger schwanken in den einzelnen Punkten des Berichts, da nicht alle Träger zu allen Fragen geantwortet haben). Dabei wurden im Jahr 2019 in der EGH 156.829 Anträge bearbeitet (im Vergleich zu 1.815.915 Anträgen bei der Rentenversicherung) und davon waren mit Abstand am meisten Leistungen zur Sozialen Teilhabe umfasst (114.324). 16.374 waren Anträge zur Teilhabe am Arbeitsleben und 11.716 Anträge zur medizinischen Rehabilitation.

    Grundlegende Vorgaben für die Fristen bei der Bearbeitung von Anträgen finden sich in den „Gemeinsamen Empfehlungen“ der BAR von 2019. Zuständigkeitsklärungen für die Leistungsgewährung müssen innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Das schafften die Träger der EGH bei insgesamt 142.487 Zuständigkeitsfeststellungen mit 17.949 Fristüberschreitungen (entspricht 12,6 Prozent) nicht. Entscheidender ist hier aber eine andere Zahl: Bei über 50 Prozent (40.367, entspricht 52,75 Prozent) der Anträge, die ohne Gutachten entschieden werden konnten (insgesamt 75.915), schafften sie es nicht, die Frist von drei Wochen zur Entscheidung über die Leistungsgewährung einzuhalten. Mit Sicherheit kennen alle Leistungserbringer die Verzögerung bei Kostenbescheiden, die durchaus mehrere Monate betragen kann.

    Die Teilhabeplanung (hier Gesamtplanung) wurde in 57.421 Fällen in der EGH angepasst. Hierbei lag die Geltungsdauer zwischen null und 364 Tagen – im Durchschnitt betrug sie 37,8 Tage. Das heißt, dass die Planung selten längerfristig gilt, sondern im Laufe eines Jahres teilweise mehrfach angepasst wird.

    Bei den Zahlen zur trägerübergreifenden Teilhabeplanung (1,6 Prozent in der EGH) und zum trägerübergreifenden persönlichen Budget (in der EGH 113-mal beantragt und 79-mal bewilligt) zeigt sich, dass die Intention des Gesetzgebers, die Leistungen für Betroffene wie aus einer Hand zu erbringen und die Kostenträger zu mehr Zusammenarbeit anzuregen, sich nicht erfüllt hat. Dabei sind die Zahlen für das trägerübergreifende persönliche Budget in der EGH von allen Kostenträgern mit Abstand die höchsten. Immerhin kam die EGH beim trägerspezifischen persönlichen Budget auf 1.982 Beantragungen und 1.381 Bewilligungen.

    Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Betroffenen mit Sicherheit weiterhin Hilfe und Unterstützung benötigen, um ihre Ansprüche durchsetzen zu können. Die Veränderung der EGH in Richtung größerer Personenzentrierung wird nur in Zusammenarbeit aller Akteure gelingen, welche im SGB IX in vielen Bereichen festgeschrieben wurde und nun mit Leben gefüllt werden muss.

    Kontakt:

    Dr. Mignon Drenckberg
    Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V.
    Pater-Rupert-Mayer-Haus
    Hirtenstr. 4, 80335 München
    Mignon.Drenckberg@caritasmuenchen.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Mignon Drenckberg (Dipl.-Psych.), ist Referentin für Suchthilfe, Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in der Abteilung Spitzenverband und Fachqualität – Fachgruppe Eingliederungshilfe beim Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V.

    Quellen:
    • Boecker, M., Weber, M. (2021). Wie lässt sich die Wirksamkeit von Eingliederungshilfe messen? Soziale Arbeit kontrovers 26. Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (2019). Gemeinsame Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung, zur Erkennung, Ermittlung und Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (einschließlich Grundsätzen der Instrumente zur Bedarfsermittlung), zur Teilhabeplanung und zu Anforderungen an die Durchführung von Leistungen zur Teilhabe gemäß § 26 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 6 und gemäß § 26 Abs. 2 Nr. 2, 3, 5, 7 bis 9 SGB IX. Frankfurt/Main, Februar 2019
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (2020). 2. Teilhabeverfahrensbericht, 2020. Frankfurt/Main, Dezember 2020
    • § 99, Drucksache 19/27400 – 24 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
    • Sozialgesetzbuch IX
  • BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    Stefan Bürkle

    Seit der Verkündung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 29.12.2016 tritt stufenweise bis 2023 ein neues Reha- und Teilhaberecht in Kraft. Die Umsetzung der jeweils in Kraft getretenen Teilbereiche des BTHG ist sehr komplex und mit vielen Veränderungen verbunden.

    Die Komplexität des Vorhabens entspringt u. a. der Idee des radikal geänderten Hilfeansatzes, der die Partizipation Betroffener und die personenzentrierte und individualisierte Leistungserbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe in den Mittelpunkt stellt. Damit verbunden sind eine grundlegende Veränderung der Haltung in der Leistungserbringung sowie weitreichende gesetzliche Neuregelungen, die sich deutlich auf das Leben der Hilfebedürftigen und die Praxis der Leistungserbringung auswirken.

    Die Besonderheit des Bundesteilhabegesetzes ist auch in seiner Anlage begründet: Es ist ein Artikelgesetz bzw. Gesetzgebungsverfahren, durch das Regelungen in verschiedenen bestehenden Sozialgesetzbüchern und weiteren Gesetzen verändert werden. Zudem tritt das Bundesteilhabegesetz zeitversetzt in Teilen in Kraft, so dass die Umsetzung einen prozesshaften Charakter erhält und die Ergebnisse im Vorfeld nicht endgültig bestimmbar sind. Das zeigt sich beispielsweise in der Neugestaltung des Zugangs zur Eingliederungshilfe und der damit verbundenen Frage nach dem leistungsberechtigten Personenkreis, dessen Neubestimmung erst zum 01.01.2023 in Kraft tritt.

    Der prozesshafte Charakter zeigt sich in den derzeit noch nicht vollständig absehbaren Auswirkungen für Betroffene und Leistungserbringer durch die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen, die zum 01.01.2020 in Kraft treten soll. Deutlich wird er auch bei der Umsetzung eines trägerübergreifenden Teilhabeplans zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft, wenn verschiedene Leistungsgruppen oder mehrere Rehabilitationsträger an der Hilfeleistung beteiligt sind, und bei der Einführung eines Gesamtplanverfahrens in der Eingliederungshilfe. Beide Regelungen sind bereits seit dem 01.01.2018 in Kraft. Damit sind einige Bereiche benannt, in denen das BTHG Auswirkungen insbesondere für suchtkranke Menschen und Einrichtungen der Suchthilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe hat.

    Ziel dieses Artikels ist eine Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz der sukzessiven Umsetzung des BTHG im Bereich der Suchthilfe. Hierzu haben wir bundesweit Praktiker*innen mit demselben Fragenkatalog nach ihrer Einschätzung gefragt. Die Fragen lauteten:

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?
    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?

    Auch ein Vertreter eines Leistungsträgers hat aus seiner Sicht eine Zwischenbilanz gezogen. Sein Statement findet sich am Ende des Artikels.

    Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf www.partnerschaftlich.org. Dort sind unter dem Titel „Das Bundesteilhabegesetz im Blick: Partizipation abhängigkeitskranker Menschen per Gesetz?!“ die Beiträge des gleichnamigen Fachtags aus dem Oktober 2019 und weitere Fachartikel erschienen.

    Stefan Bürkle, Geschäftsführer Caritas Suchthilfe (CaSu), Mitglied im Fachbeirat KONTUREN online

    Antworten der Expert*innen zum Fragenkatalog

    Janina Tessloff

    Janina Tessloff

    Geschäftsführung Therapiehilfe Bremen gGmbH, Bremen

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?.
    Das BTHG hat zum Ziel, Menschen mit Beeinträchtigungen so weit als möglich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen und sie zu befähigen, mit dem richtigen Maß an Unterstützung für die eigenen Belange selbst eintreten zu können. Suchthilfe hat sich von jeher mit den Themen Autonomie und Abhängigkeit auseinanderzusetzen. Daher ergeben sich für die inhaltliche Arbeit zunächst einmal wenige Veränderungen.
    Der Assistenzbegriff wird den Betreuungsbegriff ablösen. Damit müssen sich die Fachkräfte auseinandersetzen und ihre Haltungen hinterfragen. Im Bereich Verwaltung ergibt sich zukünftig weitgehend Mehrarbeit, siehe Pkt.3. Die Vorbereitung auf die Umstellung im Jahr 2020 bindet im Vorfeld sehr viel Energie und Arbeitszeit.

    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Das Zugrundelegen der ICF-Kriterien und ‑Kodierungen bietet eine hervorragende Grundlage für Diagnostik sowie Ziel- und Maßnahmeplanung. In der vorgeschalteten Teilhabeplanung kommen die unterschiedlichen Akteur*innen der Hilfeplanung an einen Tisch (EGH, Reha, Berufsförderung etc.). Damit ist ein passgenaueres Angebot möglich.
    Die Themen „Verantwortung“, „mündige*r Bürger*in“ etc. bekommen ein größeres Gewicht, was im Assistenzprozess von Nutzen sein kann.

    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Insbesondere die vormals stationären Einrichtungen werden ab 2020 ein weitaus größeres Risiko in der Gegenfinanzierung haben als noch heute: Die bisher im Kostensatz eingepreisten (und für die Klienten bis dato selbstverständliche) Leistungen sind nun direkt von den Klient*innen zu zahlen, was zu Verwerfungen im Alltag führen kann. Dies führt in der Verwaltung zu einem höheren Aufwand in Buchhaltung und Mahnwesen, in der Einrichtung direkt zu einem höheren Kontrollaufwand. Betreuer*innen bekommen dadurch eine erweiterte Rolle, indem sie kontrollieren müssen, ob der/die Klient*in auch bezahlt hat, was er/sie bekommt. Dieser neue Kontrollbedarf könnte sich negativ auf den Aufbau einer betreuerischen und bindenden Beziehung auswirken. Klient*innen bekommen durch ihr Mietverhältnis eine andere Rolle als Mieter*in, was u. U. zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen kann.

    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    Die Verwaltung hat einen erheblich höheren Aufwand (siehe Pkt.3). Mitarbeitende erfahren eine Veränderung in ihrer Rolle und müssen sich mit Anforderungen der Assistenz und den veränderten Bedingungen in der Gesamt- und Teilhabeplanung auseinandersetzen und neu finden.

    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?
    Natürlich werden die Verwaltungsprozesse entsprechend aufgestellt, die Verträge entsprechend der Vorgaben neu gefasst. In Bezug auf die Mitarbeitenden laufen schon seit längerem Schulungen und Informationsveranstaltungen zu den Themen ICF und BTHG. Bewohner*innen werden informiert und auf die sie betreffenden Veränderungen vorbereitet.

    Rodger Mahnke

    Rodger Mahnke

    Einrichtungsleitung Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Facheinrichtung für Suchterkrankungen, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg

    1. Zunächst ist das ganze Vorhaben ja noch Theorie. Aktuell sind Leistungserbringer und Leistungsträger mit der Erarbeitung der Handlungsstrukturen beschäftigt – in sehr unterschiedlicher Qualität und mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Auswirkungen aktuell sind eher Verunsicherung und Sorge um die Erträge und Arbeitsabläufe.

    2. Den Nutzen haben wir noch nicht erkannt.

    3. Die bisherige Finanzierung über einen Pflegesatz wird im Bereich der Eingliederungshilfe auf drei Kostenpositionen aufgeteilt, die von jeweils unterschiedlichen Leistungsträgern bedient werden. Das führt zu einem erheblichen Mehraufwand in der Verwaltung in den Einrichtungen, der sich dadurch noch steigert, dass die Betreuungszeiten mit ca. drei Monaten sehr kurz sind. Darüber hinaus wird die Realisation der Einnahmen für Lebensunterhaltsleistungen und Wohnen auf die Leistungserbringer übertragen – mit allen Risiken im Verhältnis zu den betreuten Klient*innen.

    4. Es ist ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand mit der entsprechenden Personalressource umzusetzen bei nur geringer Bereitschaft zu einer Gegenfinanzierung durch den Leistungsträger. Dadurch müssen in den Einrichtungen Personalressourcen von der sozialtherapeutischen Betreuung in den Verwaltungsbereich verlagert werden. Das hat Auswirkungen auf die Betreuungsqualität.

    5. Wir erarbeiten neue Prozesse für die Abwicklung der Leistungserbringung und des Vertragswesens mit den Klient*innen. Wir schulen das Personal für diese neuen Prozesse. Wir erproben die neuen Prozesse mit Leistungsträgern und Klient*innen.

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Fachabteilungsleitung stationäre und ambulante Eingliederungshilfe, STEP gGmbH, Hannover

    1. Erste Auswirkungen sind spürbar. Es gibt inzwischen in Niedersachsen eine geregelte und fundierte Bedarfsfeststellung für Leistungsnehmer*innen. Die Anwendung der Bedarfsermittlung Niedersachen (B.E.Ni) ist regional unterschiedlich. In Hannover und der Region ist sie eingeführter Standard. Bei den örtlichen Sozialhilfeträgern anderer Landkreise und Kommunen hat sich das Instrument noch nicht umfänglich durchgesetzt.
    Aufgrund der Veränderungen im Beantragungsprozess zeigt sich unsere Klientel – nach unseren Beobachtungen – vielfach verunsichert. Im Vorfeld der Bedarfsermittlungsgespräche ist es daher sinnvoll, die Leistungsnehmer*innen auf das neue Verfahren gut vorzubereiten. Bei der ambulanten Eingliederungshilfe und den Einrichtungen für besondere Wohnformen sind derzeit überall dort, wo B.E.Ni angewendet wird, die Bearbeitungszeiträume ab Beantragung einer Leistung deutlich länger. Dieses gilt für alle Einrichtungstypen. Dauerte es früher vier bis sechs Wochen, bis Leistungsnehmende ihren „Bescheid“ bekamen, liegen die Fristen derzeit bei drei bis sechs Monaten. Dies ist auf die umfassende Befragung und Prüfung zurückzuführen.

    2. Vorweg und deutlich formuliert: Das BTHG bringt Vorteile für betroffene Menschen – um ein Anrecht auf Eingliederungshilfe zu bekommen, müssen suchtkranke Menschen mit Behinderungen künftig nicht mehr mittellos sein, da die Einkommens- und Vermögensfreibeträge sowie der Schonbetrag für Barvermögen für Bezieher von SGB XII-Leistungen deutlich angehoben wurden.
    Die Selbstbestimmungsfreiräume für Leistungsnehmende werden deutlich gestärkt. Ihre persönlichen Ziele finden umfassende Beachtung. Individuelle Unterstützungs- und Hilfsangebote, die auf die jeweilige Situation der von Sucht betroffenen Menschen passen, rücken deutlicher in den Vordergrund. Gut ist auch, dass ein neuer und moderner Beeinträchtigungsbegriff eingeführt wurde, der sich am biopsychosozialen Modell des ICF orientiert. Funktionale Beeinträchtigungen werden nicht mehr als Eigenschaft oder Defizit, sondern im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen betrachtet.
    Auch für unsere Mitarbeiter*innen eröffnet das BTHG neue Möglichkeiten. Die verschiedenen Bedürfnisse unserer Klient*innen suchen ihre Spiegelung in noch individualisierteren Einrichtungsangeboten. Das ist eine Chance für positive Veränderungen und zugleich eine konzeptionelle Herausforderung.

    3. Menschen mit einer Suchterkrankung sind häufig in ihrem Wirkungskreis massiv eingeschränkt. Ohne Unterstützung bewältigen sie das notwendige Verfahren oft nicht. Für die Umsetzung des BTHG brauchen sie eine intensive Begleitung und die entsprechende Beziehungsarbeit durch Dritte, um Leistungen des BTHG überhaupt abrufen zu können.
    Dieses Unterstützungssystem ist jedoch meistens nicht vorhanden bzw. für potentielle Leistungserbringende nicht gegenfinanziert. Leistungen, auf die grundsätzlich Anspruch bestünde, werden daher noch zu häufig nicht wahrgenommen.
    Die institutionell seit 2017 neu eingerichtete „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ wird von unseren Leistungsnehmenden nach unseren Erkenntnissen bisher kaum genutzt und ist im Umkreis der Suchthilfe nur wenig bekannt.

    4. Für die Einrichtungen der Suchthilfe stehen zukünftig die personenzentrierte Ausrichtung und die ganzheitliche Bedarfsermittlung, Planung, Steuerung, Dokumentation sowie Wirkungskontrolle im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Umsetzung des BTHG für uns als Leistungserbringer eine große Herausforderung dar. Es entsteht ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand. Dieser beinhaltet den Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge mit den Bewohner*innen und die zukünftige Erstellung von Nebenkostenabrechnungen.
    Eines ist bereits jetzt klar: Träger in der Eingliederungshilfe müssen künftig noch mehr als bisher ihr Profil als Dienstleister schärfen. Das heißt, mit einer diversifizierten Angebotsvielfalt aufwarten, so dass für Leistungsnehmende die Versprechungen des BTHG greifbar werden. Bisherige Arbeitsroutinen innerhalb unserer Einrichtungen werden momentan aufgelöst. Denn aktuell sind amtliche Zuständigkeiten und anzuwendende Verfahren oftmals intransparent. Bewährte Abläufe werden erschwert oder kommen zum Stillstand. Die Veränderungen im Antragsverfahren und bei den Leistungsnachweisen fordern von unseren Mitarbeiter*innen Verständnis und Geduld. Um die organisatorischen Herausforderungen zu bewältigen und wirtschaftliche Risiken für uns als Träger auszuschließen, ist ein enger Austausch zwischen allen Beteiligten derzeit das Wichtigste. Wir spüren deutlich das gemeinsame Ringen um konstruktive Lösungen in Umsetzungsfragen. Das gilt für Leistungserbringer und Leistungsträger gleichermaßen.

    5. In Niedersachsen konnte inzwischen eine Übergangsregelung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vereinbart werden, so dass hier für die nächsten zwei Jahre Rechtssicherheit besteht. Folgende Schritte sind momentan zu bearbeiten und zu beachten:

    1. Aufgrund der Systemumstellung (Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen) für besondere Wohnformen ist der Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz erforderlich. Hier werden die Bewohner*innen derzeit von uns umfassend über die Veränderungen informiert.
    2. Bewohner*innen bzw. deren rechtliche Betreuer*innen müssen über ein eigenes Girokonto verfügen, da die Leistungen der Grundsicherung nicht mehr direkt an die besondere Wohnform, sondern an die Bewohner*innen gezahlt werden.
    3. Die Leistungen der Grundsicherung müssen gegebenenfalls genauso wie die Eingliederungshilfeleistungen (Fachleistungen) von unseren Klient*innen für den Zeitraum ab 2020 neu beantragt werden.

    Bei diesen sehr praktischen Schritten unterstützen wir unsere Klient*innen. Trägerintern bauen wir Verwaltungsstrukturen auf, die diese Vorgänge erfassen und sicherstellen, dass alles korrekt und zeitnah umgesetzt werden kann.

    Martina Tranel

    Martina Tranel. Foto©Tranel

    Einrichtungsleitung Theresienhaus Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

    1. Unsere Erfahrungen sind vielfältig: Im Gesamtplanverfahren ist unsere Beteiligung als potentieller Anbieter und Vertrauensperson nicht vorgesehen, so dass der Assessment- und Hilfeplanprozess bei uns „von vorne“ beginnt. „Hilfen wie aus einer Hand“ stelle ich mir anders vor, unsere Vorleistungen in der Suchthilfe durch Beratung und Behandlung der Adressaten werden in diesen Fällen nicht gewürdigt. Wir haben auch bereits erlebt, dass an dieser Schnittstelle Adressaten im System „verloren“ gegangen sind. Besser läuft es dort, wo wir als Experten „rechtzeitig“ beteiligt werden, so dass eine gemeinsame Wissensbasis entsteht und ein wirksamer Leistungsprozess fortgesetzt werden kann.
    Bei der Überprüfung der personenbezogenen Wirksamkeit unserer Leistungen sind die negativen Erfahrungen im Moment noch selten. Eine neue Misstrauenskultur mit Blick auf die Zielerreichung und Wirtschaftlichkeit hat bereits zu Enttäuschung bei Leistungsberechtigten geführt – Enttäuschung dadurch, dass der individuelle, positive Befähigungsprozess nicht gewürdigt wird und die inzwischen vertraute Betreuungsperson wieder „abgezogen“ und z. B. durch einfache Assistenz ersetzt werden soll. Unsere Überzeugung ist, dass die Wirkungskontrolle im Gesamtplanverfahren gegenüber dem Leistungsträger Transparenz und Vertrauen in den Arbeitsprozess herstellen kann. So wird auch der Wert der Sozialen Arbeit besser sichtbar.

    2. Das BTHG steht für personenzentrierte, wirkungsorientierte und vielfältige Leistungen ein. Das entspricht den bereits langjährig angewandten Standards der Suchthilfe in der Prävention, Beratung, Behandlung und Betreuung. Die Beteiligung der Adressat*innen hat in der Suchthilfe eine lange Tradition, auch in der engen Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeverbänden. Die Finanzierung von Leuchtturmprojekten, die später in Regelangebote übergegangen sind, war stets mit erheblichem Einsatz von Trägermitteln verbunden. Es ist zu wünschen, dass mit der Umsetzung des BTHG die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, damit wir weiterhin den individuellen Bedarfslagen und Erwartungen unserer Adressat*innen entsprechende Leistungen anbieten können. Dem steht der haushaltspolitische Anspruch einer Begrenzung der Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe entgegen.

    3. Die ursprüngliche Formulierung des § 99 Personenkreis (so genannte „5 aus 9“-Formel) hätte viele chronisch Suchtkranke von wirksamen Betreuungsleistungen ausgeschlossen. Diese Kuh ist seit der Studie von Prof. Welti und Kollegen hoffentlich vom Eis. Irritiert bin ich über den erheblichen bürokratischen Aufwand und damit verbundene Kosten. Das betrifft sowohl die Erforschung der Wirksamkeit des Artikelgesetzes und dessen Umsetzung. An bestimmten Schnittstellen werden Doppelstrukturen aufgebaut, die eigentlich vermieden werden sollten.
    Die Trennung der Leistungen soll zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen beitragen. Ich bin allerdings skeptisch, welchen Wert das für die Adressaten hat, deren Hilfebedarf beispielsweise im Umgang mit Geld liegt. Was für einen Menschen mit einer Körperbehinderung und der Fähigkeit zum Management diverser Leistungsbestandteile sinnvoll ist, stellt für einen chronisch mehrfach beeinträchtigten Suchtkranken mit Korsakow-Syndrom eine Überforderung dar. Die Nutzer*innen unserer Angebote stellen mir zunehmend die Frage nach dem Sinn des BTHG.
    Die Suchthilfe hat schon immer Gesetzgebung aus der Praxis heraus mitgestaltet. Ich bin überzeugt, dass dieses Engagement auch weiter notwendig ist, damit die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich auch bei den Menschen mit Behinderung ankommt.

    4. Bei unserem ambulanten Betreuungsangebot ändert sich erstmal nichts, hier sind wir bereits seit 2004 „BTHG-konform“ unterwegs und bauen das Angebot weiter aus. Das Konzept der besonderen Wohnform, also das Theresienhaus als Wohnheim mit interner Tagesstruktur, verfügt bereits seit der Gründung über eine Binnendifferenzierung und ermöglicht individuelle Lösungen für individuelle Bedarfe. Statt eines zentralen Leistungsträgers haben wir zukünftig mehrere Stellen, von denen das Geld für unsere gute Arbeit kommt. Diese Umwege sind den Nutzer*innen nur schwer zu vermitteln, da reicht keine einfache Sprache. Die Adressaten haben einen Anspruch auf gesicherte Leistungen und unsere Mitarbeiter*innen auf ihr wohlverdientes Gehalt.

    5. Die Berechnungen der einzelnen Leistungskomponenten liegen vor. Die Nutzer*innen, Betreuer*innen und Heimaufsicht wurden informiert, die neuen Verträge liegen bald vor. Die Grundsicherungsanträge laufen. Das ist ein echter Kraftakt. Ansonsten arbeiten wir wie gewohnt an der Weiterentwicklung unserer Leistungen. Im Bereich Qualitätsmanagement sind wir sehr gut aufgestellt, so dass wir uns hoffentlich bald wieder auf das Kerngeschäft konzentrieren können, die Adressat*innen bei der Erreichung ihrer Ziele zu begleiten.

    Joachim Messer

    Joachim Messer

    Wolfgang-Winckler Haus, Entgiftungsstation und Übergangseinrichtung, Kelkheim-Eppenhain

    1. Das BTHG sowie das Gesetz zur Umsetzung des BTHG in Hessen haben bereits jetzt erhebliche Auswirkungen. Die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen ist für besondere Wohnformen bereits erfolgt. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage der „doppelten Miete“ in Übergangseinrichtungen. Pflegeeinrichtungen, die bisher Vergütungsvereinbarungen mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) hatten, sollen nun mit den Örtlichen Trägern der Sozialhilfe Vereinbarungen abschließen, ohne dass hierfür bei den Kommunen finanzielle Spielräume vorhanden wären.

    2. Der Nutzen liegt vor allem darin, dass eine noch stärkere Personenorientierung realisiert werden muss und damit überholte Vorstellungen hinsichtlich der Rollenzuordnung von betreuter Person und betreuender Person verändert werden müssen

    3. Die Nachteile liegen eindeutig im erhöhten Risiko für die Träger: Nutzungskosten für den Wohnraum und der Verpflegung in besonderen Wohnformen werden voraussichtlich häufiger nicht bezahlt werden. Der vom LWV Hessen anerkannte Mietausfall beträgt zwei Prozent – das ist für die Suchthilfe unrealistisch. Hinsichtlich der Fachleistung gilt das Nettoprinzip. Auch hier werden sich Mindereinnahmen ergeben, die sich de facto als Pflegesatzkürzung auswirken werden.

    4. Wie bereits beschrieben sind einige für die Einrichtungen existenzielle Fragen noch nicht geklärt. In hessischen Übergangseinrichtungen mit hoher Fluktuation wegen der kurzen Aufenthaltsdauer erzwingt das BTHG ein vollständig geändertes Aufnahmeverfahren. Der administrative Aufwand, auch für die Klientel, ist dabei erheblich geworden. Hieraus können sich im Alltag Probleme ergeben. Wir verkaufen künftig im Prinzip Hotelfunktionen und werden vermutlich damit auch anders wahrgenommen.

    5. Wir haben alle notwendigen Formulare und Verträge entwickelt und können intern die notwendigen Prozesse ab 01.01.2020 umsetzen. Es bleiben die oben erwähnten Unsicherheiten, die im Wesentlichen juristischer Natur sind, und da es juristisches Neuland ist, gilt: zwei Juristen – drei Meinungen! Es steht zu befürchten, dass wir sehr viel öfter über Geld reden müssen und sich damit der Charakter des Beziehungsangebotes ändert.

    Jürgen Häuser

    Jürgen Häuser

    Einrichtungsleitung Haus im Niederfeld und Haus Kleyerstraße, Darmstadt

    1. Für die Bewohner unserer stationären Einrichtung sind bisher kaum Auswirkungen erkennbar. Lediglich die Eröffnungen eigener Bankkonten sind erste Anzeichen der anstehenden Veränderungen. Für uns als Träger hingegen wächst die Anspannung, da wir vermehrt Anfragen von gesetzlichen Betreuern nach Mietbescheinigungen erhalten, die für die Anträge auf KdU (Kosten der Unterkunft und Heizung) beim örtlichen Sozialhilfeträger benötigt werden. Diese konnten wir jedoch bisher nicht ausstellen, da sich auf Kostenträgerseite die notwendigen Vorarbeiten zeitlich verzögert haben.

    2. Für den Bereich, für welchen ich Verantwortung trage, eine soziotherapeutische Einrichtung für chronisch mehrfach beeinträchtigte suchtkranke Frauen und Männer, fällt es mir ehrlich gesagt schwer, einen Nutzen für unsere Bewohner zu erkennen, und fürchte eine Überforderung. Ich hoffe, ich werde eines besseren belehrt und die Bewohner können von dem Mehr an Selbstbestimmung profitieren.

    3. Bewohner erhalten zukünftig ihre existenzsichernden Leistungen direkt ausbezahlt und begleichen damit die in diesem Bereich erbrachten Leistungen. Nicht jeder ist jedoch in der Lage, mit diesen finanziellen Mitteln angemessen und zweckbestimmt umzugehen. Kommt es zu Forderungsausfällen, wird dies das Verhältnis zwischen uns und dem Bewohner belasten und verändern. Ein produktiver soziotherapeutischer Prozess wäre unter diesen Vorzeichen nur erschwert möglich.
    Ich erwarte ein Zunahme von Verschuldungen der Bewohner, vermehrte Abbrüche und eine Verschiebung der Hilfen in Richtung der Wohnungslosenhilfe.

    4. Für die soziotherapeutischen Einrichtungen als Teil der Eingliederungshilfe wird sich der Verwaltungsaufwand ganz erheblich erhöhen. Es steht zu erwarten, dass es zu Ausfällen bzw. Verzögerungen bei den Kostenerstattungen kommen wird. Insbesondere zu Beginn der Umstellung kann es zu Liquiditätsengpässen kommen. Es ist nicht klar, ob wir alle Qualitäten unseres Angebotes aufrechterhalten können (z. B. unsere eigene Küche).
    Insgesamt wird unser Angebot noch einen stärkeren ambulanten Charakter erhalten. Dies ist für einige unserer Bewohner sicher von Vorteil, für die Mehrzahl jedoch nicht.

    5. Wir besuchen so viele Veranstaltungen zu diesem Thema wie möglich, um alle Informationen und Entwicklungen möglichst frühzeitig zu erhalten. Gleichzeitig haben wir die Bewohner und ihre gesetzlichen Betreuer zeitnah über die anstehenden Veränderungen informiert. Im Bereich der Verwaltung sind wir dabei, zusätzliche Ressourcen aufzubauen. Für die ersten Monate der Umstellung und die dann zu erwartenden Verzögerungen in der Rechnungsbegleichung haben wir finanzielle Rückstellungen gebildet.

    Michael Strotmann

    Michael Strotmann und Bella

    Einrichtungsleitung Soziotherapieverbund Spessart, Partenstein

    1. In meinem Tätigkeitsfeld bemerke ich bereits folgende Auswirkungen durch das BTHG:

    • viel Unsicherheit und Unklarheit bzgl. der praktischen Umsetzung
    • Skepsis bzgl. einer termingerechten Umsetzung zum 01.01.2020 (z. B. in Hessen, wo es keine bayerische Übergangsregelung gibt)
    • einen erheblichen Mehraufwand in der täglichen Arbeit bzgl. Information und Aufklärung von Bewohnern und deren Betreuern sowie Kostenträgern und Wohngeldstellen

    2. Ich sehe folgenden Nutzen des BTHG für die Suchthilfe:

    • Ermöglichung von ggf. neuen finanzierten Arbeitsformen/-bereichen (Budget für Arbeit)
    • im Idealfall Rückerlangung von mehr Selbstachtung und Würde für den Einzelnen

    3. Ich sehe folgende Nachteile des BTHG für die Suchthilfe:

    • Die Möglichkeit zur eigenen Verwaltung von recht hohen Geldsummen verstärkt die Tendenz zur Selbstüberschätzung und unrealistischer Haushaltsplanung.
    • Der Einblick in genauere Kostenstrukturen z. B. bzgl. Unterkunft und Verpflegung kann ein häufig vorhandenes unrealistisches Anspruchsdenken ungut befördern und zu vielen unfruchtbaren Diskussionen in den Einrichtungen führen.
    • Die Möglichkeit zur Auszahlung des gesamten Lebensmittelgeldes und zum möglichen Selbsteinkauf/-versorgung kann sehr negative Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten, die Hygiene und die therapeutische Gemeinschaft haben, die sich auch durch gemeinsame Mahlzeiten ausdrückt.

    4. Folgende Veränderungen ergeben sich für meine Einrichtungen durch das BTHG:

    • ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand aufgrund eines zukünftig nicht mehr alleinigen und einzigen Kostenträgers
    • die Notwendigkeit eines Mahn- und Risikomanagements zum Eingang vereinbarter Monatszahlungen
    • Wohn- und Verpflegungsangebote müssen sich zukünftig noch stärker und regelmäßiger den Wünschen der Bewohner gegenüber verändern und verbessern, da mehr Kostentransparenz und Vergleich möglich ist.

    5. So bereiten wir uns auf die Veränderungen vor:

    • Auf- und Ausbau eines guten Fehler- und Beschwerdemanagements in der Einrichtung
    • Sensibilisieren der Mitarbeiter für die vom Gesetzgeber gewollte Eigenverantwortung und Eigenständigkeit auch von Menschen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung, ohne suchtrelevante Grenzziehungen und Verhaltensspiegelungen zu unterlassen
    • Erarbeitung von neuen Wohn- und Betreuungsverträgen, die sowohl ausreichende Refinanzierung als auch notwendige Handlungsspielräume im täglichen Betreiben einer Einrichtung mit Suchtkranken ermöglichen

    Michael Thiem

    Michael Thiem

    Einrichtungsleitung Laufer Mühle, Geschäftsführung Soziale Betriebe der Laufer Mühle gGmbH, Adelsdorf

    Jede Neuerung bringt Verunsicherung mit sich. So auch im Mitarbeiterteam unserer Einrichtung, in dem wir uns seit geraumer Zeit intensiv mit den Anforderungen des BTHG – und damit auch mit dessen Chancen und Risiken – auseinandersetzen.

    Chancen und Risiken – und damit einhergehend auch Hoffnungen und Ängste – ergeben sich durch die Vorgaben des BTHG in allen therapeutischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und personellen Prozessen und Bereichen. So wird eben auch die Umsetzung weitreichende Auswirkungen und Folgen nicht nur für die Nutzer („Kunden“) haben, sondern auch für die Menschen, die die gesetzlichen Bestimmungen auszuführen haben.

    Die Umsetzung des BTHG wird, blickt man auf die Seite der Mitarbeiter in der Suchthilfe, vor allem auch beschäftigungsrelevante und arbeitskulturelle Bedeutung haben, obwohl dies nicht primäre Absicht, sondern nur die Folge des Gesetzes ist. So werden sich die zu erbringenden „Arbeitsleistungen“ und die „Arbeitsziele“ in wesentlichen Punkten im Arbeitsfeld „soziotherapeutische Suchthilfe“ verändern. Von den Beschäftigten werden dann teilweise andere Arbeitsergebnisse und ‑gewichtungen erwartet, als es bisher gefordert war. Somit bedarf auch die suchttherapeutische (Grund-)Haltung der einzelnen Mitarbeiter einer umfassenden Transformation, da der Mitarbeiter „in Zukunft etwas anderes machen soll, als das, wofür er einmal angetreten ist und wovon er überzeugt war“ (Zitat eines Mitarbeiters).

    Verständlich, dass diese neuen Anforderungen an Mitarbeiter auch Unsicherheiten in Bezug auf den Arbeitsplatzerhalt und auch auf die Bewertung der Arbeitsleistungen, die zukünftig erbracht werden müssen, erzeugen. Dies wurde und wird in der aktuellen Diskussion nicht weiter problematisiert und lässt damit die Menschen, die dieses Gesetz „alltagstauglich“ machen sollen, „außen vor“.

    Soziotherapeutische Einrichtungen der Suchthilfe betrachteten bisher den Heilungserfolg (Rehabilitation und Resozialisation = Überwindung der Krankheit und Etablierung einer Lebenswelt, die das erneute Ausbrechen der Krankheit verhindert) als das Ziel all ihrer therapeutischen/betreuerischen Maßnahmen. Der klassische Handlungsansatz ist/war die „Betreuung“. Betreuung schließt Fürsorge ebenso mit ein wie die Verantwortung für die vorgeschlagene Betreuungsmaßnahme. Der Begriff „Betreuung“ wird nun im BTHG durch „Assistenz“ ersetzt. „Assistenz“ ist die Unterstützung einer Maßnahme, die der Betroffene vorgibt und die durchaus auch einem (vom Betreuer / Angehörigen / Arzt / von der Krankenkasse / der Gesellschaft)  gewünschten Therapieerfolg zuwiderlaufen kann. Der Gesetzgeber hat damit ganz eindeutig die persönliche Wahlfreiheit über das ehemalige Gesundheitsziel gestellt.

    Bisher empfahlen die Mitarbeiter aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrungen den suchtkranken Menschen therapeutische Hilfsangebote, die diese dann in ihre verbindliche therapeutische Zielplanung mitaufnahmen und die dann gemeinsam von Betreutem und Therapeut verfolgt wurde. Diese „therapeutische Partnerschaft“ definierte u. a. die Pflichten, die der Betroffene auf sich nahm, um so die gemeinsam vereinbarten Ziele (= berufliche und soziale Integration, Suchtfreiheit) zu erreichen. Der Mitarbeiter nahm dabei nicht nur die die Rolle des Wegbegleiters, sondern auch des Trainers und eben auch des „Controllers“ ein, der auch darüber wachte, ob die gemeinsamen Vereinbarungen, die den späteren Erfolg erst ermöglichen können, auch eingehalten werden.

    Die „Mitwirkungspflicht“ bzw. „Compliance“ ist Dreh- und Angelpunkt jeder Heilbehandlung, ob somatisch oder psychosomatisch, da sie den Betroffenen aktiv mit einbindet und somit dessen Selbstheilungskräfte aktiviert und mobilisiert. Die Verantwortung für eine „Heilung“ wird dabei nicht an Ärzte, Therapeuten, Medikamente oder Methoden delegiert. Heilung ist in der Summe das Erfolgsergebnis eines verpflichtenden Zusammenspiels vieler Akteure, in dessen Mittelpunkt der Betroffene selbst steht.

    Beim BTHG (bezogen auf die Suchthilfe) steht nun also nicht mehr die Krankheit im Mittelpunkt. Es geht also nicht in erster Linie um Gesundung. Vielmehr geht es um Rechte und gesellschaftliche Gleichstellung eines Menschen, der krank ist oder eben auch Defizite hat. Weder Krankheit noch Defizite sollen den Betroffenen hindern, die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen wahrnehmen zu können. Diesem Anliegen gilt es hier auch nicht zu widersprechen. Es wird lediglich kritisiert, dass es einen (sucht-)kranken Menschen von der Pflicht zur Mitwirkung entbindet.

    Selbstverständlich ergeben sich auch neue Ansätze, Perspektiven und dementsprechend auch Hilfsangebote durch das BTHG in der Soziotherapie für Suchtkranke. Gerade im Bereich des „peer counceling“, also des Hilfsansatzes der „Beratung/ Betreuung/ Begleitung von Betroffenen für Betroffene“, werden hohe Nachfragen (= „Kundenwünsche“) entstehen.

    Die langjährigen Erfahrungen in der Behindertenarbeit, speziell Suchtkrankenbehandlung, zeigen nämlich, dass ehemals Betroffene sehr gute Ratgeber und Wegbegleiter sind, dem Betroffenen geeignete und gangbare Wege aus der Krankheit/ Behinderung aufzuzeigen. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus können sie glaubhaft vermitteln, dass Krankheit/ Behinderung überwunden bzw. mit der Krankheit selbstbestimmt gelebt werden kann. Als Stärken des „Peer Counceling“ werden gesehen:

    • Mut zur Veränderung aufzeigen
    • Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln
    • Fähigkeit aufzeigen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen
    • Vermittlung der Grundhaltung, durch eigene Kraft Lösungen, Krisen, Krankheiten, etc. überwinden zu können
    • Einfühlungsvermögen/ Empathie für die Gefühlslage des Betroffenen aufgrund der eigenen Lebensgeschichte

    Durch den Einsatz von Betroffenen wird die Gefahr der „Distanz“ zwischen professionellem Helfer und behindertem Menschen abgebaut. Die Interaktion findet auf Augenhöhe statt, was wiederum den Zugang zu Hilfsangeboten und die Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen wesentlich erleichtert.

    Gerade der Einsatz von ausgebildeten Ex-Usern (vgl. Konzept Laufer Mühle, soziotherapeutische Assistenten/IHK) in der Soziotherapie hat sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin bewährt und zu beachtlichen Rehabilitations- und Sozialisationserfolgen geführt. Allerdrings wurden diese wichtigen Lebensberater und -begleiter von den Kostenträgern bis heute nicht als professionelle Unterstützer anerkannt.

    Unter anderem hat nun die die Diskussion um das BTHG dazu geführt, „Betroffene“ (in der Suchthilfe sind es die „Ex-User“) nach einer fundierten Qualifikation als Genesungsbegleiter anzuerkennen und ihnen einen dementsprechenden Stellenwert im Heilungsprozess von kranken Menschen zuzuweisen. Die eingeleiteten Schritte sind erfolgsversprechend.

    Leah Schreiner

    Leah Schreiner

    Projektmanagement/Risikomanagement, Geschäftsbereich Sucht-/ Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Hauptgeschäftsstelle, Weyarn

    1. Ja! Zurzeit nehmen die Aufgaben, die das BTHG betreffen, mind. 50 Prozent meiner Arbeitszeit ein. Die Vorbereitungen auf die Umstellungen zum 01.01.2020 bedeuten sehr viel Fleißarbeit, sowohl für die Einrichtungen als auch für unser Team in der Hauptgeschäftsstelle (Flächenberechnungen, Kostenkalkulationen, neue Zahlungswege, neue Heimverträge etc.).

    2. Für einen Teil unserer Bewohner/innen wird die finanzielle Leistungsgewährung in Zukunft fairer abgebildet, z. B. werden einige Bewohner zukünftig einen Teil ihrer Rente erhalten und auch selbst verwalten können. Das finde ich schön, wenn man bedenkt, dass viele ihr Leben lang dafür gearbeitet haben. Es wird insgesamt deutlich, dass die seelisch behinderten Menschen in den Suchthilfe-Einrichtungen mehr Autonomie ausüben sollen/können.

    3. Da die Suchthilfe-Einrichtungen nur einen ganz kleinen Teil der gesamten Eingliederungshilfe einnehmen, können teilweise die Besonderheiten der „Suchthilfeklientel“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das zeigt sich vor allem am zukünftigen „leistungsberechtigten Personenkreis“ (Zugangsvoraussetzungen). Es könnte sein, dass dadurch einige unserer Bewohner/innen in Zukunft Schwierigkeiten haben, Eingliederungshilfeleistungen zu erhalten.

    4. Für unseren Träger wird es hauptsächlich Veränderungen in den Verwaltungsprozessen geben. Diese werden umfangreicher und komplizierter. Es wird sich möglicherweise die Atmosphäre in den Einrichtungen verändern, welche bislang stark vom Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt waren.

    5. Wir versuchen immer auf einem aktuellen Informationsstand bzgl. der jeweiligen Umsetzung auf Landesebene zu sein. Das sind bei unserem Träger fünf Bundesländer, und es gibt in jedem Bundesland verschiedene Regelungen. Bisher konnten wir gut Schritt halten und alle notwendigen Umsetzungsschritte einleiten.

    Karl-Heinz Schön

    Karl-Heinz Schön

    Leitung Fachbereich für Menschen mit seelischen Behinderungen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Darmstadt

    1. Welchen Nutzen hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Der Nutzen des BTHG geht über die Orientierung an einer Zielgruppe hinaus. Im LWV Hessen orientieren wir uns vorrangig am Willen eines behinderten Menschen und seinen Ressourcen. Mit dem Budget für Arbeit, der Ausgestaltung der künftigen Assistenzleistungen und der Beteiligung der Betroffenen an der Planung ihres Teilhabebedarfes werden dem behinderten Menschen (Sucht) Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung zur Verfügung stehen. Lohnenswerte Ziele zur Teilhabe in den Bereichen Arbeit, Wohnen, soziale Beziehungen und Freizeitgestaltung bieten Anreize, den Suchtmittelkonsum einzuschränken oder zu beenden. Die Orientierung am Sozialraum bietet die Chance, Individualisierung zu überwinden. Die Reduzierung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen erleichtert die Inanspruchnahme von Unterstützung.

    2. Welche Nachteile hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Längerfristige Nachteile des BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden, sehen wir keine. Kurzfristig kann es durch die Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen und das Nettoprinzip zu Verunsicherungen kommen. An diese Veränderungen müssen sich die behinderten Menschen, ihre gesetzlichen Betreuer, die Träger der Grundsicherung bzw. der Hilfe zum Lebensunterhalt und die Leistungserbringer in besonderen Wohnformen in den nächsten beiden Jahren anpassen. Das kann vorübergehend im Einzelfall dazu führen, dass Personen in Angebote nicht aufgenommen oder aufgrund von offenen Forderungen der Leistungserbringer entlassen werden. Auch bei der Beratung und Bedarfsermittlung gab es zu Beginn der Umstellung in Hessen Anpassungsprobleme, die wir Zug um Zug durch Praxiserfahrung verbessern. Unser Bestreben als Leistungsträger ist es, allen erforderlichen Angeboten einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen und damit ein zukunftsorientiertes Angebot für behinderte Menschen sicherzustellen.

    3. Welche wesentlichen Veränderungen durch das BTHG ergeben sich für die Suchthilfe aus Ihrer Sicht als Leistungsträger?
    Wir werden als Leistungsträger darauf drängen, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen. Im Bereich der Suchthilfe sind das z. B. die Angebote der medizinischen Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant und stationär), die Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege. Die Teilhabekonferenzen bieten dazu Möglichkeiten. Wir werden auch die nichtprofessionellen, sozialräumlichen Unterstützungsmöglichkeiten und verbindliche Kooperationen unterschiedlicher Unterstützungsangebote (be)fördern. Wir werden darauf hinarbeiten, Menschen in normalen Wohnformen und normalen Arbeitsplätzen zu unterstützen. Wir hoffen dabei auf eine partnerschaftliche Kooperation mit den Leistungserbringern in der Suchthilfe, so wie wir das in der Vergangenheit auch in vielen Fällen erlebt haben.

  • Sozialrechtliche Praxis im Lichte des BTHG

    Ein Jahr nach Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) gibt es zahlreiche Neuerscheinungen in der Fach(buch)szene, die das Thema aufgreifen. Zwei Veröffentlichungen sollen hier kurz vorgestellt werden. Der fdr+ veröffentlicht auf seiner Homepage die überarbeitete Neuauflage des Leitfadens Sozialrecht von Rüdiger Lenski.

    Für die Suchthilfe, deren Leistungen quer durch alle Sozialgesetzbücher finanziert werden, ist die Kenntnis des Sozialrechtes von besonderer Bedeutung. Seit einigen Jahren bearbeitet Rüdiger Lenski, Mitglied im Beirat des fdr+, seinen „Leitfaden Sozialrecht“, der alle Informationen zur Anwendung des Sozialrechts auf 249 Seiten bündelt. Er ist für alle, die bei diesem Thema im Studium nicht so aufmerksam waren, eine ideale Quelle der Aus- und Weiterbildung. Jetzt ist die Ausgabe 2018 erschienen, die auch das am 01.01.2017 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz (BTHG) berücksichtigt. Dieses für die Praxis unverzichtbare Dokument steht auf der Homepage des fdr+ zur freien Nutzung zum Herunterladen bereit.
    Quelle: www.fdr-online.info (16.02.2018)

    Wer die Möglichkeiten und Risiken des BTHG vertieft verstehen möchte, liegt mit dem handlichen Buch Das neue Teilhaberecht von Arne von Boetticher richtig. Der Blick in das Inhaltsverzeichnis überzeugt. Entlang der verschiedenen Umsetzungsstufen (2017, 2018, 2020, 2023) stellt der Autor die Änderungen in den dazugehörigen Sozialgesetzen dar und kommentiert sie für die Beratungspraxis.

    Das Handbuch zum neuen Recht erklärt verständlich die kompliziert und verschachtelt gestalteten Neuerungen. Insbesondere stellt es strukturiert dar, was in den neuen Teilen 1 (Allgemeine Regeln), 2 (Eingliederungshilfe) und 3 (Recht der schwerbehinderten Menschen/Mitbestimmungsrechte) des SGB IX neu geregelt ist. Der Autor, promovierter Volljurist und diplomierter Sozialpädagoge (FH), geht auf die vielen Abgrenzungs- und damit Zuständigkeitsfragen zum SGB XII ein, aber auch zum SGB VIII und XI. Er erläutert schrittweise das Inkrafttreten der Neuregelungen und die insoweit schon jetzt zu beachtenden Vorwirkungen. Die sperrige Regelungstechnik des SGB IX im Verbund mit den Regelungen zur Teilhabe in den anderen Büchern des Sozialgesetzbuches wird mit Übersichtstabellen und Synopsen leicht nachvollziehbar gemacht. Neuregelungen werden unter Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien erschlossen, und erste Beraterhinweise geben eine praktikable juristische Anleitung in einer schwierigen Übergangszeit.
    NOMOS Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018, 394 S., € 38,00, ISBN 978-3-8487-3356-9
    Quelle: Homepage Nomos Verlagsgesellschaft (16.02.2018)

    Martina Tranel, Dipl.-Soz.päd./Dipl.-Soz.arb., Sozialtherapeutin
    Leiterin der Einrichtung Theresienhaus, Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

  • Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen erfassen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz

    Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO, 2005) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/WHO) erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen. Mit der ICF liegt ein personenzentriertes und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt berücksichtigendes Instrument der Hilfeplanung vor, mit dem sich alltagsrelevante Fähigkeiten und Einschränkungen in vereinheitlichter Sprache konkret beschreiben lassen.

    Durch eine detaillierte Klassifikation von Beeinträchtigungen ist es möglich, den Bedarf an professioneller Hilfe konkret zu beschreiben und eine passgenaue Hilfeplanung einzuleiten. Die ICF berücksichtigt individuelle Ressourcen und hat gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel, zwei Aspekte, denen auch in der Arbeit mit Suchtkranken eine entscheidende Bedeutung zukommt. Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen erreichen nicht zuletzt aufgrund einer besseren medizinischen und psychosozialen Betreuung ein durchschnittlich höheres Lebensalter. Abhängigkeitserkrankungen gehen oftmals mit funktionalen Problemen und Einschränkungen im Bereich der Alltagsbewältigung, der sozialen Beziehungen und der Erwerbstätigkeit einher (Schuntermann, 2011). Mit der Dauer der Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden physischen und psychischen Begleiterscheinungen steigen auch die Beeinträchtigungen von individuellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten. Im Bereich der Suchthilfe ist eine ausschließlich auf Psychodiagnostik basierende Betreuung/Behandlung in der Regel nicht ausreichend, da der Hilfebedarf der Klientel nicht adäquat abgebildet wird. Die Diagnose Sucht sagt alleine wenig über die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen aus. Selbst beim Vorliegen weiterer Diagnosen bei derselben Person lassen sich nur schwer valide Aussagen hinsichtlich der individuellen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ableiten. Instrumente wie der Addiction Severity Index (ASI), der lange Zeit zur Standarddokumentation des Suchthilfeträgers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) in Frankfurt am Main zählte, liefern zwar Hinweise auf Belastungen und Beeinträchtigungen, jedoch keine auf den konkreten Hilfebedarf.

    ICF in der Suchthilfe

    Es geht im Versorgungssystem der Suchthilfe um das Gesamtbild der negativen Auswirkungen, die die Sucht auf das Leben eines Betroffenen ausübt, also auf die Mobilität, die Kommunikation, die Selbstversorgung, das häusliche Leben, die Interaktionen mit anderen Menschen und Behörden und das Erwerbsleben. Die Gesamtheit der Auswirkungen sowie das Zusammenwirken von Aktivitätsbeeinträchtigungen und Rollenanforderungen sollten im Rahmen einer professionellen Hilfeplanung berücksichtigt werden. Eine wirksame Rehabilitation benötigt umfassende Daten, um die Betreuung/Behandlung planen zu können. „Die kurative Medizin ist da zu Ende, wo es um die Behebung gesundheitlicher Probleme aufgrund von Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe – unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren – geht. Insofern wird der Suchtkranke auch als Behinderter bzw. von Behinderung Bedrohter angesprochen.“ (Fleischmann, 2011)

    Es geht nicht darum, nur Defizite zu lokalisieren, sondern auf der Grundlage der individuellen Ressourcen des Beurteilten die soziale Reintegration und gesellschaftliche Teilhabe unter Berücksichtigung der aktuellen Fähigkeiten zu fördern. Eine „Beeinträchtigung“ wird im Rahmen des ICF-Gesundheitsbegriffes nicht als Eigenschaft der Person interpretiert, sondern als funktionale Störung im Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt, was die Veränderbarkeit (gesundheits-)politischer und sozialer Verhältnisse miteinschließt.

    Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung, einem der zentralen Ziele der medizinischen Rehabilitation, wie es auch in den Empfehlungen zur „Beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA) dargestellt wird (Koch, 2015). Wenn von Erwerbsbezug in der Rehabilitation die Rede ist, dann spielen berufsspezifische Fähigkeitsprofile eine wichtige Rolle, die sich mithilfe der ICF in sehr konkreter Weise abbilden und für den beruflichen Wiedereingliederungsprozess nutzbar machen lassen.

    Von Vorteil ist die ICF weiterhin in professionstheoretischer Hinsicht. Die einheitliche Sprache ermöglicht eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Einrichtungen, Disziplinen und Versorgungsbereichen sowie die Evaluation der Hilfemaßnahmen hinsichtlich der Zielerreichung und der Verringerung des Schweregrades der Beeinträchtigungen. Die ICF kann aufgrund ihres bio-psycho-sozialen Ansatzes die interdisziplinäre Kommunikation verbessern. Insofern bietet sie die Chance einer systemübergreifenden ‚Sprache‘ mit der Möglichkeit, das medizinische, suchtpsychiatrische und suchthilfespezifische Versorgungssystem stärker zu integrieren. Damit lässt sich eine bessere Nutzung von Synergien erreichen statt der Verfolgung ressourcenzehrender Optimierung von Einzelsystemen.

    Vor diesem Hintergrund wird seit April 2015 in den Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) der ICF-basierte Fremdratingbogen Mini-ICF-APP („Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen“; Linden, Baron, Muschalla, 2009) eingesetzt. Erste Erfahrungen mit diesem Instrument werden im Folgenden vorgestellt.

    Datenerhebung und Auswertung

    Ziel des Einsatzes des Mini-ICF-APP ist es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Teilhabe- und Aktivitätsbeeinträchtigungen im Vordergrund der betreuten/behandelten Klientel stehen. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, individuelle und passgenaue Maßnahmen zur Zielerreichung weiterzuentwickeln.

    Zudem soll festgestellt werden, ob zwischen unterschiedlichen Einrichtungstypen (stationäre Rehabilitation, ambulante Betreuung/Behandlung, Betreutes Wohnen), unterschiedlichen Konsummustern und den Konsument/innen verschiedener Hauptsuchtmittel (Cannabis, Opiate, Stimulanzien) signifikante Unterschiede hinsichtlich der im Alltag auftretenden Beeinträchtigungen deutlich werden. Am Ende des Artikels werden die Ergebnisse mit Blick auf die Suchthilfepraxis zur Diskussion gestellt.

    Das Instrument: Mini-ICF-APP

    Zwischenzeitlich liegen einige ICF-basierte Instrumente für den Indikationsbereich psychische Störungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen vor (Breuer, 2015). Eines dieser Instrumente ist das Mini-ICF-APP, ein Fremdbeurteilungsinstrument mit 13 Items zur Beschreibung und Quantifizierung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen. Die maßgebliche Bewertung des jeweiligen Klienten bzw. der Klientin in den 13 Fähigkeitsdimensionen findet durch den geschulten Bezugsbetreuer/die geschulte Bezugsbetreuerin statt. Beim Ausfüllen des Fragebogens werden alle zur Verfügung stehenden Informationen genutzt: anamnestische Angaben, fremdanamnestische Angaben, psychologische und testpsychologische Befunde ebenso wie Beobachtungen der Bezugsbetreuer/innen oder Mitteilungen durch den Klienten/die Klientin. Das Verfahren ermöglicht die einfache Erfassung des Hilfebedarfs in wesentlichen Bereichen. So kann mit dem Instrument eingeschätzt werden, in welchem Ausmaß die betreffende Person in ihrer Fähigkeit zur Ausübung lebens- und berufsrelevanter Tätigkeiten beeinträchtigt ist.

    Das Mini-ICF-APP liefert neben der Erfassung des Hilfebedarfs auch die Möglichkeit, über eine Wiederholungsmessung die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu überprüfen. Die Skalierung zur Einschätzung der Fähigkeitseinschränkungen ist wie folgt strukturiert: 0 = keine Beeinträchtigung, 1 = leichte Beeinträchtigung, 2 = mittelgradige Beeinträchtigung, 3 = erhebliche Beeinträchtigung, 4 = vollständige Beeinträchtigung. Zusätzlich zum Mini-ICF-APP wird ein Deckblatt eingesetzt, das von JJ extra für den Arbeitsbereich der Suchthilfe entwickelt wurde. Mit dem Deckblatt werden soziodemografische Angaben, Angaben zum Erwerbsleben und zum Suchtmittelkonsum erfasst.

    Beschreibung der Stichprobe

    Seit Mitte 2015 wird in allen Suchthilfeeinrichtungen des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) das Mini-ICF-APP eingesetzt. Dazu zählen stationäre und ambulante Suchthilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen des Betreuten Wohnens. Der Rücklauf verwertbarer Fragebögen lag bis zum September 2016 bei N=1.243. Alle Bögen wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es gab keine Ausschlusskriterien.

    Die ICF-basiert beurteilten Klient/innen aller JJ-Einrichtungen sind im Durchschnitt 35,3 Jahre alt. 78,1 Prozent sind männlich, 21,9 Prozent weiblich. Nur 26,4 Prozent gingen im letzten Jahr einer beruflichen Tätigkeit nach. Eine psychiatrische Zusatzdiagnose liegt bei 31,2 Prozent der Personen vor. Die durchschnittliche Dauer der Abhängigkeit beträgt 14,9 Jahre. 38,4 Prozent der Befragten wurden zum Zeitpunkt der Messung substituiert. Das am häufigsten genannte Hauptsuchtmittel ist Heroin (45,9 Prozent), gefolgt von Cannabis (20,6 Prozent), Alkohol (13,9 Prozent), Amphetaminen (7,3 Prozent), Kokain (5,3 Prozent) und Sonstige (2,5 Prozent).

    Ergebnisse

    Im Folgenden (Tabelle 1) werden die Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen dargestellt (N=1.243).

    Tabelle 1: Globalwerte in den 13 Fähigkeitsdimensionen

    Die Mittelwerte liegen größtenteils zwischen einer leichten und mittelgradigen Beeinträchtigung. Das impliziert, dass bei einem Teil der untersuchten Gruppe deutliche Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, die in vielen Fällen interventionsbedürftig sind. Am höchsten sind die Beeinträchtigungen in den Bereichen „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „ Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“. Vergleicht man die Beeinträchtigungswerte mit den Daten von Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken (N=213; Linden et al., 2015), die in den empirischen Studien zur Entwicklung des Mini-ICF-APP untersucht wurden, so treten die hohen Fähigkeitsbeeinträchtigungen der Klientel aus den Suchthilfeeinrichtungen von JJ noch deutlicher hervor. Während der Globalwert der 13 Items in der JJ-Untersuchung bei 1,58 liegt, ist er in der genannten Vergleichsgruppe mit 0,84 nur etwa halb so hoch.

    Beispiel: Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    Am Beispiel des Items „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“, das am höchsten geratet wurde, lässt sich aufzeigen, wie schwer die Beeinträchtigungen konkret eingeschätzt wurden (Tabelle 2).

    Tabelle 2: Einschätzung des Items Widerstands- und Durchhaltefähigkeit

    34,6 Prozent der beurteilten Klient/innen sind in diesem Bereich mittelgradig beeinträchtigt, 21,5 Prozent sogar erheblich bzw. 3,7 Prozent vollständig. Die Einschätzung „mittelgradige Beeinträchtigung“ verweist auf „deutliche Probleme, die beschriebenen Fähigkeiten/Aktivitäten auszuüben“ (Linden et al., 2015, S. 5). Erhebliche und vollständige Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen bedeuten, dass die Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung so auffällig sind, dass die Unterstützung von Dritten notwendig ist.

    Bezogen auf das Item „Widerstands- und Durchhaltefähigkeit“ bedeutet eine mittelgradige Beeinträchtigung nach der Definition der Autor/innen des Mini-ICF-APP: „Der Proband kann keine volle Leistungsfähigkeit über die ganze Arbeitszeit hin zum Einsatz bringen. Sein Durchhaltevermögen ist deutlich vermindert. Durch Nichterfüllung von Aufgaben ergibt sich ein reduziertes Leistungsniveau und gegebenenfalls Ärger mit dem Arbeitgeber oder Partner.“ Eine erhebliche Beeinträchtigung (21,5 Prozent der Klient/innen) bedeutet: „Um die Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu erfüllen, ist immer wieder Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder vom Partner erforderlich, die ihn auffordern oder ermutigen, bei der Sache zu bleiben oder weiterzumachen, oder die selbst gelegentlich eingreifen und zeitweise Arbeiten von ihm übernehmen.“ (Linden et al., 2015, S. 14)

    Folglich besteht in vielen Fällen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des individuellen Leistungsvermögens und vor allem auch hinsichtlich der Eigeninitiative. Dieser Unterstützungsbedarf ist in der individuellen Hilfeplanung zu berücksichtigen. Die Kenntnis solcher Fähigkeitsbeeinträchtigungen soll nicht nur zur Auswahl adäquater Hilfemaßnahmen führen, sondern auch zur realistischen Einschätzung der Fähigkeiten des Betreffenden beitragen, um zu verhindern, dass durch zu hohe Erwartungen – insbesondere im Bereich der beruflichen Wiedereingliederung – strukturelle Überforderungssituation entstehen, die ihrerseits neue negativen Auswirkungen nach sich ziehen.

    Eine interne JJ-Untersuchung (N=189) mit dem ICF-basierten Selbstrating-Instrument ICF AT 50-Psych (Nosper, 2008), das ebenfalls die Dimensionen der Aktivität und Partizipation abbildet, zeigt ferner, dass die befragten Patient/innen sich selbst als deutlich weniger beeinträchtigt einschätzen. Mit Blick auf den therapeutischen Alltag bietet sich an, die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Patient/innen und der Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen zu thematisieren und die unterschiedlichen Einschätzungen der Fähigkeitsdimensionen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.

    Gruppenunterschiede

    Das Geschlecht und das Alter haben auf den Mini-ICF-Globalwert keinen signifikanten Einfluss, lediglich in einzelnen Bereichen: Männer sind im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ (1,47 vs. 1,17) sowie „Planung und Strukturierung von Aufgaben“ (1,71 vs. 1,43) höher belastet. Ältere haben höhere Beeinträchtigungen im Bereich „Selbstpflege“ und „Mobilität und Verkehrsfähigkeit“. Jüngere haben im Bereich „Anpassung an Regeln und Routinen“ größere Schwierigkeiten. Der Zusammenhang beschränkt sich auf einzelne Items. Einen globalen Einfluss auf den Schweregrad hat die Dauer der Abhängigkeit. Zwölf der 13 Items korrelieren in signifikanter Weise. Lediglich beim Item „Selbstbehauptungsfähigkeit“ ist die Dauer der Abhängigkeit nicht entscheidend.

    Tabelle 3: Einfluss der Dauer der Abhängigkeit auf den Beeinträchtigungsgrad

    Einfluss auf den Globalwert hat auch der Berufsstatus: Diejenigen, die während der letzten zwölf Monate vor Behandlungsbeginn keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, weisen signifikant höhere Beeinträchtigungswerte auf. Ferner korrelieren die BORA-Stufen, denen insbesondere im Rahmen der stationären Rehabilitation eine wachsende Bedeutung zukommt, mit dem Schweregrad der ICF-spezifisch gemessenen Beeinträchtigungen.

    Globalwerte nach Einrichtungstypen

    Der Einsatz ICF-basierter Instrumente soll zur verbesserten Hilfeplanung beitragen. Insofern wurde auch untersucht, ob in verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und Hilfsangeboten spezifische Beeinträchtigungen festzustellen sind (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Globalwerte in verschiedenen JJ-Einrichtungen

    Die Werte entsprechen den Erwartungen und zeigen, dass die Einschätzungen in realistischer Weise erfolgen, was auch hohe Interrater-Reliabilität bestätigt. Ambulant betreute Klient/innen sind weniger beeinträchtigt als stationär Behandelte, was der Indikationsstellung entspricht. Besonders hoch sind die Beeinträchtigungswerte im Drogennotdienst, einer Einrichtung mit ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten, und in der Tagesstätte Rödelheimer Bahnweg. Zur Zielgruppe dieser Einrichtung zählen suchtkranke Männer und Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die in einem schlechten Allgemeinzustand und/oder chronisch krank sind und bei denen auf Grund der chronifizierten Suchtmittelabhängigkeit die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit meist nicht mehr möglich erscheint.

    Praktisch hilfreich wird das Ganze, wenn man sich die Einrichtungswerte in den einzelnen Fähigkeitsdimensionen anschaut. Unterschiede in den einzelnen Items zeigen an, wo der einrichtungsspezifische Hilfebedarf am größten ist. In der Einrichtung Rödelheimer Bahnweg mit dem höchsten Globalwert (2,18) liegt die Beeinträchtigung im Bereich „Proaktivität und Spontanaktivität“ bei 2,32. Dies verdeutlicht nicht nur, in welchem Bereich große Schwierigkeiten bestehen, sondern verweist zugleich darauf, dass Unterstützungs- und Förderungsleistungen im Bereich der Eigeninitiative, der häuslichen Aktivitäten und der Freizeitgestaltung anstehen.

    Im Betreuten Wohnen ist der Beeinträchtigungswert im Bereich „Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen“ mit 1,85 am höchsten. Der Verlust stützender familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und fortwährende gesellschaftliche Isolation prägen nicht selten die Lebenslage von langjährig Abhängigen. Im Betreuten Wohnen soll solchen Vereinsamungstendenzen entgegengewirkt und die gesellschaftliche Reintegration bewerkstelligt werden. Entsprechende Hilfsangebote sind zu forcieren.

    In der stationären Rehabilitation wurden die höchsten Beeinträchtigungswerte im Bereich „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ (2,06) festgestellt, was auf die Ambivalenz in Bezug auf Abstinenzbemühungen verweist. Bei der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit geht es darum, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, rational zu urteilen und unter Abwägung der Sachlage differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen – Fähigkeiten also, die im Falle einer Abhängigkeitserkrankung stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die anspruchsvolle und mitunter von Rückschlägen begleitete Aufgabe, sich gegen die Sucht und für ein abstinentes Leben zu entscheiden, scheint hier zum Ausdruck zu kommen.

    Hauptsubstanz

    Untersucht wurde außerdem, ob sich im Zusammenhang mit dem Hauptsuchtmittel Unterschiede hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades feststellen lassen (Tabelle 4). Verglichen wurden die Konsument/innen der Hauptsuchtmittel Opiate, Cannabis und Stimulanzien (Amphetamine und Kokain).

    Tabelle 4: Einfluss des Hauptsuchtmittels auf den Beeinträchtigungsgrad

    Auffällig ist zunächst, dass sich die Globalwerte kaum unterscheiden. Diese liegen bei 1,47 (Opiate), 1,44 (Cannabis) und 1,35 (Stimulanzien). Überraschend sind die Ergebnisse, weil in der Bezeichnung von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen die Vorstellung mitschwingt, dass Cannabis eine in den Auswirkungen zu vernachlässigende Droge sei. Dies ist nach den hier angegebenen Werten nicht der Fall, im Gegenteil: Mehrere Beeinträchtigungen der Cannabiskonsument/innen werden im Vergleich mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit sogar höher eingeschätzt (s. Markierung in Tabelle 4).

    Verlaufsmessungen

    Das Mini-ICF-APP ermöglicht die Evaluation der Hilfemaßnahmen. Durch Verlaufsmessungen kann festgestellt werden, ob es zu Veränderung des Beeinträchtigungsgrades in den jeweiligen Fähigkeitsdimensionen kommt. Sofern der Klient/die Klientin längere Zeit in der Einrichtung betreut oder behandelt wird, findet drei bis fünf Monate nach der Ersterhebung eine Wiederholungsmessung statt. Eine erste Auswertung der Verlaufsmessung zeigt positive Veränderungen (Tabelle 5). Bei denjenigen, die eine längere Behandlung/Betreuung in Anspruch nehmen, bilden sich in allen Bereichen positive Trends ab, die – bis auf die Verkehrsfähigkeit – signifikant sind.

    Tabelle 5: Auswertung der Wiederholungsmessung

    Zusammenfassung

    Als Resümee der Einführung des Mini-ICF-APP ist zunächst festzuhalten, dass es einen erfreulich hohen Rücklauf von Fragebögen gibt. Das spricht nicht nur für die Akzeptanz des Instruments, sondern auch für seine Praktikabilität. Die Bögen sind weitgehend korrekt ausgefüllt, es gibt wenig Datenverlust.

    Die untersuchte Gruppe zeigt deutlich höhere Beeinträchtigungswerte als die Patient/innen psychosomatischer Rehabilitationskliniken ohne Suchtdiagnose. Die Beeinträchtigungen sind in den Bereichen „Widerstand- und Durchhaltefähigkeit“, „Selbstbehauptungsfähigkeit“ sowie „Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit“ am höchsten. Geschlechts- und altersspezifische Differenzen gibt es keine wesentlichen. Die Dauer der Abhängigkeit beeinflusst den Schweregrad der gemessenen Aktivitäts- und Fähigkeitsbeeinträchtigungen in direkter Weise. Berufsstatus und Schweregrad der Beeinträchtigung korrelieren ebenfalls. Auffällig hoch waren die Beeinträchtigungswerte der Cannabiskonsument/innen, was sich mit anderen Untersuchungen in diesem Bereich deckt. In den Einrichtungstypen lassen sich unterschiedliche Belastungen feststellen. Verlaufsmessungen zeigen, dass es zu Verbesserungen während der Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt.

    Diskussion

    1.) Das ICF-basierte Instrument Mini-ICF-APP ist im Suchtbereich einfach anwendbar, das bestätigen die Rückläufe sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen. Insgesamt bietet die Implementierung des Mini-ICF-APP ein positives Beispiel der ICF-Umsetzung im Suchtbereich. Die standardisierte Routinebeschreibung der funktionalen Gesundheit stellt eine sinnvolle Ergänzung zur medizinischen und psychologischen Diagnostik dar.

    2.) Der Hilfebedarf kann konkret beschrieben werden. Es werden Fähigkeitsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Aktivitäten und Teilhabe erfasst, beschrieben und bei der Betreuung bzw. Behandlung berücksichtigt, die bei einer rein medizinischen oder psychologischen Diagnostik nicht im Fokus stehen. Es kann auf der Grundlage des umfangreichen Datenmaterials differenziert werden nach:

    • Konsummustern
    • Dauer der Abhängigkeit
    • Einrichtungstypen
    • BORA-Stufen

    Die Aufbereitung der vereinsweit gesammelten Daten ermöglicht den Datenvergleich zwischen verschiedenen Behandlungsgruppen und Gesundheitsbereichen.

    3.) Die Beschreibung und Differenzierung des Hilfebedarfs erleichtert nicht nur die individuelle Hilfeplanung, sondern ermöglicht es auch, diesen Hilfebedarf bei der Etablierung schwerpunktmäßiger Angebote zu berücksichtigen. Mittelfristiges Ziel ist eine verbesserte Zuweisungspraxis bei der Weitervermittlung in passgenaue Behandlungsangebote. ICF-basierte Instrumente sollten bei der Feststellung des adäquaten Behandlungsbedarfs standardmäßig eingesetzt werden.

    4.) Mit Blick auf die zunehmend wichtiger werdende Erwerbsorientierung und berufliche Wiedereingliederung der Klientel in der Suchthilfe lassen sich mit dem Mini-ICF-APP die aus einer Krankheit resultierenden Fähigkeits- und Aktivitätsstörungen – im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen einer beruflichen Tätigkeit – konkret beschreiben. Dadurch, dass die Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF abgebildet wird, können Fähigkeiten beurteilt werden, die im Erwerbsleben zentral sind.

    5.) Die Aktivitäten und Fähigkeitsbeeinträchtigungen eines Suchtkranken hängen stark mit seinem Konsumstatus zusammen. Dadurch, dass das Mini-ICF-APP keine explizit suchtspezifischen Items beinhaltet, kann der Einfluss des Konsumverhaltens auf die aktuellen Aktivitäten nicht abgebildet werden. Abhilfe schafft das zusätzlich eingesetzte JJ-Deckblatt. Außerdem entwickelt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitarbeiter/innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der Suchtverbände ein „Core Set Sucht“. Einige Items lassen sich insbesondere bei neu betreuten Klient/innen im Fremdrating nur schwer beurteilen, der zusätzliche Einsatz von Selbstbeurteilungsinstrumenten wird empfohlen.

    6.) Die Verlaufsmessungen zeigen, dass Hilfemaßnahmen zur Verringerung des Schweregrades der Fähigkeitsbeeinträchtigungen führen. Die Evaluation und der Wirksamkeitsnachweis der durchgeführten Maßnahmen werden von den Leistungs- und Kostenträgern zunehmend erwartet. Die international anerkannte und standardisierte ICF-Diagnostik stellt eine große Hilfe dabei dar, durchgeführte Maßnahmen zu evaluieren.

    Literatur:
    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13

  • Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Eingliederungshilfe für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Dr. Peter Degkwitz

    In diesem Artikel werden ausgewählte Ergebnisse einer Evaluation der Eingliederungshilfe Sucht in Hamburg vorgestellt. Die Studie wurde von der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) in Hamburg in Auftrag gegeben und vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) realisiert. Der entsprechende Studienbericht liegt seit April 2016 vor (Degkwitz et al. 2016).

    Eingliederungshilfe als Versorgungsbereich bei Abhängigkeitserkrankungen

    Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) für Menschen mit Suchterkrankungen erhalten Personen, „die durch eine Behinderung (…) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (SGB XII, §53). Diese Leistungen werden nach § 54, SGB XII, nachrangig zu Rehabilitationsmaßnahmen der Kranken-, Renten- und Unfall­versicherung (als den vorrangig verpflichteten Kostenträgern) gewährt. Die EGH Sucht hat sich ab Mitte der 1970er Jahre als spezialisierter Leistungsbereich für Abhängigkeitserkrankte mit kooperierenden Einrichtungen in Hamburg und Umgebung als eine wichtige Säule der Hamburger Sozial- und Gesundheitspolitik etabliert. Die Angebote der EGH Sucht dienen als Vorbereitungsmaßnahmen zur medizinischen Rehabilitation (Vorsorge) sowie als sich anschließende Übergangsmaßnahmen nach einer Rehabilitation bzw. Adaption (Nachsorge). Unter die EGH fallen auch langfristige stationäre, teilstationäre und ambulante Maßnahmen für chronisch be­einträchtigte Abhängigkeitserkrankte, sofern der Anspruch auf medizinische Rehabilitation nicht oder nicht mehr besteht (BGV 2014).

    Fragestellung und Design

    Die Zunahme an Personen pro Jahr, die Neu- bzw. Weiterbewilligungen erhalten, der Anstieg der Gesamtdauer bewilligter Maßnahmen sowie die generelle Kostensteigerung der EGH für Suchtkranke sind der Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Die Studie sollte Hintergründe der genannten Entwicklungen klären sowie die Zielerreichung der Maßnahmen der Eingliederungshilfe Sucht untersuchen.

    Die besondere Aufgabe oder Zielsetzung der Eingliederungshilfe besteht darin, „den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen“ (SGB XII, §53) und dabei „möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände“ zu lassen und Selbstbestimmung zu fördern (SGB IX, §9, Abs. 3). Das zeigt sich an Kriterien wie finanzieller Unabhängigkeit, eigenem Wohnraum, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und dem Nachgehen einer Beschäftigung. Bei Klientinnen und Klienten mit multiplen und chro­nischen Problemlagen, die sich häufig in Maßnahmen der Eingliederungshilfe befinden, nachdem vorrangige Kostenträger ausgeschieden sind, ist die Erreichung dieser Ziele allerdings nicht in einem Schritt, sondern nur koordiniert in der Versorgungskette möglich. Bei der Evaluation der Maßnahmen der EGH gelten daher die folgenden Verläufe am Ende einer Maßnahme als wichtige Indikatoren von Zielerreichung: der dauerhafte Maßnahmeabschluss (ohne Wiedereintritt), die Vermittlung in Maßnahmen vorrangiger Träger sowie die Vermittlung in Maßnahmen, die den Übergang in eine selbstbestimmte Lebensführung unterstützen.

    Die Fragestellungen zur Zielerreichung in der EGH sowie zu maßnahme- und personenbezogenen Faktoren der Zielerreichung wurden insbesondere durch den Vergleich von Gruppen mit unterschiedlich intensiver Inanspruchnahme (gemessen in Tagen der Nutzung von EGH-Maßnahmen über fünf Jahre) retrospektiv un­tersucht.

    In einer zusätzlichen prospektiven Untersuchung von Klientinnen und Klienten, die neu in Maßnahmen der EGH eingetreten sind, geht es vorrangig um die Wirksamkeit bezogen auf vereinbarte Ziele der Maßnahmen innerhalb eines 6-Monats-Zeitraums.

    Die Evaluation der Eingliederungshilfe erfolgt anhand dreier Untersuchungsmodule: retrospektiv auf Grundlage der Dokumentation aller Maßnahmen der Eingliederungshilfe der letzten fünf Jahre (A), vertiefend aufgrund einer Aktenanalyse intensiverer Nutzer (B) sowie prospektiv für Neuaufnahmen in Maßnahmen der EGH (C).

    A) Inanspruchnahme der Eingliederungshilfe Sucht über fünf Jahre (Gesamtübersicht)

    Die Untersuchung des Versorgungsgeschehens erfolgte retrospektiv über einen 5-Jahres Zeit­raum (2010 bis 2014). In dieser Zeit wurden in Hamburg fast 10.000 Maßnahmen der Eingliederungshilfe von etwa 3.000 unterschiedlichen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung in Anspruch ge­nommen. Dabei wurden pro Jahr knapp 2.000 Maßnahmen der EGH von 1.100 bis 1.200 verschiedenen Personen mit diagnostizierter Abhängigkeitsstörung genutzt (Abbildung 1). Die Anzahl der Personen erhöht sich, aber noch stärker steigt die Anzahl an Tagen, die pro Per­son pro Jahr insgesamt in EGH-Maßnahmen verbracht wurden. Die durchschnittliche Maßnahmedauer pro Person steigt im 5-Jahresverlauf von 148 auf 181 Tage an.

    Abbildung 1: Entwicklung der Maßnahmedauer in Tagen (MW) pro bewilligter Maßnahme und pro Person sowie Entwicklung der Anzahl von Maßnahmen und Personen über die Jahre 2010 bis 2014

    Hinsichtlich der Art der Beendigungen von Maßnahmen wird insgesamt, bezogen auf den 5-Jahres-Zeitraum, ein Drittel der Maßnahmen regulär beendet, und bei einem weiteren Drittel folgen fortgesetzte Maßnahmen in der Eingliederungshilfe. Das übrige Drittel der EGH-Maßnah­men wird abgebrochen (durch den Klienten oder durch die Einrichtung). Im Verlauf der fünf Jahre geht der Anteil regulärer Beendigungen zurück, und es steigt der Anteil an Maßnahmen, die in der EGH fortgesetzt bzw. verlängert werden.

    Die Fortsetzung von Maßnahmen konzentriert sich auf be­stimmte Maßnahmetypen. Die Typen von Maßnahmen werden in der Eingliederungshilfe Sucht traditionell unterteilt nach dem Inhalt, und zwar nach Vorsorge, Nachsorge, Übergang sowie nach der Art der Erbringung: stationär, teilstationär oder ambulant. Bei den fortgesetzten Maßnahmen handelt es sich eher um Maßnahmen am Ende der Versorgungskette der Ein­gliederungshilfe, bei denen, wenn der Übergang in eine selbstbe­stimmte Lebensführung oder die Vermittlung an vorrangige Kostenträger noch nicht gelingt, weitere Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgen, die längerfristig angelegt sind. Ein fortlaufender, dauernder Verbleib in Maßnahmen der Eingliederungshilfe betrifft etwa ein Zehntel des Personenkreises mit Abhängigkeitsstörungen in der EGH.

    B) Merkmale intensiver Nutzer der Eingliederungshilfe

    Die Frage nach personenbezogenen Merkmalen von Menschen, die EGH intensiver in Anspruch nehmen, sollte durch eine Analyse von Personenakten untersucht werden. Die vorliegenden Akten wurden konsekutiv nach folgenden Kriterien einem Screening unterzogen: innerhalb der letzten fünf Jahre mindestens zwei Jahre ununterbrochen in Maßnahmen oder im selben Zeitraum mehr als dreimalige Inanspruchnahme von Maßnahmen in Einrichtungen der EGH.

    Es wurden 302 Akten nach den genannten Kriterien zufällig ausgewählt. Die betroffenen Personen waren im Durchschnitt in den letzten fünf Jahren 902 (±538) Tage in EGH-Maßnahmen. Bei den Personen, deren Akten nicht in die Analyse einbezogen wurden, waren es 221 (±294) Tage, woraus erkennbar wird, dass sich die hier untersuchten intensiven Nutzerinnen und Nutzer im Ver­gleich zu der übrigen Klientel seit 2010 viermal länger in EGH-Maßnahmen befanden.

    Die intensiven Nutzer wurden nochmal anhand des Kriteriums über/unter 730 Tage (also zwei Jahre) Inanspruchnahme im Verlauf von fünf Jahren in zwei Gruppen „intensive“ und „sehr intensive Nutzer“ unterteilt. Damit sollten personen- und maßnahmebezogene Aspekte identifiziert werden, die mit einer besonders intensiven Inanspruchnahme assoziiert sind.

    Die „sehr intensiven Nutzer“ waren bei einer Gesamtzahl von 1.312 Auf­enthaltstagen seit 2010 (das sind mehr als drei von fünf Jahren) gegenüber den „intensiven Nutzern“ mit durchschnittlich 404 Tagen (etwas über einem Jahr) erheblich länger in EGH-Maßnahmen (Tabelle 1). Sie sind im Durchschnitt fast fünf Jahre älter. Andere personenbezogene Faktoren, darunter Primärdroge, Störungsbeginn und ‑dauer, Komorbiditäten (psychiatrisch, körperlich), Kinder sowie Partnerbeziehung, differenzieren nicht zwischen den Gruppen, d. h., bezogen auf diese Aspekte haben beide Gruppen gleich problematische Ausgangsbedingungen. Nur in gesetzlicher Betreuung sind die „sehr intensiven Nutzer“ signifikant häufiger.

    Die letzte Maßnahme in der Eingliederungshilfe dauerte bei der Klientel, die sich durch eine „sehr intensive“ Inanspruchnahme auszeichnet, mit durchschnittlich 29 Monaten (also 2,5 Jahren) deutlich länger als in der Vergleichsgruppe (ein halbes Jahr). Während „intensive“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger zuletzt Maßnahmen der stationären Vorsorge und Nachsorge wahrgenom­men haben, befinden sich die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger in teilstationären Übergangsein­richtungen und ambulanten Maßnahmen, in denen vermehrt die längerfristig angelegten Betreuungen erfolgen.

    Unter den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern beträgt der Anteil derer, die die Maßnahme dauerhaft beenden („Beendigung der Maßnahme“) 30 Prozent und ist damit geringer als bei den „intensiven“ Nutzern (70 Prozent). Das heißt, die Maßnahme wird mehrheitlich über den letzten Bewilligungszeitraum hinaus verlängert. Bei diesem Verbleib der „sehr intensiven“ Nutzer in Maßnahmen handelt es sich, wie oben angedeutet, häufig um Aufenthalte in längerfristig angelegten teilstationären und ambulanten Maßnah­men wie z. B. die Betreuung im eigenen Wohnraum.

    Hinsichtlich der zu erreichenden Zielsetzungen zeigen sich in den wiederholten längerfristigen Maßnahmen positive Effekte. Das gilt z. B. für funktionale Beeinträchtigungen nach ICF, die zu Beginn und am Ende von Maßnahmen dokumentiert werden. Das Ausmaß an „funktionalen Beeinträchtigungen insgesamt“ bezogen auf die letzte Maßnahme nimmt im Verlauf in bei­den Gruppen signifikant ab. Dabei verbessern sich die „sehr intensiven Nutzer“ etwas weniger (Tabelle 1).

    Die vereinbarten Zielsetzungen der beiden Gruppen unterscheiden sich kaum. Am häu­figsten werden in beiden Gruppen suchtmittelbezogene Ziele zur Einleitung bzw. Sicherung der Abstinenz vereinbart. Inhaltlich geht es für die „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzer häufiger um gesundheitsbezogene Ziele und um Ziele im Hinblick auf die grundlegende Bewältigung von Alltag und Haushalt. Bei den „intensiven Nutzern“ geht es häufiger um Ziele, die sich auf das eigenständige Wohnen beziehen. Eine Verbesserung in den Zielbereichen Sucht und Alltagsbewältigung ist im Rahmen des letzten Bewilligungszeitraums insgesamt häufiger bei den „sehr intensiven“ Nutzerinnen und Nutzern zu beobachten. Bei „intensiven Nutzern“ finden sich zu einem geringeren Anteil Verbesserungen (und damit häufiger Verschlechterungen) in den Zielbereichen persönliches Ziel, Alltagsbewältigung, Wohnen und Sucht (Tabelle 1).

    C) Prospektive Untersuchung der Wirksamkeit

    Mit der prospektiven Untersuchung wurde für neu in die Eingliederungshilfe eintretende Kli­entinnen und Klienten die Wirk­samkeit einzelner Maßnahmen hinsichtlich der vereinbarten suchtbezo­genen und teilhabebezogenen Zielsetzungen untersucht. Für die Erhebung konnten über einen Zeitraum von zwölf Monaten 255 Klientinnen und Klienten erreicht werden, von de­nen in der Nach- bzw. Abschlusserhebung 247 Klienten durch die Fachkräfte wieder erreicht wurden, wobei nur von einem Teil (N=136) auch der selbst ausgefüllte Klientenfragebogen vorlag.

    Die Mehrheit der Unter­suchungsteilnehmer befand sich in einem stationären Setting, nur ein Zehntel war in einer teil­stationären Maßnahme. Bei über der Hälfte der Maßnahmen handelt es sich um Vorsorge, womit dieser Maßnahmetyp in der prospektiven Untersuchung aufgrund des Einschlusskriteriums des Neueintritts überrepräsentiert ist. Zu Maßnahmebeginn waren die Klienten im Durchschnitt gut 40 Jahre alt und liegen damit nur leicht unter dem Durchschnittsalter der Klienten der Eingliederungshilfe in Hamburg insgesamt (41,7 Jahre). Mehr als vier Fünftel sind Männer. Bei zwei Dritteln geht es vorrangig um Alkoholprobleme, etwa ein Fünftel gab ‚harte‘ illegale Drogen wie Heroin oder Kokain als Hauptproblemsubstanz an.

    Die Evaluation zeigt, dass die Zielsetzungen mehrheitlich erreicht werden. So haben aus Sicht der Fachkräfte mehr als zwei Drittel der Untersuchungsteilnehmer ihre suchtbezo­gene Zielsetzung überwiegend oder sogar vollständig erreicht (Abbildung 2, linke Seite). Bei mehr als zwei Dritteln hat sich der Umgang mit Suchtmitteln verbessert (Abbildung 2, rechte Seite).

    Abbildung 2: Erreichung suchtbezogener Zielsetzung (links) und Umgang mit Suchtmitteln (rechts) wäh¬rend der Maßnahme aus Sicht der Betreuer (N=246)

    In zentralen Lebensbe­reichen wie z. B. Gesundheit, Freizeitaktivitäten oder sozialen Beziehungen kam es während der Maßnahme aus Sicht der Klientinnen und Klienten sowie der Fachkräfte zu deutlichen Verbesserun­gen.

    Gefragt nach dem Grad der Zielerreichung bei den von den Klientinnen und Klienten persönlich formulierten „zwei wichtigsten“ Zielset­zungen, gab die Mehrheit für beide Ziele an, dass eine Erreichung „eher“ oder sogar „völlig“ zutreffe. Insbesondere das erstgenannte Ziel, das sich vorrangig auf die Bewältigung ihrer Suchtproblematik bezieht, wurde von fast zwei Dritteln vollständig erreicht (Abbildung 3, linke Seite). Nur knapp sechs Prozent teilten mit, dass dies nicht zutrifft. Bezogen auf das zweite persönliche Ziel ist es ein Zehntel, das angab, dieses nicht erreicht zu haben (Abbildung 3, rechte Seite). Schaut man auf die Ziele, die nicht erreicht wurden, so sind es unter den wichtigsten hauptsächlich wohnungsbezogene Zielsetzungen (zu 40,0 Prozent) und unter den zweitwichtigsten ebenfalls wohn- (zu 46,7 Prozent) und arbeitsbezogene Ziele (zu 37,5 Prozent).

    Abbildung 3: Erreichung der zwei wichtigsten persönlichen Zielsetzungen während der Maßnahme aus Sicht der Klienten

    In fast allen standardisiert erhobenen Untersuchungsbereichen sind statistisch signifi­kante positive Veränderungen während der Eingliederungshilfemaßnahme eingetreten. Die Leistungsbeeinträchtigungen nach ICF sind zurückgegangen, und die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich im kör­perlichen und psychischen Bereich während der Maßnahme signifikant verbessert. Auch die psychische Symptombelastung hat sich insgesamt verringert. In der prospektiven Untersuchung zeigt sich eine hohe Zufriedenheit bei den Teilnehmern mit den Bereichen Ausstattung und Atmosphäre, Betreuung, Behandlungsverlauf sowie Vorbereitung auf die Zeit nach der Betreuung.

    Ferner erhöhte sich die Selbstwirk­samkeitserwartung unter der Betreuung deutlich, was für eine Stabilisierung der eingetretenen Veränderungen von Bedeutung sein dürfte. Bezogen auf die Ziele der Eingliederungshilfe erweisen sich die hier untersuchten Maßnahmen überwiegend als erfolgreich.

    Mit der prospektiven Untersuchung konnte im Rahmen einer externen Evaluation für die Eingliederungshilfe gezeigt werden, dass die definierten Ziele zu einem großen Anteil vollständig erreicht werden. Das bekräftigt die Stellung der Eingliederungshilfe als ein Versorgungssegment für Menschen mit Ab­hängigkeitsproblemen, die im Rahmen der regulären Gesundheitsversorgung sowie des Rehabilitationswesens nicht erreicht werden bzw. denen die (vorwiegend stationären) Behand­lungsmaßnahmen der Regelversorgung nicht zugänglich sind.

    Kontakt:

    Dr. Peter Degkwitz
    Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS)
    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
    Martinistraße 52
    20246 Hamburg
    Tel. 040/74 10 57 904
    p.degkwitz@uke.de
    www.zis-hamburg.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Peter Degkwitz, Sozialwissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg. Er arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre in epidemiologischen Projekten sowie zur Evaluation von harm reduction-Maßnahmen und Substitutionsbehandlung. Sein besonderes Interesse gilt interdisziplinaren Suchtmodellen.

    Literatur: