Schlagwort: Entwöhnung

  • Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    1 Einleitung

    Menschen mit Suchterkrankungen haben im Anschluss an eine Entzugsbehandlung – bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzungen – grundsätzlich Anspruch auf eine Entwöhnungsbehandlung („Suchtrehabilitation“) als Antragsleistung, wobei sich die Maßnahme möglichst nahtlos an den qualifizierten Entzug anschließen soll. Neben einer nachhaltigen Konsummengenreduktion (i. d. R. mit dem Ziel der Abstinenz) wird bei Entwöhnungsbehandlungen großer Wert auf eine psycho-soziale Stabilisierung der Behandelten und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe gelegt (Deutsche Rentenversicherung, 2017; Verband der Ersatzkassen (vdek), 2001).

    Der gesamte Rehabilitationssektor – und damit auch die Suchtrehabilitation – ist traditionell durch stationäre Maßnahmen geprägt. Allerdings mehrten sich in den vergangenen 20 Jahren Stimmen, die eine konsequentere Umsetzung des gesundheitspolitischen Leitsatzes „ambulant vor stationär“ im Rehabilitationssektor forderten und sich für den Ausbau stationsersetzender Angebote aussprachen (Hibbeler, 2010; Kalinka, 2003; Karoff, 2003; Seitz et al., 2008). Im Zuge dieser Tendenzen wurde auch bei Abhängigkeitserkrankungen die Rolle ambulanter bzw. ganztägig ambulanter Angebote u. a. auf Grundlage gemeinsamer Rahmenvereinbarungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt (Deutsche Rentenversicherung, 2008; Deutsche Rentenversicherung, 2011).

    Zugleich wurde klargestellt, dass ambulante und stationäre Suchtrehabilitation nicht automatisch austauschbare Angebote darstellen. Vielmehr bestimmen medizinische Aspekte (Schwere der Störung, Komorbiditätsprofil), soziale Aspekte (Teilhabe, Unterstützung durch das Umfeld) und infrastrukturelle Aspekte (Erreichbarkeit), ob eine ambulante Entwöhnungsbehandlung im konkreten Einzelfall in Erwägung zu ziehen ist (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Einzelstudien bestätigen, dass ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlung tatsächlich unterschiedliche Zielgruppen erreichen (Preuss et al., 2012), eine systematische Gegenüberstellung der Klientel beider Behandlungsformen hinsichtlich soziodemographischer und behandlungsbezogener Parameter auf einer breiten Datengrundlage fehlt aber bislang.

    2 Methodik

    Dieser Artikel baut auf dem Kurzbericht 2023/I der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) auf (Künzel et al., 2023) und erweitert die dort vorgenommene beschreibende Darstellung um statistische Verfahren, die Aufschluss geben, inwieweit Unterschiede zwischen der Klientel, die eine ambulante, und der Klientel, die eine stationäre Rehabilitation erhalten hat, als „auffällig“ einzustufen sind. Maßnahmen aus dem Bereich der ganztägigen ambulanten Rehabilitation bleiben unberücksichtigt.

    2.1 Datenquelle

    Die analysierten Daten stammen aus der Routineerhebung der DSHS im Datenjahr 2021. Die DSHS basiert auf einer großzahligen Gelegenheitsstichprobe ambulanter und stationärer Suchthilfe-Einrichtungen, die ihre Arbeit entsprechend den Vorgaben des Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe (KDS; aktuelle Version KDS 3.0) (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 2022) mittels zertifizierter Softwareprogramme dokumentieren. Die Daten werden in den Einrichtungen fallbezogen erhoben, anhand bestimmter Gruppierungskriterien gebündelt und als Aggregatdaten dem IFT Institut für Therapieforschung in München zur Verfügung gestellt. Detaillierte Informationen zu den Erhebungsmechanismen und Datenflüssen wurden an anderer Stelle publiziert (Schwarzkopf et al., 2020).

    2.2 Stichprobenselektion

    Die hier präsentierten Auswertungen basieren auf der Gegenüberstellung der beiden Stichproben („Läufe“) „Fälle mit Hauptmaßnahme Stationäre Medizinische Rehabilitation“ (STR) sowie „Fälle mit Hauptmaßnahme Ambulante Medizinische Rehabilitation“ (ARS). Als Hauptmaßnahme gilt dabei diejenige Maßnahme, die die jeweilige Behandlungsepisode dominiert hat. Um bestmögliche Vergleichbarkeit der beiden Stichproben sicherzustellen, wurde jeweils die Bezugsgruppe der „Zugänge und Beender“ herangezogen. Somit gehen in die Auswertung nur Daten von Fällen ein, die im Jahr 2021 begonnen bzw. beendet wurden.

    Bei der Selektion wurde, den Standards der DSHS entsprechend, eine Missingquote von 33 % angesetzt. Demnach sind für jeden Auswertungsparameter nur Daten derjenigen Einrichtungen berücksichtigt, bei denen für den jeweiligen Parameter maximal 33 % der Angaben fehlen. Dies erhöht einerseits die Datenqualität, da Einrichtungen, die für einen entsprechenden Parameter viele Fehlwerte aufweisen, nicht in die Auswertungen eingehen, führt aber andererseits dazu, dass sich die Fallzahl von Parameter zu Parameter unterscheidet. Die Fallzahlen sowie die Anzahl der für die einzelnen Parameter datenliefernden Einrichtungen werden daher zusammen mit den Missingquoten jeweils ausgewiesen.

    2.3 Zielparameter

    Zunächst wurde die Zahl der Einrichtungen, die ARS bzw. STR als Hauptmaßnahme durchgeführt haben, sowie die Zahl der ARS- bzw. STR-Fälle deskriptiv gegenüberstellt.

    Anschließend wurde die in ARS und STR behandelte Klientel hinsichtlich soziodemographischer (Geschlechterverteilung, Altersstruktur, Elternschaft, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit), störungsbezogener (Alter bei Erstkonsum, Konsumhäufigkeit bei Maßnahmenbeginn, dokumentierte Problembereiche) und behandlungsbezogener Parameter (Haltequote, Behandlungserfolg) verglichen. Hierfür wurde für soziodemographische und störungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Zugänge“ zurückgegriffen und für behandlungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Beender“. Auch dies trägt zu unterschiedlichen Fallzahlen bei.

    Zur Berücksichtigung der Altersstruktur wurde neben dem Durchschnittsalter die Verteilung der Fälle über die Kategorien „unter 30 Jahre“, „30 bis 49 Jahre“ und „50 Jahre und älter“ abgebildet. Der binär kodierte Parameter Elternschaft erfasst, ob die Behandelten eigene minderjährige Kinder haben. Für den Parameter Schulabschluss wurden die Ausprägungen „Abitur“ und „Schulabbruch“ dichotomisiert ausgewertet. Konsumhäufigkeit adressiert die Anzahl an Konsumtagen in den 30 Tagen vor Antritt der Maßnahme und berücksichtigt neben dem Durchschnittswert auch die Verteilung der Klientel über die Kategorien „kein Konsum“, „1 bis 6 Konsumstage“, „7 bis 15 Konsumstage“, „16 bis 28 Konsumtage“ und „(fast) täglicher Konsum“. Die dokumentierten Problembereiche benennen Bereiche des täglichen Lebens, die bei Behandlungsbeginn beeinträchtigt waren. Der Parameter Haltequote adressiert den Anteil planmäßig beendeter Behandlungen, wobei die unterschiedlichen Gründe einer plan- bzw. unplanmäßigen Beendigung differenziert erfasst werden. Als Behandlungserfolg gelten in Einklang mit den Standards der DSHS Behandlungen, an deren Ende sich die Suchtproblematik im Vergleich zur Ausgangssituation verbessert hat bzw. unverändert geblieben ist.

    2.4 Auswertungen

    Die Auswertungen konzentrieren sich auf eine Gegenüberstellung von ARS- und STR-Fällen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen, wobei die Klassifikation der zu Grunde liegenden Störungen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) erfolgt (Dilling et al., 2015). Hierbei werden sowohl Fälle mit Abhängigkeitssyndrom als auch Fälle mit missbräuchlichem Konsum der jeweiligen Substanzen berücksichtigt, wobei DSHS-Auswertungen beide Ausprägungen nicht differenzieren, sondern gemeinsam berichten. Die Schwerpunktsetzung auf Alkohol- (ICD-10 F10) und Cannabinoidkonsumstörungen (ICD-10 F12) ist mit ihrer empirischen Relevanz in ARS und STR begründet.

    Aufgrund der aggregierten Daten können in der DSHS nur einfache Gruppenvergleiche vorgenommen werden. Eine modelltechnische Mitberücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren bei der Interpretation der Unterschiede ist nicht möglich. Somit wurden für kontinuierliche Daten Mittelwertsvergleiche anhand von t-Tests durchgeführt. Für Anteilswerte erfolgten Chi²-Tests. Hierbei wurden in die Grundgesamtheit auch Fälle mit der Variablenausprägung „unbekannt“ einbezogen. Aufgrund der hohen Sensitivität der beiden statistischen Tests und der großen Fallzahlen wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,01 festgelegt, um das Risiko einer Überinterpretation kleiner Ausprägungsunterschiede zu minimieren.

    Alle Auswertungen und Datenvisualisierungen wurden mit Hilfe der Statistik-Tools von Microsoft Excel vorgenommen.

    3 Ergebnisse

    3.1 Fallzusammensetzung

    328 Einrichtungen haben Falldaten zu ARS als Hauptmaßnahme und 107 Einrichtungen Falldaten zu STR als Hauptmaßnahme geliefert. ARS wurde überwiegend in ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen (n = 309 Einrichtungen) und STR nahezu ausnahmslos in stationären Suchthilfe-Einrichtungen (n = 104 Einrichtungen) erbracht. Das Fallvolumen der STR war mit 24.508 Zugängen bzw. 26.985 Beendern rund fünfmal so hoch wie das der ARS mit 4.871 Zugängen bzw. 5.469 Beendern.

    Informationen zur Hauptdiagnoseverteilung lagen für 322 Einrichtungen mit ARS-Angebot sowie für alle 107 Einrichtungen mit STR-Angebot vor, wobei in ARS häufiger keine Hauptdiagnose dokumentiert wurde (n = 293 Fälle; 6,1 %) als in STR (n = 387 Fälle; 1,6 %; p-Wert < 0,0001). Alkoholbezogene Störungen dominierten jeweils die Fälle mit Hauptdiagnose (ARS: n = 3.103 Fälle; 69,0 % | STR: n = 15.711 Fälle; 65,2 %; siehe Abbildung 1). In ARS wie auch in STR folgten an zweiter Stelle Behandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen (ARS: n = 406 Fälle; 9,0 % | STR: n = 2.342 Fälle; 9,7 %). An dritter Stelle stand in ARS das Pathologische Spielen (n = 325 Fälle; 7,2 %), das in STR den siebten Rang einnahm (n = 445 Fälle; 1,8 %). Hier bildete Multipler Substanzmissbrauch den dritthäufigsten Behandlungsanlass (n = 2.085 Fälle; 8,6 %), der in ARS an sechster Stelle stand (n = 131 Fälle; 2,9 %). Auf Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von Störungen durch den Konsum von Flüchtigen Lösungsmitteln, Tabak oder Halluzinogenen entfiel jeweils nur ein geringer Anteil. Gleiches gilt für Exzessive Mediennutzung.

    3.2 Klientelcharakteristika

    a) Soziodemographie

    Die aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen behandelte ARS-Klientel unterschied sich hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika systematisch von der STR-Klientel (siehe Tabelle 1). Bei beiden Konsumstörungen war die ARS-Klientel im Mittel älter und es fand sich ein geringerer Anteil an unter 30-Jährigen. Zudem lebte die ARS-Klientel jeweils seltener allein, hatte ein höheres Bildungsniveau (Abiturquote höher, Schulabbruchquote geringer) und war häufiger an den Arbeitsmarkt angebunden (Erwerbstätigkeit häufiger, Arbeitslosigkeit seltener). Für Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fand sich in ARS zudem ein höherer Anteil an Frauen und an Eltern minderjähriger Kinder.

    b) Störungsbezogene Parameter

    Der Erstkonsum von Alkohol bzw. Cannabinoiden erfolgte bei der ARS-Klientel und der STR-Klientel ähnlich früh, jedoch waren die ARS-Fälle bei Störungsbeginn im Mittel älter (siehe Tabelle 1). ARS wurde häufiger abstinent angetreten als STR, zugleich waren die drei Konsumklassen „7 bis 15 Tage“, „16 bis 28 Tage“ und „fast täglich“ schwächer besetzt (höchste Klasse bei cannabinoidbezogenen Störungen nicht signifikant). Für ARS-Fälle mit alkoholbezogenen Störungen ließen sich zudem im Mittel weniger Konsumtage im Monat vor Maßnahmenantritt beobachten.

    c) Dokumentierte Problembereiche

    Grundsätzlich wurde in ARS seltener eine Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche dokumentiert als in STR, wobei die entsprechenden Unterschiede für beide Konsumstörungen meist signifikant waren (siehe Abbildung 2). Lediglich psychische Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 67,9 %; STR = 71,8 %; p = 0,02 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 71,0 %; STR = 79,0%; p = 0,09) und familiäre Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 54,7 %; STR = 51,8 %; p = 0,05 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 53,4 %; STR = 62,9 %; p = 0,03) wurden in ARS und STR jeweils ähnlich häufig erfasst.

    3.3 Behandlungsergebnisse

    Grundsätzlich endeten Entwöhnungsbehandlungen überwiegend planmäßig, wobei die Haltequote bei ARS und STR jeweils ähnlich war (siehe Abbildung 3). In wenigen Fällen wurde nicht dokumentiert, ob die Maßnahme planmäßig oder unplanmäßig endete, ohne dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen ARS und STR bestanden (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,8 %, STR = 0,2 %; p = 0,16 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 2,3 %, STR = 0,3 %; p = 0,68).

    Betrachtet man die Anlässe einer planmäßigen Beendigung, so kam es in ARS jeweils häufiger als in STR zur Beendigung nach Behandlungsplan (alkoholbezogene Störungen 80,2 % vs. 73,8 %; p = 0,0003 | cannabinoidbezogene Störungen 80,1 % vs. 57,5 %; p < 0,0001) und seltener zu planmäßigen Wechseln in andere Einrichtungen (alkoholbezogene Störungen 5,1 % vs. 12,6 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 5,8 % vs. 17,9 %; p < 0,0001). Bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fanden sich in ARS zudem häufiger vorzeitige Beendigungen mit ärztlichem / therapeutischem Einverständnis (8,8 % vs. 7,3 %; p = 0,008) und bei cannabinoidbezogenen Störungen seltener Beendigungen auf ärztliche / therapeutische Veranlassung (7,6 % vs. 15,4 %; p = 0,0003).

    In Bezug auf eine unplanmäßige Beendigung waren disziplinarische Beendigungen in ARS seltener als in STR (alkoholbezogene Störungen 10,7 % vs. 17,5 %; p = 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 9,8 % vs. 27,9 %; p = 0,003). Zudem kam es bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen in ARS häufiger zu außerplanmäßigen Einrichtungswechseln (17,1 % vs. 2,7 %; p < 0,0001) und bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen gab es in ARS mehr Todesfälle (2,7 % vs. 0,1 %; p < 0,0001).

    Im Zuge der Entwöhnungsbehandlung wurde bei beiden Konsumstörungen in ARS und STR ähnlich häufig eine Verbesserung der Ausgangssituation erreicht (siehe Abbildung 4). Bei alkoholbezogenen Störungen bestand auch hinsichtlich des Prozentsatzes, der stabil geblieben ist, kein Unterschied zwischen ARS und STR. Bei cannabinoidbezogenen Störungen wurde in ARS indes seltener eine Stabilisierung erreicht als in STR (13,3 % vs. 21,9 %; p = 0,005). Die Ausgangsproblematik verschlechterte sich in ARS jeweils häufiger als in STR, allerdings auf niedrigem Niveau (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,6%; STR = 0,6 %, p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 5,5%; STR =1,0 %, p < 0,0001).


    Zugleich war der Anteil an Behandelten, die die Konsumenge von Alkohol bzw. Cannabinoiden im Zuge der Entwöhnungsbehandlung verringert haben, in ARS niedriger als in STR (alkoholbezogene Störungen: 38,3 % vs. 72,5 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: 35,2 % vs. 63,4 %; p < 0,0001). Allerdings war am Ende der Maßnahme nicht immer dokumentiert, ob sich die anfängliche Suchtproblematik verändert hat, wobei dies bei der Klientel mit cannabinoidbezogenen Störungen in ARS seltener vorkam als in STR (5,0 % vs. 9,9 %; p = 0,002).

    4 Einordnendes Fazit

    Dieser Artikel vergleicht erstmals anhand von aktuellen Daten der DSHS die Fallzusammensetzung und das Ergebnis bei ambulanten und stationären Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen. Hierbei zeigt sich, dass stationäre Suchtrehabilitation deutlich weiter verbreitet ist als ambulante Maßnahmen, wobei in beiden Settings jeweils eine spezifische Klientel behandelt wird. Einschränkend sei darauf verwiesen, dass die Gegenüberstellung Fälle mit alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen – die Hauptanlässe für Suchtrehabilitation – adressierte. Eine Verallgemeinerung auf andere stoffgebundene und stoffungebundene Suchterkrankungen ist nicht unmittelbar möglich.

    Grundsätzlich waren soziodemographische Unterschiede zwischen der ARS-Klientel und der STR-Klientel ausgehend von den Anforderungskriterien, für wen eine ambulante Maßnahme geeignet ist, zu erwarten: Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ fordert unter anderem, dass im Falle einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung ein stabilisierendes / unterstützendes soziales Umfeld sowie ausreichende berufliche Integration gewährleistet sein sollten (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Dass den DSHS-Daten zu Folge die ARS-Klientel seltener allein lebt und häufiger erwerbstätig sowie seltener arbeitslos ist als die STR-Klientel, spiegelt eine adäquate Umsetzung dieser Vorgabe.

    Darüber hinaus hat die ARS-Klientel ein höheres Bildungsniveau (d. h. Abitur häufiger, Schulabbruch seltener) als die STR-Klientel. Dies deckt sich mit Beobachtungen in einer kleinen monozentrischen Studie unter Alkoholabhängigen (Schmidt et al., 2009). Hier steht zu vermuten, dass das höhere Bildungsniveau sich förderlich auf die Therapieadhärenz auswirkt, die wiederum eine Grundanforderung an die ambulante Durchführbarkeit einer Suchtrehabilitation darstellt (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Zudem legt episodische Evidenz nahe, dass ein höherer Bildungsgrad – insbesondere bei Frauen – positiv mit dem Verbleib in der Suchtbehandlung assoziiert ist (Courtney et al., 2017; Pinto et al., 2011; Vigna-Taglianti et al., 2016).

    Des Weiteren finden sich in ARS häufiger Eltern minderjähriger Kinder als in STR. In einem ambulanten Setting lassen sich annahmegemäß Fürsorge- und Aufsichtspflichten leichter realisieren als in einem stationären Setting, weswegen Eltern gewisse Präferenzen für ambulante Angebote haben könnten. Dies legt zumindest eine Studie nahe, die den Mangel an auf Eltern zugeschnitten Therapieangeboten als eine von mehreren Hürden für die Inanspruchnahme stationärer Entwöhnungsbehandlungen unter Methamphetaminabhängigen identifizierte (Hoffmann et al., 2018). Eine Übertragbarkeit auf andere Suchterkrankungen erscheint hier legitim.

    Darüber hinaus spricht das klinische Bild der STR-Klientel für eine komplexere Problematik. Die STR-Fälle haben häufiger Probleme in verschiedenen Lebensbereichen und konsumieren Alkohol bzw. Cannabinoide im Monat vor Behandlungsbeginn intensiver. Dies korrespondiert mit den Klientelcharakteristika einer früheren Studie, die Risikoprofile für den frühzeitigen Abbruch einer ambulanten bzw. stationären Entwöhnungsbehandlung unter Personen mit Alkoholkonsumstörungen analysierte (Preuss et al., 2012). Hier fand sich eine höhere Prävalenz psychischer und körperlicher Begleiterkrankungen und eine kürzere Abstinenzperiode unter den stationär Behandelten. Beide Befunde reflektieren die Vorgaben der Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die bei Personen mit intensivem Suchtverlauf und schwerwiegenden psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen eine stationäre Rehabilitation empfehlen (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Trotz dieser unterschiedlichen Fallcharakteristika wird in ARS und STR ähnlich häufig ein positives Behandlungsergebnis (Reduktion oder Stabilisierung) erzielt. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich in ARS behandelte Personen mit cannabinoidbezogenen Störungen zwar signifikant seltener stabilisieren, sich aber zugleich (nicht-signifikant) häufiger verbessern. Dies spricht für eine tendenzielle Verschiebung aus der Kategorie „Stabilisierung“ in die Kategorie „Verbesserung“. Zudem ist eine Verringerung der initialen Suchtproblematik in ARS und STR ähnlich wahrscheinlich. Dies lässt vermuten, dass Personen mit komplexerem Störungsbild von STR zumindest kurzfristig stärker profitieren als von ARS. Zugleich kommt es in ARS häufiger als in STR zu einer Verschlechterung der Suchtproblematik und die Konsummenge wird seltener verringert – was sicher auch mit der ausgangs niedrigeren Konsumintensität zusammenhängt. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür dürfte aber insbesondere die einfachere Verfügbarkeit der Substanzen kombiniert mit weniger engmaschigen Kontrollmöglichkeiten im ambulanten Setting sein.

    Da die Daten die Situation unmittelbar zum Behandlungsende abbilden, besteht keine Rückschlussmöglichkeit, ob sich die für STR beobachtete deutlich stärkere Konsummengenreduktion nachhaltig verstetigt. Es ist anzunehmen, dass bei stationären Entwöhnungsbehandlungen ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht, sobald die Betroffenen in ihrer regulären Lebenswelt wieder erleichterten „Substanzzugriff“ haben. So geht der Katamnesebericht des Fachverbandes Sucht für das Datenjahr 2018 davon aus, dass die Hälfte der Personen, die eine ambulante Entwöhnungsbehandlung durchlaufen haben – davon 79,2 % aufgrund von Alkohol- und 6,4 % aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen – ein Jahr nach deren Abschluss gemäß DGSS 4-Standard (also ggf. nach Rückfall) abstinent war (Becker et al., 2021). Im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung galt dies im Datenjahr 2020 aber nur für zwei Fünftel der Personen, die aufgrund von Alkoholkonsumstörungen behandelt worden waren (Bachmeier et al., 2023), bzw. für ein Fünftel der Personen, die aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen behandelt worden waren (Kemmann et al., 2023). Dies unterstreicht implizit die Bedeutung, die einer adäquaten Rehabilitations-Nachsorge (Deutsche Rentenversicherung, 2015) insbesondere nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung zukommt.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ARS und STR unterschiedliche Personengruppen erreichen und nicht per se individuell austauschbare Behandlungsangebote darstellen. Da es die Aggregatdaten der DSHS nicht erlauben, soziodemographische und störungsbezogene Unterschiede zwischen ARS-Klientel und STR-Klientel statistisch zu berücksichtigen, ist ein Vergleich der „Effektivität“ von ARS und STR grundsätzlich nicht angebracht. Vor dem Hintergrund der komplexeren Problematik der STR-Fälle ist der fehlende Unterschied zwischen beiden Behandlungsansätzen hinsichtlich Haltequote und Anteil an Fällen mit verbesserter Suchtproblematik allerdings positiv zu werten. Anscheinend gelingt es ARS und STR gleichermaßen gut, ihre spezifische Klientel bedarfsgerecht durch die Entwöhnung zu begleiten.

    5 Abkürzungsverzeichnis
    • ARS                Ambulante Medizinische Rehabilitation
    • DSHS             Deutsche Suchthilfestatistik
    • ICD                 International Classification of Diseases
    • IFT                  Institut für Therapieforschung
    • KDS                Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe
    • STR                Stationäre Medizinische Rehabilitation
    6 Literatur
    • Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Daniel, H., Dyba, J., Funke, W., Kemmann, D., Klein, T., Medenwaldt, J., Premper, V., Reger, F., & Wagner, A. (2023). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS+-Katamnese des Entlassjahrgangs 2020 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2023(5) 21-36.
    • Becker, A., Bick-Dresen, S., Schneider, B., Bachmeier, R., Bingel-Schmitz, D., Fölsing, B., Funke, W., Klein, T., Kramer, D., Löhnert, B., Steffen, D., Seydlitz, U., & Granowski, M. (2021). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation–FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2018 von Ambulanzen für Alkohol-und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2021(3) 38-47.
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    Förderhinweis

    Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf(at)ift.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Die Autorinnen repräsentieren die Forschungsgruppe „Therapie und Versorgung“ am IFT Institut und Therapieforschung. Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, bildet einen zentralen Grundpfeiler dieser Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Forschungsgruppe Therapie und Versorgung schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS.

    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl.-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Monika Murawski, MPH, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Carlotta Riemerschmid, MSc. Psychologie, IFT, Doktorandin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Jutta Künzel, Dipl.-Psych., IFT, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsgruppe Therapie- und Versorgung
  • Substitution und medizinische Reha

    Substitution und medizinische Reha

    Thomas Hempel

    Die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger ist eine hochwirksame, etablierte und gut evaluierte medikamentöse Standardbehandlung in der Suchtmedizin. Besonders im Zusammenspiel mit einer suffizienten psychosozialen Betreuung (PSB) stellt sie eine wichtige, auf allen Ebenen der ICF wirksame Behandlungsmethode für opiatabhängige Menschen dar. Diese multiprofessionelle Behandlung sollte, wenn möglich, in eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) münden. Das Setting der medizinischen Rehabilitation bietet optimale Kontextfaktoren für die Behandlung komplexer Abhängigkeitserkrankungen und der häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen, psychosomatischen und somatischen Erkrankungen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass rehabilitative Behandlungen unter Substitution grundsätzlich möglich sind! Die Substitutionsbehandlungen in der Reha sollten auf die individuellen Bedarfe und auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Rehabilitand:innen ausgerichtet sein. Ein Zwang zur Abdosierung sollte nicht mehr gefordert werden.

    Ausgangslage

    Diese Erkenntnisse schlagen sich aktuell in der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger nieder. Die Entwicklung dieser Leitlinie stellt einen wichtigen Schritt dahingehend dar, dass die substitutionsgestützte Behandlung zunehmend als gängige und normale Behandlungsmethode wahrgenommen wird. Die Bewertung der Wirksamkeit der Substitutionsbehandlung wurde in den letzten Jahrzehnten oft durch ideologisch geprägte Sichtweisen bestimmt. Dies ist auch heute noch häufig der Fall. Die vertretenen Positionen liegen weit auseinander, dazu gehören zum Beispiel: „Ich bin doch nicht der Dealer meiner Patient:innen“, „Nur die abstinente Lebensführung führt zur Linderung der Sucht“, „Reha ist nur unter abstinenten Bedingungen erfolgreich“, „Abdosierung gleich Tod des Substituierten“, „Substitutionsbehandlung ist der Goldstandard in der Behandlung von Opiatabhängigen“ etc.

    Diese Ideologisierung führte zu Schnittstellenproblemen und Behandlungshemmnissen, die die multiprofessionelle und multifaktorielle Planung und Durchführung einer auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Betroffenen abzielende Behandlung erheblich erschweren.

    Eine schwierige Schnittstelle ist z. B. der Zugang für Substituierten in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Die Schwierigkeiten liegen unter anderem darin begründet, dass ein Großteil der niedergelassenen substituierenden Ärzt:innen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker skeptisch gegenübersteht. Sie gehen davon aus, dass es nur wenige Fachkliniken gibt, die Substituierte behandeln, und dass in der Rehabilitation zwangsläufig eine Abdosierung der Substitutionsmedikation erfolgt, die dann mit einer erheblichen Gefährdung ihrer Patient:innen einhergehen würde. Diese Annahmen finden sich auch bei vielen Zuweisenden, insbesondere aus dem niedrigschwelligen und akzeptierenden Bereich.

    Aber auch, wenn eine Reha angestrebt und beantragt wird, entstehen häufig Probleme, da die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker nur bedingt bekannt sind. Das Bild der medizinischen Rehabilitation ist häufig noch von der Vorstellung einer „therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt. Die Vorstellung, dass ein wesentliches Behandlungsziel der Rehabilitation die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ist, ist vielen der substituierenden Ärzt:innen und Zuweisenden eher fremd, da Substitutionsbehandlungen primär als Hilfe zum Überleben und unter Harm Reduktion-Aspekten betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund werden häufig medizinische Rehabilitationen für Menschen beantragt, die noch nicht rehabilitationsfähig sind und eigentlich erst einmal z. B. im BTHG-Bereich betreut werden müssten. Es werden medizinische Rehabilitationen für Patient:innen beantragt, die noch nicht über die notwendige Mitwirkungsfähigkeit verfügen und in der Folge an den Anforderungen der Rehabilitationsbehandlung scheitern. Dieses Muster führte dazu, dass sowohl bei den zuständigen Leitungsträgern als auch bei Leistungserbringern der Reha ein negatives Bild der substituierten Rehabilitand:innen tradiert und Substitution während der Reha sehr kritisch gesehen wurde. In Anlage 4 zur „Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen“ von GKV und DRV wurde z. B. formuliert, dass während der Rehabilitation eine Abdosierung zu erfolgen hat.

    bus.-Umfrage: „Substitution in der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen“

    Vor dem Hintergrund der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger, der oben beispielhaft skizierten Problemlagen und der Zunahme der Anfragen bezüglich einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker unter Substitutionsbehandlung sowie mit dem Wissen um die dynamische Entwicklung im Bereich dieses Behandlungsangebotes führte der bus. im September 2021 eine Online-Abfrage unter seinen Mitgliedseinrichtungen durch. Gefragt wurde, welche ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe Substitution während der Rehabilitation anbieten und unter welchen Bedingungen dies geschieht (z. B. mit oder ohne Zwang zur Abdosierung, mit welchem Substitutionsmedikament etc.).

    Umfang des Angebots

    Es haben 66 Einrichtungen unterschiedlicher Einrichtungstypen an der Umfrage teilgenommen: Fachkliniken für Alkohol und Medikamente, Drogenfachkliniken, Adaptionen, Tageskliniken und Beratungsstellen. Von insgesamt 3.454 angegebenen Behandlungsplätzen entfallen 301 Plätze auf Substitution. Die Verteilung der Behandlungsplätze ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Jedem Behandlungsplatz für Substitution stehen auf Bundesebene rund 11 Behandlungsplätze für die reguläre Behandlung von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung gegenüber. Die größte Dichte an Behandlungsplätzen für Substitution hat Berlin mit 1:2, gefolgt von Rheinland-Pfalz mit 1:3 Behandlungsplätzen. Schleswig-Holstein bietet 1:6 Behandlungsplätze. Die wenigsten Behandlungsplätze für Substitution (relativ zur Gesamtzahl an Behandlungsplätzen) weisen Baden-Württemberg (1:23) und Nordrhein-Westfalen (1:20) auf.

    Überraschend war die hohe Zahl der teilnehmenden Einrichtungen. Diese hohe Zahl lässt die Interpretation zu, dass das Thema „Substitution und Rehabilitation“ eine hohe Aufmerksamkeit erzeugt und viele Einrichtungen sich diesem Behandlungsangebot zugewandt haben.

    Abdosieren oder Weiterführen der Substitution

    Interessant ist, dass 45,5 Prozent der an der Umfrage beteiligten Einrichtungen medizinische Rehabilitation und Substitution anbieten. 26 dieser 30 Einrichtungen führen keine Abdosierung während der Rehabilitation durch (86,7 Prozent). Lediglich drei Einrichtungen dosieren grundsätzlich während der stationären Behandlung ab.

    Diese Ergebnisse können als überraschend positiv bewertet werden, da es deutlich mehr Behandlungsmöglichkeiten für Substituierte gibt als erwartet. Kritisch anzumerken ist die ungleiche Verteilung der Behandlungsangebote auf die zuständigen DRVen und Bundesländer. Hier zeigt sich ein deutliches Missverhältnis.

    Substitutionsmedikamente

    Ein heterogenes Bild zeigt sich bei den eingesetzten Substitutionsmedikamenten. Dies mag zum einen an den persönlichen Erfahrungen in der Substitutionsbehandlung der zuständigen leitenden Ärzt:innen liegen. Zum anderen zeichnet sich auch eine Individualisierung der medikamentösen Behandlung ab. Dies steht mit Sicherheit auch damit im Zusammenhang, dass in den letzten Jahren weitere Medikamente für die Substitutionsbehandlung zugelassen wurden.

    Ausblick

    Zusammenfassend kann man feststellen, dass die medizinische Rehabilitation die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger als eine wichtige und normale suchtmedizinische Behandlungsmethode wahrnimmt. Es sind in den letzten Jahren mehr Behandlungsangebote entstanden und individualisiert worden.  Diese positive Entwicklung gilt es zu verstetigen. Insbesondere sollte diese Entwicklung bei den Zuweisenden und den substituierenden Ärzt:innen bekannt gemacht werden.

    Kontakt:

    Thomas Hempel
    Therapiehilfe gGmbH
    Geschäftsstelle Hamburg
    Thomas-Hempel(at)therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Thomas Hempel gehört zur Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH und ist Ärztlicher Gesamtleiter des Therapiehilfeverbundes. Er ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Suchthilfe e. V.

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil II

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil II

    Prof. Dr. Andreas Koch

    In Teil I des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ vom 26. August 2020 wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang sowie Fachkräftemangel behandelt. Im nun folgenden Teil II geht es um die Schwerpunkte Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte.

    c) Digitalisierung

    Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass wir uns in einer Informationsgesellschaft befinden, in einer vernetzten Welt, die nahezu grenzenlose Transparenz und Informationsgeschwindigkeit verspricht, mit allen Chancen und Risiken. Seit einigen Jahren kommt daher kaum ein Fachbeitrag, der sich mit Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft beschäftigt, ohne das Stichwort Digitalisierung aus. Es wird immer wieder gefordert, die digitalen Möglichkeiten vor, während und nach der Therapie stärker zu nutzen sowie intensiver auf die veränderten Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzugehen (vgl. Schmidt-Rosengarten 2018: Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?). In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Initiative der Drogenbeauftragten der Länder (AOLG AG Sucht) hinzuweisen. Im Januar 2020 hat sich in Essen eine Expertengruppe aus verschiedenen Bereichen der Suchthilfe zu einem Fachgespräch getroffen. Im Mittelpunkt der Beratungen standen die Bedingungen, die für eine gelingende Bewältigung des digitalen Wandels benötigt werden, und die Frage, welche grundlegenden Aspekte dabei zu beachten sind. Die dabei erarbeiteten „Essener Leitgedanken“ fassen thesenartig zusammen, wie die Suchthilfe den digitalen Wandel für die Weiterentwicklung der Hilfeangebote nutzen kann.

    Bei der großen Vielfalt von Themen und Optionen ist eine Unterscheidung der organisatorischen und der therapeutischen Perspektive hilfreich, um die relevanten Handlungsfelder im Bereich der weiteren Digitalisierung der Suchthilfe zu identifizieren.

    Organisatorische Perspektive

    Aus der Erkenntnis, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, dass die Einrichtungen und Träger ihre Öffentlichkeitsarbeit entsprechend anpassen müssen, um die Fachöffentlichkeit (Leistungsträger, Zuweiser, Kooperationspartner) und die „Kunden“ (suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen) zu erreichen. Dabei haben Printmedien (Flyer, Kurzkonzepte etc.) weiterhin ihre Bedeutung, aber die Präsenz in Onlinemedien wird immer wichtiger. Eine technisch schlecht gemachte Homepage ist eine katastrophale Visitenkarte für eine Einrichtung, aber natürlich müssen die präsentierten Informationen nicht nur optisch ansprechend, sondern auch fachlich fundiert und aktuell sein. Zudem müssen die veränderten „Lesegewohnheiten“ berücksichtigt werden: Die gute Visualisierung von Informationen und die passende sprachliche Gestaltung hat bei Printmedien eine ebenso hohe Bedeutung wie die Nutzung von „bewegten Bildern“ und Interaktionsmöglichkeiten bei Onlinemedien.

    Kontrovers diskutiert wird die Präsenz von Einrichtungen in digitalen Netzwerken. Sie wird einerseits immer wieder gefordert, weil dort möglicherweise maßgebliche Meinungs- und Imagebildung betrieben wird. Andererseits ergibt nur eine kontinuierliche Aktivität in diesen Netzwerken Sinn, und diese erfordert einen enormen personellen Aufwand. Immer größere Bedeutung gewinnen auch Bewertungs- und Informationsportale, in denen jeder frei und mehr oder weniger qualifiziert seine Einschätzung abgeben kann. Auch die Beobachtung dieser Portale ist aufwändig. Eine interessante Option ist es, durch „Public Reporting“ von Qualitätsdaten auf eigenen oder offiziell dafür eingerichteten Webseiten selbst für Transparenz und idealerweise ein positives Image zu sorgen.

    Die Digitalisierung hat natürlich auch längst Einzug in den Arbeitsalltag der Suchtreha-Einrichtungen gehalten. Die internen Arbeitsabläufe werden verstärkt von den vorhandenen Dokumentationssystemen bestimmt, und auch in der externen Kooperation findet eine zunehmende Automatisierung statt, bspw. durch die digitale Übermittlung von Laborbefunden oder den elektronischen Datenaustausch mit den Leistungsträgern. Diese Entwicklung ist ohne Frage sinnvoll und führt nach der häufig sehr anstrengenden Einführungsphase für eine neue Software zu vielen Erleichterungen in der täglichen Arbeit. Aber es sind einige Risiken zu bedenken: Zum einen ist es kaum noch leistbar, alle Anforderungen des (sicherlich notwendigen) Datenschutzes zu erfüllen, ohne dabei die Arbeitsabläufe immer komplizierter zu machen. Zum anderen verändert sich auch die Kommunikationskultur in den Einrichtungen. Wo vorher eine ärztliche Verordnung persönlich einer Pflegekraft mitgeteilt wurde, erfolgt nun lediglich ein kurzer Eintrag in die digitale Patientenakte. Wo vorher in der Fallkonferenz der therapeutische Prozess eines Patienten ausführlich diskutiert wurde, werden nun in der Teamsitzung die erreichten Therapieziele unmittelbar aus dem  Dokumentationssystem heraus mit dem Beamer an die Wand projiziert.  Auch wenn diese Beispiele etwas plakativ formuliert sind, so bleibt doch festzuhalten, dass diese Veränderung der Kommunikationskultur aktiv gestaltet werden muss, um noch ausreichend Raum für den notwendigen persönlichen Austausch zu geben.

    Therapeutische Perspektive

    Insbesondere bei den tendenziell jüngeren Patientinnen und Patienten in der Drogentherapie hat sich das Sozial- und Kommunikationsverhalten in den letzten Jahren deutlich verändert. Die Beschreibung einer erfahrenen therapeutischen Leiterin fasst die Problematik etwas vereinfachend, aber sicherlich sehr treffend zusammen: „Früher hat man sich zu den Patienten in die Raucherecke gestellt und wusste sofort, wie die Stimmung in der Einrichtung ist. Heute sitzen alle in ihren Zimmern und kommunizieren mit Mitpatienten und Externen über soziale Netzwerke. Wir im Team bekommen Schwierigkeiten und Krisen gar nicht oder zu spät mit!“ Diese Entwicklung stellt die therapeutischen Teams vor allen in den stationären Einrichtungen vor große Herausforderungen. Sie müssen zugleich die (sichtbare) soziale und die (verborgene) digitale Erlebenswelt der Patientinnen und Patienten im Blick behalten. Daher werden auch die Hausregeln zur Mediennutzung immer wieder diskutiert und angepasst. Generelle oder zeitweise Verbote von Geräten sind dann schwierig, wenn sie nicht bzw. nicht mit vertretbarem Aufwand kontrolliert werden können. Sinnvoll und notwendig ist vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Patientinnen und Patienten in den Bereichen Mediennutzung und digitale Kommunikation. Diese Auseinandersetzung bietet wiederum häufig interessante therapeutische Ansatzpunkte.

    Ein weiterer bedenkenswerter Aspekt bezieht sich auf die berufliche Orientierung, die im Rahmen der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung eine große Rolle spielt. Die entsprechenden Angebote, die die Einrichtungen in den Bereichen Arbeits- und Ergotherapie vorhalten, orientieren sich häufig noch am „klassischen“ Berufsbild Handwerk (u. a. Schreinerei, Metallwerkstatt, Garten und Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Küche) sowie an einfachen kaufmännischen und administrativen Tätigkeiten (u. a. Patientenbüro oder Kiosk). Diese Bereiche haben bei entsprechenden beruflichen Erfahrungen und Zielsetzungen der Rehabilitanden sowie für die arbeitsbezogene Diagnostik, die Entwicklung von grundlegenden Kompetenzen und die Erprobung der allgemeinen Belastungsfähigkeit weiterhin große Bedeutung. Gleichwohl muss in das konzeptionelle Leistungsspektrum aber auch die immer wichtiger werdende Nutzung digitaler Medien in vielen Berufen sowie die Entwicklung neuer Berufsbilder integriert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die regionale Vernetzung mit Betrieben, die entsprechende Praktikumsplätze bereitstellen können. Ein wichtiges Element ist auch das Bewerbungstraining, das in nahezu allen Einrichtungen mit Kompetenzvermittlung in den Bereichen Onlinerecherche und Erstellung digitaler Bewerbungsmappen etabliert ist. Allerdings müssen den Einrichtungen auch die notwendigen (finanziellen) Ressourcen zur Verfügung stehen, um die konzeptionell entwickelte „Arbeitstherapie 4.0“ realisieren zu können.

    Unter dem Begriff „E-Mental-Health“ wird derzeit intensiv diskutiert, welche Rolle die Digitalisierung bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielen kann und soll. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat zu diesem Thema eine Task Force eingesetzt und beteiligt sich an entsprechenden Forschungsvorhaben. Für verschiedene Krankheitsbilder liegen schon erste Erfahrungen aus Pilotprojekten vor. Die Ergebnisse zeigen, dass digitale Medien und Onlineangebote eine wertvolle Unterstützung bei der Behandlung darstellen, aber offensichtlich die etablierten und im direkten persönlichen Kontakt eingesetzten psychotherapeutischen Methoden nicht ersetzen können. Insofern ist diese Entwicklung nicht bedrohlich für die vorhandenen Therapiekonzepte in der Suchtrehabilitation. Aber bspw. die Entwicklung von Apps für die Vorbereitung der Therapie (Information und Bindung), die Begleitung bei der Behandlung (Organisation in der Einrichtung) und die Sicherung des Behandlungserfolges (Online-Nachsorge) ist sicherlich eine sinnvolle Ergänzung des Leistungsspektrums der Einrichtungen.

    d) Therapie und Konzepte

    Für die Träger und Einrichtungen in der Suchthilfe war es schon immer notwendig, gesellschaftliche und politische Entwicklungen sowie Veränderungen bei Zielgruppen und ihren Konsummustern genau zu beobachten, um mit den eigenen Hilfeangeboten auf eine veränderte Bedarfslage reagieren zu können. In der Suchtreha bedeutet das eine regelmäßige Aktualisierung des Therapiekonzeptes, das nach bestimmten Vorgaben der Leistungsträger zu strukturieren und mit dem „Federführer“ abzustimmen ist. Jeder Reha-Einrichtung wird bei der Deutschen Rentenversicherung ein federführender Leistungsträger (Bundes- oder Regionalträger) als Ansprechpartner für strukturelle, konzeptionelle, personelle und finanzielle Fragen zugeordnet.

    So ist es auch weiterhin therapeutisch sinnvoll, spezielle Behandlungskonzepte für besondere Zielgruppen anzubieten. Beispiele für eine solche Ausrichtung sind die folgenden:

    • In den letzten Jahren hat die Zahl der stationären Einrichtungen, die Substitution im Rahmen der Rehabilitation durchführen, zugenommen (ca. 30). Es handelt sich dabei um ein wichtiges ergänzendes Angebot für Opiatabhängige, bei dem die lange umstrittene Frage der Abdosierung während der Reha inzwischen deutlich individueller geregelt werden kann. Die Deutsche Rentenversicherung hat hier die Rahmenbedingungen flexibilisiert und ist derzeit bemüht, mehr Daten über dieses Behandlungsangebot zu sammeln. Die Suchtverbände haben 2017 eine bundesweite Übersicht zu diesem Angebot erstellt.
    • Die Zahl der stationären Einrichtungen, die Therapie ausschließlich für Frauen anbieten, ist deutlich rückläufig (ca. 10), vor allem, weil diese eher kleinen Einrichtungen kaum wirtschaftlich zu führen sind. Diese Entwicklung ist bedauerlich, weil es sich um eine besondere Möglichkeit der geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Therapie handelt.
    • In vielen stationären Einrichtungen ist die therapiebegleitende Aufnahme von Kindern möglich (ca. 40). Die entsprechenden Betreuungskonzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und werden in unterschiedlicher Höhe über einen Haushaltshilfesatz finanziert. Eine Kombination von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe mit der Suchtrehabilitation der Eltern gelingt nur in seltenen Fällen (vgl. Andreas Koch & Iris Otto 2018: „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation). 2019 wurde von den Suchtverbänden ein Rahmenkonzept für Kinder suchtkranker Eltern in der stationären Entwöhnungsbehandlung veröffentlicht.

    Vor dem Hintergrund der Einführung des MBOR-Konzeptes in der somatischen und psychosomatischen Reha der Deutschen Rentenversicherung (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) wurden auch ergänzende Empfehlungen für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. 2014 wurden die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen) veröffentlicht, die von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitet wurden. In dieser Arbeitsgruppe waren Expertinnen und Experten aus Einrichtungen und Verbänden und der Leistungsträger vertreten. Auch wenn die berufliche Orientierung in der Suchttherapie mit Blick auf die Gründungkonzepte der „Trinkerheilstätten“ Ende des 19. Jahrhunderts schon immer einen hohen Stellenwert hatte, haben die BORA-Empfehlungen eine erhebliche Wirkung auf die Entwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen gehabt: Berufs- und arbeitsbezogene Aspekte sind neben den psycho- und suchttherapeutischen Interventionen mehr in den Fokus gerückt. Die Bedeutung der entsprechenden therapeutischen Angebote im Rahmen des Gesamtkonzeptes ist ebenso gestiegen wie der Stellenwert der beteiligten Berufsgruppen (insbesondere Arbeits- und Ergotherapeuten) in den Teams. Außerdem ist zu erwähnen, dass die Deutsche Rentenversicherung in intensiven Verhandlungen mit der Bundesagentur für Arbeit sowie dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städtetag Empfehlungen zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen erarbeitet hat. Damit soll sowohl der Zugang von Arbeitssuchenden aus der Beratung in die Suchtreha wie auch die Weitervermittlung nach der Reha in die Beratung und Arbeitsförderung erleichtert werden.

    Eine wesentliche Entwicklung in der Sucht- und Drogenszene war in den letzten Jahren der vermehrte Konsum von synthetischen Drogen, die aufgrund der immer wieder veränderten chemischen Struktur bei Suchtmittelkontrollen kaum nachweisbar sind. Das wirft zum einen die Frage nach Nutzen und Bedeutung von bislang üblichen regelmäßigen medizinischen Kontrollen auf, und zum anderen, ob man sich auf das „Wettrüsten“ der ständigen Anpassung von Testungen an Variationen der synthetischen Drogen einlassen will. Einige Einrichtungen sind inzwischen dazu übergegangen, eher auf Verhaltensbeobachtungen zu vertrauen und nur bei Rückfallverdacht zusätzliche (aufwändigere) Testungen vorzunehmen. Letztlich können diese Fragen nicht allgemeingültig beantwortet werden, sondern jede Einrichtung muss sich, passend zu ihrer Zielgruppe und ihrer konzeptionellen Ausrichtung, für einen Weg entscheiden, der dann aber auch konsequent von allen Teammitgliedern umgesetzt werden sollte. Ein weiterer Trend ist die Auflösung bekannter Konsummuster, die sich auf nur eine Substanz beziehen (Heroin, Kokain, Cannabis, Alkohol etc.). Das zunehmend komplexere Konsumverhalten wirft die Frage auf, ob eine konzeptionell getrennte Behandlung von Alkoholabhängigkeit und Drogenabhängigkeit noch sinnvoll ist. Möglicherweise sind andere Unterscheidungskriterien zukünftig wichtiger, bspw. die beruflichen und sozialen Teilhabepotentiale der Rehabilitanden sowie die daraus resultierenden Rehaziele und Therapieplanungen.

    Seit über zehn Jahren wird auch intensiv über eine „neue“ Form der nicht-stoffgebundenen Abhängigkeit (Verhaltenssucht) diskutiert: Die Begriffe Medienabhängigkeit, Computerspielabhängigkeit, Pathologischer Internetgebrauch, Onlineproblematik oder Internetsucht sind Versuche, dieses Phänomen zu fassen, das mit der verstärkten Nutzung digitaler Medien im Alltag aufgetaucht ist. Inzwischen hat sich die teilweise sehr heftige Debatte um die Dimension dieser Problematik deutlich beruhigt und zwei wesentliche Ergebnisse sind festzuhalten:

    • Es handelt sich um ein klinisch relevantes und eigenständig zu diagnostizierendes Problem, über das immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und das daher auch durch die American Psychiatric Association 2013 im DSM-5 als Forschungsdiagnose (Internet Gaming Disorder) aufgenommen wurde. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt dieser Entwicklung mit der Aufnahme der Diagnose Gaming Disorder in die ICD-11.
    • Es wurden in den letzten Jahren offensichtlich ausreichende Hilfeangebote entwickelt, um den entsprechenden Beratungs- und Behandlungsbedarf zu decken. In der Suchtreha haben sich vor allem die Einrichtungen auf die Behandlung spezialisiert, die bereits Erfahrungen mit anderen Verhaltenssüchten (insbesondere Pathologisches Glücksspiel) hatten.

    Wie auch bei anderen Indikationen, nimmt die Bedeutung von wissenschaftlich fundierten Leitlinien bei der Behandlung von Suchterkrankungen zu. Ein wesentlicher Meilenstein war die Veröffentlichung der S3-Leitlinien Tabak und Alkohol im Jahr 2015. Die S3-Leitlinien für Alkohol- und Tabakabhängigkeit entstanden in einem vierjährigen Entwicklungsprozess nach den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Die Federführung lag bei der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Mehr als 50 Fachgesellschaften, Berufsverbände, Gesundheitsorganisationen, Selbsthilfe- und Angehörigenverbände mit über 60 ausgewiesenen Suchtexpertinnen und -experten waren in die Entwicklung eingebunden. 2016 wurde die unter Federführung der DGPPN entwickelte S3-Leitlinie für Methamphetamin-bezogene Störungen veröffentlicht. Die Arbeiten an einer S3-Leitlinie für schädlichen Medikamentenkonsum und Medikamentenabhängigkeit wurden 2017 ebenfalls unter der Federführung der DGPPN begonnen. Seit 2018 arbeitet eine Expertengruppe auf Initiative der DG-Sucht unter Federführung der Suchtforschungsgruppe der Universität Lübeck an der Entwicklung einer S1-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung internetbezogener Störungen.

    Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO soll als konzeptuelle Grundlage die Teilhabeorientierung in der Behandlung fördern und eine gemeinsame Sprache für verschiedene Gesundheitsberufe bereitstellen. Um die praktische Handhabung der ICF zu vereinfachen, empfiehlt die WHO die Entwicklung so genannter Core Sets: Ein Core Set enthält nur diejenigen Kategorien, die zur Beschreibung eines bestimmten Krankheitsbildes relevant sind. Da die für den Bereich Abhängigkeitserkrankungen wichtigen Kategorien nicht nur von der Indikation abhängen, sondern auch vom Behandlungssetting, wurde das Core Set modular aufgebaut mit den Versorgungsbereichen Beratung, Vorsorge, Entzug, Medizinische Reha und Soziale Reha (MCSS = Modulares ICF Core Set Sucht). Eine Forschungsgruppe aus dem Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf legte dazu 2016 einen ersten Vorschlag vor, der im Rahmen eines gemeinsamen Projektes mit Expertinnen und Experten aus der Suchthilfe entwickelt worden war. Ab 2017 lief ein Folgeprojekt, in dessen Rahmen das MCSS im Hinblick auf seine Praxisrelevanz und Validität empirisch überprüft wurde. Dabei wurde es querschnittlich in der Routineversorgung eingesetzt. Das mittlerweile finalisierte MCSS umfasst das Basismodul (25 Kategorien), das für alle Behandlungsbereiche einsetzbar ist, sowie die bereichsspezifischen Module Beratung (8 Kategorien), Vorsorge (7 Kategorien), Qualifizierter Entzug (6 Kategorien), Medizinische Reha (32 Kategorien) und Soziale Reha (10 Kategorien), die zusätzlich angewendet werden können. Es ist davon auszugehen, dass das nun vorliegende konsentierte MCSS zu einer stärkeren expliziten Berücksichtigung der ICF in der Suchtrehabilitation führen wird.

    Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Wo stehen wir?

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Ursprung der Suchtrehabilitation geht zurück auf die Trinkerheilstätten, die Ende des 19. Jahrhunderts von Diakonie und Caritas aufgebaut wurden. Nach den Urteilen des Bundessozialgerichtes von 1968 (Anerkennung von Sucht als Krankheit) und 1978 (Kostenverteilung bei Suchtbehandlung) wurde die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker konzipiert und zu einer qualitativ hochwertigen Leistung mit zahlreichen Behandlungsoptionen weiterentwickelt. Die medizinische Rehabilitation im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen ist heute ein sehr spezifisch ausgestaltetes Segment im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen, bei dem vor allem die Förderung der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt steht.

    Sie ist Teil eines komplexen Systems aus suchtspezifischen Angeboten in den Bereichen Beratung, Akutbehandlung, Selbsthilfe, Eingliederungshilfe und Substitution sowie vielen anderen Hilfeangeboten (bspw. in Justizvollzugsanstalten oder in der niedrigschwelligen Drogenhilfe). Eine Reha-Maßnahme (Entwöhnungsbehandlung) wird dabei i.d.R. im Rahmen eines Klärungs- und Motivationsprozesses in einer Suchtberatungsstelle vorbereitet und schließt sich idealerweise nahtlos an eine entsprechende Akutbehandlung (Entgiftung) an. Viele suchtkranke Menschen werden aber auch in anderen, nicht suchtspezifischen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens betreut und behandelt, bspw. in Arztpraxen oder Allgemeinkrankenhäusern. Eine umfassende Analyse der Hilfen und Angebote für Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erstellt.

    Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation ist traditionell geprägt von vielen kleinen Einrichtungen (bis zu 50 Behandlungsplätze). Die Einrichtungen gehören überwiegend zu den freien Wohlfahrtsverbänden oder zu privaten Trägern, mit jeweils etwa der Hälfte der bundesweit verfügbaren Behandlungsplätze. Darüber hinaus gibt es auch einige wenige Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, bspw. Fachkliniken oder Fachabteilungen der Psychiatrien in Baden-Württemberg oder der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen. Vor dem Hintergrund der über 100-jährigen Geschichte der Suchthilfe hat sich ein hoher Organisationsgrad mit mehreren Fachverbänden und Fachgesellschaften entwickelt. Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation lässt sich wie folgt im Überblick darstellen:

    • 180 stationäre Einrichtungen (Fachkliniken, Therapieeinrichtungen oder Abteilungen/Stationen von Krankenhäusern) mit 13.000 Plätzen und 50.000 Behandlungen pro Jahr
    • 100 Adaptionseinrichtungen (intern oder extern) mit 1.300 Plätzen und 4.500 Behandlungen pro Jahr
    • 50 ganztägig-ambulante Einrichtungen (Tagesreha oder teilstationäre Reha) mit 600 Plätzen und 2.500 Behandlungen pro Jahr
    • 600 anerkannte ambulante Einrichtungen (vor allem Beratungsstellen und Fachambulanzen) mit 18.000 Behandlungen (Reha und Nachsorge) pro Jahr (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019)

    Die Hauptdiagnose Alkoholabhängigkeit macht bei rund 65 Prozent der Behandlungsfälle den größten Anteil aus, 30 Prozent der Hauptdiagnosen betrifft die Abhängigkeit von illegalen Drogen, fünf Prozent der Fälle beziehen sich auf andere Indikationen (Pathologisches Spielen, Medikamentenabhängigkeit, Essstörungen, Internetsucht). Das Durchschnittsalter der behandelten Menschen im Bereich Alkohol liegt bei 44 Jahren und im Bereich Drogen bei 30 Jahren. 20 bis 25 Prozent der Behandelten sind Frauen. Aufgrund der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und der geltenden Anspruchsvoraussetzungen ist die Deutsche Rentenversicherung mit ca. 85 Prozent der überwiegende Leistungsträger in der Suchtrehabilitation, die gesetzliche Krankenversicherung finanziert etwa zwölf Prozent der Behandlungen. In einigen Fällen wird die Behandlung auch von Sozialhilfeträgern, Privaten Krankenversicherungen oder Selbstzahlern finanziert.

    In den Einrichtungen wird von interdisziplinären Teams (vertreten sind u. a. Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit, Pflege, Ergotherapie) ein breites Leistungsspektrum vorgehalten: medizinische Versorgung, Psycho- und Suchttherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sport und Bewegung, Kreativtherapie und Freizeitgestaltung, Sozialdienst sowie viele weitere Angebote, die in einem mit den Leistungsträgern abgestimmten Therapiekonzept beschrieben sind. Aufgrund entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen und der eigenen fachlichen Ansprüche von Leistungsträgern und Leistungserbringern wurden für die Suchtrehabilitation hohe Standards in den Bereichen Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung erarbeitet, die weit über die Anforderungen in anderen Bereichen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens hinausgehen.

    Was beschäftigt uns?

    In den folgenden Abschnitten werden einige wichtige aktuelle Trends und Themen dargestellt, die die fachliche, organisatorische und sozialrechtliche Entwicklung in der Suchtrehabilitation derzeit bestimmen und vermutlich auch in der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden. Die Auswahl und Schwerpunktsetzung entspricht der subjektiven Erfahrung des Autors und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

    a) Nachfrage und Zugang
    b) Fachkräftemangel
    c) Digitalisierung
    d) Therapie und Konzepte
    e) Modularisierung
    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    a) Nachfrage und Zugang

    Bis 2013 war eine stetig steigende Nachfrage in der Suchtrehabilitation zu beobachten, was zum Teil demografische Ursachen hatte: Die „Babyboomer“ der starken Geburtsjahrgänge bis Anfang der 1970er Jahre hatten einen zahlenmäßig hohen Behandlungsbedarf (Altersdurchschnitt Alkohol ca. 44 Jahre). Das gesetzlich gedeckelte Budget der Deutschen Rentenversicherung für die gesamte medizinischen Reha (nicht nur für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen) wurde fast komplett ausgeschöpft, und es drohte eine finanziell begründete Limitierung von Reha-Maßnahmen. In der Suchtrehabilitation war aber ab 2014 ein deutlicher Einbruch bei den Anträgen zu beobachten. Trotz umfassender gemeinsamer Analysen von Deutscher Rentenversicherung und Suchtverbänden konnten keine eindeutigen Ursachen identifiziert werden. Die Zugangswege in die Suchtreha verteilen sich grundsätzlich zu 60 Prozent auf die Vermittlung aus Beratungsstellen und zu 20 Prozent auf die (direkte) Verlegung aus psychiatrischen oder internistischen Entzugskliniken. Im Bereich illegale Drogen spielt auch der Zugang direkt aus Justizvollzugsanstalten mit rund zehn Prozent eine Rolle (vgl. Weissinger 2017: Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren). Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Gründe für den Antragsrückgang vorliegen:

    • schwierige Finanzierungssituation in den Suchtberatungsstellen, die vor allem auf die kommunale Grundfinanzierung angewiesen sind,
    • alternative (und vermeintlich „niedrigschwelligere“) Behandlungs- und Betreuungsangebote in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und der ambulanten Substitution für Opiatabhängige,
    • Probleme beim Übergang aus der Haft in die Suchtreha (insbesondere bei Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG „Therapie statt Strafe“).

    Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind einige Einrichtungen in den letzten Jahren geschlossen worden, in manchen Regionen gingen bis zu zehn Prozent der Behandlungskapazitäten verloren. Die Situation vieler Einrichtungen wird zudem durch zu niedrige Vergütungssätze erschwert, die kaum die laufenden Kosten decken und keine Investitionen ermöglichen (vgl. Koch & Wessel 2016: Ein Gespenst geht um in Deutschland …). Seit 2017 steigen die Antragszahlen in der Suchtreha wieder, insbesondere im Bereich illegale Drogen. Allerdings sind auch für diesen positiven Trend keine eindeutigen Ursachen auszumachen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die „Marktentwicklung“ in diesem Bereich kaum zu prognostizieren ist und damit die wirtschaftlichen Planungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern schwierig sind.

    Im Zusammenhang mit der Analyse des Antragsrückgangs und der Zugangswege in die Suchtrehabilitation sind einige spezifische Aspekte und Entwicklungen zu erwähnen, die Auswirkungen auf die „Schnittstellen“ zwischen den unterschiedlichen Hilfebereichen und Leistungssegmenten haben:

    • Auf der Grundlage gemeinsamer Beratungen von Leistungsträgern und Suchtverbänden wurde 2017 das Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug / Suchtrehabilitation verabschiedet. Die zwischen Deutscher Rentenversicherung, Gesetzlicher Krankenversicherung und Deutscher Krankenhausgesellschaft abgestimmten Handlungsempfehlungen sollen den Zugang nach qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker verbessern.
    • Im Auftrag der beiden Fachverbände Caritas Suchthilfe (CaSu) und Gesamtverband für Suchthilfe (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland) wurde im Oktober 2018 die von Prof. Dr. Rita Hansjürgens (Alice-Salomon-Hochschule Berlin) erarbeitete Expertise Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“ veröffentlicht. Sie umfasst eine differenzierte Situationsbeschreibung und formuliert Forderungen für die zukünftige Gestaltung dieses zentralen Bereiches im Suchthilfesystem. Vor dem Hintergrund der sich weiter verschlechternden Finanzierungssituation vieler Suchtberatungsstellen wurde 2019 der „Notruf Suchtberatung“ von zahlreichen Verbänden veröffentlicht, und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stellte entsprechende Forderungen zur Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Arbeit von Suchtberatungsstellen auf.
    • Seit 2013 läuft die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP-System). Es handelt sich um ein analog zu den DRG entwickeltes Entgeltsystem, das in den psychiatrischen Krankenhäusern seit 2018 verpflichtend umzusetzen ist. Die Einordnung in die für Suchtkranke vorgesehenen PEPP-Codierungen erfolgt nach dem ökonomischen Aufwand der Behandlung. Für die Qualität sorgt der verpflichtende Nachweis von Personal-Anhaltszahlen, der im Rahmen des ergänzenden Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) im Jahr 2016 festgelegt wurde. Es bleibt noch abzuwarten, welche Auswirkungen die Umsetzung auf die Behandlung von Suchtkranken in der Psychiatrie sowie das Zusammenspiel von Entgiftung und Entwöhnung haben wird.
    • Zwei veränderte Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) haben möglicherweise positiven Einfluss auf die Behandlung von Suchtkranken in der ambulanten Psychotherapie bzw. die Zusammenarbeit dieses Bereiches mit anderen Leistungsangeboten für Suchtkranke. Durch die Änderung der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2011 wird die ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen erleichtert, da Patientinnen und Patienten nicht mehr zwingend abstinent sein müssen, um eine Therapie zu beginnen. Mit der Änderung der Rehabilitations-Richtlinie im Jahr 2017 wurde das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) umgesetzt, so dass nun auch Psychotherapeuten zur Verordnung bestimmter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation befugt sind. Damit ist auch eine Weitervermittlung von suchtkranken Patientinnen und Patienten in die Suchtrehabilitation möglich.

    b) Fachkräftemangel

    Der Leiter einer Fachklinik machte im Pausengespräch während einer Verbandstagung folgende Bemerkung: „Wir werden demnächst irgendwo in Deutschland eine Klinikschließung erleben, nicht weil die Belegung oder die Finanzierung so schlecht ist, sondern weil nicht mehr genug qualifiziertes Personal zu finden ist!“ Damit wurde eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte  auf den Punkt gebracht. Wie in fast allen Branchen macht sich in Deutschland auch im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft der Fachkräftemangel immer deutlicher bemerkbar. Für den Bereich der Suchtrehabilitation betrifft das vor allem ärztliches und pflegerisches, mittlerweile aber auch sozialpädagogisches und psychologisches Personal.

    Die hohen quantitativen und qualitativen Anforderungen der Leistungsträger durch Sollstellenpläne und Formalqualifikationen verschärfen das Problem noch. Hier werden zukünftig neue Lösungen gefunden werden müssen, die einerseits die Qualität der Behandlung sicherstellen, andererseits aber auch der Arbeitsmarktlage Rechnung tragen. Im psychologischen Bereich wird bspw. ein von der Platzzahl abhängiger Anteil an Psychologischen Psychotherapeuten gefordert. Eine deutliche Erleichterung war hier die vor einigen Jahren eingeführte Regelung, dass bei noch nicht vorhandener Approbation auch die Zwischenprüfung oder absolvierte Hälfte der Weiterbildung bei dem entsprechenden Personal im Stellenplan anerkannt wird. Im Bereich Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit darf mittlerweile grundsätzlich nur noch Personal im Stellenplan gezählt werden, das die suchttherapeutische Weiterbildung vollständig abgeschlossen hat. In den von der Deutschen Rentenversicherung anerkannten Curricula der entsprechenden Institute gem. den neuen Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen von 2011 (vgl. DRV Bund 2013: Vereinbarungen im  Suchtbereich, S. 80) ist aber vorgesehen, dass diese Zusatzausbildung berufsbegleitend erfolgt. Es stellt sich also die Frage, wo das in Weiterbildung befindliche Personal beschäftigt werden soll? Es gibt nur geringe Stellenanteile  im Bereich „Sozialdienst“ und die Vergütungssätze in der Suchtrehabilitation lassen keinerlei Spielraum, diese Mitarbeitenden zusätzlich in den Einrichtungen zu beschäftigen.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Personalsituation ist die deutliche Verschiebung des Geschlechterverhältnisses. Sozial- und Gesundheitsberufe werden immer stärker von weiblichen Arbeitskräften dominiert, was grundsätzlich natürlich kein qualitatives oder quantitatives Problem darstellt. Allerdings wird von vielen Einrichtungsleitungen das Fehlen von „männlichen Identifikationsfiguren“ in den therapeutischen Teams beklagt, da rund drei Viertel der Patienten in der Suchtreha Männer sind. Und die praktische Erfahrung zeigt, dass die therapeutische Beziehung ein wesentlicher Wirkfaktor für eine gelingende Behandlung ist. Diese Beziehung lässt sich gleichgeschlechtlich anders gestalten, was bspw. auch für die Therapie in spezifischen Fraueneinrichtungen gilt.

    Es werden in den Einrichtungen aber nicht nur Fachkräfte dringend gesucht, sondern ebenso Führungskräfte, die bereit sind, Verantwortung für Menschen, Konzepte und Gebäude zu übernehmen. Auch wenn das nach „früher war alles besser“ klingt, so lässt sich doch in der Praxis des Personalmanagements beobachten, dass die Nachbesetzung von Leitungsfunktionen in den Einrichtungen schwieriger wird. Bislang konnten häufig Nachfolgeregelungen mit ambitionierten Mitarbeitenden gefunden werden, die zunächst einige Jahre in der  „zweiten Reihe“ Erfahrungen als Bereichsleitung oder stellvertretende Einrichtungsleitung gesammelt hatten. Zunehmend berichten aber Personalverantwortliche in den Trägerorganisationen, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Häufig fällt die Antwort von Nachwuchskräften, denen eine Führungsposition zugetraut und angeboten wird, so oder so ähnlich aus: „Den Stress und die Verantwortung tue ich mir für eine kleine Gehaltserhöhung lieber nicht an!“ Das mag zum einen ein Hinweis darauf sein, dass Führungspositionen in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen wegen der komplexen (fachlichen, personellen, organisatorischen, rechtlichen etc.) Anforderungen und der zunehmenden ökonomischen Zwänge weniger attraktiv sind als die möglicherweise eher sinnstiftende therapeutische Arbeit. Zum anderen könnte eine Ursache für dieses Phänomen in der veränderten Einschätzung der „Generation Y“ (Geburtsjahrgänge etwa 1985 bis 1995) im Hinblick auf eine akzeptable Arbeitsbelastung liegen. Wobei man sicherlich vorsichtig sein muss, denn diese Generationenmodelle sind stark verallgemeinert und können nicht jede individuelle berufliche Entscheidung erklären.

    Es stellt sich also die Frage, wie Unternehmen im Sozial- und Gesundheitsbereich auf diese existentielle Herausforderung reagieren sollen. Eine Trendwende am Arbeitsmarkt ist schon aus demografischen Gründen nicht zu erwarten, und die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften ist wegen der hohen sprachlichen Kompetenzanforderungen in der Psycho- und Suchttherapie eher im Einzelfall eine sinnvolle Lösung. Wenn die Einrichtungsträger in ausreichendem Umfang junge Fach- und Führungskräfte finden wollen, erfordert das neue Wege bei der Personalgewinnung, der Personalentwicklung und der Personalbindung. Dazu gehören u. a. folgende Aspekte:

    • Personalgewinnung – Vermittlung eines positiven Berufsbildes für die Suchthilfe in der Öffentlichkeit und bei potenziellen Bewerbern, bspw. durch regionale Vernetzung (Jobmessen) oder Ausbildungspartnerschaften (Bereitstellung von Praktikumsplätzen, Kooperation bei dualen Studiengängen, Förderung von Weiterbildungen).
    • Personalentwicklung – Unterstützung der Mitarbeitenden bei der professionellen Weiterentwicklung, wenn in kleinen Einrichtung kaum hierarchische Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sind, bspw. durch ergänzende therapeutische Weiterbildungen.
    • Personalbindung – Entwicklung einer Unternehmenskultur, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Arbeitgeber bietet sowie langfristig zufriedenes und (psychisch wie physisch) gesundes Arbeiten ermöglicht.

    Es ist im Zeitalter der extremen Vernetzung und Transparenz durch soziale Netzwerke nicht mehr ausreichend, sich als guter Arbeitgeber in Broschüren oder auf der Internetseite zu präsentieren. Wenn diese Darstellung von der Wahrnehmung der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag abweicht, dann steigt zum einen die Fluktuation, weil es viele offene Stellen bei anderen Unternehmen gibt, und zum anderen verbreitet sich das schlechte Image schnell unter potenziellen Bewerbern. Daher muss der Gestaltung einer positiven Unternehmenskultur verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtige Bereiche sind in diesem Zusammenhang:

    • offene und vertrauensvolle Kommunikation (bspw. fairer Umgang mit Fehlern)
    • ressourcenorientierter und unterstützender Führungsstil (insbesondere Wahrnehmung individueller Stärken und Schwächen, Wünsche und Ziele)
    • transparente Entscheidungsstrukturen und Arbeitsabläufe (zur Vermeidung von Unberechenbarkeit und Unsicherheit)
    • Beteiligung an Gestaltungs- und Abstimmungsprozessen (zur Entwicklung eines gemeinsamen Verantwortungsbewusstseins)
    • individuelle zeitliche und räumliche Arbeitsgestaltung (u. a. flexible Arbeitszeit und mobiles Arbeiten in Abhängigkeit von den gegebenen Anforderungen und Rahmenbedingungen)
    • Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Teamzusammenhalt (u. a. zur Herstellung von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit)

    Dadurch entstehen hohe Anforderungen an die Führungskräfte, und es wird zunehmend wichtiger, diesen auch die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, bspw. durch Fort- und Weiterbildungen, kollegiale Supervision oder externes Coaching.

    • Am 9. September 2020 erscheint Teil II mit den Themen: Digitalisierung, Therapie und Konzepte.
    • Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.
    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    Marcus Breuer

    Die Frage nach der so genannten Haltequote (d. h. nach dem Anteil derjenigen Rehabilitanden, die eine Rehabilitationsbehandlung planmäßig beenden) ist eine, wenn nicht sogar die zentrale Frage in der stationären Drogenrehabilitation. Erstaunlicherweise gibt es kaum empirische Forschung zu diesem Thema. Im Rahmen eines mehrmonatigen Projektes haben die Ordenswerke des Deutschen Ordens versucht, hierzu weitere Erkenntnisse zu sammeln. Der Autor dieses Artikels war von Januar bis April 2017 damit beauftragt, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

    Das Haltequotenprojekt sollte folgende Fragestellungen bearbeiten:

    1. Analyse der Haltequoten in den zehn Drogenfachkliniken (Reha) im Bereich Suchthilfe der Ordenswerke des Deutschen Ordens
    2. Identifikation möglicher Einflussfaktoren auf die jeweilige Haltequote
    3. Möglichst Generierung von Vorschlägen für Maßnahmen zur Verbesserung der Haltequote in ausgewählten Einrichtungen

    Folgende Umsetzungsschritte und Methoden wurden angewandt:

    1. Literaturrecherche
    2. Analyse ausgewählter Qualitätsindikatoren bzw. möglicher Einflussfaktoren auf die Haltequoten in den betrachteten Einrichtungen
    3. Erstellung eines strukturierten Interview-Leitfadens und Durchführung von Interviews mit den einzelnen Klinikleiter/innen sowie Stellvertreter/innen
    4. Vor-Ort-Besuch ausgewählter Einrichtungen
    5. Erstellung eines internen Abschlussberichtes

    Ergebnisse der Literaturrecherche

    Wie bereits erwähnt, existiert derzeit kaum Forschung zum Thema „Haltequoten in der Drogenrehabilitation“.  Die wenigen Studien, die vorliegen, wurden zunächst ausgewertet.

    Patientenmerkmale

    Wenn man sich mit den unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Haltequoten in der Suchttherapie befasst, stellt man zunächst fest, dass Patientenmerkmale einen wesentlichen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben (Abbildung 1).

    Abb. 1

    Der Einfluss der Patientenmerkmale ist als Ausdruck von Patientenselektion zu verstehen, das heißt:

    1. unterschiedliche Settings behandeln unterschiedliche Patientengruppen,
    2. innerhalb eines gegebenen Settings kann man diesen Faktor als Behandler nicht direkt beeinflussen bzw. nur durch eine zukünftig veränderte Selektion im jeweiligen Setting.

    Um die Haltequote durch therapeutisches Vorgehen zu beeinflussen und zu verbessern, interessieren daher andere Einflussfaktoren als die Patientenselektion.

    Patientenzufriedenheit

    Mit irregulären Beendigungen von Drogen-Rehabilitationsbehandlungen beschäftigt sich eine Studie des IFT München (Küfner et al., 1994). Die Autoren finden folgende Gründe für Abbruchgedanken bzw. für den Verbleib in der Einrichtung:

    Gründe für Abbruchgedanken:

    1. Unzufriedenheit mit der Einrichtung
    2. Verzweiflung und Unbehagen
    3. Probleme im Therapieprozess
    4. Mitklient/innen und deren Abbruch

    Gründe für den Verbleib:

    1. Hoffnung und Nachdenken
    2. Bindung an die Einrichtung
    3. Schutzfunktion der Therapie

    Diese Aspekte nannten drogenabhängige Klienten in stationärer Behandlung als Antworten auf die Fragen, welche Gründe sie einerseits zum Infragestellen der Fortsetzung der Behandlung und andererseits zum Verbleib in der Behandlung bewogen haben.

    Therapeutisch ist es also sinnvoll, die Gründe für Abbruchgedanken in den Blick zu nehmen und möglichst zu minimieren sowie die Gründe für den Verbleib in der Rehabilitationsbehandlung möglichst zu betonen und zu stärken.

    In einer weiteren Publikation fassen Küfner et al. (2016) folgende Hinweise zur Reduzierung von Therapieabbrüchen zusammen:

    • Abbruchgedanken sind so häufig, dass dieses Thema präventiv angesprochen werden sollte.
    • Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut/in und Patient/in ist von Bedeutung, aber schwierig zu beeinflussen.
    • Erlebnispädagogische Maßnahmen stärken die Bindung an die Einrichtung.
    • Strenge Regeln und Sanktionen führen zu einem häufigeren Therapieabbruch.

    Wenn man sich nun im Rahmen von Untersuchungen zur Patientenzufriedenheit möglichst vorurteilsfrei mit kritischen Beurteilungen von Rehabilitand/innen auseinandersetzt, ergeben sich als häufigste Nennungen (dichotomisiert nach einer 6-stufigen Skala; mod. n. Küfner, 2008):

    Mit „stimmt überwiegend“ beurteilt:

    • Regeln wurden stur gehandhabt: 72,2%
    • Wurde unfreiwillig zu Sachen gedrängt: 57,4%
    • War für mich nicht die richtige Einrichtung: 40,7%
    • Kann nicht profitieren von Therapie: 35,2%
    • Belastung durch Probleme anderer Patienten: 33,3%

    Mit „eher unzufrieden mit“ beurteilt:

    • Großgruppe 48,1% (andere Aussagen wurden nur zu 14,8% bis 27,8% mit „eher unzufrieden“ beurteilt)

    Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass die Handhabung von Regeln ein wichtiger Faktor für Therapieabbrüche ist. Die therapeutische Einzelarbeit wird im Vergleich zur Gruppenarbeit unterschätzt. Einschränkend ist anzumerken, dass dies den Stand von 2008 darstellt, es gibt keine neueren Daten! Seitdem hat es in den beiden Bereichen „Regeln“ bzw. „Großgruppen“ in den Einrichtungen wesentliche Veränderungen (Verbesserungen) gegeben. Weitere Folgerungen für die Optimierung von Suchttherapien sind (mod. n. Küfner, 2016):

    • Die Thematisierung negativer Folgen des Drogenkonsums ist wichtig, vor allem für psychoedukative Ansätze.
    • Soziale Beziehungen zu Personen ohne Drogenkonsum sind von erheblicher Bedeutung.
    • Die subjektive Belastung durch andere Drogenabhängige (in der Klinik) sollte ernst genommen werden. Dies spricht für eine Verstärkung von Einzeltherapien!
    • Der Abbau von Barrieren in der Vorbereitung auf psychosoziale Interventionen bedarf einer systematischen Verbesserung. Besprochen werden sollten Stigmatisierung, negative Therapieerfahrungen und generelle Vorbehalte gegenüber psychosozialen Therapien wie Misstrauen, die Befürchtung, die eigene Autonomie zu verlieren, Angst vor dem Verlust des eigenen Lebensstils und der bisherigen Freunde.

    Bei einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema lässt sich ein Spannungsfeld zwischen einer sach- bzw. fachgerechten Behandlung einerseits und dem Dienstleistungsaspekt der Leistungserbringung in der Rehabilitation andererseits feststellen.

    Komorbide Erkrankungen (Doppeldiagnosen)

    Ein wesentlicher Aspekt bei der Behandlung Drogenabhängiger ist das Vorkommen von und der therapeutische Umgang mit komorbiden Erkrankungen, d. h. es liegen – neben der Suchterkrankung – eine oder auch mehrere weitere psychische Erkrankungen vor. Aus der Beurteilung des Behandlungsbedarfs wissen wir (mod. n. Küfner, 2016):

    • Etwa 60 bis 70% der Opioidabhängigen und der substituierten Drogenabhängigen weisen eine komorbide Störung auf.
    • Besonders häufig sind Angststörungen und affektive Störungen. Unter den Persönlichkeitsstörungen fällt die Häufigkeit von antisozialen Persönlichkeitsstörungen auf.
    • Ein beträchtlicher Teil der komorbiden Störungen ist zeitlich vor der Suchtstörung entstanden. Dies kann als Hinweis auf die notwendige Behandlung sowohl der Sucht als auch der komorbiden Störung betrachtet werden.
    • Neben den Klassifikationsebenen I und II (Persönlichkeitsstörungen) der ICD-10 müssen die sozialen und psychosozialen Problembereiche mitbetrachtet werden.
    • Dieser Behandlungsbedarf gilt auch für die substitutionsgestützte Therapie
      (s. Ergebnisse der PREMOS Studie, Wittchen et al., 2007).

    Der Aspekt der komorbiden psychischen Erkrankungen und deren Berücksichtigung in der Behandlung spielt im Zusammenhang mit der Frage nach der Haltequote aus mehreren Gründen eine Rolle. Zum einen gibt es Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Personen mit komorbiden psychischen Erkrankungen grundsätzlich eine schlechtere Prognose haben. Zum anderen ist es unmittelbar plausibel, dass sich diese Personen die Bearbeitung aller ihrer Probleme von einer Behandlung erwarten. Die Enttäuschung dieser Erwartung könnte zu einer Häufung von Behandlungsabbrüchen führen. Schließlich gibt es empirische Hinweise darauf, dass diese tendenziell schlechtere Prognose durch einen erhöhten Behandlungsaufwand kompensiert werden kann.

    Im Hinblick auf die Haltequote und eine erfolgreiche Behandlung gibt es noch einige zusätzlich zu berücksichtigende Aspekte, die den Rahmen dieses Artikels hier sprengen würden. Dies sind vor allem:

    • die Häufigkeit von Rückfällen und der Umgang mit Rückfällen seitens der behandelnden Klinik sowie
    • unterschiedliche Klinikstrategien im Umgang mit individuellem Fehlverhalten und Regelverstößen.

    Eigene Beobachtungen und Ergebnisse aus Kliniken des Deutschen Ordens

    Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Haltequotenprojekts standen eigene Zahlenerhebungen bzw. Zahlenzusammenstellungen sowie die Durchführung strukturierter Interviews und deren Auswertung.

    Die nachfolgend dargestellten Zahlen stammen aus zehn Drogenrehabilitationskliniken der Ordenswerke des Deutschen Ordens. Aus Gründen der Diskretion und Vertraulichkeit wurden die Einrichtungen anonymisiert. Betrachtet wurden alle im Zeitraum von 01.01.2014 bis 31.12.2016 in diesen zehn Kliniken behandelten Patienten (n=4.223). Diese Stichprobe wurde einer ausführlichen Datenanalyse unterzogen. Hierzu hatte der Autor Zugang zu sämtlichen Daten, so wie sie in den Rehakliniken mit dem Patientenverwaltungsprogramm „Patfak“ erfasst worden waren. Ein zweiter Weg, Daten zu erheben und auszuwerten, bestand in der Durchführung von strukturierten klinischen Interviews mit jeweils zwei Leitungsvertretern aus den betrachteten Einrichtungen. Hierzu wurde ein eigener mehrseitiger Interview-Leitfaden entwickelt. Die Ergebnisse wurden qualitativ ausgewertet. Dieser zweite Teil beinhaltet daher durchaus auch subjektive Interpretationsanteile.

    Die Abbildungen 2 und 3 zeigen die Ergebnisse der Datenanalyse. Diese Zahlen zur Haltequote und zu den irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu interpretieren! Sie wurden neu errechnet und sind NICHT mit Zahlen und Quoten vergleichbar, wie sie z. B. im Patientenverwaltungsprogramm ausgegeben werden. So wurden hier sämtliche Beendigungen mit der Entlassform „vorzeitig auf ärztliche Veranlassung“ nicht zu den planmäßigen Beendigungen gezählt bzw. nicht als solche bewertet. Grund hierfür ist die sehr unterschiedliche Handhabung dieser Entlassform in den verschiedenen Rehakliniken, die einen Vergleich unmöglich gemacht hätte. Die hier betrachtete „Haltequote-kons“ (für Haltequote, konservativ) beinhaltet ausschließlich die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“.

    Auch die „30-Tage-irreg-Quote“ ist nicht mit einer ähnlichen Variable im Patientenverwaltungsprogramm vergleichbar. Die hier aufgeführte „30-Tage-irreg-Quote“ misst den prozentualen Anteil der irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen des Aufenthaltes im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Entlassungen in einem betrachteten Zeitraum.

    Abb. 2
    Abb. 3

    Erklärung der Variablen in Abbildung 3:
    Der Zusatz „ZR“ meint jeweils „Zeitraum“, d. h. die Quote bezogen auf die einzelnen Halbjahre
    „Haltequote-kons“: beinhaltet nur die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“
    „Spannweite ZR-Haltequote-kons“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum
    „ZR-30-Tage-irreg-Q“: der prozentuale Anteil an irregulären Beendigungen in einem betrachteten Halbjahr gemessen an allen Beendigungen im gleichen Zeitraum
    „Spannweite ZR-30-Tage-irreg-Q“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum

    Die Ergebnisse in Abbildung 2 und 3 zeigen: Die Einrichtungen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die betrachteten Kliniken zwar alle im Bereich der Drogenrehabilitation tätig sind, innerhalb dieses Feldes jedoch z. T. recht unterschiedliche Patientengruppen behandeln, d. h., es wurden teilweise „Äpfel mit Birnen“ verglichen. Deshalb sollte die Interpretation der Zahlen äußerst vorsichtig erfolgen, ebenso ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Patentrezepte für die Verbesserung der Haltequote gibt es (leider) keine. Konkretere Aussagen, die aus diesen Zahlen abgeleitet werden können, lauten:

    1. Die Haltequoten der betrachteten Einrichtungen unterscheiden sich z. T. erheblich.
    2. Dies ist nur teilweise Ausdruck von unterschiedlicher Klientel (Patientenselektion).
    3. Einrichtungen, deren Zahlen im zeitlichen Verlauf stärker schwanken, sind entweder grundsätzlich instabiler (d. h. geringere Schwankungen im zeitlichen Verlauf sind besser) oder aber einzelne Einrichtungen sind/waren zwischenzeitlich von Sondereffekten betroffen (zwei Einrichtungen).
    4. Die Haltequote innerhalb der jeweils ersten 30 Tage einer Rehabilitationsbehandlung ist zentral für die generelle Haltequote einer Einrichtung („Was am Anfang verloren geht, kann man später nicht mehr aufholen“).

    Beim Versuch, sich etwas genauer mit den Effekten hinter diesen Zahlen zu befassen, ergeben sich Hinweise auf wahrscheinliche Einflussfaktoren auf die Haltequote. Auch wenn im Rahmen des Haltequotenprojekts keine Ressourcen für eine aufwändige Pfadanalyse oder eine Faktorenanalyse zur statistischen Quantifizierung der jeweiligen Einflussfaktoren vorhanden waren, so lassen sie sich hier zumindest auflisten wie folgt.

    Mögliche Einflussfaktoren auf die Haltequote

    Etwas zugespitzt könnte man festhalten: „Alles hat einen Einfluss!“. Die Ergebnisse der Datenanalyse und der klinischen Interviews weisen darauf hin, dass folgende Faktoren die Haltequote beeinflussen:

    • 30-Tage-irreg Quote: Irreguläre Verluste in den ersten 30 Tagen der Reha wirken sich negativ auf die Gesamt-Haltequote aus.
    • Anzahl der „vom Setting abgestoßenen“ Rehabilitanden: Diese Gruppengröße dient als indirektes Maß für die Güte der Adhäsion des Settings. Dies betrifft die Aspekte Kundenfreundlichkeit sowie Bindungsgestaltung.
    • Stimmigkeit des Settings (innere Konsistenz): Passen die einzelnen Behandlungselemente gut zueinander?
    • Anzahl der Rückfälle im Setting: Die Anzahl dient als (sehr indirektes) Maß für das „Chaos im Setting“ bzw. die vorhandene Setting-Kontrolle.
    • Qualität des „Umgangs mit Fehlverhaltens“ im Setting: Werden viele Patienten disziplinarisch entlassen und wenn ja, die ‚richtigen‘? Existieren angemessene Strategien, um nicht ‚unnötig‘ Patienten zu entlassen?

    Darüber hinaus spielen noch die Bereiche Patientenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit eine Rolle. Weil deren Einfluss sich jedoch nicht eindeutig in eine bestimmte Richtung auswirkt wie bei den oben genannten Faktoren, werden sie hier als „Ja, aber“-Einflussfaktoren auf die Haltequote bezeichnet.

    Die Patientenzufriedenheit hat natürlich einen Einfluss. Relevant ist v. a. die Patientenzufriedenheit der (späteren) Abbrecher, diese lässt sich allerdings kaum erheben. Wenn Querschnittsbefragungen durchgeführt werden (wie dies der Deutschen Orden regelmäßig tut), muss berücksichtigt werden, dass es zu einer recht zufälligen Stichprobenauswahl kommt und die Ergebnisse einer tagesaktuellen Beeinflussung unterliegen (Stichwort: Re-Test-Reliabilität). In Längsschnittbefragungen wie bei der deQus-Patientenbefragung ergibt sich ein anderes Problem: Es werden zwar gute Items abgefragt, aber es gibt hierbei einen Selektionseffekt, denn es werden nur planmäßige Beender befragt.

    Die Mitarbeiterzufriedenheit hat natürlich ebenfalls einen Einfluss auf die Haltequote. Die Interpretation von Befragungen zur Mitarbeiterzufriedenheit ist jedoch keineswegs linear und einfach. So gibt es z.B. auch Teams, die vollauf mit sich selbst zufrieden und beschäftigt sind, was sich nicht nur positiv auf die Patienten auswirkt.

    Hinweise für die Setting-Gestaltung

    Bei der Setting-Gestaltung geht es wesentlich um Bindung.  Die Maxime könnte sein: „Schaffe kein Setting, in dem du nicht selbst (gern) Patient sein möchtest.“ In der Zusammenschau aller hier betrachteten Faktoren ergeben sich folgende notwendige Grundprinzipien für sinnvolle Setting-Gestaltung (Breuer, 2017):

    • TSB – Teamorientierte stationäre Behandlung (F. Urbaniok)
    • Berücksichtigung der Anreizbedingungen im Setting (Kontingenz)
    • Bindung (K.-H. Brisch)
    • Transparenz und Berechenbarkeit
    • Nach-Erziehung
    • Waage: Akzeptanz vs Veränderung (analog DBT, M. Linehan)
    • Motivational Interviewing (Miller & Rollnick)
    • Gestaffelte Konsequenzen für Fehlverhalten
    • Perspektivübernahme seitens der Therapeuten bei der Detailausgestaltung des Settings → das Setting soll in sich stimmig sein

    Für die Zukunft gilt es, die verschiedenen, hier aufgeführten Faktoren zu den Themen „Haltequote“ sowie „Setting-Gestaltung“ in den Fachkliniken der Drogenrehabilitation möglichst umfassend zu berücksichtigen und zu implementieren.

     Literaturhinweise beim Verfasser

    Kontakt:

    Dipl.-Psych. Marcus Breuer
    Psychologischer Psychotherapeut
    Klinikleitung
    Würmtalklinik Gräfelfing
    Josef-Schöfer-Str. 3
    82166 Gräfelfing
    marcus.breuer@deutscher-orden.de

    Angaben zum Autor:

    Marcus Breuer, Dipl.-Psych. (PP), ist Leiter der Würmtalklinik Gräfelfing und des Adaptionshauses Kieferngarten, München.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Startschuss für das Bundesprogramm „rehapro“

    Verbunden mit einem ersten Förderaufruf wurde am 4. Mai 2018 die Förderrichtlinie für die Modellprojekte „rehapro“ im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Förderung von Modellprojekten zur Stärkung der Rehabilitation wurde im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes beschlossen (§ 11 SGB IX neu). Beide Papiere stehen im Bundesanzeiger zum Download zur Verfügung (www.bundesanzeiger.de, Suchbegriff „rehapro“). Zusätzliche Informationen zum Antragsverfahren finden sich auf der Internetseite http://www.modellvorhaben-rehapro.de.

    Die Modellvorhaben haben als übergeordnete Ziele, neue Ansätze zur Unterstützung von Menschen mit komplexen gesundheitlichen, psychischen und seelischen Unterstützungsbedarfen oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen zu erproben. Des Weiteren soll auch die Zusammenarbeit der Akteure im Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation weiter verbessert werden. Dies betrifft insbesondere die folgenden Themenfelder:

    • Zusammenarbeit der Akteure, z. B. der Leistungsträger untereinander oder mit Leistungserbringern
    • Individualisierte Bedarfsorientierung/Leistungserbringung
    • Frühzeitige Intervention
    • Nachsorge und nachhaltige Themen

    Den Trägern der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Jobcenter) und den Rentenversicherungsträgern stehen hierzu bis 2022 jeweils 500 Millionen Euro zur Verfügung. Die Anträge können bei den örtlichen Jobcentern und den Rentenversicherungsträgern, als so genannten federführenden Bedarfsträgern, gestellt werden. Die Förderdauer der Modellprojekte beträgt nach § 11 Absatz 2 SGB IX bis zu fünf Jahren.

    Das Antragsverfahren ist zweistufig gestaltet und sieht vor, dem eigentlichen Projektantrag eine aussagefähige Projektskizze voranzustellen. Dies ermöglicht sowohl den Antragstellern wie auch den Bedarfsträgern entsprechende Ansätze zu sondieren, ohne gleich in ein finales Antragsverfahren (Projektantrag) einzusteigen. Nachdem die Antragsskizze positiv beschieden wurde, kann innerhalb von zwei Monaten ein Projektantrag eingereicht werden.

    Erste Bewilligungen sind für November 2018 vorgesehen. Es sind weitere Förderstufen geplant. Die zweite Stufe wird voraussichtlich Anfang 2019 erfolgen. Sowohl die Suchtfachverbände wie auch die DHS planen jeweils Anträge einzureichen.

    Quelle: CaSu Infobrief 08/2018, 11.05.2018

  • Humor in der Suchtkrankenhilfe

    Humor in der Suchtkrankenhilfe

    Dr. Kareen Seidler
    Eva Ullmann

    Humor ist amüsant. Lachen ist Vergnügen. Aber Suchterkrankung und Humor? Passt das überhaupt zusammen? Sucht ist ein multifaktorielles Problem, bei dem Gewohnheiten im Verhalten, die Fähigkeit zur Impulskontrolle, sozialisiertes Verhalten, Problemlösungsstrategien, Vererbung und viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Im Laufe einer Suchterkrankung, z. B. während eines langjährigen Alkoholmissbrauchs, geht oftmals der Humor verloren. Kann seine Reaktivierung die Genesung unterstützen? Einiges spricht dafür: Humor entspannt, kann Schmerzen reduzieren und senkt Stresshormone. Er aktiviert Kreativität bei Problemlösungen und ermöglicht die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen. In der Arbeit mit Suchtkranken kann der Fokus auf Humor eine große Kraftquelle sein – sowohl für die professionellen Helfer/innen als auch für die Patient/innen.

    Sozialer und aggressiver Humor

    Der Duden definiert Humor als „Fähigkeit und Bereitschaft, auf bestimmte Dinge heiter und gelassen zu reagieren“. Die relativ neue Disziplin der Humorwissenschaft unterscheidet zwischen sozialem Humor und aggressivem Humor. Sozialer Humor beinhaltet einen Perspektivwechsel, ohne dass jemand abgewertet oder beschämt wird. Man kann sich und andere gut dastehen lassen, respektvoll sein, wertschätzend, und dabei Menschen und Situationen liebevoll karikieren.

    Ein Arzt lernt einen Patienten mit langjährigem Alkoholabusus kennen. Im Erstanamnesegespräch fragt der Arzt den Patienten, wann er zum letzten Mal Sex hatte. „1945“, sagt der Patient. Der Arzt schaut ihn mitleidig an. Darauf der Patient mit einem Blick auf die Uhr: „Aber es ist doch erst 16:30 Uhr. Also noch gar nicht so lange her.“

    Aggressiver Humor geht hingegen häufig mit der Herabsetzung einer Person oder Personengruppe einher, wirkt destruktiv und ist in der Therapie fehl am Platz:

    Was ist der Unterschied zwischen einem Tumor und einer Krankenschwester?
    Ein Tumor kann auch gutartig sein.

    Der Mediziner Paul McGhee (1994) hat ein mehrstufiges Humorprogramm entwickelt, mit dem Menschen ihrem eigenen Humor wieder stärker auf die Spur kommen können. Dieses setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:

    1. Den eigenen Humorstil und persönliche Humorvorlieben entdecken: Wo kann man noch lachen? Wann und wo bekommt man bereits beim Über-die-Schwelle-Treten eine Depression? Ist der eigene Humor verloren gegangen?
      Die weiteren Schritte sollen dann zu mehr Selbstfürsorge und täglichem Humorerleben beitragen:
    2. Verstehen, was eine spielerische Einstellung und Haltung zum Leben sein kann, und selbst eine entwickeln
    3. Selbst Optimismus entwickeln, Humor praktisch einsetzen (Witze, lustige Geschichten erzählen)
    4. Sprachlichen Humor entdecken, fördern, erzeugen (durch Wortspiele)
    5. Humor im Alltag und im eigenen Umfeld finden, die eigene Aufmerksamkeit dafür schulen und humorvolle Betrachtungsweisen erlernen
    6. Über sich selbst lachen, sich selbst nicht so ernst nehmen
      Erst die letzten Stufen der Humorarbeit fordern eine heitere Gelassenheit auch in stressigen Alltagssituationen:
    7. Im Stress Humor finden
    8. Die Schritte 1 bis 7 ins eigene Leben integrieren: Humor als Bewältigungs- und Überwindungsstrategie

    Humor im Umgang mit Suchtpatienten

    Sabine Link hat an der Hochschule Koblenz und der Universität Marburg das Humor-Stufenprogramm von McGhee für die Arbeit in Suchtkliniken angepasst und mit Patient/innen ausprobiert (siehe die Dissertation „Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe“). Insgesamt nahmen 90 Personen aus verschiedenen Einrichtungen der Suchthilfe an der Untersuchung teil (ambulante Nachsorge, medizinische Rehabilitation und qualifizierter Entzug). Sie wurden in zwei Altersklassen eingeteilt. Die Probanden nahmen an einem Humortrainingsprogramm teil. Es fanden Tests zu Beginn der Untersuchung, nach drei Monaten und nach sechs Monaten statt.

    Das Ziel der Dissertation war die Untersuchung und Beantwortung der Frage, ob Humor und heitere Gelassenheit eine angezeigte Interventionsmaßnahme in einem suchttherapeutischen Setting sein können. Nach dem Humortraining zeigten die meisten Probanden eine positive Veränderung in ihrem Sinn für Humor, dies führte u. a. zu einer besseren Stressbewältigung. Außerdem nahm die Heiterkeit der Studienteilnehmer im Durchschnitt zu, während Werte wie Ernsthaftigkeit und schlechte Laune abnahmen. Durch die Humor-Interventionen verbesserte sich auch die allgemeine Befindlichkeit der Patient/innen. Das galt für deren Ausgeglichenheit, Gutgestimmtheit, leistungsbezogene Aktiviertheit, Extravertiertheit/Introvertiertheit und Erregtheit. Die Werte für Ängstlichkeit/Traurigkeit und allgemeine Desaktiviertheit sanken hingegen. Generell empfiehlt die Forscherin deswegen, eine Humor-Sensibilisierung in ambulanten und stationären Suchttherapien zu implementieren und eine Humor-Weiterbildung für Fachkräfte in der Suchthilfe einzusetzen. Nicht zuletzt ist sie der Meinung, dass man Humor auch als Teil der Einrichtungskultur etablieren sollte.

    Sabine Link: Für Suchtpatienten abgewandeltes Humortraining nach Paul McGhee

    Für die Arbeit in Suchtkliniken und in der Suchtberatung lohnt es sich also, den aufwertenden, wertschätzenden Humor und seine Einsatzmöglichkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen. In Gesprächen versuchen Mediziner/innen und Psycholog/innen oft durch das Aktive Zuhören eine wertschätzende Haltung herzustellen. Dabei fasst der Arzt/Therapeut bzw. die Ärztin/Therapeutin in eigenen Worten zusammen, was der Patient/Klient bzw. die Patientin/Klientin gesagt hat.

    „Ihrer Meinung nach macht eine Therapie keinen Sinn.“
    „Sie sind der Meinung, Ihr Suchtproblem müssen Sie alleine in den Griff kriegen.“
    „Ihnen ist Ihre Frau zu raumeinnehmend.“

    Kennzeichnend beim Aktiven Zuhören sind die wohlwollende Grundhaltung, die zugewandte Körpersprache und vor allem eine möglichst große Wertfreiheit gegenüber dem Patienten/der Patientin. Gute Erfahrung machen Fachkräfte der Suchtarbeit aber auch damit, das Gesagte ab und an humorvoll zu spiegeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Ton, in dem das Gesagte vorgebracht wird. Er sollte freundlich sein und ein Augenzwinkern hörbar machen.

    „Sie halten eine Therapie nach dem Entzug für völligen Blödsinn und absolute Zeitverschwendung.“
    „Sie meinen, Ihnen kann auf dieser Welt ohnehin niemand helfen und die Psychotanten hier haben gar keine Ahnung.“
    „Für Sie ist Ihre Frau ein dominanter Napoleon.“

    Ein Lächeln, ein Grinsen, ein Lachen löst die gespannte Stimmung und kann durchaus helfen, den Patienten/die Patientin zuhörbereit zu machen. Wichtig ist aber, wertschätzenden von abwertendem Humor unterscheiden zu können. Sätze wie „Sie mauern und sind absolut unkooperativ!“ sind destruktiv und verletzend. Es geht in der humorvollen Spiegelung darum, das Offensichtliche zu übertreiben, dabei aber weiterhin interessiert zu bleiben an der Meinung des Gegenübers.

    Ein Problem bei Suchterkrankungen ist die hohe Rückfallquote. Eine durchschnittliche Suchterkrankung dauert 20 Jahre. In dieser Zeit kämpfen professionelle Helfer/innen immer wieder um die Aufmerksamkeit der Patient/innen und ihre Bereitschaft zur Veränderung von Gewohnheiten. Humor kann dabei helfen, die Spielregeln in der Klinik zu vermitteln oder Veränderungen anzuregen. Perspektivwechsel helfen bei den eingefahrenen Denkmustern der Patient/innen. Humorvolles Feedback kann zum Beispiel so formuliert werden:

    Monatelang hatte sich die Patientin nach Abbruch des Entzugs nicht blicken lassen, auf einen Rückruf wartete man vergeblich. Plötzlich schwebte sie wieder ein, als sei sie gestern erst in der Klinik gewesen, und fragte nach ihren Werten. Statt sich zu ärgern, sagte die Ärztin: „Seit vier Monaten sitze ich hier und warte, dass Sie mir genau diese Frage stellen.“

    Spielregeln kann man humorvoll zum Beispiel so vermitteln:

    Auf dem Spielplatz eines Cafés hängt ein Schild: „Jedes unbeaufsichtigte Kind erhält von uns ein Eis, einen Liter Cola und einen Hundewelpen.“

    „Ah, Sie sind die Trainerin für das Seminar heute?“
    „Nein, ich gehöre hier zur Einrichtung.“

    Ein Vorteil des Medikaments Humor ist seine schnelle Wirksamkeit. Humor beginnt in erster Linie bei einem selbst. Er ist im Alltag überall zu finden, es reicht, die Augen offen zu halten. In vielen Situationen kann man sich dann entscheiden, ob man sich ärgert – oder lacht. Um seinen eigenen Humor (wieder) zu entdecken, ist es hilfreich, sich z. B. Folgendes zu fragen:

    • Mit wem lache ich gerne?
    • Welcher Humor fällt mir leicht?
    • In welchen Situationen kann ich leicht die Perspektive wechseln?
    • Wie gut kann ich auch bei einer langjährigen Krankheit noch über mich selbst lachen?

    Anschließend kann man versuchen, die Menschen, mit denen man gern lacht, und die Art von Humor, die einem leicht fällt, bewusst zu suchen. Wenn man sich seines Humors bewusst ist, kann man üben, ihn gezielt einzusetzen.

    Ein Steg, extra „reserviert“ für Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Personen

    Selbst in Grenzsituationen kann Humor manchmal passend sein. Folgende Todesanzeige wurde z. B. im Schweizer Tagesanzeiger veröffentlicht:

    Die Anzeige hatte Herr Jacob vor seinem Tod selbst bei der Zeitung hinterlegt.

    Humor innerhalb des Mitarbeiterteams

    Humor bezieht sich auf uns selbst und auf andere. Humor ist unerwartet und überrascht uns. Humor macht Schmerz erträglich und sich nicht nur über den eigenen Schmerz lustig. Auch professionelle Helfer/innen können davon profitieren, in ihrem Team einen liebevollen Humor zu pflegen und zu regelmäßigem Humor zu ermuntern. Zum Beispiel durch einen wöchentlichen Austausch von Patienten-Anekdoten.

    Bei einem Patientengespräch in einer Klinik stellte sich die Psychologin vor. Der Patient verstand „Zoologin“. Er war irritiert, war er sich doch keiner Tierallergie bewusst.

    Eine Anekdote, die das ganze Team zum Lachen brachte. Bei dieser Art der Anekdoten kann der Humor auch mal deftiger werden. Er ermöglicht dem Team eine bessere Bewältigung der Arbeitsbelastungen. Wichtig ist die Sensibilität: Patienten-Anekdoten sollten nur in einem geschützten Rahmen erzählt werden.

    Humor lässt sich nicht verordnen. Eine humorvolle heitere Stimmung im Team entsteht, wenn es Raum für Anekdoten gibt, wenn es ein Ritual der witzigsten Geschichten geben darf.

    Humorvolle Laune steckt an – im Team, die Patient/innen, privat. Therapeut/innen, Ärzte/Ärztinnen und Pflegepersonal können sich und Patient/innen immer wieder mit wertschätzendem Humor zum Perspektivwechsel einladen. Das stärkt Motivation und Durchhaltekraft – sowohl bei Patient/innen als auch bei den Mitarbeiter/innen. Humor ist als Medikament völlig kostenfrei. Man muss es nur passend dosieren. Darüber darf diskutiert werden.

    Tipp der Redaktion:
    Anschauliche und unterhaltsame Beispiele für Humor in einer tragischen Lebenssituation bieten die Filme „Ziemlich beste Freunde“ (2011) und „Lieber leben“ (2017).

    Nächste Termine:
    Kontakt, Informationen und Humorentdeckungen:

    Deutsches Institut für Humor
    Feuerbachstraße 26
    04105 Leipzig
    Tel. 0341 4811848
    info@humorinstitut.de
    www.humorinstitut.de
    www.facebook.com/humorinstitut
    www.twitter.com/humorinstitut

    Angaben zu den Autorinnen:

    Eva Ullmann ist Gründerin und Leiterin des Humorinstituts. Sie arbeitet nach einem Pädagogik- und Medizinstudium seit vielen Jahren als Humoristin, Autorin und Rednerin.
    Dr. Kareen Seidler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Pressesprecherin des Instituts. Sie fasst die manchmal komplizierte Humorforschung verständlich zusammen.

    Literatur und Buchtipps:
    • Eva Ullmann und Albrecht Kresse: Humor im Business: Gewinnen mit Witz und Esprit, Berlin: Cornelsen, 2008
    • Eva Ullmann: Ich kann’s ja doch! Die Kunst der tägliche Kommunikation, Hörbuch, siehe auch: www.facebook.com/ichkannsjadoch
    • Eva Ullmann und Isabel García: Ich rede2: Spontan und humorvoll in täglichen Kommunikationssituationen, Hörbuch
    • Paul McGhee: How to develop your sense of humour: An 8 step humour development training program, Dubuque, IA: Kendall/Hunt, 1994.
    • Sabine Link: Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe, Marburg/Lahn 2014, im Internet zugänglich unter: https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2014/0416/ (letzter Zugriff 05.01.2018)

    alle Fotos: Deutsches Institut für Humor

  • Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema

    Stefan Bürkle

    Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:

    • Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
    • Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
    • Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?

    Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.

    Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.

    Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:

    • eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
    • die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
    • eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.

    Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.

    Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung

    Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:

    • Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
    • Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
    • Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?

    Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.

    Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene

    • Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
    • Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
    • Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
    • Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.

    Externe Ansprüche

    • Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
    • Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
    • Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
    • Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
    • Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.

    Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband

    Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“

    Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.

    • Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
    • Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
    • Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
    • Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
    • Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.

    Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.

    Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene

    Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.

    Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik

    Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:

    • Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
    • Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
    • Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
    • Druck zur Arbeitsplatzsicherung
    • Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
    • Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
    • Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter

    Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.

    Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?

    Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).

    • Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
    • Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
    • Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
    • Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
    • Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
    • Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.

    Ambulante Rehabilitation Sucht

    Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:

    • Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
    • Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
    • Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.

    Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.

    Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.

    Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.

    Schlussgedanke

    Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.

    Literatur:
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
    • Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
    • Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
    • Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
    • Sven Precht: Sind wir in unseren Entscheidungen frei?, in: Netzwerk Ethik Heute, https://ethik-heute.org/sind-wir-in-unseren-entscheidungen-frei/ (letzter Zugriff 21.11.2017)
    • Wulff D. Rehfus (Hrsg., 2003): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

    Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

    Es werden eine Menge therapeutischer Trüffelschweine durch die Dörfer der Behandlungsmethoden getrieben. Achtsamkeit, Schematherapie, traumatherapeutische Einzelmethoden, DBT und eine Fülle weiterer Neuentwicklungen werben um unsere Aufmerksamkeit.

    Der klassisch ausgebildete Verhaltenstherapeut bzw. der in einem psychoanalytischen Verfahren bewanderte Heilkundige kennt die beiden gängigen, wissenschaftlich fundierten Richtungen und schätzt die Weiterentwicklungen, wenn sie mit dem theoretischen Hintergrund kompatibel sind oder so gut nachvollziehbar, dass sie in die erprobten Denkmethoden Eingang finden können – wie etwa die Bindungstheorie vom Bowlby in die Psychoanalyse.

    Die Ökonomen des Gesundheitssystems liebäugeln mit Mischverfahren, deren einzelne Bestandteile als „evidenzbasiert“ gelten. Hier finden dann „modulgestützte Verfahren mit einem ganzheitlichen Ansatz“, die den Eindruck vermitteln wollen, die Addition verschiedener Techniken führe zum Erfolg, polypragmatische Interessenten. Diese Denkweisen überraschen nicht im Rahmen einer Medizin als Wirtschaftsbereich. Der psychischen Komplexität seelisch bedrängter Menschen werden sie jedoch nicht gerecht, der psychischen Störung schon gar nicht. Seit einiger Zeit taucht nun der Begriff der Spiritualität im Zusammenhang mit Psychotherapie auf. Wieder eine Modeerscheinung? Tatsächlich findet man in den Angeboten verschiedener Kliniken jetzt eine spirituell betonte Psychotherapie. Davon soll aber hier nicht die Rede sein.

    Spiritualität ist die Verbindung von Realität und Transzendenz

    Sigmund Freud hatte sein Leben lang ein Problem mit der Religion. Deshalb konnte die Psychoanalyse über lange Zeit wenig Zugang zu der Bedeutung von Religiosität und Spiritualität entwickeln. Romain Rolland, ein mit Freud befreundeter Schriftsteller, machte den Begründer der Psychoanalyse darauf aufmerksam, dass er sich der Religiosität im eigentlichen Sinne nicht zugewandt habe: Religion sei ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, des Ozeanischen. Freud konnte eingestehen, dass ihm der Sinn dafür fehlte.

    Damit weist der Schriftsteller auf eine Dimension des Ich hin, die über die Grenzen des Nachvollziehbaren hinausgeht. Diese Dimension wird häufig erst in der Depression spürbar, wenn das Sicherheitsgefühl des „zu einem Ganzen Gehörens“ verloren geht. Spiritualität ist die Verbindung von der Realität zur Transzendenz und dem Unerklärbaren am Ende der weltlichen Existenz. Mit philosophischem oder religiösem Inhalt gefüllte Spiritualität führt das Kontinuum des Lebens über die Zeit hinaus.

    Spiritualität schafft Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz

    In der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung wird die Psychotherapie als Wandlung des Sterblichen in ein Unsterbliches im Menschen bezeichnet. Viktor Frankl formuliert: „Der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße, als er sich von der Transzendenz her versteht. Er ist nur in dem Maße Person, als er von ihr durchtönt wird: durchtönt vom Anruf der Transzendenz, vom Anruf Gottes.“

    Spiritualität ist deshalb nicht eine dem Über-Ich zuzuschreibende Komponente, sondern das aus dem Erlebten entstandene Grundgerüst des Selbst mit einem Welt- und Menschenbild, aus dem das Individuum seine Kriterien für die Beurteilung der Welt bezieht. Diese Weltsicht generiert sich aus einer nicht zu ambivalenten Grundhaltung der beziehungskonstanten Bezugspersonen, deren konsistentes Bild von Werden und Sein als umfassende Repräsentanz integriert werden konnte.

    Die von Freud beschriebene pathologische Religiosität begegnet uns als sadistisches Introjekt (= ohne echte Identifikation angenommene innere Vorstellung) ebenfalls in unseren Therapien. Häufiger aber finden wir besonders unter den suchtkranken Patienten eine weitgehende Abwesenheit des Gefühls und des Erlebens einer inneren Heimat, die Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz zur Verfügung stellen würde. Hier dominiert oft ein rigides Über-Ich mit polarisierenden Wertungen, in denen die Kategorien der Verantwortlichkeit nur rudimentär, reduziert auf die Frage nach Schuld oder Nichtschuld vorkommen.

    Wir finden bei Menschen ohne ethisch nachvollziehbare Weltanschauung häufig das Phänomen, dass sie sich in ihrer frühen Sozialisationen nicht angenommen fühlten. „Der Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut) scheint für die Entwicklung der Spiritualität von Bedeutung zu sein. Ein sicher geerdetes Ich kann die hinter der konkretistischen Weltsicht lebende Transzendenz erkennen und im Jetzt und Hier spüren.

    Damit verbunden ist ein erleichterter Zugang zum inneren Erleben über emotional getönte Rituale wie Gebete und Gesang mit Gleichgesinnten. Die Gewissheiten des durch die Integrität geschützten Ich können so erhalten und im Krisenfall geschützt werden. Diese protektive Wirkung der Weltanschauung ist relativ unabhängig von deren Inhalt, wenn dieser nicht durch sadistische Vorbilder geprägt ist. Wichtiger als der Inhalt der Weltanschauung ist die Passform zum individuellen Ich.

    Spiritualität im psychotherapeutischen Feld

    Für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen ist deshalb die Erkundung spiritueller Reste, welche nicht pathologisiert sind, ein möglicherweise stabilisierender Wert. Für dieses sensible Thema gibt es bereits Hilfen zur Exploration, die sich auf den Erfahrungshintergrund beziehen. Insbesondere Menschen aus Kulturkreisen mit mystischen Vorstellungen haben unerwartete Ressourcen, wenn sie denn entdeckt werden. Der Umgang mit spiritueller Erfahrung bedarf des besonderen Takts, weil viele Menschen befürchten müssen, dass in einer rationalen Welt wie der westlichen transzendente Inhalte ausschließlich belächelt werden.

    Die Aufgabe im psychotherapeutischen Feld ist zunächst die Offenheit für Spiritualität. Erst in einem weiteren Schritt kann darüber nachgedacht werden, wie ein intrapsychisches Gerüst entwickelt werden kann, das spirituelles Erleben als Voraussetzung für die Entwicklung einer tragenden Weltanschauung ermöglicht.

    Psychotherapie ist aus Gründen der therapeutischen Abstinenz nicht für die Inhalte von Religiosität und Spiritualität verantwortlich, sondern hat sich ausgesprochen zurückhaltend zu verhalten. Bei sonst distanzierter Äußerung zu privaten Fragen, wie etwa dem Urlaubsziel, gibt es offenbar einen inneren Drang zur Äußerung der eigenen Weltanschauung, wenn sie bewusst ist. Mit dem Wissen um die Idealisierung des Therapeuten scheint auch hier die therapeutische Abstinenz die angemessene Reaktion zu sein, um pathologische Introjekte zu vermeiden.

    Es ist eine Tugend christlicher Kultur, das Verhältnis des Mitmenschen zu Gott deren beider Angelegenheit sein zu lassen. Spiritualität ist also keine therapeutische Modeerscheinung, sondern eine bisher oft nicht gewürdigte mögliche Dimension des Selbst, die Ressourcen für die Resilienz enthält.

    Literatur beim Verfasser

    Weiterführende Literatur:
    • Wilfried Ruff (Hg.): Religiöses Erleben verstehen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-61405-5
    • Michael Utsch, Raphael M. Bonelli, Samuel Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-02552-8
    Kontakt:

    Dr. Andreas Dieckmann
    Brüderstraße 38
    13595 Berlin
    dr.a.dieckmann@gmx.de
    www.psychotherapiedieckmann.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Dieckmann ist Ärztlicher Psychotherapeut in freier Praxis und Sprecher der Dozenten der Suchttherapeutenausbildung/psychoanalytisch orientiert beim GVS. Er war langjähriger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum, Berlin.

  • Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.

    Dr. Volker Weissinger

    1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland

    Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.

    2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen

    Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.

    Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.

    Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“

    Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“

    Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).

    Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).

    Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.

    Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)

    Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.

    Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.

    3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs

    Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:

    • Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
    • Qualifizierter Entzug
    • Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
    • Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
    • Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Betrieblicher Bereich
    • Routinedaten der Leistungsträger
    • Jobcenter/Agenturen für Arbeit
    • Fallmanagement und Fallbegleitung
    • Nutzung moderner Informationstechnologien

    Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.

    Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

    Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:

    Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.

    „Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)

    Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).

    Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.

    Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.

    Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.

    Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).

    Qualifizierter Entzug

    Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.

    In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:

    • Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
    • Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
    • Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
    • Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
    • Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX

    Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.

    Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung

    Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.

    Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.

    Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.

    Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).

    Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.

    Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung

    Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.

    Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):

    • Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
    • Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
    • Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
    • Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
    • Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.

    Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.

    Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.

    Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.

    Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt

    Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.

    Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).

    Betrieblicher Bereich

    In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.

    Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.

    Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.

    Routinedaten der Leistungsträger

    Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.

    Routinedaten der Krankenversicherung
    Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:

    • „Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
    • Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“

    Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.

    Routinedaten der Rentenversicherung
    Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).

    Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.

    Jobcenter/Agenturen für Arbeit

    Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).

    Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.

    Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.

    Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).

    Fallmanagement und Fallbegleitung

    In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).

    Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.

    Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.

    Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.

    Nutzung moderner Informationstechnologien

    Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.

    Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).

    Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.

    Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.

    4. Schlussbemerkungen und Ausblick

    Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.

    Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).

    Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:

    • niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
    • zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
    • Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.

    Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.

    Kontakt:

    Dr. Volker Weissinger
    Geschäftsführer
    Fachverband Sucht e.V.
    Walramstraße 3
    53175 Bonn
    Tel. 02 28/26 15 55
    sucht@sucht.de

     

     

    Angaben zum Autor:

    Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.

    Literatur:

    • Bachmeier, R. et al. (2015): Basisdokumentation 2014 – Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, in: Fachverband Sucht e.V. (Hg.): Basisdokumentation 2014 – Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e.V., 6-30
    • Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
    • Effertz, T. (2015): Die volkswirtschaftlichen Kosten gefährlichen Konsums – eine theoretische und empirische Analyse für Deutschland am Beispiel Alkohol, Tabak und Adipositas, Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaft, Frankfurt a.M.
    • Fachverband Sucht e.V. (2012): Leitbild und Positionen zur Suchtkrankenhilfe und -behandlung, SuchtAktuell 02.12
    • Gesundheitsziele.de (2015): Alkoholkonsum reduzieren, Bundesanzeiger 19.05.2015, 15-20
    • Görgen, W., Hartmann, R. (2002): Neue Wege in der Behandlung Suchtkranker in der frühen Sekundärprävention, Geesthacht
    • Gross, B. (2016): „Sucht bewegt, Zugangswege erweitern“ aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung Bund, SuchtAktuell 02.16, 14-17
    • Günthner, A., Weissinger, V. et al. (2016): Versorgungsorganisation, in: Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg, 191-210
    • Kainz, B., Schröder, A., Glattacker, M., Wenzel, D., Hoffmann, S., Kulick, B., Jäckel, W. H. (2011): Inanspruchnahme und Akzeptanz des Modells „Reha-Fallbegleitung bei Alkohol-, Medikamenten und Drogenabhängigen mit erwerbsbezogenen Problemen“, SuchtAktuell 02.11, 40-46.
    • Kirchner, P. (2016): „Nahtloser Zugang zu Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung am Beispiel von ISBA“ – Vortrag anlässlich des 29. Heidelberger Kongress des FVS, 15.06.2016
    • Liegmann, K. (2015): Risiko Alkohol? Früherkennung und Intervention in der Hausarztpraxis, Bremen
    • Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg
    • Martin, H. (2016): Neue Zugangswege – eine Herausforderung auch für Kostenträger?, SuchtAktuell 02.16, 18-20
    • Mikoteit, T. (2016): Spezielle Angebote für (Sucht)kranke im Jobcenter Essen, SuchtAktuell 02.16, 24-29
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    • Wienberg, G. (1992): Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen, Bonn