Schlagwort: Entwöhnung

  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Dr. Joachim Köhler
    Dr. Joachim Köhler

    Problematischer Suchtmittelkonsum (riskanter Konsum, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit) macht vor somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen nicht Halt. Er fällt dort aber eher selten auf, und es bestehen Unsicherheiten, wie damit umgegangen werden soll. Dabei bietet die Rehabilitation gute Voraussetzungen für die Diagnostik möglicher Suchtprobleme sowie für Beratung und ggf. Vorbereitung einer weiterführenden Behandlung. Konkrete Empfehlungen für das Vorgehen in der Praxis liegen nun in Form der Broschüre „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ vor. Sie beschreiben einen mehrstufigen Prozess für Screening und Diagnostik, der gut in die Klinikabläufe integriert werden kann, und zielen auch auf die Sensibilisierung der Mitarbeiter/innen ab.

    Entstehung der Praxisempfehlungen

    Die Praxisempfehlungen für komorbide Suchtprobleme sind als Folgeprojekt nach ersten Praxisempfehlungen für psychologische Interventionen in der Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen und koronarer Herzerkrankung entstanden. Die DRV Bund verbindet mit der Förderung dieses Projekts den Wunsch, die im Zusammenhang mit Suchterkrankungen in somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen bestehenden Unsicherheiten und Schwierigkeiten zu thematisieren. Es werden einfache Maßnahmen aufgezeigt, die den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen als evidenzbasierte Entscheidungshilfe bei Screening, Diagnostik, Intervention und Dokumentation dienen. Sie sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine hohe Zufriedenheit bei Patient/innen und Mitarbeiter/innen zu erreichen.

    Entwickelt wurden die Empfehlungen von einer multiprofessionellen Expertengruppe im Rahmen des Projektes „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ am Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS) des Universitätsklinikums Freiburg. Das Projekt wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund von 2014 bis 2016 gefördert und ist nun mit der Vorlage der Ergebnisse abgeschlossen. Die Praxisempfehlungen liegen als Kurz- und Langfassung vor und werden durch einen Materialband ergänzt. Alle Dokumente stehen als PDF-Dateien auf der Homepage des AQMS www.severa-fr.de > Praxisempfehlungen zum Download zur Verfügung.

    Inhalt und Aufbau

    Die Praxisempfehlungen richten sich an alle Mitarbeiter/innen in somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen für Erwachsene, die nicht auf Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert sind, und sollen dazu beitragen, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Dies steht auch im Einklang mit der aktuellen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, die eine systematische Erhöhung des Problembewusstseins in allen Versorgungsbereichen, den Ausbau von Konsil- und Liaisondiensten sowie die Intensivierung von Maßnahmen zur Früherkennung fordert.

    Die Praxisempfehlungen beziehen sich auf alle stoffgebundenen Suchtprobleme (Alkohol, Medikamente und illegale Drogen) mit Ausnahme von Tabak. Sie wurden in mehreren Schritten entwickelt. Neben einer umfassenden, systematischen Recherche nach relevanten Übersichtsarbeiten und Leitlinien wurden bundesweit stationäre Reha-Einrichtungen aller Indikationsbereiche (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen) zur gegenwärtigen Praxis ihres Umgangs mit dem Thema befragt. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde im Rahmen eines Expertenworkshops eine Konsultationsfassung der Praxisempfehlungen formuliert, die schließlich mit der Bitte um Kommentierung an die ärztlichen Leitungen von stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen und reinen Kinder- und Jugendlichen-Einrichtungen) verschickt wurde. Außerdem wurde im Rahmen von Fokusgruppen mit Rehabilitand/innen über zentrale Aspekte der Praxisempfehlungen diskutiert. Die Anmerkungen und Kommentare wurden ausgewertet und bei der abschließenden Konsentierung der Praxisempfehlungen durch die Experten berücksichtigt.

    Die Praxisempfehlungen gliedern sich in drei Teile A, B und C:

    • Teil A umfasst allgemeine Vorbemerkungen.
    • Teil B enthält allgemeine Informationen zu diagnostischen Kriterien, Definitionen zu risikoarmem und riskantem Konsum, Informationen zu den verschiedenen Suchtstoffen und dem Suchthilfesystem.
    • Teil C ist der eigentliche Empfehlungsteil. Er enthält Empfehlungen zu Einrichtungsstandards, zu Screening und Diagnostik, möglichen Interventionen und zur Dokumentation sowie Empfehlungen zu Sondersituationen. Grundtenor der Empfehlungen zu möglichen Interventionen ist, dass hier realistische Ziele gesetzt werden sollten. Ziel ist nicht die eigenständige Behandlung der Suchtproblematik in nicht-spezialisierten Einrichtungen. Im Rahmen der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation geht es vielmehr um die Bewusstmachung der Problematik bei den betroffenen Rehabilitand/innen, die Vermittlung von Informationen über Risiken und die Motivierung für weiterführende Maßnahmen. In Einrichtungen der psychosomatischen Rehabilitation kann bei entsprechender personeller Ausstattung auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik erfolgen. Dabei ist eine Fortführung der psychosomatischen Rehabilitation bei gesicherter Diagnose einer substanzbezogenen Störung denkbar. Wenn Rehabilitationsfähigkeit besteht und die Rehabilitationsziele zumindest teilweise erreichbar sind, kann die Rehabilitationsmaßnahme – ggf. unter Auflagen – fortgeführt und die Zeit für eine weitere Motivierung der Rehabilitand/innen, ihre Suchtproblematik behandeln zu lassen, genutzt werden.

    Ausblick

    cover_r-broschuere-komorbide-suchtproblemeEs ist zu hoffen, dass somatische und psychosomatische Rehabilitand/innen mit komorbiden Suchtproblemen zukünftig eher auf ihre Suchtproblematik angesprochen werden und weitere diagnostische und therapeutische Schritte eingeleitet werden können. Dies kann auch die konkrete Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstellen und ambulanten und stationären Entwöhnungseinrichtungen verbessern und den Zugang in die Suchtrehabilitation erleichtern. Entwöhnungseinrichtungen können die Broschüre aktiv nutzen, um die Kooperation mit somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen zu verbessern.

    Am 26.09.2016 fand eine Einführungsveranstaltung für somatische und psychosomatische Kliniken in Berlin statt. Mehr Informationen hierzu unter: www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozialmedizin_forschung/01_sozialmedizin/06_publikationen_veranstaltungen/2016_09_26_praxisempfehlungen.html

    Die Langfassung der Praxisempfehlungen steht auch als Broschüre der DRV Bund zur Verfügung und kann bei Bedarf zugeschickt werden bzw. unter dem oben angegebenen Link heruntergeladen werden.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. med. Joachim Köhler
    Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
    Sozialmedizin, Magister Public Health
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Referat 0441 Grundsatzaufgaben der Sozialmedizin
    R 6207
    Ruhrstr. 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-35751
    drmed.joachim.koehler@drv-bund.de

  • Qualifizierter Entzug – und was dann?

    Qualifizierter Entzug – und was dann?

    Klaus Gerkens
    Klaus Gerkens

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik (Jahresbericht 2014) werden nur 19,5 Prozent der Alkoholabhängigen, die eine stationäre Behandlung in Anspruch nehmen, und nur 8,6 Prozent der stationär behandelten Opiatabhängigen durch eine Krankenhausabteilung in die Suchtrehabilitation vermittelt. Grund genug für die Suchtfachverbände, die Deutsche Rentenversicherung (DRV) und die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), gemeinsam über die Verbesserung des Zugangs in die Suchtrehabilitation aus dem Qualifizierten Entzug zu beraten.

    Als Ergebnis wurden gemeinsame Handlungsempfehlungen für ein Direktverlegungs- bzw. „Nahtlosverfahren“ abgestimmt, um zukünftig Drehtüreffekte möglichst zu vermeiden und die Nichtantrittsquote zu reduzieren. Bei diesem Verfahren spielen insbesondere die Krankenhäuser eine wichtige Rolle. Nur bei rechtzeitiger Einleitung durch die Ärzte und den Sozialdienst des Krankenhauses einschließlich der Organisation der nahtlosen Weiterbehandlung in Kooperation mit der voraussichtlich aufnehmenden Entwöhnungseinrichtung und den Rehabilitationsträgern kann das Nahtlosverfahren in der Praxis funktionieren.

    Deshalb haben DRV und GKV in einem weiteren Schritt Rahmenempfehlungen für die Verbesserung des Zugangs nach Qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker („Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug/Suchtrehabilitation“) erarbeitet, die derzeit im Entwurf vorliegen.

    Im Fokus der Rahmenempfehlungen steht die Umsetzung eines Nahtlosverfahrens auf regionaler Ebene. Hierfür werden grundsätzliche Aussagen und Definitionen festgelegt:

    • Geltungsbereich
    • Definition Qualifizierter Entzug einschließlich Aussagen zur Verweildauer im Krankenhaus
    • Voraussetzungen für teilnehmende Krankenhäuser
    • Einleitung und Beantragung der Suchtrehabilitation (Entwöhnungsbehandlung)
    • Leistungszuständigkeit
    • kurzfristige Bearbeitung des Antrags durch die Rehabilitationsträger
    • Verlegung in die Rehabilitationseinrichtung durch begleitete Anreise

    ‚Herzstück‘ der Rahmenempfehlungen bildet die begleitete Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung, d. h., die Patientin/der Patient wird von einer Mitarbeiterin/einem Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung oder einer Suchtberatungsstelle bei der Anreise begleitet.

    DRV und GKV haben mit den Suchtfachverbänden in einer gemeinsamen Erörterung am 07.09.2016 den vorliegenden Entwurf der Rahmenempfehlungen beraten. Die Verbände unterstützen das geplante Nahtlosverfahren. Ihre Anregungen und Kritikpunkte wurden weitestgehend in die Rahmenempfehlungen aufgenommen. Die Beteiligung weiterer Organisationen wie Fachgesellschaften, Krankenhausärzte, Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und Aktion Psychisch Kranke ist auf der Grundlage der aktualisierten Entwurfsfassung kurzfristig vorgesehen.

    Nach Verabschiedung der Rahmenempfehlungen, voraussichtlich Anfang 2017, beginnt erst die eigentliche Arbeit: Auf Landesebene muss zwischen den unterschiedlichen Vertragspartnern das Nahtlosverfahren umgesetzt werden, ggf. müssen Detailregelungen erprobt werden. Einig sind sich die Beteiligten aber schon heute: Mit diesem Nahtlosverfahren wird die Versorgung Abhängigkeitskranker in Deutschland bundesweit optimiert.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Klaus Gerkens
    Verband der Ersatzkassen (vdek) e. V.
    Abteilung Gesundheit
    Askanischer Platz 1
    10963 Berlin
    Tel. 030/26 931–19 12
    klaus.gerkens@vdek.com

  • Einführung ins Titelthema

    Einführung ins Titelthema

    Seit einigen Jahren sind deutliche Veränderungen für die Arbeit in der Suchtrehabilitation zu beobachten: Neue Konsumgewohnheiten der Klientel machen die Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten erforderlich. Die Antragszahlen gehen – mit deutlichen regionalen Unterschieden – zurück und führen zu gemeinsamen Überlegungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern, wie der Zugang in die Reha erleichtert werden kann oder neue Zugangswege erschlossen werden können. Zusätzlich wird die Finanzierungssituation der Einrichtungen immer schwieriger. Die Notwendigkeit, Kooperationen zu schließen – insbesondere mit der ambulanten Suchthilfe –, nimmt zu, denn die Betreuungs- und Behandlungsverläufe werden komplexer und die Segmentierung der unterschiedlichen sozialrechtlichen Leistungsbereiche in der Suchthilfe bleibt weiterhin bestehen. Diese Faktoren haben erhebliche Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Reha-Einrichtungen. Mit dem aktuellen Titelthema wollen wir einige dieser Entwicklungen näher beleuchten. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Aspekte erscheint das Titelthema in drei Teilen.

    Der erste Teil befasst sich mit den konzeptionellen Herausforderungen, die durch die veränderten Konsumgewohnheiten von Suchtkranken (zunehmender Mischkonsum), die Verschiebung bei den zuständigen Leistungsträgern (steigender GKV-Anteil) und auch durch die verstärkte berufliche Orientierung in der Suchttherapie (Umsetzung der BORA-Empfehlungen) entstanden sind. Zwei neu eröffnete Fachkliniken aus Norddeutschland haben darauf mit innovativen Konzepten reagiert. In zwei Artikeln schildern sie ihre ersten praktischen Erfahrungen mit stoffübergreifenden Bedarfsgruppen.

    Im zweiten Teil des Titelthemas geht es um veränderte Rahmenbedingungen der Suchtrehabilitation aus Sicht der Leistungsträger. Barbara Müller-Simon und Thomas Bütefisch erläutern die neue statistische Darstellung der Maßnahmen in der Suchtrehabiliation und den Rückgang der Anträge. Dr. Joachim Köhler berichtet über die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu komorbiden Suchterkrankungen in der somatischen und psychosomatischen Reha. Klaus Gerkens stellt die Überlegungen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zur bundesweiten Etablierung eines ‚Nahtlosverfahrens’ für den Übergang aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnung dar.

    Der dritte und letzte Teil des Titelthemas greift zwei wichtige Entwicklungen aus der Perspektive der Einrichtungen auf. Stefan Bürkle setzt sich mit der Kooperation zwischen  ambulanter und stationärer Suchthilfe auseinander. Dr. Theo Wessel und Prof. Andreas Koch erläutern anhand von aktuellen Zahlen und konkreten Beispielen die teilweise dramatische Finanzierungssituation für viele Einrichtungen.

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems

  • Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    Dr. Matthias Brecklinghaus

    Die letzten beiden Jahrzehnte waren geprägt von einem Boom der Hirnforschung und der Neurowissenschaften. In einer fast schon euphorischen Aufbruchsstimmung wurde die Hoffnung genährt, bald die komplexen Hirnfunktionen besser verstehen zu können. Berechtigt zu dieser Hoffnung sah man sich u. a. durch moderne bildgebende Verfahren wie der Magnetresonanztomographie. Mit dieser Technik können nicht nur die Strukturen des Gehirns, sondern auch – in Verbindung mit bestimmten Blutmarkern – seine Funktionen detailliert dargestellt und erforscht werden. Man glaubte, durch ein vertieftes und umfassendes Verständnis der Hirnfunktionen schließlich auch krankhafte Zustände des Gehirns besser behandeln zu können. Insbesondere in der Neurologie und Psychiatrie erwartete man zahlreiche neue (medikamentöse) Behandlungsmöglichkeiten, z. B. bei Demenz, Depression, Psychosen sowie bei Suchterkrankungen.

    Grenzen der Neurowissenschaften

    Zwischenzeitlich ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Die Wissenschaft hat zwar eine enorme Menge an neuem Detailwissen hervorgebracht. Jedoch taten sich mit jedem Wissenszuwachs auch wieder zahlreiche neue Fragen auf. Und so bleibt die Erkenntnis, dass es eher schwieriger als einfacher wird, die Komplexität der Hirnfunktionen umfassend zu begreifen, je tiefer man in die Materie eindringt.

    Für die Sucht beispielsweise werden oft und gerne die Modelle vom ‚Belohnungssystem‘ und vom ‚Suchtgedächtnis‘ bemüht, um bestimmte Phänomene der Abhängigkeitserkrankung verständlich zu machen. Und in der Tat haben diese Modelle durchaus einen didaktischen Wert. Da sie jedoch nur eine starke Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit darstellen, bleibt es eine Illusion, zu glauben, man könne mit ihnen eine Suchterkrankung umfassend erklären. Beispiel: Man kann mit dem ‚Belohnungssystem‘ und ‚Suchtgedächtnis‘ zwar plausibel machen, wie ein Suchtmittelverlangen getriggert wird. Jedoch erklären diese Modelle nicht, wieso jemand bei gleichem Suchtmittelverlangen in einer Situation widerstehen kann, in einer anderen jedoch nicht.

    Bei der Sucht handelt es sich um eine Erkrankung, die in einem vielschichtigen Bedingungsgefüge von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren entsteht. Angesichts dieser Tatsache erscheint es grundsätzlich unrealistisch, dass Suchterkrankungen allein medikamentös erfolgreich behandelt bzw. überwunden werden können. Denn wie soll ein Medikament, das sich biologischer Wirkmechanismen bedient, die psychosozialen Faktoren beeinflussen können? Es liegt auf der Hand, dass ein Medikament dazu nicht in der Lage ist. Dennoch hält sich hartnäckig die Hoffnung, man könne vielleicht in Zukunft die Suchterkrankung mit einem Medikament heilen.

    Medikamente zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

    Derzeit sind fünf Medikamente auf dem Markt, die zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit – genauer gesagt zur Rückfallvorbeugung und/oder zur Trinkmengenreduktion – zur Verfügung stehen:

    • Disulfiram (Handelsname z. B. Antabus®)
    • Acamprosat (Handelsname z. B. Campral®)
    • Naltrexon (Handelsname z. B. Adepend®)
    • Baclofen (Handelsname z. B. Lioresal®)
    • Nalmefen (Handelsname z. B. Selincro®)

    Im Folgenden sollen die genannten Medikamente im Detail dargestellt und bewertet werden.

    Disulfiram

    Die Substanz wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in der Gummiherstellung benutzt. Es ist zu lesen, dass bei den Arbeitern der Gummiherstellung eine gewisse ‚Alkoholunverträglichkeit‘ festgestellt und so die Wirkung des Disulfiram entdeckt worden sei. Fakt ist, dass Disulfiram durch enzymatische Hemmung den Abbau von Acetaldehyd – ein Abbauprodukt des (Ethyl)Alkohols – blockiert. So kommt es bei Alkoholkonsum und gleichzeitiger Medikation mit Disulfiram zu einer inneren Vergiftung mit Acetaldehyd, was sich in Symptomen wie Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzrhythmusstörungen und Kollapsneigung äußert. Diese Symptome sind äußerst unangenehm. Betroffene, die das Medikament erhalten, werden über die Wirkung bei gleichzeitigem Alkoholkonsum aufgeklärt. Behandler und Betroffene erhoffen sich über den abschreckenden Effekt der unangenehmen Wirkung (bei gleichzeitigem Alkoholkonsum) ein Vermeiden des Alkoholkonsums.

    1949 wurde der Wirkstoff erstmals in der Schweiz als Medikament eingesetzt. Breite Anwendung fand er vor allem in den USA, in Frankreich, Großbritannien und in Osteuropa, dort vor allem auch in Form eines unter die Haut eingesetzten Medikamentendepots mit Langzeitwirkung. In Deutschland blieb der Einsatz auch unter Experten umstritten und hat sich bis heute nicht etabliert. Lediglich in einzelnen Zentren wurde mit dem Medikament gearbeitet, zum Teil auch in Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung. Ein Teil der Zurückhaltung mag darin begründet sein, dass es in den 50er und 60er Jahren vereinzelt Todesfälle unter hochdosierter Disulfiram-Medikation gab. Ein weiterer Grund für den zögerlichen Einsatz sind wohl auch grundsätzliche Bedenken, inwiefern das Prinzip der Abschreckung mit dem Ziel eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung vereinbar ist.

    Sollte man sich trotz dieser grundsätzlichen Bedenken für eine Behandlung mit diesem Medikament entscheiden, ist – allein schon aufgrund der potenziellen medizinischen Gefahren – auf jeden Fall ein engmaschiger Kontakt des Patienten zum behandelnden Arzt erforderlich. Kritiker dieser Medikation argumentieren auch damit, dass ein Teil des nachgewiesenen abstinenzstabilisierenden Effektes wohl eher auf den engen Arzt-Patienten-Kontakt als auf die eigentliche Wirkung des Medikamentes zurückzuführen sei. Befürworter dieser Medikation argumentieren, dass nicht für alle Betroffenen das Ideal eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung zu erreichen sei und dass für diese Gruppe von Betroffenen das Medikament – bei sorgfältiger ärztlicher Führung – eine durchaus hilfreiche Option darstellen könne.

    Wie auch immer man sich als Behandler hier positionieren will: Die Herstellerfirma hat zwischenzeitlich die Produktion für den deutschen Markt eingestellt. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass 2011 die Zulassung für Disulfiram in Deutschland nicht mehr verlängert wurde. Zwar ist das Medikament nach wie vor über internationale Apotheken erhältlich, jedoch stellen die beschriebenen Umstände naturgemäß eine deutliche Hürde für die Verordnung dar.

    2015 wurde erstmals eine S3-Leitlinie – eine S3-Leitlinie ist die qualitativ hochwertigste Form einer Leitlinie – mit dem Titel „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ veröffentlicht. Sie entstand in einem aufwendigen, methodisch festgelegten und von einer neutralen Person moderierten Verfahren unter Beteiligung von Fachgesellschaften, Experten sowie von Selbsthilfe- und Angehörigenverbänden. Die in der Leitlinie enthaltenen Empfehlungen stellen somit keine Einzelmeinung dar, sondern sind wissenschaftlich fundiert und im Konsens der Beteiligten formuliert und können somit als derzeit gültiger Orientierungsrahmen für eine ‚kunstgerechte‘ Behandlung gelten. Dabei wird auch eine Empfehlung zur Medikation mit Disulfiram abgegeben. Sie lautet:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken kann bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Disulfiram im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden, wenn andere zugelassene Therapieformen nicht zum Erfolg geführt haben.“

    In der Terminologie der Leitlinien ist die „kann“-Formulierung eine offene Empfehlung. Genau genommen handelt es sich nicht um eine Empfehlung, sondern um die Feststellung einer Option unter definierten Voraussetzungen. Somit bleibt die Empfehlung zum Einsatz von Disulfiram insgesamt recht zurückhaltend und eben begrenzt auf Situationen, in denen andere Behandlungsformen ausgereizt sind.

    Acamprosat

    Acamprosat wurde in Frankreich entwickelt und 1989 zugelassen. In Deutschland kam es 1995 mit der gezielten Indikation „Rückfallprophylaxe nach Alkoholentgiftung“ auf den Markt. Der genaue Wirkmechanismus der Substanz im Gehirn ist noch nicht vollständig verstanden, zumal sie Einfluss auf mehrere Rezeptorsysteme hat. Bei Markteinführung des Medikamentes wurde von der Herstellerfirma behauptet, das Medikament verhindere oder reduziere das Suchtmittelverlangen. Dies ließ sich in den hierzu durchgeführten Studien jedoch nicht belegen.

    Studienergebnisse zur Häufigkeit von Rückfällen unter Medikamenteneinnahme waren widersprüchlich, d. h. manche Studien zeigten eine Minderung der Rückfallhäufigkeit, andere nicht. Die widersprüchliche Datenlage wird heute so erklärt, dass Acamprosat offenbar doch einen nachweisbaren Effekt auf die Rückfallhäufigkeit hat, aber dass von diesem Effekt nicht alle Behandelten profitieren. Zwischenzeitlich bemüht sich die Forschung um Klärung der Frage, welche Kriterien Einfluss darauf haben, ob das Medikament in der gewünschten Weise wirkt oder nicht. Darauf stützt sich die Hoffnung, das Medikament in Zukunft passgenauer einsetzen zu können. Die Erwartungen dürfen jedoch nicht sehr hoch geschraubt werden, da selbst die Studien, die die gewünschte Wirkung nachgewiesen haben, keinen besonders großen Effekt zeigen konnten. Eine Kennzahl, die dies zum Ausdruck bringt, ist die NNT (number needed to treet), die mit 9 angegeben wird. Das heißt, dass durchschnittlich neun Patienten mit Acamprosat behandelt werden müssen, bis einer der Behandelten vom gewünschten Effekt profitiert.

    Trotz dieser sehr ernüchternden Zahlen gibt die S3-Leitlinie immerhin eine (einfache) Empfehlung ab, die Möglichkeiten des Medikamentes zu nutzen; allerdings unter klar formulierten Voraussetzungen und Einschränkungen:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken sollte bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Naltrexon

    Naltrexon wird schon seit den 90er Jahren unterstützend in der Entwöhnung Opiatabhängiger eingesetzt. Seit 2010 ist es in Deutschland auch zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zugelassen. Chemisch gesehen ist die Substanz dem Opium ähnlich und kann daher auch die im Gehirn befindlichen Opiatrezeptoren besetzen. Dies tut die Substanz allerdings, ohne die weiteren Wirkungen des Opiums auszulösen. Medizinisch gesehen wird die Substanz daher als Opiatrezeptor-Antagonist (Antagonist = Gegenspieler) bezeichnet. Die gewünschte Wirkung als Medikament kann man sich in etwa so vorstellen: Naltrexon besetzt die Opiatrezeptoren, dadurch können die körpereigenen Opioide, die für den angenehmen, rauschartigen Effekt des aktivierten ‚Belohnungssystems‘ verantwortlich sind, nicht mehr zur Geltung kommen. Daher spürt der Alkoholkonsument auch nicht mehr die sonst so positiv und angenehm erlebte Alkoholwirkung. Der ausbleibende ‚Belohnungseffekt‘ soll dafür sorgen, dass der Betroffene nicht mehr so ein starkes Verlangen nach Alkohol verspürt und im Idealfall daher keinen Alkohol mehr trinkt.

    Soweit die Theorie. Die Praxis zeigt allerdings – wie so oft – ein komplizierteres und uneinheitlicheres Bild. Ähnlich wie bei Acamprosat nämlich sind die Studienergebnisse kontrovers. Effekte im Hinblick auf eine aufrechterhaltene Abstinenz wurden kaum gefunden, wohl aber Effekte bezogen auf eine Vorbeugung übermäßigen Trinkens bzw. eine Trinkmengenreduktion. Aber selbst diese Effekte sind nicht sehr stark ausgeprägt. Es müssen neun Patienten mit Naltrexon behandelt werden, um bei einem Patienten einen gewünschten Effekt festzustellen (NNT = 9). Und ebenso wie bei Acamprosat bemüht sich die Forschung derzeit, Kriterien herauszufinden, mit denen man ein ‚Ansprechen‘ auf das Medikament besser vorhersagen kann. Bei so viel Ähnlichkeit bezüglich der wissenschaftlichen Evidenz erstaunt es nicht, dass die S3-Leitlinie für beide Medikamente in einem Atemzug dieselbe Empfehlung gibt (s. o.).

    Baclofen

    Die Geschichte der Entdeckung von Baclofen als Medikament zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit ist eine außergewöhnliche. Als Medikament wurde es erstmals 1962 als Mittel gegen Krampanfälle eingesetzt. Dabei war das Medikament jedoch nicht sehr erfolgreich. Später entdeckte man seine Wirksamkeit gegen eine Erhöhung des Muskeltonus, z. B. bei einer Spastik. Mit dieser Indikation wurde es jahrzehntelang in der Behandlung bestimmter neurologischer Erkrankungen angewendet.

    2009 machte ein französischer Arzt, Oliver Ameisen, in einem Selbstversuch die Erfahrung, dass ihm das Medikament bei der Überwindung seiner Alkoholabhängigkeit half. Nach erfolgreichem Eigenversuch setzte er das Medikament schließlich auch bei seinen Patienten zur Behandlung von Alkoholproblemen ein und war dabei – nach seiner Darstellung – ebenfalls erfolgreich. Er schrieb darüber ein Buch („Das Ende meiner Sucht“, Verlag Kunstmann), das viel Aufmerksamkeit erntete. In der Folge wurde das Medikament in Frankreich (und inzwischen auch außerhalb Frankreichs) vermehrt nachgefragt und eingesetzt. Überzeugende wissenschaftliche Belege der Wirkung bei Alkoholabhängigkeit stehen jedoch noch aus. Drei bisher durchgeführte Studien zeigen widersprüchliche Ergebnisse: Während zwei von ihnen eine geringere Rückfallhäufigkeit (im Vergleich zu Placebo) zeigen konnten, ließ eine dritte Studie dieses Ergebnis vermissen. Insgesamt fehlen noch aussagekräftige Studien mit ausreichend vielen Teilnehmern.

    Da Baclofen nicht offiziell zur Behandlung bei Alkoholabhängigkeit zugelassen ist, entstehen für den behandelnden Arzt, der das Medikament bei Alkoholabhängigkeit einsetzen will (so genannter Off-Label-Use), mögliche Haftungsprobleme. Schon aus diesem Grund ist – ungeachtet der noch ausstehenden wissenschaftlichen Belege der Wirksamkeit – von ärztlicher Seite her Zurückhaltung geboten. In der S3-Leitlinie wird Baclofen gar nicht erst erwähnt.

    Nalmefen

    Nalmefen ist chemisch gesehen dem Naltrexon sehr ähnlich und wirkt auch als Opiatrezeptor-Antagonist. Dementsprechend ist der Wirkmechanismus identisch: fehlender ‚Genuss- bzw. Belohnungseffekt‘ bei Alkoholkonsum durch besetzte Opiatrezeptoren. Im Vergleich zu Naltrexon hat Nalmefen allerdings ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und wirkt sich insbesondere nicht schädigend auf die Leber aus. Das Medikament wurde bereits in den 70er Jahren entwickelt, jedoch erst 2014 in Deutschland für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen.

    Neu ist, dass bei diesem Medikament erstmals als Ziel die Trinkmengenreduktion angegeben wird. Dies schlägt sich auch in der Art der Einnahme nieder. Nalmefen soll nicht regelmäßig eingenommen werden, sondern nur in Situationen, in denen der Betroffene ein verstärktes Trinken befürchtet bzw. vorhersieht. Das Medikament soll dann bei Bedarf ein bis zwei Stunden vor dem erwarteten Trinken eingenommen werden.

    Die wissenschaftliche Evidenz ist bislang noch recht dürftig: Es liegen drei Studien mit insgesamt 2.000 Teilnehmern vor. Untersucht wurden die Anzahl der Trinktage sowie die durchschnittlich konsumierte Alkoholmenge pro Tag. Die Ergebnisse der Studien sind nicht einheitlich. Wenn statistisch signifikante Ergebnisse (im Sinne einer Trinkmengenreduktion) vorlagen, dann waren die Effekte im Vergleich zur Placebo-Gruppe insgesamt nur gering ausgeprägt (z. B. pro Monat 1,6 Trinktage weniger bzw. pro Tag 6,5 Gramm Alkohol weniger als die Kontrollgruppe). Dementsprechend zurückhaltend ist die Empfehlung der S3-Leitlinie:

    „Wenn das Ziel die Trinkmengenreduktion ist, kann nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Nalmefen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Wie die „kann“-Formulierung zu verstehen ist, wurde oben bereits erläutert. Bei den Empfehlungen der S3-Leitlinie fällt auf, dass alle medikamentösen Behandlungsoptionen nur „außerhalb der stationären Entwöhnung“ empfohlen werden. Diese Formulierung ist so zu verstehen, dass der Entwöhnungsbehandlung – nach vorliegender wissenschaftlicher Evidenz und Expertenkonsens – der Vorrang vor einer möglichen medikamentösen Behandlung gegeben wird.

    Lebenszyklus neuer Medikamente

    Medikamente, die neu auf den Markt kommen (egal, in welchem medizinischen Fachgebiet), unterliegen generell einem gesetzmäßig ablaufendem Zyklus. Die Markteinführung stellt die erste Phase dar. In dieser Phase betreibt die Pharmaindustrie einen großen Werbeaufwand. Systematisch werden bei Behandlern und Behandelten Hoffnungen und Erwartungen geweckt, und in der Folge wird das Medikament häufig verordnet. In einer zweiten Phase kommen Zweifel an der (behaupteten) Wirksamkeit auf, es werden eventuell noch nicht bekannte Nebenwirkungen festgestellt und der (zusätzliche) Nutzen des neuen Medikamentes wird zunehmend in Frage gestellt. In dieser Phase streiten die Experten über die wissenschaftliche Evidenz, da es hierzu in aller Regel widersprüchliche Daten gibt. Es werden schließlich aufwendige und methodisch anspruchsvolle Studien durchgeführt, um die Widersprüche zu klären. Dieser Prozess benötigt oft etliche Jahre. In der dritten Phase ist die wissenschaftliche Evidenz weitgehend geklärt und die Mehrzahl der Experten einigt sich auf eine gemeinsame Bewertung. Diese Bewertung fällt dann in aller Regel deutlich ungünstiger aus als die anfangs propagierten Hoffnungen und Erwartungen. Eine Ernüchterung tritt ein, und die Bedeutung des Medikamentes relativiert sich. Manche Medikamente werden in dieser Phase wieder vom Markt genommen oder in ihrer Indikation eingegrenzt, und etliche Medikamente werden aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr so häufig verordnet, da der zusätzliche Nutzen in keinem Verhältnis zu dem (bei neuen Medikamenten regelhaft) hohen Preis steht. Bis es soweit kommt, vergehen meist fünf bis zehn Jahre. In dieser Zeit hat die Pharmafirma gut an dem Medikament verdient, so dass die dann rückläufigen Verordnungen in aller Regel gut verkraftet werden bzw. schon einkalkuliert sind.

    Hier sollen beispielhaft die monatlichen Behandlungskosten der fünf besprochenen Medikamente in der Reihenfolge ihrer Markteinführung genannt werden:

    • Disulfiram (Markteinführung 1949): 15 Euro/Monat
    • Baclofen (Markteinführung 1962): 13 Euro/Monat
    • Acamprosat (Markteinführung 1989): 71 Euro/Monat
    • Naltrexon (Markteinführung 2010): 125 Euro/Monat
    • Nalmefen (Markteinführung 2014): 80 Euro/Monat

    Vor dem Hintergrund des beschriebenen Lebenszyklus neuer Medikamente ist es nicht verkehrt, neu auf den Markt gebrachten Medikamenten generell mit einer gewissen Skepsis zu begegnen und im Zweifel die Phase 3 abzuwarten, bevor man sich als Behandler für oder gegen den Einsatz des Medikamentes entscheidet.

    Rolle der Pharmaindustrie

    Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Medikamente kommt nicht ohne die Betrachtung der Rolle der Pharmaindustrie aus. Die Unternehmen präsentieren sich zwar (durch Werbung und ihr Auftreten) als Organisationen im Dienste der Gesundheit, aber die Triebfeder ihres Handelns ist nicht primär der gesundheitliche Nutzen, sondern vor allem der ökonomische Erfolg, was für Wirtschaftsunternehmen auch ganz selbstverständlich ist. Die Wirksamkeit eines Medikamentes muss vom Hersteller gegenüber den nationalen Gesundheitsbehörden nachgewiesen werden. Wirksamkeitsnachweise durch klinische Studien sind aufwändig und teuer, sie lohnen sich nur, wenn mit einem Medikament ein entsprechender Gewinn erzielt werden kann. Dabei spielen vor allem betriebswirtschaftliche Überlegungen des Herstellers eine Rolle und nicht eine volkswirtschaftliche bzw. gesundheitsökonomische Kosten-Nutzen-Betrachtung.

    Rolle der Forschung

    Schnelle Ergebnisse

    Nicht nur die Pharmaindustrie gehört auf den Prüfstand, sondern auch die Forschung. Wie andere gesellschaftliche Bereiche auch, ist sie von einem harten Konkurrenzkampf geprägt. Die Expertise eines Wissenschaftlers wird gemessen an der Zahl seiner Veröffentlichungen. Wer nicht fleißig Ergebnisse produziert, ist sehr schnell ‚out‘ und gehört nicht mehr zur Elite. Dieses Prinzip führt – das liegt auf der Hand – zu Masse statt Klasse. Qualitativ hochwertige und methodisch anspruchsvolle Forschung braucht jedoch viele Studienteilnehmer und Mitarbeiter und damit viel Zeit und Geld sowie ein hohes Maß an Koordinationsarbeit und Durchhaltevermögen.

    ‚Positive‘ Ergebnisse

    Ein weiteres Phänomen ist psychologischer Natur. Die menschliche Wahrnehmung ist so gestrickt, dass ‚positive‘ Studienergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“) aufmerksamer registriert werden und interessanter wirken als ‚negative‘ Ergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nicht nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“). Dies führt dazu, dass ‚positive‘ Studienergebnisse auch viel lieber veröffentlicht werden als ‚negative‘. Letztere landen daher häufig in der Schublade. Damit kommt es bei Literaturrecherchen zu einer systematischen Verzerrung zugunsten ‚positiver‘ Studienergebnisse. Dieses Phänomen ist schon länger bekannt. Man versucht dem entgegenzuwirken, indem die Forscher aufgefordert werden, alle begonnenen und laufenden Studien zu listen und auch alle Ergebnisse zu veröffentlichen. Damit diese Bemühungen Früchte tragen, müsste diese Aufforderung allerdings zur Pflicht und international umgesetzt und kontrolliert werden. Offen bleibt, wie das realisiert werden kann.

    Interessegeleitete Auftraggeber

    Schon der Volksmund weiß: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dies bei von der Pharmaindustrie bezahlter Forschung anders ist. Die Möglichkeiten, die Ergebnisse einer Studie so darzustellen, dass sie dem gewünschten Ergebnis entsprechen, sind zahlreich und für den Nicht-Eingeweihten kaum zu entdecken. Aus diesem Grund wird in Deutschland zunehmend gefordert, dass die Auftraggeber einer Studie von den Autoren benannt werden müssen, ebenso wie ggf. vorhandene Interessenskonflikte der Autoren. Auch hier wäre es dringend anzuraten, diesen Anspruch zu einem international gültigen (und kontrollierten) Standard zu machen. Wünschenswert – aber utopisch – wäre es, die Forschung ausschließlich durch weitgehend neutrale Auftraggeber (z. B. Hochschule, Staat) zu finanzieren.

    Komplexität des Forschungsgegenstandes

    Ein grundlegendes Dilemma der Therapieforschung besteht darin, dass psychotherapeutische Fragestellungen generell schwierig zu untersuchen sind. Das liegt in der Natur der Psychotherapie, deren Wirkung ja nicht nur allein von der Methode, sondern auch von der Persönlichkeit des Therapeuten und der daraus resultierenden Therapeuten-Patienten-Beziehung abhängt. Gegenstand der Untersuchung ist somit ein sehr komplexes System von sich gegenseitig beeinflussenden Variablen. Dadurch ist es fast unmöglich, trennscharf eine einzige Variable aus dem System herauszulösen und gezielt zu untersuchen. Bei der Medikamentenforschung hingegen wird ein deutlich weniger komplexes System untersucht. Zudem können bestimmte Variablen, die das System verkomplizieren (z. B. bestimmte psychologische Effekte einer medikamentösen Behandlung) durch Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung teilweise herausgefiltert werden. Es handelt sich also um eine vergleichsweise einfache Fragestellung mit einem (vermeintlich) klaren Ergebnis. Das ist der Grund, weshalb es auch in der Suchttherapieforschung ein Ungleichgewicht zugunsten medikamentenbezogener Fragestellungen gibt. Die innerhalb der Forschung generierte Dynamik wirkt sich schließlich auch auf die Wahrnehmung der (Fach)Öffentlichkeit aus. Indem gehäuft neue Erkenntnisse aus der Medikamentenforschung bekannt gemacht werden, entsteht der Eindruck, dass Suchttherapie immer mehr Medikamententherapie sei.

    Psychologische Effekte in der Medikamentenforschung

    Es wird allgemein anerkannt, dass jede Medikation auch psychologische Wirkungen mit sich bringt, so z. B. den Placebo-Effekt. Dieser hat dazu geführt, dass Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung (zur Trennung der psychologischen von den biologischen Wirkungen) zum Standard wissenschaftlicher Medikamentenforschung geworden sind. Ein anderer, vermutlich genauso Einfluss nehmender psychologischer Effekt einer Medikation hingegen wird in der Forschung grundsätzlich außer Acht gelassen: die Auswirkung der Medikation auf die Selbstwirksamkeitserwartung des Behandelten. Selbstwirksamkeitserwartung ist die Überzeugung, die Erkrankung mit den eigenen Möglichkeiten bewältigen und überwinden zu können. Gerade bei Sucht- und psychischen Erkrankungen trägt eine positive Selbstwirksamkeitserwartung in starkem Maße zum Erfolg einer Behandlung bei. Zum Zeitpunkt, an dem Sucht- und psychisch Erkrankte in Behandlung kommen, ist ihre Selbstwirksamkeitserwartung in aller Regel stark beschädigt. Schließlich haben die meisten von ihnen zahlreiche vergebliche Selbstheilungsversuche hinter sich. Daher gehört es regelhaft zu den therapeutischen Zielsetzungen, die beschädigte Selbstwirksamkeitserwartung wieder aufzubauen. Eine Medikamentenbehandlung kann dies allerdings kaum leisten. Denn im Grunde signalisiert sie dem Hilfesuchenden genau das Gegenteil von Selbstwirksamkeit, nämlich dass er angewiesen ist auf eine chemische Substanz, weil die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Unter diesem Aspekt ist es fraglich, ob ein Medikament hilfreich ist oder den Betroffenen nicht vielmehr festschreibt auf seine Rolle als Hilfe- und Behandlungsbedürftiger mit der Folge einer Aufrechterhaltung der beschädigten Selbstwirksamkeitserwartung. Aber das wird von der Medikamentenforschung nicht untersucht.

    Fazit

    Es versteht sich von selbst, dass die Erforschung und Weiterentwicklung medikamentöser Behandlungsoptionen in der Suchttherapie grundsätzlich sinnvoll und gewünscht sind. Aus dem Gesagten ergeben sich hierfür als Fazit aber folgende Ansprüche:

    • Die Erwartungen an medikamentöse Behandlungsstrategien sollten realistisch bleiben. Es ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, dass eine Suchterkrankung medikamentös geheilt werden kann.
    • Die Suchttherapieforschung sollte sich nicht einseitig auf medikamentöse Fragestellungen fokussieren, sondern mit mindestens ebenso großer Anstrengung nicht-medikamentöse (z. B. psychotherapeutische) Fragestellungen untersuchen.
    • Die Forschung sollte auch psychologische Nebenwirkungen von medikamentösen Maßnahmen untersuchen und in die Gesamtbeurteilung von Medikamenteneffekten einbeziehen.
    • Die Forschung sollte vermehrt der Frage nachgehen, welche Patienten von einer bestimmten Medikation profitieren und welche nicht.
    • Bei nur geringen Effekten einer Medikation sollte von neutraler Seite festgelegt werden, wie stark ein nachgewiesener Effekt mindestens sein muss, damit eine Behandlung zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten berechtigt ist.
    • Vor einer Einführung grundsätzlich neuer Behandlungsziele und -strategien sollte ein Expertendiskurs über deren Sinnhaftigkeit erfolgen – und nicht umgekehrt!

    Literatur beim Verfasser

    Der Text wurde als Vortrag verfasst, den der Autor im September 2015 bei der Jubiläumsveranstaltung der Suchtberatung der Diakonie in Lübbecke gehalten hat.

    Kontakt:

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    m.brecklinghaus@ak-neuss.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Matthias Brecklinghaus, Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“, war von 1999 bis 2016 ärztlicher Leiter der Fachklinik Curt-von-Knobelsdorff-Haus und seit 2009 auch Klinikleiter. Seit April 2016 arbeitet er im „Memory-Zentrum“ der St. Augustinus-Kliniken Neuss.

  • Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Dr. Eckhard Roediger
    Dr. Eckhard Roediger

    Das deutsche Suchtbehandlungssystem ist das mutmaßlich weltweit am besten ausgebaute, und die Abstinenzquoten gelten als durchaus befriedigend. Was kann eine Psychotherapiemethode wie die Schematherapie da noch zu einer Verbesserung beitragen? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn es gibt mehrere Untersuchungen von Samuel Ball aus den USA, in denen eine von ihm entwickelte Kombination aus suchtspezifischen Behandlungselementen und einem Schematherapieansatz (Ball 1998) zu keinen besseren, und in der letzten Studie (Ball et al. 2011) bei einer allerdings recht schwierigen Klientel sogar zu schlechteren Ergebnissen führte als eine suchtspezifische Behandlung allein. Vielleicht sind diese Ergebnisse ein Grund, warum bisher kaum jemand in der deutschen ‚Suchtbehandlungsszene‘ diesen Ansatz aufgegriffen hat.

    Die bisherigen Forschungsergebnisse sind zwiespältig

    Kurz zusammengefasst haben die Studien von Ball auf das deutsche Suchtbehandlungssystem übertragen aber nur eine begrenzte Aussagekraft, denn es wurde vergleichsweise kurz (sechs bis 14 Sitzungen über max. ein halbes Jahr), mit einer recht belasteten Klientel (z. B. teilweise wohnsitzlose Drogenabhängige oder zwangseingewiesene Patienten mit einem Anteil von ca. 50 Prozent paranoider oder antisozialer Persönlichkeitsstörung) und vor allem mit einem älteren Schemaansatz gearbeitet. Dagegen wurde in den erfolgreichen Studien der Forschergruppe um Arnoud Arntz in den Niederlanden der neuere Modusansatz angewendet. Damit konnten nämlich sowohl bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Giessen-Bloo et al. 2006) als auch mit verschiedenen anderen Persönlichkeitsstörungen (Bamelis et al. 2014) sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Allerdings bei einer zweijährigen Behandlung, wenn auch in der letztgenannten Studie mit nur 50 Sitzungen (40 wöchentliche Sitzungen im ersten und monatliche Sitzungen im zweiten Jahr). In den Niederlanden wurde gerade eine Studie mit ca. 150 forensischen Patienten (die fast alle schwere Persönlichkeitsstörungen hatten) abgeschlossen, und die ersten Ergebnisse sind auch hier positiv (Bernstein et al. 2012), allerdings wurde über mehrere Jahre behandelt. Die endgültigen Ergebnisse werden für diesen Sommer erwartet. Bei ausreichend langer Behandlung sind also auch diese schwierigen Patienten zu erreichen.

    Diese Mischung aus unterschiedlich ermutigenden Ergebnissen gilt es genauer zu betrachten, um das Potenzial der Schematherapie für die Suchtbehandlung differenziert einzuschätzen. Dazu sollen nun die wichtigsten Elemente einer Schematherapie kurz umrissen werden.

    Die Bedeutung der Basisemotionen

    Das Modell der Schematherapie orientiert sich stark an dem Modell der Bindungsforschung (Bowlby 1976). Demzufolge haben Kinder Grundbedürfnisse, die im Kern das Bedürfnis nach wohlwollenden Bindungen einerseits und den Aufbau von Selbstbehauptungsfähigkeit und Kontrolle andererseits umfassen. Bei Frustrationen dieser Bedürfnisse in den frühen Beziehungserfahrungen werden als Signal sog. Basisemotionen (Ekman 1993) aktiviert. Das sind zunächst einmal Angst, Trauer, Ekel und Wut. Sie zeigen an, dass dem Kind emotional etwas fehlt. Vielen Lesern werden diese Basisemotionen aus dem Film „Alles steht Kopf“ vertraut sein, bei dessen Entstehung Paul Ekman beratend mitwirkte. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Frustration des Bindungsbedürfnisses primär Angst oder Trauer auslöst und die Bedrohung der Selbstbehauptung Ekel (was sich im Seelischen eher als ‚Genervt-Sein‘ zeigt) bzw. Wut. Eine Bindungsfrustration kann aber sekundär auch Ärger auslösen, was häufig bei Narzissten zu beobachten ist. Hinter der sekundären Wut steckt dann eine primäre Trauer oder Angst, die aber nicht wahrgenommen wird (Greenberg et al. 2003). Dann gibt es noch die Basisemotionen „Überraschung“, die aber emotional neutral ist, und „Freude“, die auftritt, wenn alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. In dem oben genannten Film kann man jedoch sehen, dass die Freude gegenüber den anderen Basisemotionen eine eher aktive bzw. organisierende Rolle einnimmt.

    Das Schematherapiemodell

    Starke bzw. häufige Frustrationen der Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend führen dem Schematherapiemodell zufolge dazu, dass in der neuronalen Matrix des Gehirns  sog. Schemata angelegt werden. Werden diese im Erwachsenenalter in ähnlicher Weise aktiviert (z. B. durch Beschämung, Zurücksetzung und Verlassen-Werden), kommen die Patienten in einen komplexen Aktivierungszustand (einen  sog. Modus), der dem damaligen Erleben entspricht. Sie fühlen dann einerseits emotional wieder wie als Kind (sog. Kindmodus), andererseits werden auch Bewertungen und Lernerfahrungen von damals aktiviert, die als innere Instanz eine heute angemessene Bewertung verzerren (sog. innere Bewerter, oft auch innere Elternmodi genannt – siehe Abbildung 1). Die aktuelle Situation versuchen die Patienten dann durch die Strategien zu bewältigen, die sie in diesen Situationen in der Kindheit erlernt haben (sog. Bewältigungsmodi). Sie betrachten die Welt in Schemaaktivierungssituationen sozusagen aus Kinderaugen und setzen automatisch die alten Lösungen ein. Die innere Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, und die Patienten haben keinen Zugriff auf die Möglichkeiten bzw. Ressourcen, die sie inzwischen als Erwachsene entwickelt bzw. erworben haben. Dadurch wirkt das Bewältigungs- oder Problemlöseverhalten maladaptiv oder sogar ‚kindisch‘. Sie sitzen mit einem ‚Tunnelblick‘ bzw. ‚Scheuklappen‘ in einer Lebensfalle fest (Young et al. 2005).

    Ziel der Therapie ist, die Schemata und die typischen Auslösesituationen (oft zwischenmenschliche Konfliktsituationen) kennenzulernen, die aktuellen Modusaktivierungen auf die mutmaßlichen biographischen Entstehungssituationen zu beziehen, sich emotional zu distanzieren und eine wohlwollende, neue Perspektive des sog. gesunden Erwachsenenmodus einzunehmen. Aus dieser Haltung heraus soll anstatt der automatischen, maladaptiven Bewältigung eine funktionale Lösung gefunden und umgesetzt werden. Die Therapeuten übernehmen dabei eine Rolle, die der von Eltern oder einem Trainer ähnelt.

    Abb. 1: Modusmodell
    Abb. 1: Modusmodell

    Suchtverhalten im Schematherapiemodell

    In der Regel wird die Einnahme psychotroper Substanzen oder das Ausführen selbstberuhigender bzw. selbststimulierender Aktivitäten als „Modus des distanzierten Selbstberuhigers“ eingeordnet. Das trifft in der Regel auch zu, denn das Verhalten dient dazu, eine unangenehme innere Spannung, die aus einer Grundbedürfnisfrustration entsteht, aktiv oder passiv abzubauen. In einer Schematherapie wird man aber immer gemeinsam die Auslösesituation im Einzelfall analysieren, um die Funktion des Suchtverhaltens vor dem Hintergrund der emotionalen Aktivierungen (Kindmodi) und der aktivierten Bewertungen (Elternmodi) individuell zu verstehen. Dabei sind folgende Grundtypen beispielhaft beobachtbar (siehe Abbildung 1):

    1. Ein Arzt nimmt Aufputschmittel, um einen Nachtdienst durchzustehen und seine Aufgaben zu schaffen. Dann erhält das Suchtmittel einen Aufopferungs– bzw. Unterordnungsmodus aufrecht.
    2. Eine Prostituierte nimmt Heroin, um passiv ihr Elend nicht mehr zu spüren. Das wäre ein sog. distanzierter Selbstschutzmodus.
    3. Ein arbeitsloser junger Mann spielt mehrere Stunden am Tag Online-Spiele, um sich aktiv abzulenken. Dann hätte das Spielen die Funktion eines distanzierten Selbstberuhigers. Auch z. B. Entspannungstrinken, exzessives Einkaufen, Cannabiskonsum oder Selbstverletzungen können in dieser Weise eingesetzt werden.
    4. Menschen setzen Psychostimulanzien ein, um ihr Selbstwertgefühl, ihre Erlebensintensität oder ihre sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern. Das wäre ein Selbststimulierer.
    5. Manche Menschen gehen aus Frustration in einen anklagend-vorwurfsvollen Selbsterhöhungsmodus und rechtfertigen damit ihr Suchtverhalten. Sie fühlen sich als Opfer, und die anderen sind schuld. Dann unterstützen die Suchtmittel einen überkompensierenden Selbsterhöhungsmodus.

    Das übergeordnete Therapieziel

    Die wesentliche Erweiterung des therapeutischen Blickwinkels besteht darin, von den vordergründigen Bewältigungsmodi zu den hintergründigen emotionalen Kindmodi und aktivierten Bewertern (innere Elternmodi) zu kommen. Man kann von einem Schritt von der ‚vorderen‘, symptomatischen Ebene zu einer persönlichkeitsbedingten, motivationalen Ebene sprechen. Diese Einteilung in zwei Ebenen erweitert das klassische Modusmodell von Young. Die störungsspezifischen Interventionen setzen an der Symptom- bzw. unmittelbaren Verhaltensebene an, die schematherapiespezifischen Interventionen haben das Ziel, die Bewerter zu identifizieren und zu ‚entmachten‘ und das emotionale Erleben des Kindmodus mit Selbstmitgefühl zu betrachten und die Grundbedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Das ist die Aufgabe des gesunden Erwachsenenmodus, der im Laufe der Therapie mehr und mehr aufgebaut wird. Dieser Modus entspricht der ‚Regiefunktion‘, die die Freude in dem oben genannten Film in den Augen des Autors fälschlicherweise einnimmt. Die Basisemotion Freude ist nämlich das Ergebnis, wenn der Erwachsenenmodus seine Aufgabe gut erfüllt.

    Der Erwachsenenmodus wird in den erlebnisaktivierenden Übungen (s. u.) durch inneren Perspektivwechsel darin unterstützt, die Schemaaktivierungssituation wie von außen mit den Augen einer wohlwollenden anderen Person anzuschauen. Durch die emotionale Distanz sinkt das Erregungsniveau, der mentale Blickwinkel weitet sich, und die Patienten können wieder auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen. Aus diesem Abstand heraus ist eine ausbalancierte Grundbedürfnisbefriedigung leichter möglich. Wo das nicht möglich ist, bauen Therapeut und Patient schrittweise diese Ressourcen auf. Abhängig von dem Ausmaß, in dem das notwendig ist, dauern die Therapien dann entsprechend länger.

    Die innere Balance in der Suchtbehandlung

    Der Konsum von Suchtmitteln als Bewältigungsmodus dient generell dazu, die sich im Hintergrund andeutenden Basisemotionen ‚aufzulösen‘. Dadurch wird aber deren Signalcharakter zugedeckt und eine nachhaltige Befriedigung verhindert. Schaut man auf die oben genannten fünf Grundtypen von Suchtverhalten vor dem Hintergrund der aktivierten Kind- und Elternmodi, zeigen diese jeweils eine andere Form des Ungleichgewichts bei der Grundbedürfnisbefriedigung:

    Typ 1 tut für Bindung und Anerkennung (fast) alles und vernachlässigt darüber sein Selbstbehauptungsbedürfnis, was langfristig zu Ärgergefühlen führt, in denen sich diese Frustration zeigt. Er müsste sein ‚Selbstbehauptungs-Bein‘ stärken, um in eine innere Balance zu finden.

    Typ 4 und 5 als Gegenpol leben ihr Selbstbehauptungsbedürfnis übertrieben aus und ignorieren, dass sie auch Bindung brauchen, was sich später in Einsamkeitsgefühlen oder auch Panik zeigen kann. Sie müssten in Kontakt mit ihrer verletzbaren Seite kommen, um motiviert zu sein, sich einzuordnen und zu kooperieren, damit sie nicht nur durch Vorwürfe oder Kontrolltendenzen, sondern auch in vertrauensvollen Beziehungen Sicherheit (und Annahme bzw. Liebe) finden.

    Typ 2 und 3 nehmen eine Mittelstellung ein und zeigen ein mehr passives (Typ 2) bzw. aktives (Typ 3) Vermeidungsverhalten. Sie gehen weder enge Bindungen ein noch zeigen sie erfolgreiches  Selbstbehauptungsverhalten. Sie ziehen sich gewissermaßen zu stark in sich selbst zurück. Dadurch bleiben beide Grundbedürfnisse weitgehend unbefriedigt, was die Suchtdynamik verstärkt. Diese Situation trifft für die meisten Menschen mit Abhängigkeiten zu. Sie müssten in einer Therapie sowohl modellhaft Vertrauen in Bindungen zu anderen Menschen aufbauen als auch in den Therapiebeziehungen Selbstbehauptung üben. Zudem sind für sie funktionale Wege zur inneren Distanzierung und Selbstberuhigung hilfreich, um das Suchtverhalten zu ersetzen.

    Die schematherapeutische Beziehung

    Wie aus den oben genannten Studien hervorgeht, ist die Schematherapie keine Kurzzeittherapie, denn das ‚erste Bein‘, auf dem sie steht, ist eine recht intensive therapeutische Beziehung, die von dem Begründer, Jeffrey Young (Young et al. 2005), „begrenzte Nachbeelterung“ (engl.: limited reparenting) genannt wurde. Der Name deutet an, was die Schematherapie-Beziehung erreichen will, nämlich eine Beziehungsdichte, die für eine begrenzte Zeit und im therapeutisch möglichen Rahmen die Intensität einer Eltern-Kind-Beziehung besitzt, um in der Kindheit ‚eingebrannte‘ negative Beziehungserfahrungen (die Schemata) zu ‚heilen‘. Um diese Beziehungsintensität in der Stunde zu erreichen, aber die Patienten dennoch ausreichend stabil aus der Therapiestunde entlassen zu können, setzt sie sog. erlebnisaktivierende Techniken ein, die überwiegend dem Psychodrama und der Gestalttherapie entlehnt sind. Diese stellen das ‚zweite Bein‘ einer Schematherapie dar.

    Die erlebnisaktivierenden Techniken

    Dabei handelt es sich zum einen um die sog. Imaginationstechniken, zum anderen um sog. Modusdialoge auf mehreren Stühlen. Beide Techniken folgen einem relativ klar vorgezeichneten Ablauf, der natürlich an die einzelnen Patienten und den jeweiligen Verlauf der Übung angepasst wird, der aber den Therapeuten eine klare Orientierung gibt, ‚wohin die Reise geht‘. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu weniger direktiven Ansätzen, die mehr mit einem ‚geleiteten Entdecken‘ arbeiten. Unter http://www.schematherapie-roediger.de/blatt/index_blatt.htm können Abläufe für die wichtigsten Therapiesituationen im Detail angeschaut werden. Zur Anwendung dieser Techniken bei einem alkoholabhängigen Patienten siehe Roediger (2016a). Die Therapeuten nehmen bei den erlebnisaktivierenden Techniken mitunter anfangs eine sehr aktive Rolle ein und haben dadurch eine gute Kontrolle über den Verlauf der Stunde. Sie können entsprechend der Fähigkeiten der Patienten zunächst die Auflösung einer von den Patienten eingebrachten schwierigen Situation modellhaft vormachen, und die Patienten übernehmen schrittweise eine aktivere Rolle. Eben ganz ähnlich, wie es in alltäglichen Lernsituationen auch geschieht. Damit ist die Schematherapie deutlich ‚pädagogischer‘ als die meisten anderen Therapien.

    Die Fallkonzeption

    Die erlebnisaktivierenden Techniken und die Therapiebeziehung werden immer bezogen auf eine zu Beginn der Therapie von Therapeut und Patient gemeinsam erarbeitete Fallkonzeption eingesetzt. Zum besseren Verständnis der eigenen Situation bezogen auf das Schematherapiemodell gibt es mehrere Bücher für Patienten (Jacob et al. 2011; Roediger 2014, 2015). Die Fallkonzeption stellt das ‚dritte Bein‘ einer Schematherapie dar. Dadurch haben Patienten und Therapeuten jederzeit im aktuellen Prozess in der Stunde einen gemeinsamen Bezugspunkt, der Orientierung und einen Überblick gibt. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wenn die emotionale Aktivierung zu stark zu werden droht oder um die aktuellen Schemaaktivierungen in die Fallkonzeption einzuordnen, können Therapeut und Patient ganz konkret aufstehen und nebeneinander stehend in die Rolle eines ‚Beraterteams‘ wechseln. Folgende Fragen klären dann die Situation: „In welchem Bewältigungsmodus sind Sie jetzt?“, „Was sagen die Stimmen der inneren Bewerter dazu?“, „Welche Gefühle löst das in Ihrem Inneren aus (Kindmodus)?“, „Wie würde ein gesunder Erwachsener in dieser Situation reagieren?“. Das reguliert die Emotionen herunter und stabilisiert die therapeutische Arbeitsbeziehung. Näheres dazu bei Roediger (2016b).

    Auf diesen drei Beinen stehend, verbindet die Schematherapie die Beziehungsintensität und das biographische Verständnis einer psychodynamischen Therapie mit der Transparenz und zielgerichteten Lösungsorientierung von Verhaltenstherapien. Sie liefert einen übergeordneten Rahmen dafür, die Persönlichkeitsmuster der Patienten biographisch zu verstehen und das Suchtverhalten als maladaptiven Bewältigungsversuch einzuordnen, und sie gibt den Patienten einen Kompass für eine ausbalancierte und nachhaltige Grundbedürfnisbefriedigung.

    Anwendung des Schemamodells in der Suchtbehandlung: Schematherapie und „SchemaBeratung“

    Die oben umrissene Schematherapie ist als Langzeittherapie konzipiert und evaluiert, könnte aber an unser Suchtbehandlungssystem in verschiedener Weise angepasst werden:

    1. Die hohe Therapieintensität in einer stationären Suchtbehandlung erlaubt den Einsatz einer speziellen Gruppenschematherapie (Farrell & Shaw 2013), die in einer geschlossenen Gruppe über zwölf Wochen eine familienartige ‚Zweitsozialisation‘ mit tiefgehenden korrigierenden Beziehungserfahrungen ermöglicht. Bei Patientinnen mit Borderline-Störungen führte dies zu sehr starken Therapieeffekten (Farrell et al. 2009). Kombiniert mit Einzelgesprächen ist so ein intensiver Einstieg in eine schematherapeutisch-fundierte Suchtbehandlung auch für Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen möglich. Ein solches Modell befindet sich in der Fachklinik Wilhelmsheim in der Implementierung. Die schematherapeutische Behandlung sollte idealerweise ambulant fortgesetzt werden.
    2. In Kliniken, die eine solche Gruppe (noch) nicht anbieten können, kann im Rahmen der Einzelgespräche das Schematherapiemodell als Erklärungsmodell für die Suchtentstehung und -behandlung dienen, und in einzelnen erlebnisaktivierenden Übungen kann eine Motivation zur ambulanten Weiterbehandlung aufgebaut werden. In vielen Gegenden Deutschlands sind schematherapeutisch qualifizierte niedergelassene Therapeuten verfügbar, um die Therapie in der notwendigen Länge und Intensität weiterzuführen.
    3. Für Patienten ohne komorbide Persönlichkeitsstörung erscheint die beschriebene Beziehungsdichte nicht unbedingt notwendig. Sie könnten im Sinne des oben genannten Balancemodells dennoch von der Schematherapie und den erlebnisaktivierenden Techniken in einem eher ressourcenorientierten Behandlungssetting, z. B. in der ambulanten Rehabilitation, profitieren. Ein entsprechender Ansatz kann als „SchemaBeratung“ auch von Therapeuten ohne ärztliche oder psychologische Approbation erlernt werden (Handrock et al. 2016; Infos unter http://www.eroediger.de/coach/index_coach.htm). Damit wäre eine Kombination aus stationärer Behandlungseinleitung und ambulanter Fortführung im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung möglich.
    4. Menschen, die mit Suchtproblemen erstmalig in Beratungsstellen kommen, bietet die SchemaBeratung einen allgemeinpsychologisch verständlichen Zugang, ihr Suchtproblem zu verstehen und sich vor diesem Hintergrund auf eine Beratung einzulassen. Das Schemamodell ist vollständig mit dem Ansatz der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 2009) kompatibel und kann diesen um eine biographische Dimension erweitern.

    Zusammenfassung

    Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse aus den Studien von Samuel Ball erscheint ein differenzierter Einsatz schemabasierter Ansätze in Therapie und Beratung sinnvoll, um die positiven Erfahrungen aus den von Arnoud Arntz geleiteten Studien auch für Patienten im Suchtbehandlungssystem in verschiedenen Settings nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu den Studien von Ball sollte dabei auf eine ausreichend lange Gesamtbehandlungszeit und den systematischen Einsatz erlebnisaktivierender Techniken im Rahmen einer modusbasierten Fallkonzeption geachtet werden. Auch der Einsatz des Modells und der Techniken im Rahmen einer ressourcenorientierten Beratungsarbeit erscheint möglich. Entsprechende Ansätze sollten evaluiert werden, um den Ergebnissen Balls hoffentlich bessere Ergebnisse entgegensetzen zu können.

    Kontakt:

    Dr. Eckhard Roediger
    Institut für Schematherapie-Frankfurt
    Alt Niederursel 53
    60439 Frankfurt
    kontakt@eroediger.de
    http://www.eroediger.de/

    Angaben zum Autor:

    Dr. Eckhard Roediger ist in freier Praxis als Ärztlicher Psychotherapeut tätig. Er ist Leiter des Instituts für Schematherapie-Frankfurt (IST-F) und Präsident der internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST).

    Literatur:
    • Ball SA (1998). Manualized treatment for substance abusers with personality disorders: Dual focus schema therapy. Addict Behav. 23: 883–891.
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    • Bamelis L, Evers S, Spinhoven P, Arntz A (2014). Results of a multicenter randomized controlled trial of the clinical effectiveness of schema therapy for personality disorders. American Journal of Psychiatry 171: 305–322.
    • Bernstein DP, Nijman H, Karos K, Keulen-de Vos M, de Vogel V, Luker T (2012). Schema therapy for forensic patients with personality disorders: design and preliminary findings of multicenter randomized clinical trial in the Netherlands. International Journal of Forensic Mental Health 11: 312–324.
    • Bowlby J (1976). Trennung. Psychische Schäden als Folgen der Trennung von Mutter und Kind. München: Kindler.
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    • Farrell J, Shaw I (2013). Schematherapie in Gruppen. Therapiemanual für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Weinheim: Beltz.
    • Giessen-Bloo J, van Dyck R, Spinhoven P, van Tilburg W, Dirksen C, van Asselt T, Kremers I, Nadort M, Arntz A (2006). Outpatient psychotherapy for borderline personality disorder: a randomized trial for schema-focused-therapy versus transference focused psychotherapy. Arch Gen Psychiatry 63: 649–58.
    • Greenberg LS, Rice LN, Elliot R (2003). Emotionale Veränderung fördern. Grundlagen einer prozess- und erlebensorientierten Therapie. Paderborn: Junfermann.
    • Handrock A, Zahn C, Baumann M (2016). Schemaberatung, Schemacoaching, Schemakurzzeittherapie. Weinheim: Beltz.
    • Jacob G, van Genderen H, Seebauer L (2011). Andere Wege gehen. Lebensmuster verstehen und verändern – ein schematherapeutisches Selbsthilfebuch. Weinheim: Beltz.
    • Miller WR, Rollnick S (2009). Motivierende Gesprächsführung (3. Aufl.). Freiburg: Lambertus.
    • Roediger E (2014a). Wer A sagt … muss noch lange nicht B sagen. Lebensfallen und lästige Gewohnheiten hinter sich lassen. München: Kösel.
    • Roediger E (2015a). Raus aus den Lebensfallen. Das Schematherapie-Patientenbuch. Paderborn: Junfermann.
    • Roediger E (2016a). Was kann die Schematherapie zur Suchtbehandlung beitragen? Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 20 (1) (im Druck).
    • Roediger E (2016b). Ressourcenaktivierung durch Perspektivwechsel. Stehen Sie doch einfach einmal auf! Ein Plädoyer für mehr Bewegung(en) in der Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie 26 (2)  (im Druck).
    • Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2005). Schematherapie – ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.
  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

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    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de

  • Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

    Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

    Rainer Baudis
    Rainer Baudis

    Neuropsychologische Beeinträchtigungen von Suchtkranken wurden in einer Reihe von Untersuchungen aufgezeigt. Ihre „Dosisabhängigkeit“ (je mehr Suchtmittel konsumiert wird, desto größer sind die Schäden) wurde von Bolla et al. (1999; 2002) nachgewiesen. Die Beeinträchtigungen betreffen Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Aufmerksamkeit/Vigilanz, Konzentration, die exekutiven Funktionen und Entscheidungsverhalten/Decision Making. Dabei erwies sich das Entscheidungsverhalten zur Prognose erfolgreicher Teilhabe und Alltagsbewältigung als besonders relevant (Bechara 2002; Passetti et al. 2007). Becharas Studie untersucht die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung, um mittelfristig die Lebensqualität von Abhängigen zu verbessern.

    Damasio und Bechara (2002) wiesen nach, dass abhängige Probanden im Vergleich zu gesunden in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Schon 1994 hatten sie ein Testverfahren entwickelt, das Probanden die Aufgabe stellt, herauszufinden, welche von vier Stapeln eines Kartenspiels ertragreich und welche verlustbringend sind, um möglichst viele Punkte zu sammeln. Dabei kann man sich nur langsam herantasten und muss sich von Ahnungen leiten lassen. Solche zielführenden vagen Empfindungen nennt Damasio „somatische Marker“. Stehen diese nicht zur Verfügung aufgrund einer Hirnläsion oder weil sie impulsiv übertönt werden, ist ein erfolgreiches Entscheidungsverhalten nicht möglich. Bechara (2005) entwickelte diese Theorie weiter und beschrieb Abhängigkeit in der Dynamik eines „reflexiven“ und eines „impulsiven“ Systems. Danach werden Suchtkranke durch eine Übererregung des impulsiven Systems (Hypersensibilität für Belohnung) oder durch eine geschwächte „Top-Down-Steuerung“ (exekutive Funktionen) verleitet, mittelfristige Ziele zugunsten der Erfüllung kurzfristiger Ziele zu vernachlässigen und Misserfolge (bezogen auf die mittelfristigen Ziele) nicht zu beachten.

    1. Entstehung des Trainingsmanuals HALT!

    Abb. 1: Logo des HALT!- Programmes

    Das „Trainingsmanual HALT!“ ist im Rahmen eines Forschungsprojekts (2009 bis 2013) entstanden, das der Verein für Jugendhilfe Böblingen e. V. mit seinen Rehabilitationseinrichtungen in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut (IAO) Stuttgart im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg durchgeführt hat. Ziel war es, die Alltagsbewältigung und Selbststeuerung von Suchtkranken zu verbessern. Zunächst wurden 249 empirische Studien zur neuropsychologischen Beeinträchtigung ausgewertet unter besonderer Berücksichtigung des Entscheidungsverhaltens. Die Auswertung führte zu einem Modell, welches das Entscheidungsverhalten, exekutive Funktionen, emotionale Selbstkontrolle und Impulsivität miteinander verknüpft: das Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit (vgl. Abb. 2). Impulsivität wird als ein grundlegendes Phänomen bei Abhängigkeit angesehen: (a) als Folge beeinträchtiger Top-Down-Steuerung sowohl der kalten wie der heißen Kognition (Zelaszo et al. 2007) oder (b) als Aktivierung bzw. Hypersensibilisierung des impulsiven Systems.

    Abb. 2: Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit: Kalte und heiße Kognition bilden als Top-Down-Kontrollsysteme ein Gegengewicht zur Impulsivität. Von der „Kräfteverteilung“ zwischen Kontrolle und Impulsivität hängen die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung ab.

    Um eine rehabilitative Anwendung zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens, der emotionalen Selbststeuerung und der Alltagsbewältigung zu entwickeln, wurden als nächster Schritt 414 empirische Studien ausgewertet, die Verbesserungen der neuropsychologischen Beeinträchtigung bzw. Impulsivität behandeln. Klingberg (2010) wies beispielsweise die Trainierbarkeit des Arbeitsgedächtnisses und Verbesserungen bei ADHS nach. Eine beträchtliche Zahl an Studien belegt die Möglichkeit, exekutive Funktionen zu verbessern, z. B. durch bestimmte Aufgaben. Die adressierten Gehirnareale reagieren mit neuroplastischen Veränderungen („gelenkter Reorganisation“, Robertson & Murre 1999). Das Programm HALT! folgt diesem Paradigma und beschreibt Module, die geeignet sind:

    • die Überansprechbarkeit des impulsiven Systems herunterzufahren,
    • die Steuerung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis zu trainieren,
    • die Entwicklung eines Störungsbewusstseins zu fördern und
    • emotionale Selbststeuerung fokussiert anzusprechen (Baudis 2014 a).

    Die Literaturrecherche ergab, dass es zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bisher keine ausgearbeiteten Tools wie etwa zum „Problemlösen“ gibt. Deshalb wurde das Trainingsmanual HALT! entwickelt, zu dem ein Handbuch („Abhängigkeit und Entscheiden“) und ein psychoedukatives Modul („Die Kunst des Entscheidens“) erschienen ist. Die Grundidee besteht darin, den Rehabilitanden ein einfaches Modell von Entscheidungsverhalten einzuprägen, um dysfunktionale Entscheidungsprozesse mit guten Entscheidungsprozessen zu überschreiben und alltagsbezogen zu trainieren. „HALT!“ repräsentiert den Entscheidungsprozess aus den Schritten Halt an!, Aktualisiere!, Lenke!, Tu! (s. Abb. 3; Baudis 2014b).

    2. Ziele und Aufbau des Trainingsmanuals HALT!

    Abb. 3: Signalkarte HALT!
    Abb. 3: Signalkarte HALT!

    Das neuropsychologisch basierte Trainingsmanual HALT! ist als ein ganzheitlicher Therapieansatz konzipiert, der die Entscheidungsfähigkeit und die sie begleitenden kognitiven und affektiven Fähigkeiten ansprechen soll. Zielsetzung ist eine allgemeine Verbesserung von Alltagsbewältigung und Teilhabe. Das Programm HALT! stützt sich auf Methoden, die sich in Studien als wirksam erwiesen haben, und entwickelt eigene Ansätze zu Impulsivität und Entscheidungsverhalten. Es ist modular aufgebaut und schließt zur Verbesserung der Therapiefähigkeit und der kognitiven Erholung folgende Elemente ein:

    • neuropsychologisches Basistraining (fünfwöchiges Ausdauertraining wie Joggen/Walken oder fünfwöchige Suchtakupunktur),
    • Training zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis (Achtsamkeitstraining oder PC-gestütztes Training) und
    • Vertiefung des Störungsbewusstseins.

    Zur Verbesserung von Impulsivität und Entscheidungsverhalten beinhaltet HALT! fokussierte Gruppenpsychotherapie, die Hand in Hand geht mit dem psychoedukativen Modul „Die Kunst des Entscheidens“. Dieses ist zur Umsetzung in angeleiteten Gruppen konzipiert, kann aber auch als eigenständig zu erarbeitendes Curriculum dienen.

    „Die Kunst des Entscheidens“ orientiert sich an neuropsychologischen Erkenntnissen zum Verlauf der Abstinenz und bearbeitet systematisch die Impulsivität. Die einzelnen Schritte sind:

    • Hypersensibilität herunterfahren,
    • impulsives Entscheidungsverhalten erforschen und hinterfragen (Urteilsheuristik) und
    • den Entscheidungsprozess mit dem unmittelbar zugänglichen Modell HALT! (s. Abb. 3) reorganisieren.

    Von der ersten Einheit an wird anti-impulsive Kognition gefördert, d. h.:

    • Förderung einer längerfristigen Orientierung und eines zielorientierten Verhaltens,
    • Finden eines Zugangs zu unmittelbarer zielkonfliktfreier Befriedigung und
    • Auseinandersetzung mit impulsivem Verhalten und dem Treffen von Entscheidungen (z. B. mit Hilfe der Signalkarte HALT!, s. Abb. 3).

    Gezielte Aufgaben und Anforderungen stärken die exekutiven Funktionen und die emotionale Selbststeuerung wie das Bewältigen von starken Gefühlen, Impulsen und Hochrisikosituationen sowie die Entwicklung eines mittelfristigen persönlichen Selbstmonitorings. „Die Kunst des Entscheidens“ eröffnet neue Sichtweisen auf gängige Suchtthemen wie „Rückfallrisiko als Präferenzkonflikt“, woraus sich wiederum neue praktische Ansätze ergeben (z. B. das „Bündeln“ von Entscheidungen u. a.). Methodisch bereichernd ist der Einsatz neuer Verfahren wie z. B. die Aktivierung des prospektiven Gedächtnisses („implementation intention therapy“ oder „future thinking“).

    Durchgängig wird der innere Prozess des Entscheidens (re-)organisiert, von der Phase der Ambivalenz bis hin zu handlungsleitenden Emotionen. Ziel ist, dass sich ein innerer Dialog entwickelt, an dem alle „Entscheider“ beteiligt sind („Inneres Team“) – auch das „suchtbezogene Ich“ mit seiner spontanen Entscheidungsmacht. Denn nicht in seiner Beteiligung liegt das Risiko, sondern in der mangelnden Beteiligung aller anderen Entscheidungsagenten.

    Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“
    Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“

    Ein besonderer Ansatz des HALT!-Programms liegt darin, Erfahrungen der Teilnehmer so aufzuarbeiten, dass persönliche „Erinnerer“ erschlossen werden, die an eigene Lebenserfahrungen anknüpfen und damit in besonderer Weise der Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit dienen. Sie sorgen dafür, dass die wichtigen „Entscheider“ identifiziert und emotional besetzt im Entscheidungsprozess rasch zugänglich sind. Damit die persönlichen Erinnerer im Alltag jederzeit zur Verfügung stehen, können sie in eine Internetapplikation (www.Programm-halt.de, s. Abb. 4) eingefügt und für Smartphones bereitgestellt werden.

    Das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ besteht aus zwanzig Einheiten. Jede Einheit stellt ihr Thema informativ auf dem Stand des aktuellen Wissens vor und gibt dann Anleitung dazu, das Thema persönlich zu erkunden. Zu jeder Einheit werden in einem Begleitband Arbeitsblätter bereitgestellt. Jede Einheit mündet in ein „Training im Alltag“.

    3. Wissenschaftliche Evaluation des HALT!-Programms

    Das HALT!-Programm wurde zwischen März 2011 und April 2012 parallel in fünf Reha-Einrichtungen für Suchtkranke durchgeführt und evaluiert. Die Stichprobe umfasste 101 abhängige Probanden im Alter zwischen 19 und 48 Jahren. Sie verteilten sich auf die Referenzdrogen Alkohol (12 Prozent), polytox mit Opiaten (44 Prozent) und THC-Mischkonsum (44 Prozent). Rehabilitanden mit komorbiden Störungen, die Psychopharmaka erhielten, wurden aus der Studie ausgeschlossen, ebenfalls Rehabilitanden mit Hinweis auf Demenz.

    3.1 Diagnostische Verfahren

    Zur Diagnostik des Entscheidungsverhaltens wurde die Stuttgarter Gambling Task (STGT), eine deutsche Version der Iowa gambling task (IGT) von Damasio und Bechara, programmiert und in eine Testbatterie aus bewährten Verfahren zum Testen exekutiver Funktionen integriert. Weiterhin wurde ein Messinstrument für Alltagsverhalten in Form von Ratingskalen zur Selbst- und Fremdeinschätzung entwickelt. Die diagnostischen Verfahren wurden in einer Vorstudie mit 30 abhängigen Probanden geprüft und selektiert. Eingesetzt wurden am Ende die Verfahren, die in der Tabelle (Abb. 5) aufgelistet sind.

    Abb. 5: Tabelle der eingesetzten diagnostischen Verfahren

    Die neuropsychologische Untersuchung und die Messung des Alltagsverhaltens (Selbst- und Fremdeinschätzung) fanden nach Abklingen aller Entzugssymptome in den ersten vier Wochen und zum Ende in der 16. Woche statt. Alle untersuchten Probanden nahmen am Programm HALT! mit dem Trainingsmanual „Die Kunst des Entscheidens“ teil. Das Forschungsprojekt wurde von der Ethikkommission der Ärztekammer Stuttgart bewilligt und von der DRV Baden-Württemberg und dem Spendenfond des Diakonischen Werkes Württemberg finanziert.

    3.2 Datenerhebung

    Die Tests wurden durch das Fraunhofer Institut durchgeführt. Parallel zur Stuttgarter Gambling Task wurden Hautleitwerte gemessen. Die technischen Geräte und die nötige Software stellte das Fraunhofer Institut in Zusammenarbeit mit der Universität Karlsruhe zur Verfügung. Für alle Tests lagen deutschsprachige Instruktionen vor. Die Untersuchungen wurden innerhalb von zwei Stunden mit einer Pause in festgelegter Reihenfolge durchgeführt. Die Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen nahm der Bezugstherapeut zeitgleich vor.

    Alle Rehabilitanden wurden bei der Aufnahme über das Programm HALT! und über die Studie informiert. Sie nahmen an einer 90-minütigen Einführung teil und erhielten dann für ihre Aktivitäten einen „Trainingsbogen“, der alle Trainingseinheiten übersichtlich dokumentierte und kleine Anreize vorsah. Zur Teilnahme an der Studie konnten die Rehabilitanden sich freiwillig melden. Für die vollständige Teilnahme an den Untersuchungen wurden 50 Euro angeboten.

    3.3 Ergebnisse der Stuttgarter Gambling Task (STGT) – Entscheidungsverhalten der abhängigen Probanden

    Nach der Stuttgarter Gambling Task (STGT) sind mehr als die Hälfte der Probanden aufgrund der hohen Spielgeldverluste oder der geringen Spielgeldgewinne als beeinträchtigt zu bezeichnen. Es zeigt sich ein Spielverlauf, der nahezu identisch ist mit dem, den Damasio und Bechara 2002 zur Iowa gambling task (IGT) veröffentlichten (s. Abb. 6): Die abhängigen Probanden fanden bis zum Schluss keine erfolgreiche Strategie bzw. ließen sich von ihr ablenken. Bei gesunden Vergleichsprobanden steigerte sich der Erfolg stetig bis hin zum letzten Block.

    Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)
    Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)

    Eine Erklärung dafür, dass abhängige Probanden unter ihren Möglichkeiten bleiben, ist mangelnde Kontrolle von Impulsivität, die dazu führt, dass zielführende Empfindungen übertönt werden. Tatsächlich zeigen sich signifikante Korrelationen der STGT mit der Go/NoGo-Task (gestörte Impulskontrolle) auf dem 1,1-Niveau.

    Analog zu den obigen Ergebnissen zeigt die STGT einen signifikanten Zusammenhang von 0,015* mit dem Category Test (flexibles Erkennen von Regeln/Shifting; hier: Wechsel zu den erfolgreichen Stapeln) und einen hochsignifikanten Zusammenhang mit dem Arbeitsgedächtnistest (Updating; hier: Präsent-Halten der Ahnungen, bis eine Regel gefunden wurde).

    Mit viel Aufwand wurden mit jedem STGT-Spielzug drei verschiedene Hautleitwerte gemessen, um die Impulsivität während des Entscheidungsprozesses zu erfassen. Auf eine Auswertung musste verzichtet werden, da die unterschiedlichen Messwerte technisch nicht hinreichend zu trennen waren.

    3.4 Profil neuropsychologischer Funktionsfähigkeit bei Abhängigkeit

    Von der STGT gibt es, da sie ja gerade erst programmiert wurde, noch keine empirischen Normwerte. In Anlehnung an Bechara (2002) wurde unterhalb eines Gesamtwertes von 50 von Beeinträchtigung ausgegangen. Für die anderen hier folgenden Angaben gilt: Prozentwerte und Prozentrang ordnen die Ergebnisse in Bezug auf die jeweilige Eichstichprobe.

    Bezüglich neuropsychologischer Beeinträchtigung und Impulsivität ergab sich für die abhängigen Probanden folgendes Profil:

    • Decision Making: Die Werte der STGT lagen im Durchschnitt unter der Norm und teilten die Studienteilnehmer in beeinträchtigtes (54 Prozent) und unauffälliges Entscheidungsverhalten.
    • Inhibition: Bei der Go/NoGo-Task lag der Durchschnitt der Studienteilnehmer mit 23 Prozent unter dem Durchschnitt der Grundgesamtheit (→ gestörte Impulskontrolle).
    • Updating: Beim Arbeitsgedächtnistest hatte der Mittelwert der Studienteilnehmer einen Prozentrang von 24 (→ Unaufmerksamkeit, mangelhaftes Kurzzeitgedächtnis).
    • Shifting: Im Category Test zeigte sich eine hohe Fehlerquote mit durchschnittlich 23,6 Total Errors (bei einer Streuung von 2 bis 69; → Neigung zu Perseveration).
    • Aufmerksamkeit und Konzentration: Bei dem d2 wurde einen Prozentrang von 31,7 ermittelt (→ mangelhafte Konzentration).
    • Vigilanz und Verarbeitungsgeschwindigkeit: Der Color Trail Test blieb im Durchschnittswert unauffällig mit Subgruppen von unauffälligen und beeinträchtigten Probanden. Es gibt aber hochsignifikante Zusammenhänge zwischen niedrigen CTT-Werten und Impulsivität (UPPS „Urgency“) und erhöhtem Risiko für Rückfall.
    • Impulsivität: Bezüglich der UPPS „Urgency“ (Impulssteuerung) und der Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ der Ratingskalen zeigten sich signifikante Korrelationen mit der STGT sowie mit einem erhöhten Risiko für Rückfall bzw. vorzeitige Beendigung der Behandlung. Der durchschnittliche BIS-Wert lag mit 82 Punkten deutlich über dem Durchschnitt einer deutschen Kontrollgruppe (Preuss et al. 2007).
    • Reasoning: Der LPS Subtest 3 wurde eingesetzt, um die nonverbale Intelligenz als Einflussfaktor zu kontrollieren. Es ergab sich eine mittlere Intelligenz von 106 Punkten.

    3.5 Welche biographischen Daten beeinflussen Decision Making und neuropsychologische Funktionsfähigkeit?

    Als belastende Einflussfaktoren für die neuropsychologische Funktionsfähigkeit haben sich in der Studie herausgestellt:

    • ein früher Zeitpunkt des ersten Konsums von Tabak (Durchschnitt 13,27 Jahre), von Alkohol (Durchschnitt 13,88 Jahre) oder von THC (Durchschnitt 15,19 Jahre) sowie
    • lange Haftzeiten.

    Ein frühes Einstiegsalter ging einher mit signifikanter bis hochsignifikanter Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnis, Entscheidungsverhalten, Impulskontrolle, seriellem Denken und Vigilanz. Ein besseres Abschneiden in den Tests ging einher mit den Merkmalen „Monate der Abstinenz“, „Abschluss einer Ausbildung“ und „Beschäftigung in Monaten“. „Beschäftigung“ zeitigte positive Folgen für Decision Making, Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses, der Konzentration und Impulsivität.

    3.6 Welcher Zusammenhang besteht zwischen Entscheidungsfähigkeit und Alltagsverhalten?

    Zur Beantwortung werden die Ratingskalen zum Alltagsverhalten herangezogen. Mit Entscheidungsfähigkeit (STGT) korreliert hochsignifikant (0,005**) die Skala „Planen, Strukturieren und Selbstmanagement“ in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Außerdem korreliert mit der STGT signifikant (0,016*) die Skala „Umgang mit anderen Menschen“, ebenfalls in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Beide Skalen beinhalten typische Aufgaben, die den exekutiven Funktionen zugeordnet werden.

    In der Selbsteinschätzung korrelieren die Skala „Freizeitverhalten“ und die Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ hochsignifikant mit der STGT. Auch Category Test (CAT), TAP Arbeitsgedächtnis und TAP Go/NoGo-Task ergeben signifikante und hochsignifikante Zusammenhänge mit den Ratingskalen. Die Aussagekraft der STGT zur Entscheidungsfähigkeit wird durch ein interessantes Detail unterstrichen: Werden die Probanden nach ihren STGT-Werten in die Gruppen „beeinträchtigt“ und „nicht beeinträchtigt“ eingeteilt, so zeigt die Gruppe mit guten STGT-Werten bei ihrer Selbsteinschätzung eine hohe Übereinstimmung mit der Fremdeinschätzung der Bezugstherapeuten und sieht sich teilweise sogar kritischer. Die „Beeinträchtigten“ dagegen schätzen sich deutlich und durchweg positiver ein als die Fremdeinschätzer.

    3.7 Worin unterscheiden sich Rehabilitanden mit guten Chancen auf Teilhabe von solchen mit hohem Rückfallrisiko?

    Wenn wir unsere Daten daraufhin auswerteten, wie sich Rehabilitanden mit einem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz bei Therapieabschluss von denjenigen unterscheiden, die während der Therapie rückfällig wurden und vorzeitig ausschieden, so erwiesen sich folgende Merkmale als prognostisch signifikant (*) und hochsignifikant (**):

    • Biographische Daten zur Sucht: Tagesdosis in den letzten 30 Tagen*, Abstinenzmonate*, Konsumjahre*, Einstiegsalter*, Anzahl von Entgiftungen*, Monate im Strafvollzug*, Anzahl der Therapien*
    • Biographische Daten zu Ausbildung und Arbeit: Schulabschluss/vollendete Ausbildung**, Monate in Beschäftigung*, Einkommen*
    • Neuropsychologische Tests: hochsignifikante Korrelationen von CAT**/CTT**/AG-Fehler** sowie STGT*/GNG*/AG-korrekte Antwort*
    • Items der Ratingskalen und der UPPS „Urgency“:
      1. Selbststeuerung vs. impulsives Verhalten/Überansprechbarkeit auf Drogenreize:
        Respekt vor Rückfallsituationen**, Suchtruck abschütteln* können, „Ich habe meine Gefühle so unter Kontrolle, dass sie mich nicht zu erneutem Konsum bewegen können“*; dem Verlangen widerstehen können** vs. schwer dem Drang widerstehen können**, „Manchmal tue ich impulsiv Dinge, die ich später bereue“*; ohne Überlegung handeln*, Verhaltensweisen nicht abstellen können*
      2. Depressive Emotionen vs. Fähigkeiten zur unmittelbaren Befriedigung ohne impulsive Zielkonflikte:
        „Weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll*, „Mir ist oft langweilig*, „Mich reizen riskante Sportarten* vs. „Meine Zeit verbringe ich gern mit anderen*, „Ich gehe in Vereine, Gruppen*
      3. Wahrnehmen von negativen Konsequenzen und Kritik:
        „Negative Erlebnisse bekümmern mich lange“**, Wahrnehmen harter Konsequenzen*, Fehlzeiten*, Mängel erkennen*
      4. Längerfristige Orientierung:
        auf Gesundheit achten*, auf gute Ernährung achten*

    Die Items mit Vorhersagewert zeigen meist Zusammenhänge mit den Testergebnissen, z. B. korreliert das hochsignifikante Item „Nicht Widerstehen Können“ mit CAT-Error**, GNG-falsche-Reaktion**, GNG-Auslassungen*, AG-Error* und AG-Auslassungen*.

    Zusammengefasst gehen folgende Verhaltensaspekte verstärkt mit Rückfall einher:

    • Überhöhte Selbstkontrollerwartung bei geringen Selbstkontrollfähigkeiten
    • Erhöhte Anregung des impulsiven Systems (Tagesdosis in den letzten 30 Tagen etc.)
    • Mangelndes Widerstehen-Können bzw. Unterdrücken von Impulsen im Alltag (z. B. Rauchen)
    • Probleme, den Kontext eines Impulses oder Gefühls zu wechseln (Perseveration von Konsumphantasien)
    • Emotionale Dysregulation unmittelbarer Belohnung zum Nachteil von Langfristigkeit
    • Mangelhafte Konzentration, Aufmerksamkeitssteuerung und mangelnde Fähigkeit zu linearem Denken

    Aus den Studienergebnissen ergibt sich, dass folgende empirische Daten als Entscheidungsgrundlage für eine fundierte Risikoeinschätzung dienen können:

    • Biographische Daten zu Konsum und Teilhabe am Arbeitsleben
    • Neuropsychologische Tests zur Einschätzung der kognitiv-exekutiven und affektiv-exekutiven Fähigkeiten
    • Selbst- und ggf. Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen zum Alltagsverhalten und der UPPS „Urgency“
    • Ergänzend können Einstellungen erkundet werden, die zur Bewältigungskompetenz beitragen: Störungsbewusstsein und die Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung.

    3.8 Die Wirksamkeit des Programmes HALT!

    Die Ratingskalen zum Alltagsverhalten beschreiben acht Bereiche der Alltagsbewältigung und enthalten als neunte Skala („Steuerung des eigenen Verhaltens“) die Items der UPPS „Urgency“. Die Ratingskalen erwiesen sich als zuverlässiges und valides Messinstrument für Entscheidungsverhalten und Impulsivität im Alltag. Ein Vergleich der jeweils individuellen Messungen in der vierten und 16. Behandlungswoche zeigte, dass sich die Werte für Alltagsverhalten und Impulsivität in der Selbsteinschätzung der Probanden durchgehend verbessert haben. Die durchgehende Verbesserung des Alltagsverhaltens kann als Beleg für die Wirksamkeit der Therapie interpretiert werden.

    Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.
    Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.

    4. Diskussion

    Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen eine Beeinträchtigung neuropsychologischer Fähigkeiten bei abhängigen Rehabilitanden in einer großen individuellen Bandbreite. Diese Beeinträchtigungen spielen eine bedeutsame Rolle für das Rückfallrisiko, für die Chance, eine Therapie zu nutzen, und die Chance auf Teilhabe. Das Entscheidungsverhalten spielt bei den untersuchten abhängigen Rehabilitanden eine hervorgehobene, aber keine alleinige Rolle. Die STGT erwies sich als valides Instrument, die Fähigkeiten zu langfristig orientiertem Alltagsverhalten und die dazu erforderlichen selbstregulierenden und orientierend suchenden Fähigkeiten zu erkennen (Baudis & Wilke 2014).

    Die Untersuchung lenkt die Aufmerksamkeit auf ein vernachlässigtes Thema: auf Impulsivität als maßgeblichen Grund für neuropsychologische Beeinträchtigung. Bisher gibt es keine Therapieprogramme, die der Beeinträchtigung von Decision Making Rechnung tragen, und kaum Versuche, exekutive Funktionen und Impulsivität zu bearbeiten. Wegen ihrer Alltags- und Behandlungsrelevanz sollten aber Impulsivität und die Stärkung neuropsychologischer Fähigkeiten schon in den ersten Wochen einer Suchttherapie fokussiert werden.

    Das Programm HALT! und das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ können daher nicht mit anderen Ansätzen verglichen werden. Das psychoedukative Manual „Die Kunst des Entscheidens“ greift die hier gefundenen Ergebnisse und Anregungen auf, um die Aufmerksamkeit von Therapeuten und Rehabilitanden auf die Bewältigung von Überansprechbarkeit und auf eine langfristige Orientierung zu lenken. Um das Training in den Alltag hineinzutragen, wurde eine Smartphone-App entwickelt. Einen direkten Nachweis, dass ein Training von Entscheidungsfähigkeit die Alltagsbewältigung verbessert, konnte die Untersuchung von ihrer Anlage her nicht leisten, wenn sie auch Veränderungen in die gewünschte Richtung aufzeigt.

    Unsere Untersuchungen legen nahe, die bisherige Leistungsplanung in der Rehabilitation zu überdenken. Eine empirisch fundierte Risikoeinschätzung ermöglicht die Wahl geeigneter individueller Rehastrategien: Diejenigen Suchtkranken, die neuropsychologisch erheblich beeinträchtigt sind, benötigen eine stabilisierende langfristige Rehastrategie, die den Bedarf an emotionaler und sozialer Stabilisierung mit langfristigen Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Teilhabe und Suchtbewältigung angeht, begleitet durch einen persönlichen Reha-Coach. Dagegen können Rehabilitanden mit guten Teilhabechancen von einer konsequent lebensfeldbezogenen Rehastrategie profitieren, die die Alltagsfähigkeiten fördert und ambulant (Tagesreha und ambulante Reha) orientiert ist. Eine stützende sozialintegrative Rehastrategie in Form einer Kombination aus stationärer Reha, tagesklinischer oder ambulanter Reha und integrierten Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe könnte ein mittlerer Weg sein.

    Medizinische Substitution sollte sich im Hinblick darauf evaluieren, ob sie die neuropsychologischen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung und Teilhabe gefährdet (Baudis 2014a) oder ob sie sich ihren Erhalt zum Ziel gesetzt hat. Dazu ist ein niedrig dosiertes Substitutionsregime als Behandlungsoption erforderlich.

    Hinweis: Im Juni 2015 bietet der Autor einen Intensivkurs zum Arbeiten mit dem HALT!-Programm und dem Therapiemanual „Die Kunst des Entscheidens“ an. Der Kurs richtet sich an therapeutische, pflegerische und ärztliche Mitarbeiter/-innen in der Suchthilfe. Die Teilnahme am Kurs wird durch ein Zertifikat bestätigt. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

    Wissenschaftliche Begleitung der Studie:
    Jürgen Wilke (Dipl.-Psychologe), Fraunhofer Institut IAO, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart

    Angaben zum Autor:

    Rainer Baudis, Jahrgang 1949, ist Dipl.-Psychologe/Psychotherapeut und war lange Jahre Gesamtleiter der Reha-Einrichtungen Four Steps. Aktuell ist er in eigener psychotherapeutischen Praxis tätig. Er ist Autor von Fachbüchern zur Behandlung von Abhängigkeit.

    Kontakt:

    Rainer Baudis
    Mittelfeldstraße 8
    73635 Rudersberg
    baudis@mac.com

    Literatur:
    • Baudis & Wilke: Entwicklung und Evaluation eines Verfahrens zur Verbesserung der mittelfristigen Verhaltenssteuerung bei Substanzmittelabhängigkeit – Abschlussbericht Teil I und II, 2014
    • Baudis: Abhängigkeit und Entscheiden – Handbuch, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014a
    • Baudis: Die Kunst des Entscheidens, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014b
    • Bechara, Damasio: Decision-making and addiction (part I): impaired activation of somatic states in substance dependent individuals when pondering decisions with negative future consequences, Neuropsychologia, 40, 2002, 1675-89
    • Bechara et al.: Decision-making and addiction (part II): myopia for the future or hypersensitivity to reward?, Neuropsychologia, 40, 2002:1690-1705
    • Bechara: Decision-making, impulsive control and loss of willpower to resist drugs: a neurocognitive perspective, Nature Neuroscience, 2005, 8, 11, 1458-1463
    • Bolla et al.: Dose-related neurobehavioral effects of chronic cocaine use, J of neuropsychiatry and clinical neurosciences, 1999, 11: 261-369
    • Bolla et al.: Dose-related neurocognitive effects of marijuana use, Neurology, 59, 9, 2002, 137-143
    • Klingberg: Training and plasticity of working memory, Trends in Congitive Science 14, 2010, 317-324
    • Passetti, Clark et al.: Neuropsychological predictors of clinical outcome in opiate addiction, Drug and Alcohol Dependence, 2007, Elsevier
    • Paulus et al.: Neural activation patterns of methamphetamine-dependent subjects during decision making predicts relapse, Arch Gen Psychiatry, 62, 2005, 761 ff
    • Preuss et al.: Psychometrische Evaluation der deutschsprachigen Version der Barratt-Impulsiveness-Skala, Der Nervenarzt, 2007
    • Robertson, Murre: Rehabilitation of brain damage: Brain plasticity and principles of guided recovery, Psychological Bulletin, 125, 5, 1999, 544-575
    • Verdejo-Garcia, Perez-Garcia, Bechara: Emotion, decision-making and substance dependence: A somativ-marker model of addiction, Current Neuropharmacology, 2006, 4, 17-31
    • Zelaszo, Cunningham: Executive Function: mechanism underlying emotion regulation. Handbook of Emotion Regulation, Guilford Press, New York, 2007, S. 135-158