Schlagwort: Ethik

  • Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa

    In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.

    Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)

    Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).

    Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit

    Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).

    Strategien gegen Stigmatisierung

    Das Stigma-Memorandum

    Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.

    Psychologische Forschung

    Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.

    Öffentlicher Diskurs

    Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.

    Behandlung

    Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen,  Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.

    Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention

    Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.

    Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.

    Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich

    Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:

    Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.

    Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.

    Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.

    Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.

    Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.

    Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.

    Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“

    Partizipative Theaterarbeit

    Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.

    Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
    Kontakt:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa
    Gesundheitsakademie Nord e.V.
    Holstenstraße 68a
    24103 Kiel
    regina.kostrzewa@gesundheitsakademie-nord.de
    www.gesundheitsakademie-nord.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.

    Literatur:
    • Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
    • Bottlender, R. & Möller, H.-J. (2005): Psychische Störungen und ihre sozialen Folgen. In: Gaebel, W., Möller, H.-J.& Rössler, W. (Hrsg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart: Kohlhammer. S. 7-17.
    • Brooks, M./Kay-Lambkin, F./Bowman, J./Childs, S. (2012): Self-Compassion Amongst Clients with Problematic Alcohol Use. Springer Science Media, DOI 10.1007/s12671-012-0106-5.
    • Corrigan, P./Schomerus, G./Shuman, V./Kraus, D./Perlick, D./Hamish, A./Kulesza, M./Kane-Willis, K./Qin, S./Smelson, D. (2016): Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict.
    • Dishion, T. J. (1999): When Interventions harm. Peer Groups and Problem Behavior. In: American Psychologist, 54, 755-764.
    • Finzen, A. (2001): Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen. 2. korrigierte Auflage. Bonn: Psychiatrieverlag.
    • Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). In: Nervenarzt 85, 77 – 87.
    • Schomerus, G. (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? Psychiatrische Praxis, 38, 109 – 110.
    • Schomerus, G./Holzinger, A./Matschinger, H. et al. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiatrische Praxis. DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1223438.
    • Schomerus, G. et al. (2010): Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy. In: Drug and Alcohol Dependence, 1 – 6.
    • Vogt, I. (2017): Nobody’s perfect: Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe zu psychisch Kranken. Ein Überblick über die Forschungsergebnisse. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 49 (2), 307 – 323.
    • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit BAG: Suchtforschung des BAG 1996 – 98, Band 2/4: Prävention, 2 – 13.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema

    Stefan Bürkle

    Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:

    • Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
    • Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
    • Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?

    Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.

    Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.

    Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:

    • eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
    • die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
    • eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.

    Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.

    Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung

    Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:

    • Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
    • Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
    • Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?

    Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.

    Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene

    • Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
    • Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
    • Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
    • Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.

    Externe Ansprüche

    • Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
    • Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
    • Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
    • Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
    • Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.

    Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband

    Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“

    Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.

    • Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
    • Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
    • Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
    • Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
    • Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.

    Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.

    Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene

    Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.

    Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik

    Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:

    • Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
    • Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
    • Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
    • Druck zur Arbeitsplatzsicherung
    • Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
    • Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
    • Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter

    Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.

    Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?

    Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).

    • Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
    • Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
    • Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
    • Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
    • Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
    • Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.

    Ambulante Rehabilitation Sucht

    Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:

    • Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
    • Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
    • Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.

    Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.

    Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.

    Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.

    Schlussgedanke

    Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.

    Literatur:
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
    • Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
    • Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
    • Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
    • Sven Precht: Sind wir in unseren Entscheidungen frei?, in: Netzwerk Ethik Heute, https://ethik-heute.org/sind-wir-in-unseren-entscheidungen-frei/ (letzter Zugriff 21.11.2017)
    • Wulff D. Rehfus (Hrsg., 2003): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

    Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

    Es werden eine Menge therapeutischer Trüffelschweine durch die Dörfer der Behandlungsmethoden getrieben. Achtsamkeit, Schematherapie, traumatherapeutische Einzelmethoden, DBT und eine Fülle weiterer Neuentwicklungen werben um unsere Aufmerksamkeit.

    Der klassisch ausgebildete Verhaltenstherapeut bzw. der in einem psychoanalytischen Verfahren bewanderte Heilkundige kennt die beiden gängigen, wissenschaftlich fundierten Richtungen und schätzt die Weiterentwicklungen, wenn sie mit dem theoretischen Hintergrund kompatibel sind oder so gut nachvollziehbar, dass sie in die erprobten Denkmethoden Eingang finden können – wie etwa die Bindungstheorie vom Bowlby in die Psychoanalyse.

    Die Ökonomen des Gesundheitssystems liebäugeln mit Mischverfahren, deren einzelne Bestandteile als „evidenzbasiert“ gelten. Hier finden dann „modulgestützte Verfahren mit einem ganzheitlichen Ansatz“, die den Eindruck vermitteln wollen, die Addition verschiedener Techniken führe zum Erfolg, polypragmatische Interessenten. Diese Denkweisen überraschen nicht im Rahmen einer Medizin als Wirtschaftsbereich. Der psychischen Komplexität seelisch bedrängter Menschen werden sie jedoch nicht gerecht, der psychischen Störung schon gar nicht. Seit einiger Zeit taucht nun der Begriff der Spiritualität im Zusammenhang mit Psychotherapie auf. Wieder eine Modeerscheinung? Tatsächlich findet man in den Angeboten verschiedener Kliniken jetzt eine spirituell betonte Psychotherapie. Davon soll aber hier nicht die Rede sein.

    Spiritualität ist die Verbindung von Realität und Transzendenz

    Sigmund Freud hatte sein Leben lang ein Problem mit der Religion. Deshalb konnte die Psychoanalyse über lange Zeit wenig Zugang zu der Bedeutung von Religiosität und Spiritualität entwickeln. Romain Rolland, ein mit Freud befreundeter Schriftsteller, machte den Begründer der Psychoanalyse darauf aufmerksam, dass er sich der Religiosität im eigentlichen Sinne nicht zugewandt habe: Religion sei ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, des Ozeanischen. Freud konnte eingestehen, dass ihm der Sinn dafür fehlte.

    Damit weist der Schriftsteller auf eine Dimension des Ich hin, die über die Grenzen des Nachvollziehbaren hinausgeht. Diese Dimension wird häufig erst in der Depression spürbar, wenn das Sicherheitsgefühl des „zu einem Ganzen Gehörens“ verloren geht. Spiritualität ist die Verbindung von der Realität zur Transzendenz und dem Unerklärbaren am Ende der weltlichen Existenz. Mit philosophischem oder religiösem Inhalt gefüllte Spiritualität führt das Kontinuum des Lebens über die Zeit hinaus.

    Spiritualität schafft Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz

    In der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung wird die Psychotherapie als Wandlung des Sterblichen in ein Unsterbliches im Menschen bezeichnet. Viktor Frankl formuliert: „Der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße, als er sich von der Transzendenz her versteht. Er ist nur in dem Maße Person, als er von ihr durchtönt wird: durchtönt vom Anruf der Transzendenz, vom Anruf Gottes.“

    Spiritualität ist deshalb nicht eine dem Über-Ich zuzuschreibende Komponente, sondern das aus dem Erlebten entstandene Grundgerüst des Selbst mit einem Welt- und Menschenbild, aus dem das Individuum seine Kriterien für die Beurteilung der Welt bezieht. Diese Weltsicht generiert sich aus einer nicht zu ambivalenten Grundhaltung der beziehungskonstanten Bezugspersonen, deren konsistentes Bild von Werden und Sein als umfassende Repräsentanz integriert werden konnte.

    Die von Freud beschriebene pathologische Religiosität begegnet uns als sadistisches Introjekt (= ohne echte Identifikation angenommene innere Vorstellung) ebenfalls in unseren Therapien. Häufiger aber finden wir besonders unter den suchtkranken Patienten eine weitgehende Abwesenheit des Gefühls und des Erlebens einer inneren Heimat, die Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz zur Verfügung stellen würde. Hier dominiert oft ein rigides Über-Ich mit polarisierenden Wertungen, in denen die Kategorien der Verantwortlichkeit nur rudimentär, reduziert auf die Frage nach Schuld oder Nichtschuld vorkommen.

    Wir finden bei Menschen ohne ethisch nachvollziehbare Weltanschauung häufig das Phänomen, dass sie sich in ihrer frühen Sozialisationen nicht angenommen fühlten. „Der Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut) scheint für die Entwicklung der Spiritualität von Bedeutung zu sein. Ein sicher geerdetes Ich kann die hinter der konkretistischen Weltsicht lebende Transzendenz erkennen und im Jetzt und Hier spüren.

    Damit verbunden ist ein erleichterter Zugang zum inneren Erleben über emotional getönte Rituale wie Gebete und Gesang mit Gleichgesinnten. Die Gewissheiten des durch die Integrität geschützten Ich können so erhalten und im Krisenfall geschützt werden. Diese protektive Wirkung der Weltanschauung ist relativ unabhängig von deren Inhalt, wenn dieser nicht durch sadistische Vorbilder geprägt ist. Wichtiger als der Inhalt der Weltanschauung ist die Passform zum individuellen Ich.

    Spiritualität im psychotherapeutischen Feld

    Für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen ist deshalb die Erkundung spiritueller Reste, welche nicht pathologisiert sind, ein möglicherweise stabilisierender Wert. Für dieses sensible Thema gibt es bereits Hilfen zur Exploration, die sich auf den Erfahrungshintergrund beziehen. Insbesondere Menschen aus Kulturkreisen mit mystischen Vorstellungen haben unerwartete Ressourcen, wenn sie denn entdeckt werden. Der Umgang mit spiritueller Erfahrung bedarf des besonderen Takts, weil viele Menschen befürchten müssen, dass in einer rationalen Welt wie der westlichen transzendente Inhalte ausschließlich belächelt werden.

    Die Aufgabe im psychotherapeutischen Feld ist zunächst die Offenheit für Spiritualität. Erst in einem weiteren Schritt kann darüber nachgedacht werden, wie ein intrapsychisches Gerüst entwickelt werden kann, das spirituelles Erleben als Voraussetzung für die Entwicklung einer tragenden Weltanschauung ermöglicht.

    Psychotherapie ist aus Gründen der therapeutischen Abstinenz nicht für die Inhalte von Religiosität und Spiritualität verantwortlich, sondern hat sich ausgesprochen zurückhaltend zu verhalten. Bei sonst distanzierter Äußerung zu privaten Fragen, wie etwa dem Urlaubsziel, gibt es offenbar einen inneren Drang zur Äußerung der eigenen Weltanschauung, wenn sie bewusst ist. Mit dem Wissen um die Idealisierung des Therapeuten scheint auch hier die therapeutische Abstinenz die angemessene Reaktion zu sein, um pathologische Introjekte zu vermeiden.

    Es ist eine Tugend christlicher Kultur, das Verhältnis des Mitmenschen zu Gott deren beider Angelegenheit sein zu lassen. Spiritualität ist also keine therapeutische Modeerscheinung, sondern eine bisher oft nicht gewürdigte mögliche Dimension des Selbst, die Ressourcen für die Resilienz enthält.

    Literatur beim Verfasser

    Weiterführende Literatur:
    • Wilfried Ruff (Hg.): Religiöses Erleben verstehen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-61405-5
    • Michael Utsch, Raphael M. Bonelli, Samuel Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-02552-8
    Kontakt:

    Dr. Andreas Dieckmann
    Brüderstraße 38
    13595 Berlin
    dr.a.dieckmann@gmx.de
    www.psychotherapiedieckmann.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Dieckmann ist Ärztlicher Psychotherapeut in freier Praxis und Sprecher der Dozenten der Suchttherapeutenausbildung/psychoanalytisch orientiert beim GVS. Er war langjähriger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum, Berlin.