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  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems

  • Ermutigung tut not!

    Ermutigung tut not!

    Dr. Wibke Voigt. Foto©Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel
    Dr. Wibke Voigt. Foto©Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel

    Um gleich mit den wichtigsten Fragen zu beginnen: Ist eine Weiterbildungsermächtigung empfehlenswert und sinnvoll? Ist eine Weiterbildungsermächtigung heutzutage notwendig? Die Antwort lautet zweimal: Ja! Und zwar deshalb, weil die Möglichkeit der Weiterbildung in einer Klinik ein wichtiges Argument ist, um qualifiziertes, gut ausgebildetes und junges Fachpersonal gewinnen zu können: Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in Weiterbildung sowie Psychologinnen und Psychologen in Ausbildung.

    Dass eine Weiterbildungsermächtigung der Chefärztin/des Chefarztes vorhanden sein muss, um Assistenzärztinnen und Assistenzärzten eine fachärztliche Weiterbildung bieten zu können, ist offensichtlich. Dies gilt aber auch für die „praktische Zeit“ der Psychologinnen und Psychologen, der sog. PIA’s. Laut § 2 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der Bundespsychotherapeutenkammer ist eine Weiterbildungsermächtigung der ärztlichen Leitung im Fach „Psychiatrie und Psychotherapie“ oder „Psychosomatische Medizin“ für zwölf Monate Voraussetzung, damit die geforderten 1.200 Stunden im klinischen Bereich von der jeweiligen Psychotherapeutenkammer anerkannt werden. Dieses klinische Jahr ist eine Voraussetzung für die Erlangung der Approbation als Psychologische Psychotherapeutin bzw. als Psychologischer Psychotherapeut.

    Aufgrund dieser Tatsache ist im Deutschen Bundesverband der Chefärztinnen und Chefärzte der Fachkliniken für Suchtkranke e. V. (DBCS) die Idee entstanden, durch eine Umfrage den Stand der Weiterbildungsermächtigungen in Suchtfachkliniken zu erheben. Die Fragebögen wurden 2013 verschickt, und 2014 wurde die Auswertung auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) vorgestellt.

    Die Stichprobe

    Es wurden 273 Fragebögen verschickt, davon vom buss 152 Fragebögen an die chefärztliche Leitung, und vom Fachverband Sucht 121 Fragebögen an ärztliche und therapeutische Leitungen. Der Rücklauf betrug 105 vollständig beantwortete Fragebögen, was einer Rücklaufquote von 38,46 Prozent entspricht. Das ist eine mäßig gute Quote. Warum haben nicht mehr Chefärztinnen und Chefärzte geantwortet?

    Gründe dafür, dass das Thema Weiterbildungsermächtigung in den Kliniken auf einen geringen Widerhall stieß, könnten sein, dass die Chancen für einen erfolgreichen Antrag (irrtümlicherweise) als gering eingeschätzt werden wegen evtl. fehlender Voraussetzungen oder dass der Nutzen einer Weiterbildungsermächtigung nicht bekannt ist. Dem soll dieser Themenschwerpunkt von KONTUREN online entgegenwirken. Er soll zur Informationsvermittlung, zur Ermutigung und als Entscheidungshilfe dienen.

    74 Chefärztinnen und Chefärzte gaben an, in ihrer aktuellen Position einen Antrag auf die Erteilung einer Weiterbildungsermächtigung gestellt zu haben, 50 Chefärztinnen und Chefärzte hatten keinen Antrag gestellt. Von den 74 Anträgen waren 60 bewilligt worden, was einer Bewilligungsquote von 81 Prozent entspricht. Vier Anträge wurden von der jeweiligen Ärztekammer noch bearbeitet, zehn Anträge (14 Prozent) waren abgelehnt worden.

    Schwierigkeiten bei der Beantragung

    Bei der Beantragung der Weiterbildungsermächtigung gab es bei vielen Kliniken (21 Kliniken = 38,18 Prozent) Schwierigkeiten, 13 Kliniken (23,64 Prozent) hatten teilweise Schwierigkeiten. Nur 20 Kliniken (36,36 Prozent) hatten die Weiterbildungsermächtigung problemlos erhalten (vgl. Abbildung 1). An Schwierigkeiten wurde am häufigsten genannt, dass die bewilligte Weiterbildungszeit geringer war als beantragt (18 Kliniken = 46,15 Prozent), 16 Kliniken mussten zusätzliche Nachweise erbringen (41 Prozent), jeweils eine Klinik beklagte eine lange Bearbeitungszeit oder keine Beantwortung des Antrages, drei Kliniken benannten andere Schwierigkeiten.

    Als Ablehnungsgründe seitens der Ärztekammer wurde Folgendes benannt:

    • Suchtmedizin sei ein zu enges Indikationsgebiet (drei Kliniken).
    • Zwei Kliniken fehle die 100-Prozent-Tätigkeit des Weiterbilders.
    • Eine Klinik habe eine zu geringe ärztliche Stellenbesetzung.
    • Ein Antrag wurde abgelehnt, da die Diagnosen inadäquat für die psychosomatische Medizin seien.
    • Drei Kliniken machten keine Angaben.
    Abb. 1: Schwierigkeiten bei der Beantragung
    Abb. 1: Schwierigkeiten bei der Beantragung

    Suchtmedizin ein „zu enges Indikationsgebiet“?

    Auch wenn eine Suchtfachklinik alleine keine volle Weiterbildungsermächtigung erreichen kann, ist das Argument eines zu engen Indikationsgebietes falsch. Internationale Studie zeigen, dass es „bemerkenswert hohe Lebenszeitprävalenzen von weiteren psychischen oder substanzbedingten Störungen bei Personen mit der Lebenszeitdiagnose eines Alkoholmissbrauchs oder einer Alkoholabhängigkeit“ gibt (Moggi 2007). Drei Viertel der Betroffenen mit einer Alkoholabhängigkeit (Männer: 78 Prozent, Frauen: 86 Prozent) berichten über mindestens eine weitere komorbide psychiatrische Störung, über 30 Prozent (Männer: 34 Prozent, Frauen: 47 Prozent) weisen in der Regel mehr als drei psychiatrische Störungen auf (Kessler et al. 1994).

    Studien bzgl. der Komorbidität zwischen einer Major Depression und einer substanzbezogenen Störung zeigen Werte zwischen zwölf und 80 Prozent, abhängig von verschiedenen Studienbedingungen (Compton et al. 2007; Conner et al. 2008a; Torrens et al. 2011a). Depressive Suchtpatienten weisen hDie Prävalenz depressiver Störungen bei Alkoholabhängigkeit ist ähnlich hoch. Depressive alkoholabhängige Menschen haben zudem häufigere stationäre Behandlungen, längere und schlechtere Verläufe, mehr Eheprobleme, mehr Beschäftigungslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sowie mehr vollendete Suizide auf. Das Lebenszeit-Suizidrisiko für depressive Alkoholabhängige ist erschreckend hoch: 60- bis 120-fach höher als in der Normalbevölkerung. 25 Prozent aller Suizide werden von dieser Gruppe verübt. Die Kriterien einer Major Depression erfüllten in einer Studie 68 Prozent von 50 suizidierten Alkoholikern (Murphy & Wetzel 1990). Cornelius, Salloum et al. (1996) beschäftigten sich mit dem suizidalen Verhalten von Alkoholabhängigen mit einer Major Depression, die in eine psychiatrische Klinik aufgenommen worden waren: 40 Prozent hatten in der Woche vor der Aufnahme einen Suizidversuch unternommen, 70 Prozent hatten schon mindestens einmal versucht sich umzubringen.

    Die Komorbiditätsraten von bipolaren affektiven Störungen und Alkoholabhängigkeit liegen zwischen sechs und 69 Prozent, meistens bei 30 Prozent und mehr. Bei Patienten mit einer substanzbezogenen Störung können bei 34 bis 73 Prozent komorbide Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden (Verheul 2011). Am häufigsten sind es Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen, vor allem die Borderline-PS (Walter et al. 2009). Umgekehrt weisen Borderline-Patienten zur Hälfte eine substanzbezogene Störung auf (McGlashan et al. 2000).

    Die Lebenszeitprävalenz für eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Suchtpatienten im klinischen Setting beträgt bis zu 50 Prozent (26 bis 52 Prozent) und für eine aktuelle PTSD 15 bis 41 Prozent (Schäfer & Najavits 2007). Dabei leiden Frauen deutlich häufiger unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, nämlich ca. doppelt so viele wie Männer (Dom et al. 2007; Driessen et al. 2008). In der Regel leiden drogenabhängige Menschen unter mehr komorbiden Störungen als Personen mit einer Alkoholabhängigkeit.

    Eine Studie von Miller (1993) ergibt, dass 44 Prozent der alkoholabhängigen Frauen sexuell missbraucht wurden versus 27 Prozent der psychiatrisch behandelten Frauen versus neun Prozent der Frauen in der Normalbevölkerung. Nach dem Review von Simpson und Miller (2002) hatten bei Alkoholabhängigkeit 50 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer mindestens eine Form früher (körperlicher oder sexueller) Gewalt erlitten, bei Drogenabhängigkeit waren es 80 Prozent der Frauen sowie 50 Prozent der Männer (Simpson und Miller 2002, Auswertung von 53 Studien [32 Studien mit nur Frauen, 16 Studien mit Frauen und Männern, fünf Studien mit nur Männern]: 27 Prozent bis 67 Prozent der abhängigen Frauen wurden sexuell missbraucht, 33 Prozent körperlich misshandelt, neun bis 29 Prozent der abhängigen Männer wurden sexuell missbraucht, 24 bis 53 Prozent körperlich misshandelt).

    Die genannten Studien können gerne als Argumentationshilfe gegen das „zu enge Indikationsgebiet“ verwendet werden. Empfehlenswert ist auch das neu herausgekommene Buch von Dom und Moggi: „Co-occurring Addictive and Psychiatric Disorders“, Springer 2015. Studienergebnisse entheben die Antragstellerin/den Antragsteller aber nicht der Notwendigkeit, in ihrer/seiner Institution zwölf Monate vor dem Antrag auf Weiterbildungsermächtigung alle Diagnosen zu erheben, also die vorhandenen komorbiden psychiatrischen Störungen zu diagnostizieren, zu verschlüsseln und dann prozentual auszuwerten, um die ganze psychiatrische Bandbreite in der Suchtfachklinik aufzuzeigen – und um damit eine möglichst lange Weiterbildungszeit zu erlangen. (Die Verfasserin unterzieht sich diesem Verfahren gerade in ihrer neuen Klinik. In der Suchtfachklinik, in der sie vorher lange als Chefärztin tätig war, wurden von der Ärztekammer Niedersachsen problemlos 18 Monate Weiterbildungszeit anerkannt aufgrund der hohen Anzahl an komorbiden psychiatrischen Störungen.) Daneben gibt es auch immer die Möglichkeit, an einem Weiterbildungsverbund teilzunehmen (vgl. den Artikel „Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe“ von Dr. Markus Wenning auf KONTUREN online).

    Gebiete der vorliegenden Weiterbildungsermächtigungen

    Nach den Ergebnissen der Umfrage wurden in folgenden Fächern/Gebieten Weiterbildungsermächtigungen erteilt (vgl. Abbildung 2):

    • 35 in Psychiatrie und Psychotherapie (58,33 Prozent)
    • neun in Sozialmedizin (15 Prozent)
    • fünf in Psychosomatische Medizin (8,33 Prozent)
    • fünf in Innere Medizin (8,33 Prozent)
    • drei in Rehabilitationswesen (fünf Prozent)
    • jeweils eine in Allgemeinmedizin, Psychoanalyse sowie Psychotherapie (jeweils 1,67 Prozent)

    Drei Weiterbildungsermächtigungen mussten nicht beantragt werden, da sie durch die Klinikstruktur bereits in vollem Umfang vorhanden waren (jeweils eine für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin sowie Neurologie). Insgesamt ergab die Umfrage also 63 gültige Weiterbildungsermächtigungen.

    Abb. 2: Vorliegende Weiterbildungsermächtigungen
    Abb. 2: Vorliegende Weiterbildungsermächtigungen

    Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen

    Wie oben erwähnt, ist ein Zeitraum von zwölf Monaten für die Weiterbildungsermächtigung notwendig, um attraktiv sowohl für die ärztlichen als auch für die psychologischen Weiterbildungskandidaten zu sein. Für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie ergab sich in der Umfrage in Bezug auf die Zeiträume folgendes Bild (vgl. Abbildung 3):

    • Vier Suchtfachkliniken erhielten einen Zeitraum von sechs Monaten.
    • 14 Kliniken waren zwölf Monate zuerkannt worden.
    • Neun Kliniken konnten 18 Monate Weiterbildungszeitraum erreichen.
    • Vier Kliniken bekamen 24 Monate
    • Bei vier Kliniken war entweder durch die Kombination mit einer benachbarten Psychiatrie oder durch die bereits vorhandene Klinikstruktur die volle Weiterbildungszeit von 48 Monaten gegeben.
    • Ein Bogen war für den Zeitraum der Weiterbildungsberechtigung nicht auswertbar.
    Abb. 3: Bewilligter Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie
    Abb. 3: Bewilligter Zeitraum der Weiterbildungsermächtigungen für das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie

    Für den Bereich Sozialmedizin ergaben sich folgende Zeiträume der Weiterbildungsberechtigung:

    • Zwei Kliniken erhielten sechs Monate.
    • Vier Kliniken erhielten zwölf Monate.
    • Eine Klinik erhielt 48 Monate.

    In der Psychosomatischen Medizin erhielten

    • zwei Fachkliniken 24 Monate,
    • drei Fachkliniken 36 Monate,
    • und eine Klinik hatte durch die Klinikstruktur eine bereits vorliegende 48-monatige Weiterbildungsberechtigung.

    Im Fach Innere Medizin erhielten

    • zwei Kliniken sechs Monate,
    • eine Klinik zwölf Monate und
    • eine Klinik 18 Monate.

    Im Gebiet Rehabilitationswesen erhielt

    • eine Fachklinik sechs Monate und
    • eine Klinik zwölf Monate.

    In Psychoanalyse sowie Psychotherapie wurden jeweils einer Klinik 48 Monate Weiterbildungszeitraum bewilligt. In Allgemeinmedizin erhielt eine Klinik zwölf Monate.

    Fazit

    Der DBCS ist mit dieser Situation nicht zufrieden. Aus diesem Grund ist für 2016 geplant, Wege zu finden, die Kolleginnen und Kollegen zu informieren und zur Antragstellung zu ermutigen. Die Verfasserin unterstützt diese Haltung ausdrücklich, da die Suchtmedizin und die Suchtbehandlung einen wichtigen Teil der medizinischen und therapeutischen Behandlungslandschaft darstellen. Um dies sichtbar zu machen, wäre es begrüßenswert, wenn mehr Anträge gestellt würden. Im Workshop der buss-Managementtagung 2014 wurde deutlich, dass es wichtig ist, sich bei Schwierigkeiten nicht entmutigen zu lassen! Im Zweifelsfall ist es hilfreich, den Justiziar der jeweiligen Ärztekammer einzuschalten oder sich an andere übergeordnete Abteilungen oder politische Institutionen zu wenden.

    Kontakt:

    Dr. Wibke Voigt
    Fachklinik Kamillushaus
    Heidhauser Straße 273
    45359 Essen
    w.voigt@kkrh.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Wibke Voigt ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und zertifizierte Traumatherapeutin. Sie ist seit 2006 als Chefärztin tätig, seit Oktober 2015 an der Fachklinik Kamillushaus, Essen. Dr. Wibke Voigt ist Vorstandsmitglied des DBCS und Vorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss).

    Literatur:
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  • Vom Aussterben der Sozialmediziner und der Bedeutung von Weiterbildung

    Vom Aussterben der Sozialmediziner und der Bedeutung von Weiterbildung

    Dr. Ursula Fennen
    Dr. Ursula Fennen

    Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation erlegen den Leistungserbringern hohe Anforderungen an Struktur, Konzept und fachlicher Kompetenz auf. Deren Implementierung ist belegungs- und vergütungsrelevant und wird durch etablierte Qualitätssicherungsprogramme regelmäßig überprüft. Zu Recht, ist doch die qualitativ hochwertige Rehabilitation spätestens volkswirtschaftlich von immenser Bedeutung! Zu diesen Anforderungen von Seiten der Leistungsträger gehört, dass der leitende Arzt/die leitende Ärztin über eine Gebietsbezeichnung und bestenfalls und wünschenswerterweise über die Zusatzbezeichnung Rehabilitationswesen oder Sozialmedizin verfüge, da die Aufgabe fundierte medizinische und rehabilitative Kenntnisse sowie die umfassende Berücksichtigung aller Reha-relevanten Erkrankungen erfordere.

    Nach Ansicht der Leistungsträger stellen Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation ein wertvolles Potential für die ärztliche Weiterbildung dar, weil hier Kenntnisse über Prävention und die Vermittlung von Strategien zum langfristigen Erhalt erreichter Lebensstiländerungen sowie Kenntnisse in der sektorübergreifenden Versorgung und sozialmedizinischen Behandlung und Begutachtung erworben werden. Die Weiterbildung in einer Klinik ermöglicht in kollegialer Lernatmosphäre den umfassenden Blick auf die erwerbs- und arbeitsplatzrelevanten Fähigkeiten des Patienten unter Verknüpfung akutmedizinischer und rehabilitationsbezogener Belange.

    Seit einigen Jahren scheiden nun zunehmend klinische Sozialmediziner – im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei stets beide Geschlechter gemeint sind – ohne Nachfolger aus dem Berufsleben aus. Vom leitenden Arzt einer Fachklinik zur Rehabilitation Abhängigkeitskranker erwartet der Leistungsträger neben der Gebietsbezeichnung heute (deswegen?) nur noch, dass er die sozialmedizinischen Blockseminare an einem Weiterbildungsinstitut besucht hat. An deren formalem Besuch wird nun die belegungs- und vergütungsrelevante Qualität einer Reha-Einrichtung gemessen. Die aktuelle Beschränkung der Leistungsträger auf den schieren Besuch der Kurse scheint also vernünftig und pragmatisch, birgt aber Gefahren für die dauerhafte Belegung einer Klinik, verhindert für den leitenden Arzt Rechtssicherheit und vernachlässigt das Potential der Reha-Einrichtungen als hoch differenzierte Weiterbildungsstätten. Darüber hinaus ist bundesweit die Weiterbildungsordnung zum Erwerb des Zusatztitels Sozialmedizin inhomogen und die Handhabung zur Erteilung der Weiterbildungsermächtigung in einigen Ländern sehr starr. Weiterbildungsordnung, Bedarf der Leistungsträger und Interesse der Ärzte (und Rehabilitanden?) sind nicht harmonisiert. Aus der kammerseitig restriktiven Handhabung der Erteilung von Weiterbildungsermächtigungen resultiert u. a. der heute fehlende sozialmedizinische Nachwuchs.

    In einigen Bundesländern ist das Curriculum der Blockseminare inhaltlich auf die Erwartungen der Leistungsträger an die im eigenen Haus tätigen Ärzte eingeengt. Diese Ärzte besuchen die Seminare und hospitieren bei unterschiedlichen Sozialversicherungsträgern. Danach werden sie höher eingruppiert, führen aber keinen Zusatztitel. Der Besuch dieser Seminare ist die Grundlage, um dann in der Geschäftsstelle sozialmedizinisch vor allem gutachterlich im weitesten Sinne tätig zu sein. Klinisch tätige Ärzte absolvieren diese Seminare ebenso, da sie Bestandteil der Weiterbildung sind, brauchen aber, sofern sie den Zusatztitel erlangen wollen, wie in jeder Weiterbildung praktische Anleitung und Supervision im klinischen Alltag bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt. Sie lernen, Reha-Diagnosen zu stellen, ihre gesamte Behandlungsstrategie sozialmedizinisch auszurichten und das Behandlungsergebnis in gutachterliche Stellungnahme und Empfehlung zu gießen. Jedoch ist es schwierig, die Weiterbildungsermächtigung zu erlangen, da die Kammer, wie oben genannt, auch vom klinisch tätigen Arzt ein eher verwaltungsbezogenes Curriculum sowie das ständige Beisammensein von Weiterbilder und Assistent im Unterstellungsverhältnis erwartet.

    Die Autorin erwarb im Jahr 2000 u. a. den Zusatztitel Sozialmedizin im Bundesland Sachsen nach einjähriger Weiterbildungszeit bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt in einer Fachklinik. Als sie für sich 2010 die Weiterbildungsermächtigung im Bundesland Baden-Württemberg beantragen wollte, war sie Ärztliche Direktorin von fünf Fachkliniken. Die Weiterbildungsermächtigung wurde nach langem Briefwechsel mit der Kammer letztendlich nicht erteilt, da die Ärztliche Direktorin weder fünf Tage in der Woche acht Stunden am Tag mit dem Weiterbildungsassistenten verbringen noch für ihren Urlaub eine qualifizierte Vertretung bereitstellen konnte (weil sie im gesamten Klinikverbund die einzige Ärztin mit Zusatztitel war). Dagegen klagte sie.

    Nun sind Weiterbildungsassistenten im Fach Sozialmedizin zumeist bereits leitende Ärzte mit einer Gebietsbezeichnung und langjähriger Erfahrung in der Rehabilitation. Sie leiten Fachkliniken, betreiben sozialmedizinische Diagnostik, Behandlung und Begutachtung, haben die Seminare besucht, sollen aber dennoch, so die Erwartung zur Erfüllung der Weiterbildungsordnung, ständig vom Weiterbilder soufflierend umgeben sein.

    In einigen Bundesländern gibt es realitätsbezogenere Regelungen: Zum Beispiel lässt sich dort der Zusatztitel Sozialmedizin zwar nicht in einem Jahr, wie in Baden-Württemberg vorgeschrieben, sondern innerhalb von drei Jahren erwerben, und Weiterbilder und Assistent sind nicht zwangsläufig jeden Tag zusammen an einem Ort, jedoch erfolgt regelmäßig eine nachgewiesene Besprechung und Supervision mit und durch den Weiterbilder. Und gerade das macht ja Weiterbildung aus und unterscheidet diese von theoretischer Wissensvermittlung: die Überführung der beruflichen Erfahrung von Weiterbilder und Assistent in sozialmedizinische Erkenntnisse und Sprache, die Ausbildung einer eigenen inneren Haltung durch die dialogische Qualität der Weiterbildung, die Reibung im kollegialen Diskurs sowie die gemeinsam erlebten und befundeten klinischen Zwangsläufigkeiten, Absonderlichkeiten, Möglichkeiten und Erfahrungen. Wenn die sozialmedizinische Legitimation zur Leitung einer Rehaklinik auf den Besuch der theoretischen Seminare und die Hospitation bei Sozialversicherungsträgern beschränkt würde, dann ließe sie die gesamte berufliche Erfahrung eines klinisch tätigen Arztes außer Acht.

    Nach Ablehnung des Antrags auf Weiterbildungsermächtigung scheiterte der Versuch der Autorin, die Leistungsträger, die sozialmedizinisch qualifizierte Ärzte in den Kliniken brauchen und wünschen, und die Kammer, die die Weiterbildungsordnung verantwortet, zusammenzubringen und über eine praktikable und verantwortungsvolle Regelung der Weiterbildung im Sinne der klinisch tätigen Ärzte zu diskutieren.

    Aktuell ist die Lage also so, dass Ärzte ohne Zusatztitel vom Leistungsträger in ihrer Funktion geduldet sind, die Deutungshoheit über das, was sie tun, obliegt somit aber auch dem Leistungsträger. Wie frei ist dann ein solcher Arzt? Wenn ein Arzt zu Diagnosen kommt, Behandlung plant und durchführt und den Nutzen dieser Behandlung am Ende durch den Entlassungsbericht überprüft und Empfehlungen abgibt, dann tut er das auf der Grundlage seiner Erfahrung, nach vielfältigem kollegialen Austausch und nach intensivem Befassen mit dem Patienten. Er leistet seine Unterschrift in der vollständigen und ernst gemeinten Verantwortung für das Behandlungsergebnis, verbindlich und zuverlässig für den Patienten, aber auch genauso justiziabel. Und das ist in den vielen Kliniken, in denen die leitenden Ärzte nicht den Zusatztitel Sozialmedizin erwerben können, die sich auf das Wort des Leistungsträgers verlassen, dass der Besuch der Seminare reiche, nicht mehr der Fall.

    Die Autorin hatte 2010 für sich erfolglos die Weiterbildungsermächtigung für die Zusatzbezeichnung Sozialmedizin beantragt, um die leitenden Ärzte der genannten fünf Kliniken zu Sozialmedizinern ausbilden zu können. Letztendlich hat sie mit einer Klage beim Verwaltungsgericht in Mannheim in zweiter Instanz im Juni 2014 erstritten, dass die Weiterbildungsbefugnis zu erteilen sei, wenn ein Kammermitglied fachlich und persönlich geeignet und an einer zugelassenen oder zulassungsfähigen Weiterbildungseinrichtung tätig sei. Die Entscheidung über die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis sei, so das Urteil, keine Ermessensentscheidung der Landesärztekammer. Ausschlaggebend sei die fachliche und persönliche Eignung des Weiterbilders, die nicht in den Ermessensspielraum der Ärztekammer falle, sondern durch Kriterien wie z. B. umfassende Sachkunde, Erfahrung und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Weiterbildung belegt werde. An dieser fachlichen und persönlichen Eignung der Autorin sowie an der Zulassungsfähigkeit der Weiterbildungseinrichtung hatte die Ärztekammer zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Das Gericht urteilte ferner, dass weder die zeitliche Komponente (ganztägige Durchführung unter persönlicher Leitung) zur persönlichen Eignung gehöre, noch seien an die Eignung unverhältnismäßig hohe Anforderungen betreffend Einweisung und Überwachung des Weiterbildungsassistenten zu stellen.

    Mit diesem Urteil ist die Bedeutsamkeit der Weiterbildung für die Qualität und den Bestand von Reha-Einrichtungen, für ganzheitliche sozialmedizinische Behandlung und Rehabilitation und für die Heranbildung ärztlicher Kollegen in der Sozialmedizin gewürdigt. Es stützt die notwendige Unabhängigkeit im ärztlichen Handeln. Die Weiterbildung basiert auf der qualifizierten Weitergabe von sozialmedizinischem Wissen und Denken, gewährleistet die Belegbarkeit einer Klinik und damit deren Existenz, sichert den sozialmedizinisch behandelnden und begutachtenden Arzt juristisch ab und steigert die Behandlungsqualität für die Patienten.

    Der Autorin wurde nach dem Urteil von der Kammer in Aussicht gestellt, dass bei erneuter Beantragung die Weiterbildungsermächtigung selbstverständlich erteilt werde.

    Kontakt:

    über die Redaktion: redaktion@konturen.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. med. Ursula Fennen, MBA
    Fachärztin für Psychiatrie
    -Psychotherapie/Sozialmedizin/Rehabilitationswesen-
    Suchtmedizinische Grundversorgung
    Verkehrsmedizinische Qualifikation

    Dr. Ursula Fennen ist ab 1. März 2016 als Chefärztin in der Fachklinik Hirtenstein, Bolsterlang, tätig.

  • Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe

    Weiterbildungsermächtigungen in Fachkliniken in Westfalen-Lippe

    Dr. Markus Wenning
    Dr. Markus Wenning

    Der Artikel lehnt sich an einen Vortrag an, den der Autor im September 2014 auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) in Kassel gehalten hat.

    Weiterbildungsbefugnisse – oder Ermächtigungen, wie sie in einigen Ärztekammern heißen – machen einen großen Teil der Attraktivität von Kliniken für junge Ärztinnen und Ärzte aus. Eine Klinik oder Abteilung ohne Weiterbildungsbefugnis ist für Ärzte ohne Facharztkompetenz uninteressant. Dieser Artikel zeigt auf, welche Bedingungen für die Erteilung einer Befugnis gelten und welche Besonderheiten in Fachkliniken zu berücksichtigen sind.

    Weiterbildung ist der geregelte Erwerb festgelegter Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten, um nach Abschluss des Medizinstudiums besondere ärztliche Kompetenzen zu erlangen (§1 (Muster-)Weiterbildungsordnung). Eine geregelte Weiterbildung soll junge Ärztinnen und Ärzte an eine zunehmend selbständigere Tätigkeit in ihrem Fachgebiet heranführen.

    Voraussetzungen für die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis

    Führen der Facharztbezeichnung und Berufserfahrung als Facharzt

    Die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis durch die Ärztekammern stellt eine Akkreditierung dar, die an besondere Voraussetzungen gebunden ist. Einige Bedingungen leuchten unmittelbar ein. Beispielsweise kann eine Befugnis zur Weiterbildung im Gebiet „Psychiatrie und Psychotherapie“ nur erteilt werden, wenn

    • die Ärztin/der Arzt selbst die Bezeichnung „Psychiatrie und Psychotherapie“ führt (§5 (2) (Muster-)Weiterbildungsordnung) und
    • eine mehrjährige Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung nachweisen kann (§5 (2) (Muster-)Weiterbildungsordnung).

    Die geforderte mehrjährige Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Kompetenz eines Facharztes mit Abschluss der Weiterbildung nicht stagniert, sondern durch die berufliche Tätigkeit („Erfahrung“) und Fortbildung erweitert wird. In Westfalen-Lippe sind mindestens zwei Jahre berufliche Tätigkeit nach Abschluss der Weiterbildung erforderlich, um eine Weiterbildungsbefugnis zu bekommen.

    Persönliche Eignung

    Ferner müssen die Weiterbilderin oder der Weiterbilder „persönlich geeignet“ (§ 5 (2) (Muster-)Weiterbildungsordnung) sein. Die „persönliche Eignung“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der im Einzelfall ausgefüllt werden muss. Dazu zählen didaktische ebenso wie organisatorische Fähigkeiten. An einer persönlichen Eignung fehlt es z. B., wenn nicht wahrheitsgemäße Zeugnisse erstellt werden oder falsche Angaben zur eigenen Leistungsstatistik in Anträgen auf eine Weiterbildungsbefugnis (mit dem Ziel einer möglichst hohen Befugnis) gemacht werden.

    Ein zentrales Element der Qualitätssicherung in der Weiterbildung in einem Peer-Review-System ist die Glaubwürdigkeit der Weiterbilder. Ärztekammern, künftige Patienten und Kollegen müssen sich darauf verlassen können, dass Weiterbildungszeugnisse wahrheitsgetreu sind. Anders als in Arbeitszeugnissen sind nicht nur positive Formulierungen möglich, es muss im Gegenteil ein realistisches Bild der Kompetenzen dargelegt werden. Dies schließt ein, auch Defizite oder noch fehlende Weiterbildungsinhalte klar zu benennen. Das Ausstellen fehlerhafter oder bewusst falscher Zeugnisse sowie falsche Angaben zur eigenen Leistungsstatistik in Weiterbildungsanträgen lassen mindestens Zweifel an der Sorgfalt des Antragstellers aufkommen, schlimmstenfalls erfüllen sie den Straftatbestand der mittelbaren Falschbeurkundung (§ 271 StGB – mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bewehrt).

    Gegliedertes Programm für den Weiterbildungsgang

    Jedem Antrag auf Weiterbildungsbefugnis ist ein Curriculum („gegliedertes Programm“; § 5 (5) (Muster-)Weiterbildungsordnung) beizufügen. In diesem Programm soll erläutert werden, wie in der Abteilung/Klinik Weiterbildung vermittelt wird.

    Beurteilung in einem Peer-Review-Verfahren

    Jeder Antrag auf Erteilung oder Erhöhung einer Weiterbildungsbefugnis, jedes Curriculum wird in Westfalen-Lippe von mindestens zwei erfahrenen Weiterbildern beurteilt.

    Befristung von Weiterbildungsbefugnissen

    Weiterbildungsbefugnisse sollen befristet sein. Die medizinische Versorgung in Deutschland unterliegt einer großen Dynamik. Medizinischer Fortschritt und ökonomische Rahmenbedingungen verändern die Bedingungen, unter denen ärztliche Tätigkeit ausgeübt und damit auch erlernt werden kann. Dies erfordert eine regelmäßige Anpassung der Weiterbildungsbefugnisse. In Westfalen-Lippe werden die Befugnisse für alle Gebiete routinemäßig alle sieben bis acht Jahre angepasst und entsprechend befristet.

    Umfang der Weiterbildungsbefugnis

    Für die Erteilung einer so genannten „vollen“ Weiterbildungsbefugnis über die gesamte Weiterbildungszeit ist es erforderlich, das gesamte, in der Weiterbildungsordnung abgebildete Spektrum eines Gebietes in qualitativer und in quantitativer Hinsicht abzudecken. Dabei spielt in Westfalen-Lippe auch die Zahl der Weiterbildungsärzte eine Rolle: Erst aus dem Verhältnis von Leistungsstatistik zu Ärzten in Weiterbildung ergibt sich, ob eine ausreichende Weiterbildung vermittelt werden kann. Abteilungen, die quantitativ oder qualitativ nicht das gesamte Spektrum eines Gebietes abdecken, wie dies bei Fachkliniken der Fall ist, können nur eine eingeschränkte Weiterbildungsbefugnis erhalten. Eine Möglichkeit, die volle Weiterbildung zu vermitteln, besteht dann im Zusammenschluss mit anderen Kliniken zu einem Weiterbildungsverbund.

    Weiterbildung nur an einer Weiterbildungsstätte

    Ein Weiterbildungsarzt soll bei seiner Arbeit jederzeit und unverzüglich einen erfahrenen Facharzt hinzuziehen können. In der Weiterbildungsordnung spiegelt sich dies in dem Umstand wider, dass grundsätzlich kein Arzt eine Weiterbildungsbefugnis erhalten kann, der an mehr als einer Weiterbildungsstelle tätig ist (§ 5 (3) (Muster-)Weiterbildungsordnung). Da zunehmend Chefärztinnen und Chefärzte an mehreren Betriebsstätten tätig sind, ist die Ärztekammer Westfalen-Lippe bei der Vergabe von Befugnissen restriktiv. Ohne fachärztliche Supervision kann keine Weiterbildung erfolgen. Wenn eine Chefärztin/ein Chefarzt an mehreren Betriebsstätten tätig ist, ist die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis in Westfalen-Lippe nur bei folgenden Konstellationen möglich:

    • Nicht der (organisatorische) Leiter der Gesamtabteilung, sondern an den jeweiligen Betriebsstätten tätige Fachärzte beantragen die Weiterbildungsbefugnis.
    • Zusammen mit der Chefärztin/dem Chefarzt beantragen weitere Fachärzte gemeinsam eine so genannte Verbund-Befugnis.

    Evaluation der Weiterbildung

    Standardisierte Befragungen von Ärztinnen und Ärzten zur Qualität ihrer Weiterbildung werden international verwendet, so in Großbritannien (Roff et al., 2005), in Dänemark (Kodal et al., 2012), Japan (Shimizu et al., 2013) und Deutschland (Korzilius, 2011). Für die Ärztekammern in Deutschland ist die Evaluation der Weiterbildung, wie sie in den Jahren 2009, 2011 (jeweils bundesweit) und 2014 (Baden-Württemberg, Nordrhein, Mecklenburg-Vorpommern, Westfalen-Lippe) durchgeführt wurde, ein wichtiger Bestandteil der Qualitätssicherung der Weiterbildung.

    Neben Aussagen über die Qualität der Weiterbildung im Kammergebiet insgesamt oder in verschiedenen Fachgebieten werden für einzelne Abteilungen Berichte erstellt, die Rückschlüsse auf die Qualität der Weiterbildung zulassen (sofern die Befragten einer derartigen Erstellung zustimmen bzw. sich hinreichend viele Ärzte in Weiterbildung beteiligen, so dass ihre Anonymität bei den Antworten gesichert ist). Die Ergebnisse gehen dem Weiterbildungsbefugten zu und ermöglichen die Identifikation von Stärken sowie Schwachstellen und das Aufdecken von Verbesserungspotentialen.

    Bereits der Dialog über die Weiterbildung an einer Klinik setzt Verbesserungsprozesse in Gang. Aber ähnlich wie Befragungen zur Patientenzufriedenheit nur sehr indirekt Aussagen über die Qualität der medizinischen Leistungen zulassen, sind die abteilungsbezogenen Evaluationsberichte keine abschließende Beurteilung über die Qualität der Weiterbildung. Sie sind aber Anlass für einen Einstieg in einen strukturierten Dialog mit der Ärztekammer, der Verbesserungsprozesse fördern soll. Dieser strukturierte Dialog erstreckt sich von Einzelgesprächen mit Weiterbildungsbefugten bis hin zu Visitationen, bei denen die Klinik besucht wird und Gespräche mit allen Beteiligten, insbesondere den Ärzten in Weiterbildung, geführt werden.

    Auf der Homepage der Ärztekammer Westfalen-Lippe werden die Evaluationsberichte der Kliniken und Praxen veröffentlicht (http://www.aekwl.de/index.php?id=5428, abgerufen am 04.10.2015). Die Weiterbildungsstätten können ihre Evaluationsergebnisse kommentieren und außerdem ihr Curriculum einstellen. Die von den Ärztekammern zur Weiterbildung befugten Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, an Evaluationen und Qualitätssicherungsmaßnahmen zur ärztlichen Weiterbildung teilzunehmen (§ 5 (6) (Muster-)Weiterbildungsordnung).

    Visitationen

    International sind Visitationen ein anerkanntes Instrument der Qualitätssicherung der Weiterbildung (ACGME). Die „Union Européenne des Médecins Spécialistes“ und die „Permanent Working Group of European Junior Hospital Doctors“ empfehlen Vistationen (UEMS, 1997; PWG). Anlassbezogene Visitationen finden in Großbritannien statt (GMC). Auch die Ärztekammer Westfalen-Lippe nimmt solche anlassbezogenen Visitationen vor. Neben den Ergebnissen der Evaluation können auch konkrete Beschwerden Anlass für einen strukturierten Dialog und in der Folge dann Visitationen sein. Bei den Visitationen wird geprüft, ob das der Ärztekammer vorgelegte Weiterbildungscurriculum tatsächlich gelebt wird und ob die Angaben im Antrag auf Weiterbildungsbefugnis zutreffen. In teils getrennten, teils gemeinsamen Gesprächen mit Weiterbildungsärzten und Weiterbildern wird ein authentisches Bild der Weiterbildungssituation an einer Weiterbildungsstätte erkennbar und ggf. gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösungsstrategie erarbeitet.

    In bislang ca. 50 Fällen wurden derartige Visitationen in Weiterbildungsstätten in Westfalen-Lippe durchgeführt. In einigen wenigen Fällen wurden Auflagen zur Weiterbildung erteilt, Befugnisse zeitlich eingeschränkt und in einem Fall sogar ganz entzogen. Von den jungen Ärztinnen und Ärzten wurden diese Visitationen positiv aufgenommen, im Nachgang wird von Verbesserungen bei der Weiterbildung berichtet. Eine systematische Analyse wird mit den Ergebnissen der Evaluation 2014 möglich sein.

    Wechsel einer Chefärztin/eines Chefarztes

    In Westfalen-Lippe erhält eine neue Chefärztin/ein neuer Chefarzt grundsätzlich zunächst eine auf zwölf Monate befristete Befugnis in der Höhe der Weiterbildungsbefugnis der Vorgängerin/des Vorgängers. Nach Ablauf von zwölf Monaten muss dann ein erneuter Antrag mit den eigenen Leistungszahlen des zurückliegenden Jahres gestellt werden.

    Gründung einer neuen Abteilung

    Ärztinnen und Ärzte, die neu gegründete Abteilungen leiten, erhalten frühestens nach einem Jahr eine Befugnis zur Weiterbildung, auch wird die Abteilung erst nach dieser Zeit als Weiterbildungsstätte zugelassen. Für Weiterbildungsärzte, die in dieser Zeit in der Klinik tätig sind und Wissen erwerben, kann eine individuelle Prüfung der Anrechenbarkeit von Zeiten und Leistungen erfolgen. Die Weiterbildungsärzte sollen keine Nachteile aus der fehlenden Weiterbildungsbefugnis erdulden müssen.

    Besondere Situation an Fachkliniken

    Fachkliniken haben ein enges Indikationsspektrum, umfassende Befugnisse für die „großen“ Gebiete kommen daher in der Regel nicht in Frage. Hier sollte an die Möglichkeit von Verbundweiterbildungen gedacht werden. In Fachkliniken für Suchttherapie bietet sich eine Verbundweiterbildung mit den Gebieten „Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“ sowie mit dem Gebiet „Psychiatrie und Psychotherapie“ an. Die „Suchtmedizinische Grundversorgung einschließlich der Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit“ ist integraler Bestandteil der Weiterbildung dieser Gebiete, nicht alle Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ‑psychotherapie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie können diese Inhalte vermitteln. Für derartige Kliniken ist eine Verbundweiterbildung mit einer Fachklinik für Suchttherapie interessant.

    Kontakt:

    Dr. med. Markus Wenning
    Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Westfalen-Lippe
    wenning@aekwl.de
    www.aekwl.de

    Literatur:
  • Verbandsauswertung des buss

    Verbandsauswertung des buss

    DruckDer Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel (buss) hat seine jährliche Auswertung von Basis- und Katamnesedaten aus den Mitgliedseinrichtungen vorgelegt. Die Basisdaten werden jedes Jahr als Gesamtauswertung und getrennt für die Einrichtungsarten stationäre Reha Alkohol, stationäre Reha Drogen, Adaption und Tageskliniken in kommentierten Tabellenbänden dargestellt. Die Katamnesedaten werden getrennt für Alkohol- und Drogeneinrichtungen ausgewertet. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der Basisdaten 2014 und der Katamnesedaten 2013 zusammengefasst. Die vollständigen Tabellenbände stehen allen Interessierten auf der Website des buss unter www.suchthilfe.de > Informationen > Statistik zur Verfügung.

    Basisdaten 2014

    Die Auswertung der Basisdaten des Entlassungsjahrgangs 2014 umfasst insgesamt 18.623 Fälle aus 105 Einrichtungen. Das durchschnittliche Alter liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, und in Tageskliniken mit 44,6 bzw. 44,5 Jahren am höchsten. Nach wie vor bilden Drogenabhängige die jüngste Gruppe mit durchschnittlich 29 Jahren. Das durchschnittliche Alter der Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen liegt bei 37,7 Jahren.

    Der Anteil der Frauen liegt in Suchthilfeeinrichtungen bei rund einem Viertel. So sind in Adaptionseinrichtungen und Drogenfachkliniken weniger als 18 Prozent der Behandelten Frauen. In Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Frauenanteil bei 27,4 Prozent, in Tageskliniken sind mit 29,1 Prozent die meisten Frauen vertreten. Tabelle 1 fasst wesentliche Items aus den Basisdaten 2014 zusammen.

    Tabelle 1: Basisdaten 2014
    Tabelle 1: Basisdaten 2014

    Berufliche und soziale Integration

    Große Unterschiede bestehen je nach Einrichtungsart in Bezug auf die berufliche und soziale Integration der Rehabilitanden. Rehabilitanden in Tageskliniken sind am besten integriert, sie weisen mit 33,4 Prozent die geringste Arbeitslosenquote auf, und circa ein Drittel der Gruppe ist alleinstehend. In Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, beträgt der Anteil an Alleinstehenden 46,2 Prozent, die Arbeitslosenquote liegt bei 41,5 Prozent. In Drogenfachkliniken beträgt der Anteil an Alleinstehenden 62,1 Prozent, die Arbeitslosenquote 55,7 Prozent. Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen weisen die problematischsten Daten auf: 71,2 Prozent sind alleinstehend und 79,2 Prozent sind arbeitslos.

    Behandlungsdauer

    Die planmäßige Behandlungsdauer ergibt sich aus den jeweiligen Bewilligungen und Standardtherapiedauern der Leistungsträger sowie den individuellen Therapieverläufen. Die Behandlungsdauer bei planmäßiger Beendigung liegt in Alkoholfachkliniken bei durchschnittlich 91,6 Tagen (= 13 Wochen). In Adaptionseinrichtungen werden im Schnitt 95,1 Tage (13 bis 14 Wochen) erreicht. Die planmäßige Behandlung dauert in Drogenfachkliniken am längsten mit 137,8 Tagen (= 20 Wochen). Die Behandlungsdauer in Tageskliniken ist mit 85,3 Tagen (= 12 Wochen) am kürzesten. Zudem ist zu beachten, dass in der ganztägig-ambulanten Rehabilitation üblicherweise an Sonn- und Feiertagen keine Therapieleistungen erbracht werden. Die angegebene Dauer bezieht sich auf Kalendertage (Zeitraum zwischen Aufnahme und Entlassung) und nicht auf Behandlungstage.

    Haltequote

    Die Haltequote für den Entlassungsjahrgang 2014 liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, sowie in Tageskliniken bei über 84 Prozent. Die Haltequote in Adaptionseinrichtungen beträgt 75,7 Prozent. In Drogenfachkliniken beendet etwas mehr als die Hälfte der Rehabilitanden die Behandlung planmäßig. In Tabelle 2 und Abbildung 1 sind die Vergleichsdaten der letzten Jahre dargestellt.

    Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014
    Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014
    Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014
    Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014

    Katamnesedaten 2013

    Die Katamnesedaten für den Indikationsbereich Drogen stammen aus elf Rehakliniken, es wurden nur Einrichtungen mit mindestens zehn Prozent Rückläuferquote berücksichtigt. Von insgesamt 1.251 entlassenen Rehabilitanden haben 224 Rehabilitanden geantwortet. Die mittlere Rückläuferquote liegt bei 17,9 Prozent.

    Von insgesamt 10.461 planmäßig entlassenen Rehabilitanden aus 47 Alkoholeinrichtungen (mindestens 25 Prozent Rückläuferquote) konnten die Daten von 4.059 Antwortern für die Katamnese berücksichtigt werden. Die mittlere Rückläuferquote beträgt 40,4 Prozent. Die Rückläuferquote ist in beiden Indikationsbereichen über die letzten fünf Jahre relativ konstant (s. Abbildung 2).

    Abbildung 2: Katamnesedaten - Rückläuferquote 2009 bis 2013
    Abbildung 2: Katamnesedaten – Rückläuferquote 2009 bis 2013

    Vergleich der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten 2013

    In Tabelle 3 werden für den Entlassungsjahrgang 2013 die Daten der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten verglichen. Für das Jahr 2013 wurden die Basisdaten von 12.630 entlassenen Rehabilitanden aus Einrichtungen für Alkohol- und Medikamentenabhängige ausgewertet, davon haben 4.059 bei der Katamnese geantwortet. An der Katamnese in Drogeneinrichtungen nahmen 224 ehemalige Rehabilitanden teil, die Gesamtstichprobe, für die Basisdaten für 2013 vorliegen, umfasst 2.828 Fälle.

    Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013
    Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013

    Das durchschnittliche Alter bei Betreuungsbeginn betrug in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen 44,5 Jahre, die Antworter sind mit durchschnittlich 47,9 Jahren etwas älter. In Drogeneinrichtungen ist das Durchschnittsalter mit knapp 30 Jahren zu Behandlungsbeginn und bei den Antwortern nahezu identisch.

    Antworter, die in Kliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige behandelt wurden, waren durchschnittlich 88,9 Tage in stationärer Behandlung. In der Gesamtstichprobe liegt die Behandlungsdauer mit 90,1 Tagen etwas höher. Die durchschnittliche Behandlungsdauer in Drogeneinrichtungen liegt bei Antwortern bei 138,6 Tagen und in der Gesamtstichprobe bei 136,1 Tagen.

    Von allen Rehabilitanden in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen wurden 84,0 Prozent planmäßig entlassen. Bei den Antwortern lag der Anteil an planmäßig Entlassenen bei 93,7 Prozent und damit deutlich höher. In Drogeneinrichtungen liegt die Haltequote bei den Katamnese-Antwortern mit 79,5 Prozent ebenfalls deutlich über der Haltequote in der Gesamtstichprobe (55,7 Prozent).

    Unter den ehemaligen Rehabilitanden aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen antworten eher diejenigen, die einer Arbeit nachgehen und in einer Beziehung leben: Der Anteil Alleinstehender in der Gesamtstichprobe beträgt 50,2 Prozent, bei den Antwortern 46,7 Prozent. Von den Antwortern sind 36,2 Prozent arbeitslos, in der Gesamtstichprobe liegt der Anteil bei 43,0 Prozent. Die Gesamtstichprobe aus Drogeneinrichtungen weist einen Anteil von 58 Prozent Alleinstehenden und 58,2 Prozent Arbeitslosen aus. Interessanterweise ist der Anteil der Alleinstehenden unter den Antwortern höher (65,6 Prozent). Der Anteil der Arbeitslosen ist bei den Katamnese-Antwortern aus Drogeneinrichtungen ebenso wie bei den Antwortern aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen niedriger (48,7 Prozent).

    Katamnestische Erfolgsquoten

    Die katamnestische Erfolgsquote errechnet sich aus den Patienten/-innen, die in der Katamnese ‚abstinent‘ und ‚abstinent nach Rückfall‘ angeben. Die Berechnungsform DGSS 1 umfasst alle planmäßig entlassenen Antworter (positive Sichtweise = Überschätzung der tatsächlichen Quote), die Berechnungsform DGSS 4 umfasst alle – auch die nicht planmäßig – entlassenen Rehabilitanden und wertet die Nicht-Antworter als ‚definiert rückfällig‘ (negative Sichtweise = Unterschätzung der tatsächlichen Quote). Tabelle 4 und Abbildung 3 zeigen einen Überblick über DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013.

    Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013

    Im Indikationsbereich Alkohol sind beide katamnestischen Erfolgsquoten über die letzten fünf Jahre relativ stabil: DGSS 1 = etwas über 80 Prozent, DGSS 4 = rund 40 Prozent. Die Quote DGSS 4 wird wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 45 Prozent berechnet, d. h., es werden nur Einrichtungen bei der Auswertung berücksichtigt, bei denen die Rückläuferquote mindestens 45 Prozent beträgt.

    Die Werte im Indikationsbereich Drogen schwanken im selben Zeitraum: DGSS 1 = zwischen 66 Prozent und 53 Prozent, DGSS 4 = zwischen neun Prozent und 18 Prozent. Dieser Effekt kann im Wesentlichen durch die Veränderungen der Stichprobe und die unterschiedliche Zahl der teilnehmenden Einrichtungen erklärt werden (2012 = 15 Kliniken / 1.591 Fälle / 274 Antworter). Außerdem wird die Quote DGSS 4 ab 2013 wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 25 Prozent berechnet, was den deutlichen Anstieg erklärt.

    Kontakt:

    Iris Otto
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    iris.otto@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Die Mitarbeitenden mitnehmen

    Die Mitarbeitenden mitnehmen

    Hildegard Winkler
    Hildegard Winkler

    Viele Krankenhäuser haben sich in den letzten Jahren nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen, www.ktq.de) zertifizieren lassen, so auch alle Kliniken in Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), ausgenommen die Einrichtungen der Suchtrehabilitation, die nach dem DIN-ISO-basierten deQus-Modell zertifiziert sind. Nun hat das LWL-Klinikum Gütersloh für den Krankenhausbereich – als Pilot im LWL – zur DIN EN ISO 9001:2008 gewechselt. Das LWL-Klinikum umfasst die Kliniken für Allgemeine Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Psychosomatische Medizin, Suchtmedizin sowie die Kliniken für Innere Medizin und Neurologie. Insgesamt handelt es sich um 449 Betten/Tagesklinik-Plätze, drei Ambulanzen und ca. 500 Stellen.

    Ziel der Zertifizierung nach DIN ISO war es, Qualitätsmanagement (QM) als effektives Managementinstrument auszubauen, die Mitarbeitenden einzubeziehen und dabei ressourcensparend vorzugehen.

    Warum DIN ISO?

    Ein QM-System zu implementieren, macht Arbeit, unabhängig davon, an welchen Vorgaben eine Einrichtung sich orientiert. Aufbau- und Ablauforganisation müssen geklärt sein, regelmäßige Überprüfungen und Verbesserungen im Sinne des PDCA-Zyklus nach Deming (Plan – Do – Check – Act) sind nachzuweisen. Im LWL-Klinikum Gütersloh haben wir die DIN ISO gewählt, weil sich deren Anforderungen konkret auf diejenigen Prozesse richten, die tatsächlich in der Einrichtung ablaufen. Kernaufgabe ist es, in einem QM-Handbuch die wesentlichen Arbeitsabläufe und die sicherheitsrelevanten Prozesse darzustellen. Geregelt werden die Prozesse mit dem Ziel, ein reibungsloses Ineinandergreifen und Funktionieren zu gewährleisten, möglichen Risiken vorzubeugen und Schnittstellen zu optimieren.

    Wir haben bei der Beschreibung der Prozesse die Sichtweisen der mit den Abläufen vertrauten Mitarbeitenden einbezogen, um die Regelungen wirklich an der Arbeitsrealität auszurichten. Ein solches Vorgehen erleichtert es zugleich, die Mitarbeitenden für das QM zu gewinnen, denn i. d. R. empfinden es Mitarbeitende als Wertschätzung, wenn sie gefragt werden, was ihre Arbeit ausmacht. In jährlichen internen Audits wird dann geprüft, ob die realen Arbeitsabläufe den Regelungen des Handbuchs entsprechen und ob die Regelungen geeignet sind, die Qualitätsziele der Einrichtung zu erfüllen. Gleichzeitig dienen die Audits dem Austausch zwischen der/dem Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB) und den Mitarbeitenden, Hinweise auf Verbesserungsbedarf gelangen dem Qualitätsmanagement zur Kenntnis, Maßnahmen werden mit den Mitarbeitenden vereinbart. Unmittelbare Praxisrelevanz erhält das QM-Handbuch aber erst dann so richtig, wenn Mitarbeitende sich damit aktiv auseinandersetzen und z. B. selbst darauf hinweisen, dass ein Arbeitsablauf zu Unsicherheiten, Konflikten oder Doppelarbeiten führt und deshalb geregelt werden sollte. Dann stehen wirklich diejenigen Prozesse im Fokus, bei denen Handlungsbedarf besteht, und die Kernfragen der QM-Arbeit sind „Was brauchen wir?“, „Was nützt unserer Einrichtung?“.

    Zentral werden diese Fragen jährlich im Management-Review der obersten Führungsebene gestellt. Im Rahmen dieses strategischen Management-Instruments wird das gesamte QM-System überprüft und bewertet. Die Ergebnisse der Audits fließen ebenso mit ein wie die des Beschwerde-, Fehler- und Risikomanagements, und auf der Grundlage der Bewertung werden Qualitätsziele festgelegt und zukünftige Entwicklungsschwerpunkte definiert.

    Zertifizierung als ‚Sahnehäubchen‘?

    Die Mitarbeitenden in die Erarbeitung von Prozessbeschreibungen einbeziehen, sich in internen Audits regelmäßig über die Vorgaben austauschen, gemeinsam Verbesserungen erarbeiten – das sind wichtige Bausteine eines lebendigen Qualitätsmanagements. Die Zertifizierung selbst sollte dann einen weiteren Motivationsschub geben und keinesfalls als übermäßige Belastung erlebt werden.

    Bei einer DIN-ISO-Zertifizierung werden alle Bereiche einer Einrichtung einbezogen. Uns besuchten zwei Auditoren vier Tage lang. Im Anschluss an ein dreistündiges Audit des Direktoriums und der Personalleitung auditierten sie nahezu alle Stationen sowie die Tageskliniken und Ambulanzen aller Klinken. Insgesamt waren 109 Mitarbeitende beteiligt. Sie alle haben eine direkte Rückmeldung über ihre Arbeit bekommen, da die Auditoren zum Abschluss eines jeden Audits die Stärken und die Verbesserungshinweise detailliert benannten.

    Im Mittelpunkt des Zertifizierungsaudits stand die Patientin/der Patient im Krankenhaus, d. h. die beiden Auditoren haben versucht, den ‚Weg des Patienten‘ in seiner individuellen Behandlung nachzuvollziehen. Darüber hinaus stand das Sicherheits- und Risikomanagement im besonderen Fokus. Die Bewertungsperspektive der Auditoren war einerseits auf das Risikomanagement der Prozesse ausgerichtet, mit dem Ziel, uns Hinweise auf mögliche ‚blinde Flecken‘ zu geben und auf Gefahren hinzuweisen: ein nicht abschließbarer Medikamentenschrank, Risiken bei der Medikamentenvergabe, fehlende CE-Zeichen auf den älteren Geräten der Physiotherapie – durchaus wertvolle Hinweise, die unsere eigenen Ziele unterstützen, Risiken zu verringern und Qualität weiterzuentwickeln. Gleichzeitig fokussierten die Auditoren immer wieder die Ergebnisqualität und gaben Denkanstöße, wie die Qualität der Behandlung besser gemessen werden könnte. Dies ist bekanntermaßen gerade auch im Hinblick auf das neue Vergütungssystem PEPP ein sehr wichtiger Aspekt. Immer wieder ging die Reflexion dahin, wie Ergebnisse noch stärker in das Qualitätsmanagement einfließen können.

    Im Audit der Leitung stand das Management von Qualität im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Direktorium erhielt Hinweise darauf, wie Qualitätsmanagement noch konsistenter als Führungsinstrument zur strategischen Planung genutzt werden kann.

    Wie erlebten die Mitarbeitenden das Audit?

    Nach Abschluss des Zertifizierungsprozesses haben wir die beteiligten Mitarbeitenden gebeten, das Audit anhand eines Fragebogens zu bewerten. 65 Bögen wurden zurückgegeben, die Rücklaufquote beträgt 60 Prozent. An der Befragung beteiligten sich alle Berufsgruppen, Antworten aus Pflege, Medizin und Therapie sind in nahezu gleicher Anzahl vertreten.

    Etwa drei Viertel der Antwortenden bewerteten den Auditprozess als „sehr gut“ oder „gut“ und hatten den Eindruck, dass die Auditoren das Arbeitsfeld gut verstanden haben.

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    Weitere Fragen an die Mitarbeitenden waren:

    Was hat Ihnen in dem Audit besonders gut gefallen?

    Mitglieder der obersten Führungsebenen bewerteten positiv, dass nahezu alle Organisationseinheiten begangen wurden, dass das Audit einerseits keinen Prüfungscharakter hatte, andererseits aber Schwachstellen aufdeckte, und dass ein besonderer Fokus auf messbare Ergebnisqualität gelegt wurde.

    Die Mitarbeitenden hoben die wertschätzende Haltung der Auditoren und ein authentisches Interesse für das jeweilige Arbeitsfeld durchweg als positiv hervor. Sie berichteten, dass ein direkter Praxisbezug hergestellt wurde, die Fragen am ‚Weg des Patienten‘ orientiert waren, Arbeitsabläufe kritisch hinterfragt wurden und verbesserungsbedürftige Prozesse zielgerichtet aufgedeckt wurden. Es sei ein offener und kommunikativer Austausch mit den Auditoren entstanden. Die Auditoren hätten positive Rückmeldungen gegeben, die Verbesserungsvorschläge seien konstruktiv und gut annehmbar gewesen.

    Was hat Ihnen nicht gefallen?

    Einzelne kritische Stimmen waren auch zu vernehmen: Der Auditor habe das Leistungsspektrum der Abteilung nicht genau gekannt. Der Ablauf des Audits sei etwas unübersichtlich gewesen. Drei ärztlich-therapeutischen Mitarbeitenden genügten die Psychiatriekenntnisse des Auditors nicht. Einem Antwortenden hat es nicht gefallen, dass sein Bereich keine Verbesserungsvorschläge erhalten hat.

    Probleme mit dem Zeitmanagement wurden öfter genannt: Einigen war die Zeit zu knapp, anderen hat das Audit zu lange gedauert, in einem Fall wurde der geplante Zeitrahmen erheblich überzogen, in anderen Fällen begann das Audit mit Verspätung und es entstanden Wartezeiten für die Mitarbeitenden.

    Haben Sie Verbesserungshinweise bekommen?

    Mehr als drei Viertel der Antwortenden waren mit den Verbesserungshinweisen zufrieden. Ein Viertel bewertete die Verbesserungshinweise als „wenig nützlich“. Als Beispiele wurden angeführt: eine hohe Anspruchshaltung in Bezug auf die Visitenführung, Kritik an Fluchtwegen, obwohl diese feuerbehördlich abgenommen worden sind, die Fokussierung auf den Medikamentenschrank.

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    Welche Anregungen haben Sie bekommen?

    Die Mitglieder der obersten Führungsebenen hoben die stärkere Nutzung des Qualitätsmanagements als Führungsinstrument, die weitergehende Adaptierung von Expertenstandards und Hinweise zum Risikomanagement als wertvolle Anstöße hervor. In den Bewertungen der Teammitglieder lassen sich folgende Schwerpunkte erkennen:

    • Schnittstellenmanagement: Verbesserung der Zusammenarbeit mit anderen Bereichen und Berufsgruppen, Abstimmung von Abläufen, Überprüfung von Kommunikationsstrukturen
    • Dokumentation: rechtssichere Dokumentation in den Ambulanzen, stärkere Strukturierung der Dokumentation im Krankenhausinformationssystem (KIS)
    • Risikomanagement: Hygiene und Desinfektion, Medikamentenvergabe, Aufklärungspflicht, Sicherheit auf der Station
    • Nachweis von Ergebnisqualität: Evaluierung der Arbeit, Erarbeitung von Soll- und Ist- Kriterien, Erarbeitung von Leistungskennziffern

    Was halten Sie von den jährlichen Überwachungsaudits?

    In den beiden Jahren bis zur Rezertifizierung kommen die Auditoren ebenfalls ins Haus, um Überwachungsaudits durchzuführen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass begonnene Entwicklungen kontinuierlich weitergeführt und die vereinbarten Maßnahmen verbindlich umgesetzt werden. Qualitätsmanagement kann so nachhaltig alle Organisationsbereiche einer Einrichtung durchdringen und die Entwicklung eines Qualitätsbewusstseins bei den Mitarbeitenden fördern.

    Mehr als drei Viertel der Antwortenden finden es „sehr gut“ und „gut“, wenn die Auditoren jährlich ins Haus kommen. Wer die Verbesserungshinweise als nützlich bewertet, hofft, dass die jährliche Auditierung die Kontinuität der Qualitätsentwicklung unterstützt.

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    Es wurde der Wunsch geäußert, Qualitätsmanagement möge tatsächlich gelebt werden und ein authentischer Prozess mit einer fruchtbaren, berufsgruppenübergreifenden Diskussion möge entstehen.

    Wir empfehlen: DIN ISO!

    Unsere KTQ-Zertifizierung vor drei Jahren war erfolgreich – wir erreichten eine hohe Punktzahl und bekamen viel Lob von den Visitoren (so heißen die Auditoren bei der KTQ). Aber zusätzlich zum ganz normalen Aufbau eines QM-Systems hatten wir rund 250 Arbeitstage für das Verfassen von Berichten aufgewandt und etwa 800 Dokumente (sechs übervolle Aktenordner) kopiert und zur Einsichtnahme für die Visitoren zusammengestellt (und nach der Zertifizierung wieder entsorgt). Unsere Mitarbeitenden hatten wir mit Probevisitationen nervös gemacht, sodass sie versuchten, Prozessbeschreibungen und Berichte auswendig zu lernen. Visitiert wurden letztlich aber nur drei (!) Stationen (von 19). Nach der Zertifizierung war dann die Luft raus, und mit QM wollte keiner mehr etwas zu tun haben.

    Unsere Befragungsergebnisse zeigen nun deutlich, dass die Mitarbeitenden an der Weiterentwicklung von Qualität in ihrem Arbeitsfeld interessiert sind und die Instrumente des Qualitätsmanagements akzeptieren, wenn sie den Nutzen für ihre Arbeit erkennen. Geregelte Abläufe und nachvollziehbare Risikostandards geben Mitarbeitenden Sicherheit. Die Begehung nahezu aller Organisationseinheiten bei der Zertifizierung, die direkten und wertschätzenden Rückmeldungen und Anregungen der Auditoren und im Ergebnis eine überschaubare Anzahl relevanter Verbesserungshinweise motivieren zur Bearbeitung und lassen Qualitätsmanagement in der gesamten Einrichtung erlebbar und lebendig werden.

    Die Bernhard-Salzmann-Klinik (Suchtrehabilitation) ist seit 2003 nach dem deQus-Verfahren zertifiziert, daher waren wir von den Stärken einer DIN-ISO-Zertifizierung überzeugt. Überrascht und erfreut hat uns jedoch die positive Einschätzung der Mitarbeitenden auch im Krankenhausbereich.

    Kontakt:

    Hildegard Winkler
    LWL-Klinikum Gütersloh
    Buxelstraße 50
    33334 Gütersloh
    Hildegard.Winkler@lwl.org

    Angaben zur Autorin:

    Hildegard Winkler ist Qualitätsmanagerin im LWL-Klinikum Gütersloh und in der Bernhard-Salzmann-Klinik.

  • Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe

    Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe

    Dr. Daniela Ruf
    Dr. Daniela Ruf

    Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe stellen zwei jeweils eigenständige wichtige Hilfeansätze im Versorgungssystem dar. Beide haben dasselbe Ziel: Sie wollen die Ressourcen und Kompetenzen von Betroffenen und Angehörigen stärken, Suchtkranke motivieren, Wege in ein suchtmittelfreies Leben zu finden, ihre Gesundheit fördern und ihnen Teilhabe am Familienleben sowie an Beruf und Gesellschaft ermöglichen. Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sind beim Erreichen dieses Ziels keine Konkurrenz, denn sie können sich gegenseitig nicht ersetzen, sie machen unterschiedliche, sich ergänzende Angebote. Die berufliche Suchthilfe bietet in Form von professioneller Beratung, Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge ein differenziertes Hilfesystem für Betroffene und Angehörige sowie zahlreiche Unterstützungsangebote für die Selbsthilfe. Die Selbsthilfe bietet Gemeinschaft, Austausch unter Gleichen und Unterstützung im Alltag – und zwar vor, während, nach oder unabhängig von einer professionellen Behandlung. Berufliche Suchthilfe ist zudem immer ein zeitlich begrenztes Angebot, während Selbsthilfe unbegrenzte Begleitung über das Ende der beruflichen Hilfe hinaus bietet, bei Bedarf sogar lebenslang. Selbsthilfe ermöglicht niedrigschwellig Hilfe, wann immer sie gerade benötigt wird.

    Im Bereich der Nachsorge besteht die größte Überschneidung zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe, aber auch hier stehen die Angebote nicht in Konkurrenz, sondern haben jeweils eine unterschiedliche Ausrichtung. Sie ergänzen sich in Bezug auf die Dauer (Eisenbach-Stangl, 2003), aber auch in Bezug auf den Inhalt. Verkürzte Behandlungszeiten und schwierige Problemlagen machen eine professionelle Nachsorge oft unverzichtbar, langfristige Stabilisierung und Bewältigung des Alltags erfordern die Fortführung der Nachsorge in der Selbsthilfe (Küfner, 1990).

    Wieso die Zusammenarbeit so wichtig ist

    Vorteile der Zusammenarbeit

    Allein die Tatsache, dass es zwei Hilfeansätze gibt, ist bereits ein Vorteil, da Menschen unterschiedliche Bedarfe haben und so die Möglichkeit erhalten, ihren jeweils eigenen Weg aus der Sucht zu finden. Manche Menschen mögen allein in der beruflichen Suchthilfe ein für sie wirksames Hilfeangebot finden, andere allein in der Selbsthilfe, für viele jedoch bietet die Verbindung beider Hilfeangebote die beste Unterstützung, v. a. im Hinblick auf eine langfristige Stabilisierung. Aber erst eine gute Zusammenarbeit in Form von durchlässig gestalteten Übergängen ermöglicht die optimale Nutzung der Kompetenzen beider Hilfeansätze. Darüber hinaus bietet eine gute Zusammenarbeit für berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe die Möglichkeit, Ressourcen zu bündeln, die Qualität des Hilfeangebots zu erhöhen und neue Herausforderungen – beispielsweise durch veränderte Rahmenbedingungen, vielfältigere Bedarfe oder neue Zielgruppen – gemeinsam besser zu bewältigen.

    Wirksamkeit

    Beide Hilfeansätze weisen eine hohe Wirksamkeit auf. In der beruflichen Suchthilfe erreichten im Jahr 2013 80 Prozent der ambulanten und 92 Prozent der stationären Patienten/-innen, die die Betreuung/Behandlung planmäßig beendeten, ein positives Behandlungsergebnis (Braun, Künzel & Brand, 2015). Gut ein Viertel der Besucher/-innen von Selbsthilfegruppen erreichten 2010 Abstinenz, ohne berufliche Suchthilfeangebote in Anspruch genommen zu haben, und etwa drei Viertel der rückfällig geworden Gruppenbesucher/-innen konnten durch die Gruppe stabilisiert werden (Selbsthilfe- und Abstinenzverbände, 2011).

    Insbesondere zur Rückfallprävention und (Re)Integration in ein intaktes soziales Umfeld leisten Selbsthilfegruppen einen wichtigen Beitrag in der Versorgung (Schwoon, 1996). Selbsthilfe wirkt sowohl rückfallvorbeugend als auch stabilisierend nach einem Rückfall (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2001). Der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe nach einer stationären Therapie zeigte sich in Studien mit deutlich höheren Abstinenzraten verbunden (Schwoon, 1996; Küfner, 1988). Und auch bei Patienten/-innen, die nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung rückfällig gewordenen waren, zeigte sich, dass sie in der Folge häufiger abstinent waren, wenn sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe besuchten (Küfner, 1990).

    Verankerung

    Der nachgewiesenen Wirksamkeit der beiden Hilfeansätze sowie ihres Zusammenwirkens wird an verschiedenen Stellen Rechnung getragen. Im gemeinsamen Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung zur ambulanten medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist die Kooperation als eine der Voraussetzungen benannt. Und auch in der neuen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ werden Empfehlungen zum regelmäßigen Besuch von Selbsthilfegruppen getroffen sowie auf die Bedeutung der Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe explizit hingewiesen (v. a. Kapitel 4 Versorgungssituation).

    Der Mehrwert einer guten Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe ist also belegt und in verschiedenen Kontexten bereits verankert. Sie kann daher nicht optional sein oder nur von der Motivation einzelner Mitarbeiter/-innen abhängen, sondern muss verbindlich und nachhaltig geregelt und umgesetzt werden.

    Herausforderungen für die Zusammenarbeit

    Die Ausdifferenzierung des Angebotsspektrums in der Suchthilfe hat die Bedeutung von Kooperation innerhalb des Hilfesystems erhöht (Oliva & Walter-Hamann, 2013). In der Suchthilfe der Caritas gibt es eine lange Tradition der guten Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe als einer der zentralen Schnittstellen im Hilfesystem. Dennoch ist diese Kooperation vor Ort sehr unterschiedlich ausgeprägt und nicht immer zufriedenstellend. Sie ist kein Selbstläufer – sie muss immer wieder neu gestärkt, geklärt und mit Impulsen belebt werden, gerade in Zeiten rascher Veränderungen. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die zentralen Faktoren, welche die Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen.

    Abb. 1:Zentrale Faktoren, welche die Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen
    Abb. 1: Zentrale Faktoren, welche die Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen

    Die verschiedenen Faktoren sind jeweils mit Herausforderungen verbunden, die im Folgenden erläutert werden.

    Rahmenbedingungen

    • Eine vielfältiger gewordene Behandlung, welche sich aus verschiedenen Abschnitten zusammensetzt, macht die Gestaltung der Übergänge von der Behandlung in die Selbsthilfe und die Verzahnung zwischen den jeweiligen Angeboten anspruchsvoller.
    • Neue Zielgruppen und Konsummuster, Zugänge zu diesen Zielgruppen und vielfältigere Vorstellungen von Selbsthilfe stellen die Zusammenarbeit vor neue Aufgaben.
    •  Veränderte Finanzierungsstrukturen und Vorgaben von Leistungsträgern erfordern eine Anpassung der Arbeit an die dadurch gegebenen Rahmenbedingungen.

    System der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe

    • Unterschiedliche Kompetenzbereiche, Regeln und Handlungszwänge sowie Alltagskulturen müssen aufeinander abgestimmt werden. Das Aufeinandertreffen des reglementierten beruflichen Settings und des selbstbestimmten ehrenamtlichen Settings erfordert gute Abstimmungs- und Organisationsprozesse.
    • Die jeweiligen Arbeitsweisen und Angebote unterscheiden sich und verändern sich über die Zeit. Sie müssen wechselseitig transparent und gut bekannt gemacht werden.
    • Vor dem Hintergrund des Aufeinandertreffens von Alltags- und Fachsprache muss eine Basis zur Verständigung geschaffen und eine gute gegenseitige Rückmeldekultur entwickelt werden.

    Persönliche Beziehungen

    • Es muss ein Rollenwechsel von der ursprünglichen Begegnung als Therapeut/-in und Klient/-in hin zu Partnern/-innen gelingen. Ebenso muss sich das Hierarchiegefälle zwischen Experten/-innen und Laien auflösen. Die evtl. bestehende Wahrnehmung von Konkurrenz sollte der selbstbewussten Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen und Angebote weichen. Ein möglicherweise erlebter Widerspruch zwischen Unterstützungswunsch/-bedarf und Autonomie/Selbstbestimmung der Selbsthilfe muss geklärt werden.
    • Die gegenseitige Begegnung muss von Respekt, Wertschätzung, Offenheit und Vertrauen geprägt sein.
    • Eigene Haltungen und Einstellungen müssen überprüft und ggf. korrigiert werden. Interessen und gegenseitige Erwartungen müssen transparent und Vorurteile bewusst gemacht werden.

    Art der Ausgestaltung der Zusammenarbeit

    • Die Zusammenarbeit muss institutionalisiert und in Konzepten und Vereinbarungen vor Ort verankert und verbindlich geregelt werden, sie darf nicht nur vom Engagement einzelner Personen abhängen, um bei einem Wechsel nicht gefährdet zu sein.
    • Für die Zusammenarbeit muss es fest eingeplante Zeit- und Personalressourcen auf beiden Seiten geben, sie darf nicht einfach nur „nebenher“ laufen.
    • Die Umsetzung von bekannten Handlungserfordernissen muss gefördert und unterstützt werden, oft fehlen Handlungsanleitungen und konkrete Strategien.

    Sich die beschriebenen Einflussfaktoren und Herausforderungen bewusst zu machen, kann helfen zu verstehen, wieso sich die Zusammenarbeit nicht immer einfach gestaltet. Gleichzeitig bieten die genannten Herausforderungen aber auch Chancen und konkrete Ansatzpunkte zur Verbesserung der Zusammenarbeit.

    Gelingende Zusammenarbeit: Gemeinsamer Prozess des Deutschen Caritasverbands und des Kreuzbund-Bundesverbands

    Die Bedeutung der Schnittstelle zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe ernstnehmend, haben sich der Deutsche Caritasverband (DCV) und der Kreuzbund-Bundesverband vor einigen Jahren dazu entschieden, einen gemeinsamen, langfristig angelegten Prozess zur Zusammenarbeit durchzuführen. Dadurch wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die oben genannten Herausforderungen die Verbesserung der Zusammenarbeit zu einer anspruchsvollen Aufgabe machen, die durch punktuelles Engagement, einzelne Veranstaltungen oder die alleinige Entwicklung einer Positionierung oder Handreichung nicht hinreichend erfüllt werden kann. Um die Basis für eine tragfähige, zukunftsorientierte Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe zu schaffen, braucht es Begegnung, kontinuierliche Auseinandersetzung sowie Zeit, um Haltungen zu überprüfen und Veränderungen einzuleiten und wirksam werden zu lassen.

    Im Folgenden werden die zentralen Grundsätze und Erfolge des bisherigen Prozesses zur Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas dargestellt sowie ein Ausblick auf seine Weiterführung gegeben (vgl. Abb. 2).

    Abb. 2: Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas
    Abb. 2: Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas

    Gemeinsam angelegter Prozess

    Um möglichst vielfältige Sichtweisen und Erfahrungen zusammenzuführen und fundierte, von allen Akteuren getragene Ergebnisse zu erreichen, waren jeweils Vertreter/-innen der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe von Orts-, Diözesan- und Bundesebene an dem Prozess beteiligt. Es gab sowohl gemeinsame Arbeitsphasen in Form von Workshops als auch getrennte, allerdings immer in Verbindung mit kontinuierlichem Austausch. Damit wurden bereits im Verlauf des Prozesses wesentliche Grundzüge einer guten Zusammenarbeit konsequent umgesetzt.

    Zur Darstellung der Ergebnisse des Prozesses wurde 2011 eine Dokumentation veröffentlicht. Auf der Basis dieser Ergebnisse wurde in den letzten Jahren in gemeinsamen Veranstaltungen und Konferenzen weiter an der Thematik gearbeitet. Es bestand Einigkeit darüber, dass ähnliche Prozesse nun auch auf Diözesan- und Ortsebene angestoßen werden müssen und dass es dafür weiterer Impulse und konkreter Arbeitshilfen zur Unterstützung bedürfe.

    Arbeitshilfe des DCV für die berufliche Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe

    Die Entwicklung einer Arbeitshilfe war kein zu Beginn des Prozesses formuliertes Ziel, sondern die Antwort des DCV auf den aus der Praxis geäußerten Unterstützungsbedarf. Sie ist damit Ergebnis des bisherigen Prozesses und Grundlage für die Fortsetzung des Prozesses zugleich. Die Arbeitshilfe besteht aus zwei Modulen: Modul I „Grundlagen und Empfehlungen für eine gute Zusammenarbeit“ und Modul II „Good practice Beispiele für eine gute Zusammenarbeit“. Um die Einführung in die Arbeitshilfe und die Arbeit mit den beiden Modulen zu unterstützen, wurde ein weiteres Modul entwickelt, Modul III „Foliensatz zu Modul I und II“. Im Folgenden werden die zentralen Ziele, welche die Module verfolgen, dargestellt.

    1. Grundlagen für eine gute Zusammenarbeit vermitteln: Selbstverständnis – Wechselseitiges Verständnis – Kooperationsverständnis
    Cover Modul 1Das Erkennen der eigenen wichtigen Bedeutung im Hilfesystem, des sich ergänzenden Charakters der jeweiligen Angebote sowie der Unverzichtbarkeit einer guten Zusammenarbeit zur optimalen Gestaltung der Hilfen für Betroffene und Angehörige sind wichtige Grundlagen für eine gute Zusammenarbeit. Darüber hinaus ist eine gute Wissensbasis über die wechselseitigen Arbeitsweisen und Angebote zentral. Kapitel I bis III von Modul I der Arbeitshilfe bieten eine ausführliche und praxisnahe Aufbereitung dieser Inhalte. Kapitel IV und V nehmen Bezug auf die Herausforderungen in der Zusammenarbeit und zeigen Wege zur gemeinsamen Bewältigung auf. In Kapitel IV werden dazu konkrete Handlungsempfehlungen in Form von fünf Grundsätzen vorgestellt. Diese lauten: Bereitschaft und Begeisterung, Gemeinsame Ziele und Anliegen, Begegnung und gemeinsames Tun, Gute Kommunikation und Rollenklarheit, Verankerung und Verbindlichkeit. In Kapitel V werden Hinweise gegeben, wie mit der Arbeitshilfe konkret gearbeitet werden kann. Dieses Kapitel schlägt eine Brücke zwischen dem reinen Wissen, welche Maßnahmen erforderlich wären, und der tatsächlichen Umsetzung, denn häufig fehlt es vor Ort an Strategien, um vom Wissen zum Tun zu gelangen.

    2. Vielfalt der Zusammenarbeit und Möglichkeiten, wie man voneinander lernen kann, aufzeigen
    Cover Modul 2Modul II stellt in Form von good practice Beispielen zur Zusammenarbeit Anregungen und konkrete Umsetzungshilfen zur Verfügung. Die Kooperationsbeispiele stehen jeweils für sich und können je nach Interesse anhand des Inhaltsverzeichnisses gefunden und genutzt werden. Modul II soll aufzeigen, wie vielfältig die Formen der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sein können, es soll Mut machen, Vorhaben gemeinsam anzugehen und auszuprobieren.

    3. Gemeinsame Basis für die gemeinsame Arbeit anbieten
    In der Arbeitsgruppe, die die Entwicklung der Module begleitete, waren Vertreter/-innen aus der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe von Bundes-, Diözesan- und Ortsebene vertreten, um die Perspektiven und Bedarfe aller Akteure bestmöglich zu berücksichtigen. Die Arbeitshilfe richtet sich gleichermaßen an die berufliche Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe. Zusammenarbeit kann nur durch Ansprache und Einbezug beider Partner gelingen – mit denselben Materialien und Grundlagen.

    4. Praktikable und praxisnahe Materialien zur Verfügung stellen

    Einfach erfassbare und ansprechend gestaltete Inhalte statt langer Fließtexte sollen zur Arbeit an einer guten Zusammenarbeit motivieren. Da die Voraussetzungen vor Ort unterschiedlich sind und die gemeinsame Konkretisierung der Inhalte der Arbeitshilfe einen wichtigen Schritt in der Zusammenarbeit vor Ort darstellt, sind die Inhalte nur so weit wie nötig festlegend. Die Rückmeldungen in Bezug auf die Nutzbarkeit in der Praxis sind sowohl im Bereich der Sucht-Selbsthilfe als auch im Bereich der beruflichen Suchthilfe sehr positiv.

    5. Lösungen für „Knackpunkte“ verfügbar machen
    In Modul I wird unter der Überschrift „Vielfalt der Selbsthilfe“ u. a. auch das nicht immer spannungsfreie Thema des Nebeneinanders von verbandlich organisierter und nicht-verbandlich organisierter Selbsthilfe aufgegriffen, das sich auch in Modul II in einzelnen good practice Beispielen wiederfindet. Modul II soll darüber hinaus mit seinen Beispielen bewusst Themen fokussieren, die nicht ganz einfach sind, und konkrete Ansätze aufzeigen, wie durch Kooperationen bisher eher schwer zugängliche Zielgruppen erreicht werden können.

    Die Inhalte der Module sind nicht auf die Nutzung innerhalb der Caritas beschränkt. Die Module können auch von anderen Verbänden und in anderen Kontexten genutzt werden und hilfreich sein.

    Nachhaltigkeit in der guten Zusammenarbeit

    Auf Bundesebene wurde zwischen DCV und Kreuzbund-Bundesverband durch den bisherigen Prozess bereits Nachhaltigkeit in der Zusammenarbeit erreicht. Gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung sind selbstverständlich geworden, und es konnte auch in Bezug auf schwierige Themen ein offener und konstruktiver Austausch erreicht werden. Der gegenseitige Einbezug und der Informationsfluss konnten intensiviert werden – es wurde beispielsweise die gegenseitige Teilnahme an zentralen Konferenzen und Projekten verbindlich implementiert.

    Auch auf Diözesanebene hat sich an vielen Orten eine verbindliche gegenseitige Teilnahme an wichtigen Gremien etabliert, in zwei Diözesen gibt es sogar schriftliche Rahmenvereinbarungen zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe.

    Um auch auf Ortsebene eine nachhaltige Verbesserung der Zusammenarbeit zu fördern, werden folgende Maßnahmen durchgeführt:

    • breite Streuung der Arbeitshilfe im Bereich der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe – auf allen Ebenen und über verschiedene Verbände der beruflichen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe
    • Unterstützung von Multiplikatoren/-innen durch Modul III, einem zur Einführung in die Arbeitshilfe entwickelten Foliensatz
    • Unterstützung von gemeinsamen Fachveranstaltungen zum Thema Kooperation auf Diözesan-/Ortsebene
    • Entwicklung eines QM-Moduls zur Zusammenarbeit, welches anschlussfähig ist an QM-Rahmenhandbücher

    Um nachhaltig eine gute und zukunftsorientierte Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sicherzustellen, braucht es ein langfristiges und kontinuierliches Engagement auf allen Ebenen: Zur Verbesserung der Zusammenarbeit vor Ort sind Multiplikatoren/-innen in der beruflichen Suchthilfe sowie in der Sucht-Selbsthilfe unverzichtbar, die Bundesebenen der beruflichen Suchthilfe sowie der Sucht-Selbsthilfe bleiben weiterhin in der Verantwortung mit folgenden Aufgaben:

    • Unterstützung von Multiplikatoren/-innen und gemeinsamen Veranstaltungen vor Ort
    • Einbindung der Zusammenarbeit in Schulungskonzepte und QM-Systeme
    • gleichberechtigte Berücksichtigung der Schnittstelle zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe neben anderen Themen in Fachdebatten und bei Fachveranstaltungen
    • gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur Vermittlung der Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit der Zusammenarbeit

    Eine gute Zusammenarbeit kann nur vor Ort gestaltet und gelebt werden. Der Perspektivprozess auf Bundesebene sowie die vom DCV entwickelte Arbeitshilfe und die durchgeführten Maßnahmen können und sollen die Begegnung, die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Thematik und die tatsächliche Umsetzung vor Ort nicht ersetzen, aber sie können gute Anregungen und konkrete Umsetzungshilfen bieten.

    Kontakt:

    Dr. Daniela Ruf
    Deutscher Caritasverband e. V.
    Referat Gesundheit, Rehabilitation, Sucht
    Karlstr. 40
    79104 Freiburg
    Daniela.Ruf@caritas.de
    www.caritas.de
    http://www.facebook.com/caritas.deutschland

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Daniela Ruf (*1978 in Karlsruhe) schloss 2004 ihr Psychologiestudium an der Universität Freiburg ab. Von 2005 bis 2010 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, Sektion Klinische Epidemiologie und Versorgungsforschung, beschäftigt – mit den Arbeitsschwerpunkten Sucht, Migration, Demenz, Online-Systeme. Seit 2011 ist sie als Suchtreferentin beim Deutschen Caritasverband, Referat Gesundheit, Rehabilitation, Sucht, tätig – aktuell mit den Schwerpunkten Selbsthilfe, Migration, Online-Beratung/Neue Medien, Internetabhängigkeit.

    Literatur:
    • Braun, B., Künzel, J. & Brand H. (2015). Jahresstatistik 2013 der professionellen Suchtkrankenhilfe. In Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 2015. Lengerich: Pabst, S. 214-240
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (2001). Informationen zur Suchtkrankenhilfe. Selbsthilfe Sucht. Möglichkeiten – Grenzen – Perspektiven [Online]. Verfügbar unter:
      http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Selbsthilfe/selbsthilfe_sucht_2001.pdf [25. Juni 2015]
    • Eisenbach-Stangl, I. (2003). Suchtkrankenhilfe – Selbsthilfe – Psychotherapie: Komplizierte Verhältnisse. Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 26 (2), S. 5-11
    • Küfner, H., Feuerlein, W. & Huber, M. (1988). Die stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen: Ergebnisse der 4-Jahreskatamnesen, mögliche Konsequenzen für Indikationsstellung und Behandlung. Suchtgefahren, 34 (3), S. 157-272
    • Küfner, H. (1990). Die Zeit danach – Alkoholkranke in der Nachsorgephase. In D. Schwoon & M. Krausz (Hrsg.), Suchtkranke. Die ungeliebten Kinder der Psychiatrie. Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 189-202
    • Oliva, H. & Walter-Hamann, R. (2013). Suchthilfe in Netzwerken. Praxishandbuch zu Strategie und Kooperation. Freiburg: Lambertus
    • Selbsthilfe- und Abstinenzverbände (2011). Erhebung der fünf Selbsthilfe- und Abstinenzverbände. Statistik 2010 [Online]. Verfügbar unter:
      http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Selbsthilfe/Statistik_der__5_SH-Verbände.pdf [25. Juni 2015]
    • Schwoon, D. (1996). Nutzung professioneller Nachsorge und Selbsthilfegruppen durch Alkoholiker nach stationärer Kurzzeittherapie. In K. Mann & G. Buchkremer (Hrsg.), Sucht. Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: Fischer, S. 281-287