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  • Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Beitrag von Daniel Zeis über die Zukunft der Suchtberatung, der auf KONTUREN online am 7. Februar 2023 publiziert wurde, greift ein sehr wichtiges Thema auf. Grundsätzlich kann man den Kernaussagen des Textes nicht widersprechen: Suchtberatung ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge und als solche muss diese Leistung angemessen finanziert werden. Dass die Wirklichkeit in vielen Städten und Landkreisen anders aussieht und dass die Lage nicht besser wird, braucht nicht diskutiert zu werden. Aus meiner Sicht hat das Vergabebrecht für die Suchtberatung aber nicht nur negative Auswirkungen bzw. eine Verschärfung der Probleme zur Folge.  Es bedarf einer differenzierteren Analyse, um sinnvolle Handlungsoptionen für die Absicherung der Suchtberatung in den kommenden Jahren entwickeln zu können.

    Leistungsanbieter haben meistens die schlechtere Verhandlungsposition

    Im Netzwerk des Therapiehilfeverbundes arbeiten in vier norddeutschen Bundesländern rund 30 Suchtberatungsstellen, und wir haben im Hinblick auf die Finanzierung dieser Leistungsangebote in den letzten Jahren viele und teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vertragsverhandlungen und Ausschreibungsverfahren gemacht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die „Gesetzte des Quasi-Marktes“ im Bereich sozialer Dienstleistungen für uns als Leistungsanbieter meistens nicht einfach sind und wir einem Monopolisten oder einem „Nachfrage-Oligopol“ gegenüberstehen. Das ist aber nicht nur bei der Suchtberatung so, auch in der medizinischen Reha, in der Akutbehandlung, in der Eingliederungshilfe oder in der Kinder- und Jugendhilfe sind wir in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis. Dabei spielt es i. d. R. keine Rolle, ob der Leistungsanbieter frei-gemeinnützig oder privatwirtschaftlich organisiert ist, die Zuwendungsgeber bzw. Kosten- und Leistungsträger haben eigentlich immer die stärkere Verhandlungsposition. Es gibt zwar vereinzelt normative Rahmenbedingungen, die so etwas wie „Augenhöhe“ bei Verhandlungen schaffen sollen (bspw. die Möglichkeit der Einschaltung von Schiedsstellen), aber mit Blick auf die Machtverteilung und Abhängigkeiten muss es wohlüberlegt sein, ob man solche Möglichkeiten nutzen will.

    Diesen Zustand kann man beklagen, und es ist auf jeden Fall sinnvoll, an Verbesserungen der Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die laufenden Verhandlungen der Reha-Verbände mit der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit der notwendigen Neuregelung des „Reha-Marktes“ zeigen, dass das sehr mühsam ist und viel Geduld erfordert. Aber wenn man in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft unternehmerisch verantwortlich ist, dann muss man sich über die Spielregeln im Klaren sein. Auch wenn unser Verhandlungsspielraum nicht sehr groß ist, so gibt es doch viele Möglichkeiten, ihn intelligent nutzen.

    Rahmenbedingungen haben sich deutlich verändert

    Im Bereich der Suchtberatung und niedrigschwelligen Suchtarbeit ist es in der Tat so, dass sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Langfristige oder gar unbefristete Verträge sind selten geworden und die Finanzmittel für die kommunale Förderung bzw. Zuwendung sind knapper geworden. Das führt zu Veränderungsdruck bei den Leistungserbringern, den spüren wir auch in den Suchtberatungsstellen des Therapiehilfeverbundes. Der Hintergrund für diese Entwicklungen ist auch allgemein bekannt:

    1. Zum einen wird die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwieriger, wenn auch mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden. Dass Suchthilfe eher nach Kassenlage und nicht nach den Bedarfen organisiert und finanziert wird, ist ungeheuerlich, und wir bemühen uns über die Suchtverbände um Einflussnahme auf die entsprechenden sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen.
    2. Zum anderen werden in nahezu allen öffentlichen Bereichen die staatlichen Auftraggeber dazu aufgefordert, wirtschaftlich mit Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen umzugehen. Das kann aus meiner Sicht nur begrüßt werden, denn Deutschland steht leider nicht ganz so gut da im Ranking von „Transparency International“ (2021 auf Platz 10). Öffentliche Vergabeverfahren sollen so transparent wie möglich sein, und dabei sind Ausschreibungen eine von mehreren Optionen.

    Diskussion der Umfrageergebnisse

    Ein Ergebnis der Umfrage von Daniel Zeis ist, dass 17,5 Prozent der Beratungsstellen, die geantwortet haben, sich bereits an Ausschreibungen beteiligt haben. Das ist eine interessante Zahl, ich hätte einen deutlich höheren Anteil erwartet, denn der o. g. Handlungsdruck im Hinblick auf Transparenz und Wirtschaftlichkeit ist nach meiner Erfahrung hoch. Ich finde nicht, dass man hier von einem quantitativ großen Problem sprechen kann. Im Übrigen würde mich interessieren, wie viele der über 1.000 Suchtberatungsstellen in Deutschland an der Umfrage teilgenommen haben.

    Außerdem finde ich es schwierig, eine qualitative Bewertung zu diesem Thema vorzunehmen, indem man nur eine beteiligte Seite befragt. Ich fühle mich ein wenig an den Spruch erinnert „Wenn man den Sumpf austrocknen will, sollte man nicht die Frösche fragen“. Aber bleiben wir sachlich: Dass Ausschreibungsverfahren für alle Beteiligten aufwendig sind und nicht automatisch zu den besten Ergebnissen führen, kann als gesichert angesehen werden. Aber die von Daniel Zeis aufgeführten Gründe, warum Ausschreibungen grundsätzlich ungeeignet für den Bereich der Suchtberatung sein sollen, sind aus meiner Sicht nicht zwingend. Wie so oft ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern es gibt Graubereich, die man sich genauer anschauen sollte, wenn man gute Lösungen finden will.

    Dazu möchte ich nur einige Aspekte exemplarisch aufführen:

    • In den mir bekannten Ausschreibungen waren Merkmale wie „bestehende regionale Vernetzung“ oder „nachgewiesene Erfahrungen mit den Zielgruppen“ wesentliche Bewertungskriterien, d. h., neue Bewerber ohne diese qualitativen Merkmale haben weniger Erfolgschancen als etablierte Leistungsanbieter.
    • Für diese etablierten Leistungsanbieter entsteht aber die Notwendigkeit, das eigene Leistungsspektrum und die Finanzstruktur im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zu hinterfragen. Das kann durchaus zu positiven konzeptionellen Entwicklungen, der Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Veränderung von ineffizienten Organisationsstrukturen führen.
    • Eingespielte Kooperationsstrukturen bei der Erbringung von Leistungen der Suchthilfe in einer Region könnten sicherlich Vorteile haben. Institutionen und Personen sind einander bekannt, Vertrauen und Verlässlichkeit können über Jahre wachsen, und das erleichtert i. d. R. die Zusammenarbeit. Doch gleichzeitig kann dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit entstehen, die die Innovationsfähigkeit im Hinblick auf fachliche Entwicklungen oder Strukturen und Prozesse behindert.
    • Man wird im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens versuchen, Kontakt zu potenziellen Mitbewerbern aufzunehmen. Ich finde es eher förderlich, sich mal anzuschauen, „wie es andere machen würden“, das kann man auch als sportliche Herausforderung sehen. Ich glaube fest daran, dass Wettbewerb jedes Geschäft belebt, auch das soziale!
    • Auch wenn es eigentlich nicht sein soll: Man wird auch versuchen, beim Auftraggeber mehr über Hintergründe zu erfahren, die nicht in den Ausschreibungsunterlagen zu finden sind. Dadurch kann eine sinnvolle Neuausrichtung und Klärung von Kooperationsbeziehungen erfolgen.
    • Die Ausschreibungen, an denen wir uns bisher beteiligt haben, führten nicht zu „Preisdumping“. Im Gegenteil wurde von uns i. d. R. gefordert, dass wir Tarifgehälter zahlen oder angelehnte Vergütungssysteme nachweisen können, und es waren seriöse Sachkostenkalkulationen vorzulegen. Den Zuschlag soll ja das wirtschaftlichste und nicht das billigste Angebot bekommen.

    Entscheidender Faktor ist die Laufzeit der Leistungsvereinbarung

    Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei vielen anderen auch: Es geht nicht nur um das „ob“, sondern vor allem um das „wie“! Wenn Ausschreibungen sachgerecht durchgeführt werden, dann können sie ein sinnvolles Instrument sein, die Leistungserbringung in der Suchtberatung innovativ und leistungsorientiert zu gestalten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Laufzeit der ausgeschriebenen Leistung, denn die Arbeitsverträge mit dem erforderlichen Fachpersonal hängen natürlich eng mit den Zuwendungsverträgen zusammen. Es ist kaum noch möglich, Stellen für zwei oder drei Jahre befristet zu besetzen, und es ist den Trägern der Suchtberatung nicht zuzumuten, unbefristete Arbeitsverträge auf eigenes Risiko abzuschließen. Aus meiner Sicht sollte die Laufzeit von Zuwendungsverträgen mindestens fünf Jahre umfassen, um die Personalstruktur und den Leistungsumfang einigermaßen seriös planen zu können. Sinnvoll wären auch transparente Kriterien und Regelungen für die Verlängerung der Vereinbarungen. Um die möglichen positiven Effekte von Ausschreibungen wirksam werden zu lassen, ist es aus meiner Sicht ausreichend, erst nach acht bis zehn Jahren ein neues Verfahren einzuleiten.

    Nachweis für Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Leistungen

    Wir werden uns in der Suchtberatung wie in nahezu allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr mit der Forderung auseinandersetzen müssen, einen Nachweis für die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Leistungen erbringen zu müssen. Ich halte es für nicht zielführend, solche Anforderungen abzulehnen und auf die Besonderheiten unserer Arbeit und unserer Zielgruppen zu verweisen. Das ist der üblicherweise nicht fachkundigen Öffentlichkeit bzw. Politik kaum vermittelbar. Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass wir offensiv darstellen sollten, welchen ethischen und ökonomischen Nutzen unsere Arbeit bringt. Die aktuell diskutierten Überlegungen und Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) sind eine ausgezeichnete Basis dafür.

    Abschließend und um der Transparenz willen noch einige Angaben zu meinen möglichen Interessenkonflikten: Dieser Beitrag wurde weder in Abstimmung noch im Auftrag oder gar mit finanzieller Förderung der öffentlichen Vertragspartner verfasst, mit denen der Therapiehilfeverbund im Bereich der Suchtberatung zusammenarbeitet. Natürlich verhandeln wir mit Zuwendungsgebern so hart wie möglich, letztlich muss auch bei uns als gemeinnützigem Unternehmen eine schwarze Null im Jahresabschluss stehen. Wir bemühen uns dabei einerseits um Fairness und Offenheit und versuchen andererseits, unsere Spielräume bei Verhandlungen und bei der Ausgestaltung der Leistungserbringung konsequent zu nutzen.

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist seit rund 20 Jahren in der Suchthilfe tätig. Er ist Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes Hamburg/Bremen und Vorsitzender der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef, hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung.

    Kontakt:

    Andreas-Koch(at)therapiehilfe.de

  • Die Zukunft der Suchtberatung liegt nicht im Vergaberecht

    Die Zukunft der Suchtberatung liegt nicht im Vergaberecht

    Daniel Zeis

    Neben der aktuell größten Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise mit all ihren Folgen, ist die Situation der Suchtberatungsstellen in Deutschland sicher ein marginales Problem. Dennoch müssen wir auch die Themen im Blick behalten, die mit einem kleineren Wirkungskreis für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Dazu gehört eine ausreichende Ausstattung der kommunalen Daseinsvorsorge.

    Die Ausgangslage

    Suchtberatungsstellen sind unzureichend ausgestattet. Es mangelt an langfristigen Verträgen, dynamisierter Finanzierung und einer grundsätzlich verlässlichen, durch Gesetze abgesicherten Grundstruktur (DHS, 2019). Der seit 2020 jährlich stattfindende „Aktionstag Suchtberatung“, organisiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), dient dazu, auf den Stellenwert der Suchtberatungsstellen und Defizite in der Ausstattung aufmerksam zu machen. Ein Aspekt, der stark zur unsicheren Situation der Suchtberatungsstellen beiträgt, ist die mögliche Anwendung von Vergaberecht. Suchtberatungsstellen in Deutschland können aktuell von öffentlichen – teilweise europaweiten – Ausschreibungen betroffen sein, was die Erbringung der Leistung für alle Beteiligten erschwert.

    Als Leiter einer Suchtberatungsstelle der AWO und Sprecher der AG Suchtberatungsstellen beim AWO Bundesverband hat der Autor mit diesen Verfahren umfassende Erfahrungen gemacht und diese in seiner Masterarbeit „Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme“ (Zeis, 2022) beschrieben und ausgewertet. Die folgenden Ausführungen basieren auf dieser Masterarbeit.

    Öffentliche Ausschreibungen gehen an Wesen und Aufgabe der Suchtberatung vorbei

    Im Zuge der EU-Vergaberechtsreform von 2016 kam es zu zahlreichen Veränderungen (vgl. Rock et al., 2019). Rechtsunsicherheiten entstanden, diese mussten und müssen neu ausgefochten werden. So gilt beispielsweise für die Rettungsdienste in der Notfallrettung mittlerweile eine sogenannte Bereichsausnahme. Leistungen können also unter bestimmten Bedingungen auch ohne europaweite Ausschreibungen an gemeinnützige Träger vergeben werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof am 21.03.2019 geschaffene Rechtssicherheit gibt es für den Bereich der Suchtberatung oder anderer Beratungsdienste nicht. Es liegen zwar mittlerweile zahlreiche Zivilgerichtsurteile vor, die Ausnahmen im Vergaberecht zulassen, z. B. entschied das OLG Düsseldorf 2018, dass öffentlich geförderte Dienstleistungen nicht ausschreibungspflichtig sind (11.07.2018, VII-Verg 1/18). Von Sozial- und Verwaltungsgerichten stehen solche Urteile leider noch aus.

    Schnell wurde allen Sozialverbänden klar, dass öffentliche Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen der benötigten und gewünschten Leistung nicht gerecht werden (vgl. Positionspapiere der DHS, der BAGFW, der LIGA der freien Wohlfahrtspflege und viele weitere), und zwar aus mindestens drei triftigen Gründen, die als Grundprämissen angenommen werden können:

    1. Soziale Dienstleistungen haben besondere Merkmale, die sie von anderen Produkten am Markt unterscheiden. Hier sind u. a. die grundsätzliche Immaterialität, das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsum der Leistung fallen zeitlich zusammen), die Ko-Produktion durch und mit der jeweiligen Nutzer:innengruppe, eine hohe Individualität und eine eingeschränkte Möglichkeit der Rationalisierung zu nennen (vgl. Dahme & Wohlfahrt, 2013; Arnold, 2014).
    2. Soziale Dienstleistungen werden auf einem „Quasi-Markt“ angeboten. Auf diesem Quasi-Markt tritt der jeweilige Leistungsträger – im Falle von Suchtberatungsstellen meist die Kommune – als Monopolist auf. Er allein vergibt die Leistung, er allein nimmt die Leistung letztlich ab. Die Leistungserbringer befinden sich daher in voller Abhängigkeit zum Leistungsträger (vgl. Seithe, 2010; Wohlfahrt, 2012; Hagn, 2012).
    3. Suchtberatungsstellen gehören mit ihren Funktionen zur kommunalen Daseinsvorsorge. Dies wird oft bestritten, lässt sich aber belegen. Der vom Staatsrechtler Ernst Forsthoff beschriebene Begriff der Daseinsvorsorge wird bis heute immer dann genutzt, wenn es um öffentliche Leistungen und Güter geht, ohne die ein vernünftiges Zusammenleben einer Gemeinschaft nur schwer möglich ist (vgl. Neu, 2009). Leistungen der Daseinsvorsorge sind elementare, sinnvolle, sogenannte meritorische und neuerdings sicherlich auch „systemrelevante“ Güter, die der einzelnen Person und der Allgemeinheit zugutekommen (vgl. Bachert, 2018). Dass Suchtberatungsstellen zur kommunalen Daseinsvorsorge gehören, davon zeugen die Ergebnisse der jährlichen Suchthilfestatistik oder aktuelle Studien zum Social Return on Investment (SROI). Menschen, die ihre Konsum- und Verhaltensweisen verändern, reduzieren gesellschaftliche Kosten, verringern die Risiken für Folgeerkrankungen aller Art und stabilisieren sich und ihr soziales Umfeld (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022).

    Als weiteres Merkmal kommt hinzu: Suchtberatungsstellen sind nicht, wie viele andere öffentliche Dienstleistungen, durch ein sogenanntes sozialstaatliches Dreiecksverhältnis abgesichert (Anspruch des Hilfeberechtigten auf Leistung gegenüber dem Leistungsträger, Erbringung der Leistung durch den Leistungserbringer unter vertraglicher Vereinbarung mit dem Leistungsträger). Sie sind allein vom politischen Willen bzw. vom Handeln der kommunalen Verwaltung (= Leistungsträger) abhängig. Die Gesundheitsdienstgesetze als gesetzliche Grundlage schaffen hier keine verlässliche Struktur, da sie lediglich den Kommunen auftragen, sich um die jeweiligen Bereiche, also beispielsweise auch um suchtgefährdete oder suchtkranke Menschen, im Rahmen von Fürsorge zu kümmern. Wie sie das tun, ist regional höchst unterschiedlich (vgl. Deutscher Bundestag, 2015).

    Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere sind seit der EU-Vergaberechtsreform geschrieben worden. Alle sprechen sich ausnahmslos gegen öffentliche, also wettbewerbsorientierte, Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen aus. Hauptargument ist u. a. der enge regionale Bezug dieser Leistungen. Dies trifft auch auf Suchtberatungsstellen zu. Diese werden zum größten Teil von gemeinnützigen Sozialverbänden betrieben, sind zumeist in einer Stadt oder in einem Landkreis aktiv und dort über Jahrzehnte gewachsen, sie sind gut vernetzt und an der Gestaltung des regionalen Sozialraums beteiligt. Sie leisten essenzielle (Überlebens-)Hilfen und entfalten neben einem enormen Output auch eine messbare Wirkung (Outcome, Impact), beispielsweise in der Reduzierung von Folgekosten (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022). Im Bundestagswahlkampf 2021 hatten sich auch die politischen Parteien in ihren Wahlprogrammen des Vergaberechts angenommen. Bündnis 90/Die Grünen waren hier am deutlichsten und wollten eine Ausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Leider hat es diese Forderung nicht in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft.

    Trotz dieser Voraussetzungen werden wettbewerbsorientierte Vergabeverfahren für soziale Dienstleistungen bis heute immer wieder vereinzelt angewendet, nicht nur im Bereich der Suchtberatung, sondern auch in anderen Feldern der Beratung, so beispielsweise bei der Schuldnerberatung, bei Kontaktstellen für psychisch erkrankte Menschen, in der Migrationsberatung oder bei Integrationsfachdiensten.

    Das Vergaberecht missachtet dabei

    • die wesentlichen und historisch gewachsenen Prinzipien der Subsidiarität,
    • wichtige Inhalte des Sozialstaatsprinzips sowie
    • die positiven Aspekte von Gemeinnützigkeit (vgl. Themenoffensive des PARITÄT).

    Es verkennt die Bedeutung der zu Beginn des Artikels genannten Grundprämissen wie

    • die besonderen Merkmale von sozialen Dienstleistungen auf einem Quasi-Markt,
    • die Grundsätze der kommunalen Daseinsvorsorge und der Regionalität sowie
    • die jeweiligen Pfadabhängigkeiten.

    Umfrage zur aktuellen Relevanz von Ausschreibungen

    Die Ergebnisse einer im Rahmen der vorne genannten Masterarbeit durchgeführten Online-Umfrage unter Suchtberatungsstellen in Deutschland zeigen, dass bei einem Anteil von 17,5 Prozent die Leistung bereits einmal oder mehrfach öffentlich ausgeschrieben wurde (Zeis, 2022).

    Öffentliche Ausschreibungen sind Vergabeverfahren, die einen klaren Wettbewerbscharakter haben. Das heißt, jede Institution, jeder Verein, jede Gesellschaft, ob gewinnorientiert oder nicht, kann sich bewerben. Liegt der zu vergebende Auftrag über dem EU-Schwellenwert von 750.000 Euro für soziale Dienstleistungen, muss sogar europaweit ausgeschrieben werden. Dies sieht das EU-Vergaberecht so vor. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) forciert den Wettbewerbsgedanken auf Bundesebene, und nach zahlreichen Gesprächen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist die Forderung nach Wettbewerb in den Haushaltsressorts der Länder die eindeutige, verabredete Maßgabe, egal in welchem Bereich. Die Rechnungshöfe oder Innenrevisionen machen hier zusätzlich Druck auf die beteiligten Leistungsträger, indem sie Vergabeverfahren anmahnen und auch einfordern.

    Die Umfrage ergab auch, dass sich zum Zeitpunkt der Befragung rund ein Fünftel der Suchtberatungsstellen in Neuverhandlungen befand (Zeis, 2022). Zum größten Teil lag das darin begründet, dass der alte Vertrag auslief. In vielen Fällen wurden die Neuverhandlungen aber auch direkt durch Politik oder Verwaltung ausgelöst und die Leistung öffentlich ausgeschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch in Zukunft Aufträge im Bereich der ambulanten Suchtberatung öffentlich ausgeschrieben werden.

    Die Umfrage zeigt deutlich die Nachteile von öffentlichen Vergaben (Zeis, 2022). Neben der Feststellung des hohen Aufwands an Zeit und Kosten werden vor allem Preisdumping und die Auflösung von gewachsenen Netzwerken befürchtet. Weitere in der Umfrage genannte negative Aspekte zu den Auswirkungen von Ausschreibungen sind:

    • hoher Ökonomisierungsdruck
    • Unsicherheit darüber, ob man die Vergabe „gewinnt“
    • Externalisierung von Risiken an die Träger
    • hohe Komplexität der Vergabeverfahren und damit hoher Zeitaufwand für alle Beteiligten (und damit weniger Zeit für Innovation)
    • Missachtung des Subsidiaritätsprinzips
    • Mehrarbeit durch die Unerfahrenheit der Vergabestellen
    • kaum und schwierig zu erfassende Berücksichtigung regionaler gewachsener Strukturen und die Beschädigung dieser Netzwerke (samt Betriebskultur)
    • Misstrauen
    • (Wett-)Streit und Vertrauensverlust durch die Konkurrenzsituation
    • Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsaspekten
    • befristete und am Lohnminimum angesetzte Arbeitsverträge und damit in der Folge auch Fachkräftemangel
    • Verunsicherung von Nutzer:innen und Abbrüche von Beratungsprozessen

    Weitere negative Auswirkungen liegen auf der Hand: Vergabeverfahren sind kostspielig, es gibt, wenn überhaupt, nur wenige weitere Wettbewerber (es findet also kein Wettbewerb statt), seitens der Kommune sind Überforderung und fehlende Kundennähe derzeit die Regel, die Verfahren unterliegen einer Rechtsunsicherheit und sind unflexibel und praxisfern, es entsteht keine Korrelation von Liberalisierungsgrad und der erwarteten Qualität, langfristige Planung wird reduziert, es kommt zu Sozialdumping, ein Aufbau von Kooperation und Beziehung ist kaum möglich, da regelmäßig erneut (europaweit) ausgeschrieben wird, sämtliche Risiken liegen beim Leistungserbringer, und etablierte Beziehungen werden aufgelöst (vgl. Zeis, 2022).

    In Summe kann man also sagen: Öffentliche Ausschreibungen sind in höchstem Maße ineffizient und letztlich überflüssig! Ein Zitat von Moldaschl & Högelsberger (2016) bringt dies deutlich auf den Punkt:

    „Es mag kurios klingen, aber: Je besser, fairer und sozialer eine Ausschreibung gestaltet ist, desto unnötiger wird sie. Dadurch werden nämlich immer mehr Parameter fixiert, die dann bei Ausschreibungen nicht mehr variabel sein können. Es bleiben dadurch kaum Aspekte übrig, bei denen es zu einem Wettbewerb kommen kann.“

    Was muss geschehen?

    Glücklicherweise mehren sich mittlerweile die Stimmen, die sich gegen öffentliche Ausschreibungen richten. Die Kommunen haben ebenfalls Erfahrungen gesammelt und entscheiden sich teilweise bewusst gegen diese Art der Vergabe. Dennoch sind die Rahmenbedingungen (EU-Vergaberecht, GWB, Druck zum Wettbewerb) unverändert, und es ist nur eine Frage des Zufalls, in welcher Kommune, in welchem Landkreis demnächst ein Vergabeverfahren mit Wettbewerbscharakter ausgelöst wird. Wurde einmal ein Vergabeverfahren durchgeführt, ist die Kommune im Übrigen mehr oder weniger gezwungen, das Vergabeverfahren immer wieder durchzuführen. Dieser Automatismus ist nur schwer zu durchbrechen und erfordert Mut und Überzeugungskraft bei den kommunal Handelnden gegenüber Innenrevisionen, Haushaltsressorts oder Rechnungshöfen.

    Es braucht daher zum einen eine bundesweite Aufklärungskampagne über die Nachteile solcher Vergabeverfahren, zum anderen sollte sich der Bundesgesetzgeber mit diesem Thema befassen und eine Bereichsausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Das EU-Vergaberecht lässt, gut begründet, Ausnahmen zu. Soziale Dienstleistungen haben eben besondere Merkmale, die sie auf einem Quasi-Markt anbieten. Es geht hier nicht um Produkte, die produziert werden und skalierbar sind. Es geht um die Beratung und Begleitung von Menschen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, es geht um Menschen, die aus vielfältigen Gründen Hilfe und Unterstützung benötigen, sei es aufgrund von problematischen Konsum- und Verhaltensweisen, Überschuldung, psychischen Erkrankungen, Flucht oder anderen Belastungen.

    Weitere Maßnahmen, die eine Alternative zu Vergabeverfahren darstellen und insgesamt zu einer Verbesserung der Situation von Suchtberatungsstellen führen können, sind:

    • eine gesicherte Finanzierung und solide Vertragsgrundlagen für Suchtberatungsstellen schaffen, z. B. im Rahmen der Gesundheitsdienstgesetze der Länder
    • Interessenbekundungsverfahren oder ähnliche Alternativen nutzen, die Träger in die Gestaltung des regionalen Sozialraums mit einbeziehen
    • sachliche Begründungen für den Ausstieg aus Vergabespiralen liefern
    • Subsidiaritätsprinzip stärken
    • regionalen Bezug der Dienstleistung stärker beachten
    • Landesstellen für Suchtfragen stärken
    • Wirkungsforschung (Outcome, Impact, Public Value, SROI etc.) stärker nutzen und die Ergebnisse in Bewertungen mit aufnehmen
    • Expertise zu all den hier genannten Themen in den Kommunen und bei den Trägern erhöhen
    • Anerkennung gestiegener Anforderungen durch Reduktion bzw. Streichung von Eigenanteilen
    • eine gemeinsame Sprache finden, um damit Vertrauen zwischen Beratungsstellen und Kommunen wiederherzustellen und zu verfestigen

    Unabhängig von diesen Maßnahmen gilt es, die hier beschriebenen Vergabeverfahren zu vermeiden. Sonst gehen eingespielte Strukturen vor Ort, Kontinuität in der Betreuungsqualität und somit das Vertrauen der Nutzer:innen unnötig verloren (vgl. Wintermann, 2021).

    In der Klimapolitik werden wissenschaftliche Erkenntnisse nur mühsam in politische Kompromisse gegossen, obwohl wir genau wissen, dass wir besser früher als später aus den fossilen Energieträgern aussteigen müssen, um eine weitere Erderwärmung mit all ihren Folgen zu stoppen.

    Im Bereich der öffentlichen Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen ist ebenfalls klar, was zu tun wäre, und dieses Wissen ließe sich sicherlich um ein Vielfaches einfacher, schneller und reibungsloser umsetzen. Wieso noch einen Tag länger diese ineffizienten und überflüssigen Verfahren im Bereich der Suchtberatung (und ähnlicher Beratungs- und Fachdienste) anwenden? Haben wir den Mut, sagen wir Nein, steigen wir aus, bleiben wir kreativ, suchen wir nach neuen Lösungen und bleiben wir vor allem im Gespräch miteinander! Hierzu braucht es alle Beteiligte in den Kommunen und der Sozialwirtschaft mit Unterstützung des Bundes und der Länder und eine Rechtsprechung, die die genannten Aspekte berücksichtigt.

    Kontakt:

    Daniel Zeis
    Ambulante Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete
    Großbeerenstr. 187
    14482 Potsdam
    daniel.zeis(at)awo-potsdam.de
    Tel. 0331 73040740
    www.awo-potsdam.de

    Angaben zum Autor:

    Daniel Zeis ist Einrichtungsleiter der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchgefährdete des AWO Bezirksverbandes Potsdam. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit (Diplom) absolvierte er die Weiterbildung zum Sozialtherapeut Sucht (DRV/GKV-anerkannt) und schloss 2022 sein Masterstudium (Sozialmanagement) erfolgreich ab. Er ist seit 16 Jahren in der Suchthilfe tätig.

    Literatur:
    • Arnold, Ulli; Grunwald, Klaus; Maelicke, Bernd (Hg.) (2014): Lehrbuch der Sozialwirtschaft. Unter Mitarbeit von Holger Backhaus-Maul, Benjamin Benz und Karl-Heinz Boeßenecker. 4. erweiterte Auflage. Baden-Baden: Nomos.
    • Bachert, Robert; Dreizler, Andrea (Hg.) (2018): Finanzierung von Sozialunternehmen. Theorie, Praxis, Anwendung. 2., aktualisierte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus (Sozialmanagement).
    • Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (2022): Kurzbericht zur Studie. Analyse zur Wertschöpfung der ambulanten Suchtberatung in Bayern. Messung von Lebensqualität (SROI 5) und Ermittlung der Alternativkosten (SROI 3).Online verfügbar unter https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2022/09/kurzbericht_wertschoepfung_ambulante_suchtberatung.pdf; letzter Zugriff 31.01.2023.
    • Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert (2013): Lehrbuch Kommunale Sozialverwaltung und Soziale Dienste. Grundlagen, aktuelle Praxis und Entwicklungsperspektiven. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
    • Deutscher Bundestag (2015): Ausarbeitung – Die Gesundheitsdienstgesetze der Länder. Wissenschaftliche Dienste. Aktenzeichen: WD 9 – 3000 – 027/14. Fachbereich: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
    • DHS (2019): Notruf Suchtberatung. Stabile Finanzierung jetzt! Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/dhs-stellungnahmen/2019-04-23_Notruf_Suchtberatung.pdf; letzter Zugriff 30.01.2023.
    • Hagn, Julia (2012): Ergebnisse und (Neben-) Wirkungen des Neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
    • Moldaschl, Thomas; Högelsberger, Heinz (2016): Die vielen Nachteile von Ausschreibungen. A&W Blog, Blog zum Magazin Arbeit & Wirtschaft, 07.03.2016. https://awblog.at/die-vielen-nachteile-von-ausschreibungen/, letzter Zugriff 30.01.2023.
    • Neu, Claudia (2009): Daseinsvorsorge: Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    • Rock, Joachim; Steinke, Roß (2019): Die Zukunft des Sozialen – in Europa? Soziale Dienste und die europäische Herausforderung. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
    • Seithe, Mechthild (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
    • Wintermann, Thore (2021): Positionspapier „Kommunale Vergabepraxis bei sozialen Diensten“. AWO Bezirksverband Weser-Ems.
    • Wohlfahrt, Norbert (2012): Auswirkungen der Neuen Steuerungsmodelle auf die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der Sozialen Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
    • Zeis, Daniel (2022): Von der Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme. Alice-Salomon-Hochschule. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:b1533-opus-4994; letzter Zugriff 30.01.2023.
  • Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Wolfgang Rosengarten

    Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.

    Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.

    Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.

    Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren

    Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.

    Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:

    Wenn

    • Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
    • die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
    • die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,

    dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.

    Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).

    Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.

    SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe
    Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.

    Was ist das Besondere?
    SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.

    Dauerhafte Finanzierung
    Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.

    Die Leistung an Mann* und Frau* bringen
    Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.

    Kontakt:
    Ralf Bartholmai
    Fachklinik Böddiger Berg
    34587 Felsberg
    infoboeddigerberg@drogenhilfe.com

    Text: Redaktion KONTUREN online

    Die eigene Arbeit positiv darstellen

    Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.

    Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.

    Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.

    Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.

    Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.

    Große Träger sind im Vorteil

    Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.

    In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.

    Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.

    Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen

    In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.

    Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Im dritten Teil des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ stehen die Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sowie Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt. In Teil I und Teil II (erschienen am 26.08. und 09.09.2020) wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang, Fachkräftemangel, Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte behandelt.

    e) Modularisierung

    In den Jahren 2011 bis 2015 erfolgte eine zunehmende Modularisierung des Leistungsangebotes in der Suchtrehabilitation. Es wurden verschiedene neue bzw. ergänzende Behandlungsformen entwickelt und durch entsprechende Rahmenkonzepte der Leistungsträger definiert.

    Mit dem Rahmenkonzept zur ganztägig ambulanten Suchtreha wurden 2011 die Anforderungen für eine noch relativ neue Behandlungsform festgelegt, für die auch die Bezeichnungen Tagesreha oder teilstationäre Reha verwendet werden. Zahlreiche Einrichtungen wurden seither neu eröffnet, viele davon sind aber nicht ausgelastet, und einige wurden auch schon wieder geschlossen, weil diese sehr kleinen Einrichtungen (häufig nur zwölf Plätze) kaum wirtschaftlich zu führen sind. Besonders nachgefragt wird die sog. ganztägig ambulante Entlassungsform. Das bedeutet, dass sich an eine (häufig verkürzte) stationäre Phase eine in der Regel vierwöchige Phase im ganztägig ambulanten Behandlungssetting anschließt. Seit 2007 haben sich Einrichtungen der ganztägig ambulanten Suchtreha über ein jährliches Bundestreffen vernetzt und arbeiten gemeinsam an der Lösung spezifischer Probleme wie bspw. der passenden Indikationsstellung in Abgrenzung zur ambulanten und stationären Reha, der Etablierung von 6-Tages-Konzepten mit Angeboten am Wochenende, dem Vergütungsausfall durch Krankheitstage der Rehabilitanden, den notwendigen Suchtmittelkontrollen beim täglichen Übergang zum Alltag und der Eignung dieser Behandlungsform für Drogenabhängige.

    Das Rahmenkonzept zur Nachsorge im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trat 2012 in Kraft. Damit wird eine deutliche Trennung der (sozialtherapeutischen) Reha-Nachsorge von der (suchttherapeutischen) ambulanten poststationären Reha-Behandlung definiert, mit erheblichen Folgen für die Angebotsstruktur in diesem Bereich. Therapiegruppen in der ambulanten Nachsorge und in der ambulanten Reha müssen nun getrennt durchgeführt werden, was zu immer kleineren Gruppen und einer abnehmenden Wirtschaftlichkeit für die Anbieter führt. Insbesondere im ländlichen Raum droht eine deutliche Reduzierung dieses Leistungsangebotes. Es folgten im Jahr 2015 weitere Rahmenkonzepte zur ambulanten bzw. ganztägig ambulanten Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen (stationären) Phase. Damit wurden wieder mehr Optionen für eine suchttherapeutische ambulante poststationäre Behandlung geschaffen.

    Mit dem Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung wurde im Jahr 2014 eine sehr weitgehende Möglichkeit für die kombinierte Durchführung verschiedener Behandlungsmodule bzw. Behandlungsphasen im Rahmen einer Kostenzusage geschaffen. Die einzelnen Phasen können in stationärer, ganztägig ambulanter oder ambulanter Form durchgeführt werden. In der Regel erfolgt im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation eine Fortführung im ambulanten Setting. Für die Durchführung ist ein gemeinsames Konzept der beteiligten Leistungsanbieter erforderlich. Die Fallzahlen für diese Behandlungsform sind bundesweit eher gering. Allerdings konnte mit dem Konzept „Kombi-Nord“ der drei norddeutschen Regionalträger der DRV eine noch flexiblere Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher Module geschaffen werden, bei der ein zeitlicher Rahmen für die Gesamtbehandlung definiert, Übergabegespräche beim Phasenwechsel festgelegt und eine Fallsteuerung ergänzt werden.

    Besonders im Fokus steht derzeit die Ambulante Reha Sucht (ARS), für die seit 2008 ein Rahmenkonzept der Leistungsträger existiert. Diese Leistungsform wurde vor rund 25 Jahren als ergänzendes Angebot in Fach- und Beratungsstellen entwickelt. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass dieses Angebot bei einem bundesweit einheitlich vorgegebenen Kostensatz und definierten Personal- und Strukturanforderungen der Leistungsträger kaum noch kostendeckend realisiert werden kann. Seit 2017 finden intensive Verhandlungen zwischen den Suchtverbänden und den Leistungsträgern statt, und es konnten einige organisatorische und finanzielle Verbesserungen vereinbart werden, bspw. wurde die Federführung für die Leistungsanbieter dem jeweiligen Regionalträger der DRV zugeordnet, und der Kostensatz wurde deutlich angehoben. Ob damit die langfristige Überlebensfähigkeit dieses wichtigen Leistungsangebotes sichergestellt werden kann, bleibt abzuwarten.

    Eine weitere besondere Leistungsform in der Suchtreha ist die Adaptionsbehandlung als zweite bzw. letzte Phase der stationären medizinischen Rehabilitation. Sie ist stärker als die vorangehende Entwöhnungsbehandlung auf die Aspekte Wohnung und Arbeit fokussiert. Mit der Verfahrensabsprache zur Adaptionsbehandlung haben sich die Leistungsträger 1994 erstmalig auf gemeinsame Rahmenbedingungen für die Behandlungsform verständigt. Seit 2007 gab es sozialrechtliche Auseinandersetzungen mit Teilen der Gesetzlichen Krankenversicherung, die den medizinischen Charakter und die Zuständigkeit für die Kostenübernahme betrafen. Mit einem Urteil des LSG Baden-Württemberg von 2017 wurde diese Frage aber letztlich so entschieden, dass die Adaption eindeutig der medizinischen (und nicht der sozialen) Reha zuzuordnen ist. Zu dem Ergebnis, dass die GKV die Kosten für die Adaptionsbehandlung übernehmen muss, kommt auch ein ganz aktueller Beschluss des Sozialgerichtes Oldenburg (17.07.2020). Die Deutsche Rentenversicherung hat 2017 eine Erhebung unter den Einrichtungen zur Bestandsaufnahme durchgeführt, da die konzeptionelle Entwicklung in den letzten 20 Jahren zu regionalen Unterschieden geführt hat. 2019 wurde ein Rahmenkonzept veröffentlicht, das eine inhaltliche Einordnung der Adaption in das Leistungsspektrum der Suchtrehabilitation bieten sowie einheitliche strukturelle und personelle Anforderungen beschreiben soll.

    Die folgende Übersicht (Tabelle 1), die 2016 von den Suchtverbänden als Hilfestellung für Träger und Einrichtungen erstellt wurde, zeigt die unterschiedlichen Leistungsformen im Gesamtzusammenhang:

    Tab. 1: Kombinationsmöglichkeiten von Behandlungsformen in der Suchtrehabilitation

    Vor dem Hintergrund dieser Modularisierung der Leistungsangebote können in der Suchtrehabilitation inzwischen sehr individuelle Behandlungsverläufe gestaltet werden, die allerdings erhebliche Anforderungen an das modul- bzw. phasenübergreifende Fallmanagement stellen. Das wirft für die Zukunft verstärkt die Fragen auf, wer dieses Fallmanagement leistet und wie diese zusätzliche Leistung vergütet werden soll. Eine mögliche weiterführende Perspektive könnte auch die Kombination mit Angeboten außerhalb der medizinischen Rehabilitation im Rahmen einer integrierten Versorgung sein. Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass eine solche Vernetzung möglich ist und erhebliche Vorteile für die Leistungsberechtigten, die Leistungserbringer und die Leistungsträger bringt, ist das Modell „Alkohol 2020“, das in Wien erprobt wurde und mittlerweile in der Regelversorgung umgesetzt wird (vgl. Reuvers 2017: „Alkohol 2020“. Eine integrierte Versorgung von alkoholkranken Menschen in Wien).

    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung

    Seit 2009 existiert in der medizinischen Reha eine gesetzliche Verpflichtung zur Zertifizierung der Systeme für das interne Qualitätsmanagement. Es gab es schon um das Jahr 2000 herum erste Überlegungen, wie die eher industriell geprägten Ansätze zur Umsetzung von Qualitätsmanagement für das Gesundheitswesen und die Sozialwirtschaft angepasst und praxisgerecht umgesetzt werden können. Ein Beispiel dafür ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQus), die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert (www.dequs.de). Mittlerweile ist Qualitätsmanagement aus der Suchtrehabilitation nicht mehr wegzudenken und ein selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltages geworden: Prozess- und Dokumentenmanagement helfen bei der Strukturierung der Arbeit, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen werden als wichtige Rückmeldungen und Impulse für die Weiterentwicklung der Einrichtung gesehen, und in der Management-Bewertung werden jährlich Kennzahlen und andere wichtige Informationen zur Lage der Einrichtung bewertet. In den letzten Jahren haben der Umfang und die Komplexität der normativen Anforderungen, die nachweisbar zu erfüllten sind (Arbeitssicherheit, Brandschutz, Hygiene, Datenschutz, Risikomanagement etc.), deutlich zugenommen. Die Umsetzung wird in der Regel in das vorhandene QM-System integriert. Diese Anforderungen belasten die kleinen und mittelgroßen Einrichtungen in der Suchtrehabilitation deutlich mehr als größere Krankenhäuser, weil der Umsetzungsaufwand unabhängig von der Einrichtungsgröße ähnlich hoch ist: Die Personalausstattung ist jedoch sehr begrenzt, und für diese Sonderaufgaben sind in der Regel keine zusätzlichen Ressourcen im refinanzierten Stellenplan vorgesehen.

    In den Jahren 2014 bis 2016 erfolge eine umfassende Weiterentwicklung im Bereich der Verfahren für die externe Qualitätssicherung, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Suchtrehabilitation haben. Die unterschiedlichen Instrumente im Reha-QS-Programm der Deutschen Rentenversicherung wurden an aktuelle fachliche und organisatorische Anforderungen angepasst: Anforderungen zur Strukturqualität (2014), einheitliches Visitationskonzept (2014), grundlegende Überarbeitung der Klassifikation Therapeutischer Leistungen (2015), Auswertungen zur KTL-Statistik (2015), neue Checkliste für die Bewertung im Peer-Review-Verfahren (2016) und Aktualisierung der Reha-Therapiestandards (2016). Darüber hinaus werden mit der Rehabilitanden-Befragung Daten zur Rehabilitanden-Zufriedenheit und zum subjektiven Behandlungserfolg erhoben. Zusammen mit der Laufzeit der Entlassungsberichte und der Beschwerdequote steht somit ein sehr umfangreiches Bewertungssystem für die Qualität von Reha-Einrichtungen zur Verfügung. Die meisten Kennzahlen werden in ein 100-Punkte-System umgerechnet, so dass die Kennzahlen verschiedener Einrichtungen unmittelbar verglichen werden können. Zusätzlich wurde 2017 das Verfahren des „Strukturierten Qualitätsdialoges“ eingeführt, bei dem Einrichtungen zu Stellungnahmen aufgefordert werden, falls absolute oder relative Schwellenwerte unterschritten werden.

    Die Ergebnisse der externen Qualitätssicherung sollen zukünftig immer stärker in die Belegungssteuerung und die Vergütungsverhandlungen einbezogen werden. Dabei sind allerdings einige Probleme zu bedenken:

    • Die QS-Daten bilden nur einen Teil der tatsächlichen Qualität der Einrichtungen ab, bspw. werden Behandlungsergebnisse kaum berücksichtigt.
    • Für kleine Einrichtungen liegen wegen der geringen Fallzahlen tw. nur unvollständige QS-Daten vor.
    • Die Auswertungen zu den QS-Daten enthalten immer wieder Fehler, die bei der Übertragung oder Aggregation der Daten entstehen und nur mit großen Aufwand zu identifizieren sind.
    • Die QS-Daten sind nicht immer aktuell, weil bspw. nach einer Visitation Mängel, die zu einer geringen Punktzahl geführt haben, unmittelbar abgestellt werden, aber keine Neubewertung erfolgt.

    Die Suchtrehabilitation hat außerdem eine lange Tradition im Bereich Dokumentation und Statistik, weil der Nutzen der Auswertung von Behandlungsdaten früh erkannt wurde. 1974 erfolgte die erste gemeinsame, einrichtungsübergreifende Dokumentation in der ambulanten Suchthilfe mit dem System EBIS. Der Deutsche Kerndatensatz (KDS) für eine einheitliche Dokumentation in psychosozialen Beratungsstellen und stationären Einrichtungen der Suchthilfe wurde 1998 eingeführt. Damit wurde die Grundlage für eine bundesweit einheitliche Datenerfassung und statistische Analyse geschaffen (Deutsche Suchthilfestatistik www.suchthilfestatistik.de). Für den ab 2017 gültigen KDS 3.0 wurden vom Fachausschuss Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) umfangreiche Überarbeitungen des KDS vorgenommen. Der neue KDS berücksichtigt nun die nationalen, kommunalen, regionalen und einrichtungsseitigen Anforderungen umfassender und integriert auch die Spezifikationen, die sich aus den europäischen Vorgaben ergeben. Die Dokumentation ist insgesamt aufwändiger geworden, weil versucht wurde, die zunehmende Komplexität der Hilfen und Angebote in der Suchthilfe besser abzubilden. Das hat zunächst dazu geführt, dass die Vollständigkeit und Qualität der in den Einrichtungen erhobenen und in der Suchthilfestatistik zusammengeführten Daten leider nicht besser geworden ist.

    Während die Suchthilfestatistik vor allem die Basisdaten abbildet, d. h. es werden Informationen zu Beginn und am Ende der Behandlung abgefragt, führen viele Einrichtungen zusätzlich katamnestische Befragungen ein Jahr nach Behandlungsende durch. Damit liegen wichtige und umfangreiche Daten zur Ergebnisqualität und zur Wirksamkeit der Suchtbehandlung vor. Die ergänzenden Analysen und Statistiken zu diesen Katamnesedaten sind auf den Internetseiten der Suchtverbände (buss/Basis- und Katamnesedaten, FVS/Wirksamkeitsstudien, FVS/Basisdokumentation) zu finden. Ein zentrales Problem bei katamnestischen Befragungen ist der häufig geringe Rücklauf und die Einschätzung der Situation (bspw. Abstinenz, soziale und berufliche Integration) bei den sog. Non-Respondern. Dazu wurde in den vergangenen Jahren ein aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördertes Forschungsprojekt am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité durchgeführt, das wichtige Erkenntnisse und wertvolle Hinweise für die zukünftige Durchführung der Katamnese-Befragungen gebracht hat.

    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    In den letzten Jahren wurde u. a. vom Bundesrechnungshof und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Leistungsgeschehen im Bereich der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung analysiert und in diesem Zusammenhang eine fehlende Transparenz im „Reha-Markt“ kritisiert. Dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob die Beschaffung von Rehabilitationsleistungen durch die Deutsche Rentenversicherung nicht dem öffentlichen Vergaberecht unterliegt und möglicherweise im Rahmen von Ausschreibungen erfolgen muss. Auf der Grundlage der „verbindlichen Entscheidung zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ wurde daher 2017 ein zweistufiger Prozess mit folgenden Regelungen definiert:

    • Offenes Zulassungsverfahren – Jeder geeignete Anbieter erhält nach einer Qualitätsprüfung einen Belegungsvertrag und wird von einem federführenden Träger der DRV betreut. Mit dem Belegungsvertrag ist allerdings keine Belegungsgarantie verbunden.
    • Transparentes Belegungsverfahren – Die Einrichtungsauswahl für einen konkreten Fall nach Bewilligung eines Rehaantrages folgt einem definierten Algorithmus (u. a. medizinische Indikation, Komorbidität, Sonderanforderungen, Wunsch- und Wahlrecht, Setting) und wird nachvollziehbar dokumentiert. Stehen mehrere Einrichtungen zur Verfügung, erfolgt die Zuweisungsentscheidung nach einem Bewertungssystem mit den Kriterien Qualität, Preis, Wartezeit und Entfernung zum Wohnort.

    Aus Sicht der Leistungserbringer muss dieser Prozess allerdings um eine weitere, dritte Stufe ergänzt werden, die die Vereinbarung einer angemessenen und leistungsbezogenen Vergütung regelt und dabei auch die Kostenstrukturen im Einrichtungsvergleich berücksichtigt. Bislang wurden von den Leistungsträgern nur Rahmenbedingungen für eine jährliche relative Anpassung der Vergütungssätze (Orientierung an einem „Reha-Index“ und an einer „Marktpreisbandbreite“) festgelegt.

    Mit dem 2018 erschienenen Gutachten „Angemessene Vergütung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Zuständigkeitsbereich der Deutschen Rentenversicherung“ wurde ein Vorschlag zur Festlegung einer angemessenen Vergütung vorgelegt. Da aus Sicht der Gutachter wegen der Marktmacht der Rentenversicherungsträger das vom Gesetzgeber gewollte Wettbewerbskonzept versagt, ist die Vergütung der Rehabilitationsleistungen nach Maßgabe eines zweistufigen Verfahrens aus Kostenprüfung und Vergütungsvergleich zu ermitteln, welches das Bundessozialgericht für andere nicht wettbewerblich strukturierte Leistungserbringermärkte entwickelt hat.

    Das BMAS hat im Dezember 2019 den Referentenentwurf für ein Gesetz zur Regelung der Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Weiterentwicklung des Übergangsgeldanspruchs – Medizinisches Rehabilitationsleistungen-Beschaffungsgesetz (MedRehaBeschG) vorgelegt. In der Einführung zu dem Entwurf wird hervorgehoben, dass das bislang praktizierte offene Zulassungsverfahren die im Europäischen Vergaberecht eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten bereits genutzt hat, nun aber eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll. Diese bezieht sich insbesondere auf

    • die Zulassung und die konkrete Inanspruchnahme (Belegung) von Rehabilitationseinrichtungen nach objektiv festgelegten Anforderungen,
    • die Regelung des „Federführungsprinzips“ sowie
    • die Entwicklung eines verbindlichen, transparenten, nachvollziehbaren und diskriminierungsfreien Vergütungssystems zur Ermittlung, Bemessung und Gewichtung der an die Rehabilitationseinrichtungen zu zahlenden Vergütungen (bis Ende 2025).

    Am 26. August 2020 wurde der „Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht)“ innerhalb der Bundesregierung beschlossen, in dem auch die o. g. Regelungen zur Beschaffung von medizinischen Rehabilitationsleistungen enthalten sind. Darin ist festgelegt, dass die DRV Bund bis 30. Juni 2023 verbindliche Entscheidungen zu folgenden Regelungen vorlegen muss:

    • Anforderungen für die Zulassung von Reha-Einrichtungen
    • Ausgestaltung des Vergütungssystems
    • Kriterien für die Inanspruchnahme von Reha-Einrichtungen
    • Daten der externen QS und deren Veröffentlichung

    Die Entwicklung des Vergütungssystems soll zusätzlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Dabei sind folgende Kriterien zu beachten, wobei die Bewertungsrelation gegenüber dem Referentenentwurf neu hinzugekommen ist:

    • die Indikation,
    • die Form der Leistungserbringung,
    • spezifische konzeptuelle Aspekte und besondere medizinische Bedarfe,
    • ein geeignetes Konzept der Bewertungsrelationen zur Gewichtung der Rehabilitationsleistungen und
    • eine geeignete Datengrundlage für die Kalkulation der Bewertungsrelationen.

    Es wird außerdem festgelegt, dass bei der Vereinbarung der Vergütung zwischen dem Federführer und der Reha-Einrichtung folgende Aspekte zu berücksichtigen sind (neu ist in dem Regierungsentwurf der regionale Faktor):

    • leistungsspezifische Besonderheiten, Innovationen, neue Konzepte, Methoden,
    • der regionale Faktor und
    • tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen.

    Bei den Verfahren für die Zulassung und die Belegung sind keine wesentlichen Änderungen zum bisherigen Vorgehen der DRV erkennbar. Von besonderem Interesse für die Leistungserbringer wird allerdings die Ausgestaltung des Vergütungssystems sein, denn neben der Belegung ist die Vergütung der zweite wesentliche Faktor für die Wirtschaftlichkeit einer Reha-Einrichtung.

    Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind für die Träger und Einrichtungen in der Suchtrehabilitation in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Auf der einen Seite werden von den Leistungsträgern hohe Qualitätsanforderungen in den Bereichen Struktur, Personal und Konzept formuliert, deren Erfüllung teilweise unter Androhung von Sanktionen eingefordert wird. Auf der anderen Seite existieren durch die „Macht-Asymmetrie“ im Reha-Markt nur begrenzte Möglichkeiten zur Verhandlung von kostendeckenden Vergütungen. Damit bleibt den Betreibern von Einrichtung nur ein geringer ökonomischer Handlungsspielraum.

    Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Suchtrehabilitation (traditionell) viele kleine Einrichtungen gibt, mit einer deutlich geringeren Platzzahl als üblicherweise in der somatischen oder psychosomatischen Rehabilitation. Wenn man als „klein“ eine Einrichtung mit bis zu 50 Betten bzw. Plätzen definiert, dann macht das bei den Fachkliniken ca. 100 von 180 Einrichtungen (60 Prozent) und ca. 4.000 von 13.000 Plätzen (30 Prozent) aus. Tagesreha- und Adaptionseinrichtungen sind mit durchschnittlich zwölf Plätzen noch kleinere Organisationseinheiten. Diese Einrichtungen genießen eine hohe Wertschätzung bei Leistungsträgern, Zuweisern und Rehabilitanden, weil sie ein „familiäres“ Therapiesetting bieten, bei dem viele positive Effekte einer „therapeutischen Gemeinschaft“ ihre Wirkung entfalten können. Sie sind häufig auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet und können ein deutliches konzeptionelles Profil zeigen. Und für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Arbeit in einem übersichtlichen Team sehr attraktiv. Allerdings gibt es auch einige erhebliche Nachteile, die letztlich auch zu wirtschaftlichen Problemen führen und zu der Frage, ob diese Einrichtungen noch eine Zukunft haben:

    • hoher Anteil an Fixkosten (bspw. für Nachtdienste oder Qualitätsmanagement), die sich in größeren Einrichtungen besser verteilen lassen,
    • minimale und deshalb nicht attraktive und kaum zu besetzende Stellenanteile bei einigen sehr spezialisierten Berufsgruppen,
    • geringe personelle Redundanz und somit Vertretungsprobleme insbesondere bei längeren ungeplanten Abwesenheiten,
    • hohe Anfälligkeit für Belegungsschwankungen, weil ein einzelnes Aufnahme- oder Entlassungsereignis relativ gesehen stärker ins Gewicht fällt.

    In den vergangenen Jahren konnte neben der Schließung von Einrichtungen vor allem auch vermehrt die Zusammenlegung von Einrichtungen, die Übernahmen von Einrichtungen durch größere Träger oder auch die Fusion von Trägern beobachtet werden. Wichtig ist dabei zum einen, dass es sich bei den Schließungen nicht um eine „Marktbereinigung“ handelt, denn die Nachfrage folgt bei Abhängigkeitserkrankungen nicht den üblichen Marktgesetzen. Es sind bereits dort regionale Versorgungslücken entstanden, wo ambulante und stationäre Angebote unabhängig vom Bedarf bzw. der Nachfrage eingestellt werden mussten. Zum anderen führen Fusionen nicht automatisch zu einer besseren Wirtschaftlichkeit von Trägern und Einrichtungen, Größe allein ist kein Erfolgsfaktor. Das Profil einer Einrichtung, die speziellen therapeutischen Angebote und eine klare Definition der Zielgruppen sind wichtige Faktoren für die Zusammenarbeit mit Zuweisern. Erfolgreich sind in der Regel die Träger, die eine Diversifizierung der Angebote betreiben, die verschiedene Leistungsbereiche integrieren und die in der Lage sind, selbst oder in Kooperation mit anderen Träger funktionierende Behandlungsketten zu etablieren.

    Wie könnte es weitergehen?

    Die vorstehende Beschreibung von aktuellen Trends und Themen, die die Arbeit in der Suchtrehabilitation aktuell und zukünftig beeinflussen, ist lang und komplex, aber vermutlich nicht umfassend. Für die Führungskräfte, die in den Trägern und Einrichtungen Verantwortung für viele Menschen und Arbeitsplätze tragen, ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

    Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass die Suchthilfe im Allgemeinen und die Suchtreha im Besonderen einen traditionell hohen Organisationsgrad haben, d. h., es existieren zahlreiche Kooperationen, Netzwerke, Verbände und Fachgesellschaften. Dadurch wird eine besondere Kooperationskultur geprägt, die ein altes Prinzip der Suchtselbsthilfe aufgreift und auf die Ebene von Einrichtungen überträgt: Im kollegialen Austausch lassen sich viele Probleme deutlich besser lösen, und durch ein gemeinsames Auftreten lässt sich die Vertretung der eigenen Interessen „schlagkräftiger“ organisieren. Daher kann es hilfreich sein, bei der Bearbeitung der angesprochenen Zukunftsthemen und Herausforderungen eine individuelle Ebene (Einrichtung, Träger) und eine gemeinschaftliche Ebene (Netzwerke, Verbände) zu unterscheiden und die anstehenden Aufgaben entsprechend zu verteilen (vgl. Tabelle 2).

    Tab. 2: Individuelle und gemeinschaftliche Handlungsebenen in der Suchtreha

    Natürlich muss jede verantwortliche Führungskraft die eigenen „Hausaufgaben“ machen. Aber es ist eine gute Tradition in der Suchthilfe, sich Rat von anderen „Peers“ zu holen, und manche Probleme werden allein schon durch die Erkenntnis kleiner, dass andere auch keine bessere Lösung haben.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Krankenkassen trocknen medizinische Reha aus

    Die Arbeitsgemeinschaft Medizinische Rehabilitation SGB IX (AG MedReha) hat ein Gutachten über den Vergütungsbedarf von Rehabilitationsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegt. Das Ergebnis: Das aktuelle Vergütungsniveau liegt deutlich unter dem, was zur Erfüllung der Strukturanforderungen der Krankenkassen notwendig ist. Die in der AG MedReha vertretenen Leistungserbringerverbände beklagen deshalb ein Austrocknen der medizinischen Reha und fordern die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zur Änderung ihrer Vergütungspraxis auf.

    Das aktuelle Gutachten „Was kostet die Rehabilitationsleistung? Kostenberechnung auf Basis struktureller Anforderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung“ der aktiva Beratung im Gesundheitswesen GmbH im Auftrag der AG MedReha geht von den Strukturanforderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) aus, die die Verbände der Krankenkassen mit anderen Rehabilitationsträgern gemeinsam beschlossen haben und die etwa für die Personalausstattung in den Reha-Einrichtungen maßgeblich sind. Auf dieser Basis berechnen die Gutachter die notwendigen Tagessätze exemplarisch für die medizinische Rehabilitation orthopädischer, kardiologischer und geriatrischer Patienten. Für die stationäre orthopädische Rehabilitation kalkulieren die Gutachter einen Vergütungssatz von 164 Euro pro Belegungstag. Der kalkulierte Vergütungssatz für die kardiologische Rehabilitation beträgt 157 Euro und für die stationäre geriatrische Rehabilitation 265 Euro pro Belegungstag. Die Gutachter bewerten die Ergebnisse auch für andere, im Rahmen der Studie nicht untersuchte Indikationen, als richtungsweisend.

    Die heute im Markt realisierbaren Vergütungssätze im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung liegen aber bis zu 30 Prozent unter den im Gutachten ermittelten Werten. Damit wird deutlich, dass sich die Rehabilitationseinrichtungen in einer chronischen Unterfinanzierung befinden. Rehabilitationseinrichtungen müssen im Gegensatz zu Krankenhäusern sämtliche Kosten aus dem Vergütungssatz refinanzieren. Nur wenn die Leistungserlöse die tatsächlichen Personal-, Sach- und Investitionskosten abdecken, können die Rehabilitationskliniken langfristig ihre Aufgaben erfüllen und so den Rechtsanspruch der Versicherten auf medizinische Rehabilitation flächendeckend sichern.

    Die AG MedReha fordert daher zum Erhalt der notwendigen Reha-Struktur eine zügige Anpassung der Vergütungssätze in der Rehabilitation, um die notwendige Versorgungsstruktur langfristig und in der geforderten Qualität zu sichern. Durch ihre bisherige Vergütungspolitik trocknen die Krankenkassen die Reha stattdessen aus und riskieren den Abbau notwendiger Angebotsstrukturen. Aktuell zehren die Kliniken ihre Substanz immer weiter auf oder sind gezwungen, die Leistungen zu subventionieren. Erste Klinikschließungen sind bereits erfolgt bzw. Anbieter reduzieren ihre Anzahl an Rehabilitationsplätzen. Die medizinische Rehabilitation wird im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zukünftig deutlich an Bedeutung gewinnen. Hier spielt vor allem die demografische Entwicklung und die wachsende Anzahl älterer Menschen eine entscheidende Rolle, beispielsweise im Bereich „Reha vor Pflege“ bzw. bei der sachgerechten Anschlussversorgung bei immer kürzeren Krankenhausverweildauern.

    Das Gutachten steht auf der Homepage der AG MedReha zum Download bereit:
    www.agmedreha.de > Themen > Gutachten zur Kostenstruktur

    Pressestelle der AG MEdReha, 23.05.2018

  • „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    Iris Otto
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

    Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.

    Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.

    Betreuungsplätze und Fallzahlen

    Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.

    Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung

    Betreuungsangebote

    Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.

    Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen

    Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern  (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).

    Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern

    Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:

    • Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
    • Frühförderstelle
    • Kinderarzt oder Kinderklinik
    • Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
    • Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
    • Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
    • Ergotherapie oder Logopädie

    Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).

    Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.

    Personalausstattung

    Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.

    Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.

    Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz

    Finanzierung

    Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)

    Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.

    Ausblick

    Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.

    Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:

    • Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
    • Kindgerechtes Notfallmanagement (Notfallversorgung, Kinder-Reanimationsmaske etc.)
    • Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
    • Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
    • Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
    • Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
    • Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
    • Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt

    Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.

    Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.

    Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen:
    Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.

  • Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    „Suchthilfe und Arbeit“ ist trotz des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren noch immer ein großes Thema. Das ist merkwürdig, denn bereits 1985 war mit der „Hammer Studie“ (Raschke & Schliehe, 1985) eigentlich schon alles gesagt: „Der Ausstieg aus dem Drogenkonsum steht und fällt mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen“. Gleichzeitig erschwert eine Abhängigkeitserkrankung jedoch immens die berufliche Integration. Das Gleiche gilt auch für psychische Erkrankungen oder andere Hindernisse, die von den Agenturen für Arbeit als Vermittlungshemmnisse beschrieben werden. Vermittlungshemmnisse haben dramatische Folgen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be­rufsforschung (IAB; Achatz & Trappmann) hat im Jahr 2011 den Einfluss multipler Hindernisfaktoren auf die Arbeitsmarktintegration untersucht. Diese Faktoren waren u. a. Alter und Geschlecht, gesundheitliche Einschränkungen, geringe Schulbildung oder Qualifikation, Migrationshinter­grund, langer ALG II-Bezug und schlechte regionale Arbeitsmarktlage. Bei einem Vermittlungshemmnis lag die Wahrscheinlichkeit für den Übergang in eine Erwerbstätigkeit bereits bei nur elf Prozent und sank dann mit jedem weiteren Vermitt­lungshemmnis ab, bis sie bei sechs und mehr Faktoren bei null Prozent angekommen war (Achatz & Trappmann, 2011, S. 30). Damit haben Suchtkranke, die vielfache Vermittlungshemmnisse auf sich konzentrieren, nur eine marginale Integrationschance.

    Seit 30 Jahren steht das Thema Arbeit auch auf der Agenda des Fachverbandes Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+). „Sorgen mit der Nachsorge“ hieß 1986 die Dissertation des damaligen Geschäftsführers des fdr+, Manfred Sohn. Zweimal veröffentlichte der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung Grundsatzpapiere zu diesem Thema: Im Jahr 2012 das sehr gute Konsenspapier „Förderung der Teilhabe Abhängigkeitskranke am Arbeitsleben“ und im Jahr 2016 den Beschluss „Teilhabe am Arbeitsleben“. Das Problem dieser Veröffentlichungen: An theoretischen Herleitungen herrscht kein Mangel. Was fehlt, ist die praktische Umsetzung des Sozialrechtes in Hilfen für abhängigkeitskranke Menschen. Vor diesem Hintergrund rief der fdr+ 2014 eine Arbeitsgruppe „Arbeit und Bildung“ ins Leben, die im Mai 2017 die Handreichung „Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen“ veröffentlicht hat. In dieser Broschüre werden die Leistungen zur Teilhabe an Arbeit für Suchtkranke detailliert beschrieben. Untermauert von erläuternden und heranführenden Texten geben die Autoren eine ausführliche Übersicht zu den Leistungstypen und Leistungsmöglichkeiten, mit denen suchtkranke Menschen an Arbeit herangeführt werden können. Das Bundesteilhabegesetz, das während der Erstellung der Handreichung mit seinen ersten Teilen in Kraft getreten ist, findet ebenfalls angemessen Berücksichtigung. Folgende gesetzliche Finanzierungsmöglichkeiten werden vorgestellt und erklärt:

    1. Betriebsformen und Trägerstrukturen
    2. Individuelle Leistungstypen
    3. Maßnahmen in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker
    4. Weitere Möglichkeiten zur Förderung der Teilhabe an Arbeit

    Teilhabe am Arbeitsleben ist ein identitätsstiftender Faktor, sie ermöglicht positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Im Vorwort der Handreichung stellen die Autoren dar, wieso Integration und Teilhabe als Leitbild in der Suchthilfe betrachtet werden dürfen und müssen – ein Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, sich um Integration und Teilhabe (weiterhin) nachdrücklich zu bemühen, und dass ein erfolgreiches Wirken möglich ist. Im O-Ton heißt es dort:

    Im Jahr 1968 stellte das Bundessozialgericht fest: Sucht ist Krankheit. Seit 1975 ist durch die „Eingliederungshilfeverordnung“ festgelegt, dass Suchtkranke zu den Personen mit einer seelischen Behinderung zählen. Seit 2009 ist die UN Behindertenrechtskonvention in Deutschland verbindlich und geltendes Recht. Sie hat die Umsetzung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zum Ziel. Wenn ein Mensch durch seine Abhängigkeitskrankheit keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung hat oder er arbeitslos ist oder wird, gilt er nicht nur als krank, sondern auch als (vorübergehend) „behindert“ im Sinne der Sozialgesetzbücher IX und XII und hat Anspruch auf sozialrechtliche Leistungen zur Überwindung dieser Situation. Dieser Leistungsanspruch ist mit dem Teilhabekonzept der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) eng verbunden, da er eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigungen erfordert.

    Der Eintritt in Erwerbsarbeit, Tätigkeit oder Qualifizierung soll für die abhängigkeitskranke Person einen Rollenwechsel in die Welt positiver Zuschreibungen und der Anerkennung durch Arbeit einleiten. Damit sind gleichfalls positive Erwartungen verbunden, wie etwa die Wiederentdeckung vermeintlich verschütteter Bildungsressourcen oder auch des Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit und die damit zusammenhängenden Kompetenzen. Die Erarbeitung eines subjektiven wie objektiven „Wertes“ in der Arbeitsgesellschaft und nicht zuletzt die Aussicht auf eine selbstbestimmte, auskömmliche Sicherung der Existenz bilden zentrale Anreize für den beruflichen (Wieder-)Einstieg.

    In unserer modernen Arbeitsgesellschaft bildet Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Qualifikationen, Belohnungen und sozialen Einflussmöglichkeiten eine zentrale Basis für die Zuweisung von sozialem Status und von gesellschaftlichen Partizipationschancen. In den Arbeitsmarkt integriert zu sein, wird mit sozialer Teilhabe zunehmend gleichgesetzt, so dass im Umkehrschluss Arbeitslosigkeit mit sozialem Ausschluss verbunden wird.

    Für Abhängigkeitskranke assoziiert „Arbeit haben“ zudem den Ausstieg aus der Sucht. Es ist die Chance, eine bislang meist krisenhafte Berufsbiographie positiv und selbstbestimmt zu gestalten und einen „eigenen Weg“ zu finden. Dabei benötigen alle Teilhabebemühungen und Hilfeangebote positive Zukunftserwartungen für die Menschen, verbunden mit konkreten Chancen. Deswegen sind auch drogenpolitische Paradigmen alternativ zu etablierten Stigmata neu zu formulieren:

    Teilhabe an Erwerbsarbeit für Abhängigkeitskranke kann mithilfe von berufsbezogenen Unterstützungs-, Bildungs- und Beschäftigungsangeboten auch im Rahmen der Suchthilfe stärker als bisher möglich werden. Die vorliegende Arbeitshilfe wird vom grundlegenden Gedanken getragen, dass eine nachhaltige und selbstbestimmte berufliche Integration für Abhängigkeitskranke möglich ist. Suchthilfe muss ihre Adressaten*innen als aktiv an der Arbeitsgesellschaft teilhabende Menschen wahrnehmen und entsprechende Angebote bereitstellen. Das gibt ihnen auf dieser Basis die Möglichkeit, positive Zukunftserwartungen hinsichtlich Verdienst, Selbstwert, Zugehörigkeit und sinnvoller Tätigkeit zu entwickeln.

    Von der Seite der Arbeitsverwaltung und anderer staatlicher Institutionen wird Abhängigkeitskranken jedoch nicht selten mit einer eher defizitorientierten Perspektive begegnet. Sie sollen etwa ihre „Erwerbsfähigkeit wiedererlangen“ und alles hierbei „Hinderliche“ aus dem Weg räumen. Dadurch werden auch andere Fallbeteiligte dazu aufgefordert, jene Hürden in den Arbeitsmarkt zu identifizieren und mithilfe der „richtigen Instrumente“ abzubauen. So dringt diese Perspektive quasi-diagnostisch in die Biographien der Adressaten*innen ein und codiert dort mehrere Fragmente zu sog. Vermittlungshemmnissen um, etwa die Suchterkrankung, eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit, kein oder ein niedriger Bildungsabschluss, der gesundheitliche Zustand bis hin zur Familiensituation. Dieser Begriff erlangte als Defizitindikator für die Vermittlungswahrscheinlichkeit (vgl. Achatz & Trappmann 2011) eine zentrale Bedeutung; im Rahmen der sog. „Job-Perspektive“ wurde er gar zum diagnostischen Parameter, der den Bezug bestimmter Fördermöglichkeiten begründet.

    Aus Sicht der Betroffenen stellen Vermittlungshemmnisse nichts anderes als Spiegelbilder der Akzeptanzdefizite des Arbeitsmarktes dar, entlang derer die Arbeitsverwaltung den Handlungsbedarf für die jeweiligen Integrationsbemühungen vermisst und die die Grenzen der (regionalen) Integrationskultur zeigen.

    Für den Aufbau beschäftigungsbezogener Hilfeangebote stellt sich für die Suchthilfe die Aufgabe, beide Perspektiven zu reflektieren und in den Hilfeprozess zu integrieren. Denn meistens gehören Abhängigkeitskranke zu den Kunden*innen der Arbeitsverwaltung, denen ein besonders hohes Maß an Vermittlungshemmnissen zugesprochen wird und die damit als „schwer vermittelbar“ gelten.

    Beratungsstellen der Suchthilfe erreichen etwa eine halbe Million Menschen jährlich. Wenn etwa 50 Prozent von ihnen arbeitslos oder Sozialhilfebezieher sind müssen für mindestens 250.000 Menschen Angebote zur Teilhabe an Bildung und Arbeit gemacht werden. (…)

    Das Sozialrecht hat in den vergangenen Jahren den Anspruch abhängigkeitskranker Menschen auf Hilfe verbessert. Eingelöst wird dieser Anspruch jedoch nur zum Teil. Immer noch werden Abhängigkeitskranke diskriminiert und von Leistungen der Teilhabe an Arbeit ausgeschlossen. Insbesondere das Fehlen längerfristiger Perspektiven entmutigt viele Menschen und verschlechtert die Chancen zur Wiedereingliederung in Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Verlust der Arbeit führt zu ‚sinnlos‘ zur Verfügung stehender Freizeit. Dieses Aufweichen der Tagesstruktur wird nicht problemlos bewältigt.

    Die beruflichen Angebote in der Suchthilfe liefern den Hintergrund für die Nachhaltigkeit von bio-psycho-sozialen Hilfen. Sie müssen die Grundlage für Teilhabeplanung sein. (…)

    Literatur bei den Autor/innen

    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.: Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen. Eine Handreichung, fdr+texte Nr. 12, Berlin 2017.
    Die Broschüre kann zum Preis von 7 Euro beim fdr+ bestellt werden: www.fdr-online.info

    Kontakt:

    Jost  Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr)
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    Tel. 030/85 40 04 90
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

  • Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.

    Dr. Volker Weissinger

    1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland

    Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.

    2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen

    Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.

    Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.

    Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“

    Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“

    Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).

    Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).

    Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.

    Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)

    Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.

    Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.

    3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs

    Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:

    • Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
    • Qualifizierter Entzug
    • Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
    • Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
    • Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Betrieblicher Bereich
    • Routinedaten der Leistungsträger
    • Jobcenter/Agenturen für Arbeit
    • Fallmanagement und Fallbegleitung
    • Nutzung moderner Informationstechnologien

    Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.

    Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

    Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:

    Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.

    „Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)

    Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).

    Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.

    Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.

    Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.

    Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).

    Qualifizierter Entzug

    Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.

    In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:

    • Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
    • Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
    • Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
    • Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
    • Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX

    Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.

    Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung

    Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.

    Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.

    Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.

    Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).

    Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.

    Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung

    Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.

    Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):

    • Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
    • Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
    • Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
    • Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
    • Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.

    Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.

    Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.

    Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.

    Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt

    Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.

    Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).

    Betrieblicher Bereich

    In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.

    Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.

    Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.

    Routinedaten der Leistungsträger

    Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.

    Routinedaten der Krankenversicherung
    Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:

    • „Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
    • Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“

    Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.

    Routinedaten der Rentenversicherung
    Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).

    Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.

    Jobcenter/Agenturen für Arbeit

    Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).

    Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.

    Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.

    Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).

    Fallmanagement und Fallbegleitung

    In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).

    Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.

    Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.

    Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.

    Nutzung moderner Informationstechnologien

    Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.

    Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).

    Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.

    Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.

    4. Schlussbemerkungen und Ausblick

    Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.

    Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).

    Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:

    • niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
    • zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
    • Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.

    Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.

    Kontakt:

    Dr. Volker Weissinger
    Geschäftsführer
    Fachverband Sucht e.V.
    Walramstraße 3
    53175 Bonn
    Tel. 02 28/26 15 55
    sucht@sucht.de

     

     

    Angaben zum Autor:

    Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.

    Literatur:

    • Bachmeier, R. et al. (2015): Basisdokumentation 2014 – Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, in: Fachverband Sucht e.V. (Hg.): Basisdokumentation 2014 – Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e.V., 6-30
    • Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
    • Effertz, T. (2015): Die volkswirtschaftlichen Kosten gefährlichen Konsums – eine theoretische und empirische Analyse für Deutschland am Beispiel Alkohol, Tabak und Adipositas, Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaft, Frankfurt a.M.
    • Fachverband Sucht e.V. (2012): Leitbild und Positionen zur Suchtkrankenhilfe und -behandlung, SuchtAktuell 02.12
    • Gesundheitsziele.de (2015): Alkoholkonsum reduzieren, Bundesanzeiger 19.05.2015, 15-20
    • Görgen, W., Hartmann, R. (2002): Neue Wege in der Behandlung Suchtkranker in der frühen Sekundärprävention, Geesthacht
    • Gross, B. (2016): „Sucht bewegt, Zugangswege erweitern“ aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung Bund, SuchtAktuell 02.16, 14-17
    • Günthner, A., Weissinger, V. et al. (2016): Versorgungsorganisation, in: Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg, 191-210
    • Kainz, B., Schröder, A., Glattacker, M., Wenzel, D., Hoffmann, S., Kulick, B., Jäckel, W. H. (2011): Inanspruchnahme und Akzeptanz des Modells „Reha-Fallbegleitung bei Alkohol-, Medikamenten und Drogenabhängigen mit erwerbsbezogenen Problemen“, SuchtAktuell 02.11, 40-46.
    • Kirchner, P. (2016): „Nahtloser Zugang zu Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung am Beispiel von ISBA“ – Vortrag anlässlich des 29. Heidelberger Kongress des FVS, 15.06.2016
    • Liegmann, K. (2015): Risiko Alkohol? Früherkennung und Intervention in der Hausarztpraxis, Bremen
    • Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg
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  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.