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  • Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Wolfgang Rosengarten

    Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.

    Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.

    Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.

    Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren

    Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.

    Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:

    Wenn

    • Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
    • die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
    • die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,

    dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.

    Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).

    Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.

    SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe
    Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.

    Was ist das Besondere?
    SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.

    Dauerhafte Finanzierung
    Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.

    Die Leistung an Mann* und Frau* bringen
    Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.

    Kontakt:
    Ralf Bartholmai
    Fachklinik Böddiger Berg
    34587 Felsberg
    infoboeddigerberg@drogenhilfe.com

    Text: Redaktion KONTUREN online

    Die eigene Arbeit positiv darstellen

    Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.

    Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.

    Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.

    Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.

    Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.

    Große Träger sind im Vorteil

    Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.

    In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.

    Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.

    Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen

    In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.

    Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Karl Lesehr

    Zum 31.07.2019 wurden die letzten Teilnehmenden* aus dem Projekt Su+Ber – Sucht und Beruf verabschiedet. Damit wurde dieses Projekt zur Teilhabeverbesserung langzeitarbeitsloser und suchtkranker Menschen nach gut dreieinhalb Jahren mangels weiterer Förderung vorläufig beendet. Wir haben über Su+Ber  ausführlich bereits 2017 in einem zweiteiligen Artikel auf KONTUREN online (Teil 1 + Teil 2) berichtet. Eine abschließende differenzierte und mehrteilige wissenschaftliche Evaluation legte das IFT München planmäßig bis zum Jahresende 2019 vor (PDF zum Download).

    Der hier vorliegende Artikel möchte einen anderen Aspekt, nämlich die innere Projektentwicklung reflektieren. Aus der Sicht eines verantwortlich Beteiligten möchte ich unsere Erfahrung von Hemmnissen und Schwierigkeiten darstellen und zeigen, wie sich unsere Arbeitshaltungen durch diese Erfahrungen im Projektprozess verändert haben. Mit einer solchen, eben nicht nur an Erfolgskennzahlen orientierten Evaluation wollen wir uns auf Entwicklungsschritte einlassen, wie wir sie ja auch von unseren Projekt-Teilnehmenden erhoffen und erwarten. Aufgrund meiner fachlichen Herkunft nehme ich dabei v. a. die Perspektive der Suchthilfe ein; viele meiner Aussagen gelten aber in vergleichbarer Weise auch für den Bereich der Arbeitshilfen.

    Entwicklungsgeschichte und Zielsetzungen des Projekts Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber ist in Baden-Württemberg in einem mehrjährigen Diskussionsprozess entstanden, an dem neben zahlreichen Akteuren der Suchthilfe und der Suchtreha auch engagierte Fachkräfte aus Jobcentern und Politikvertreter beteiligt waren. Mit Su+Ber sollte an sechs Standorten für Langzeitarbeitslose mit einem teilhabebeeinträchtigenden Suchtverhalten (Alkohol/Drogen) auf einem ganz neuen Weg eine stabile Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ermöglicht werden. Wesentliche Teile des Projekts Su+Ber wurden vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land finanziert; die in die Projektkonzeption integrierten und relativ personalintensiven Arbeitsfördermaßnahmen wurden dabei in vollem Umfang von den beteiligten Jobcentern finanziert.

    Suchtprobleme gelten bei der Wiedereingliederung in Arbeit als wesentliches Vermittlungshemmnis. Gleichzeitig ist es ein Grundaxiom der Suchthilfe, dass eine regelmäßige Arbeit entscheidend zu einer gesundheitlichen Stabilisierung suchtkranker Menschen beitragen kann. Die fachliche Entwicklung der medizinischen Suchtreha orientierte sich deshalb stets an dem Ziel einer Reintegration in Arbeit, wofür eine Suchtmittelabstinenz bislang als unumgängliche Voraussetzung galt. Wer allerdings inzwischen die konkreten Arbeitsmarktperspektiven für langzeitarbeitslose Menschen mit Suchtstörungen ehrlich anschaut, für den wird spürbar, dass eine solche vorrangig auf eine formale Arbeitsreintegration orientierte Suchtreha den Teilhabebedürfnissen und -rechten dieser Menschen oft nicht gerecht wird. Die Grundkonzeption unseres Projekts Su+Ber baut zwar notwendigerweise auf diese arbeitsorientierte Tradition der Suchtreha auf, versucht aber, innerhalb der geltenden Rechtssystematik für bestehende versorgungspolitische Schwachstellen neue Lösungen zu finden.

    Konsequente arbeitsorientierte Leistungsvernetzung als Antwort auf Schnittstellenprobleme

    Das Projekt Su+Ber sieht als Antwort auf viele letztlich ungelöste Schnittstellenprobleme bei Maßnahmen zur Arbeitsreintegration im Anschluss an eine Suchtreha eine weitgehende örtliche, zeitliche und personelle Vernetzung aller Fördermaßnahmen: Leistungen der Suchtberatung, Arbeitsfördermaßnahmen der Jobcenter und der Arbeitshilfeträger sowie Leistungen einer arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha sollen im Projekt in einer konsequenten Gesamtmaßnahme integriert werden. Zentrale Bausteine des Projekts waren:

    • eine Zielorientierung der Gesamtmaßnahme auf die Gewinnung eines eigenen Arbeitsplatzes unter konsequenter Berücksichtigung der eben auch widersprüchlichen individuellen Entwicklungsinteressen und der nutzbaren Entwicklungsressourcen der Teilnehmenden. Die Orientierung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sollte alle Beteiligten vor defizit- und mangelorientierten Selbst- und Fremdeinschätzungen und vor zu kleinteiligen Maßnahmenzielen schützen.
    • eine fallbezogene personale Vernetzung aller am Projekt beteiligten Akteure in einem gemeinsamen Clearingprozess und in der Maßnahmenplanung. Die Erfolgsprognose, die sozialleistungsrechtlich erforderlich ist, damit Maßnahmen gewährt werden, orientierte sich nicht an Maximalzielen (Abstinenz, volle Arbeitsintegration), sondern an konkreten Verbesserungen beruflicher Teilhabe und damit verbundener subjektiver Lebensqualität.
    • eine Konzeption der ambulanten Suchtreha, die vorrangig auf die Entwicklung einer hinreichenden Arbeitsfähigkeit orientiert ist und dabei notfalls auch auf den bisherigen Vorrang des gesundheitlichen Maximalziels einer Abstinenz verzichtete.
    • die nahtlose Nutzung aller individuell erfolgversprechenden Fördermaßnahmen der beteiligten Leistungsträger einschließlich einer suchtkompetenten Unterstützung auch im ersten Jahr an einem eigenen Arbeitsplatz.

    Innovation erfordert Mut zum Risiko, erhöht aber auch die institutionellen Erfolgserwartungen

    Ein solcher Projektansatz ließ sich natürlich nur realisieren, indem alle Beteiligten über ihre gewohnten Konzepte und Leistungsformen hinausgingen: So ließen sich die beteiligten Jobcenter auf einen gegenüber sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen höheren Personaleinsatz ein. Die DRV Baden-Württemberg wagte den Versuch einer konsequent arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha auch unter Verzicht auf die traditionelle Abstinenzbindung. Die Suchtberatungsstellen waren zu sozialräumlichen Kooperationen mit anderen PSBs (Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und Suchtkranke) und zu einem mehrheitlich externen Arbeitseinsatz beim Arbeitshilfeträger aufgefordert. Und für alle beteiligten Fachkräfte galt es, sich im geforderten Clearingprozess und in der fallbezogenen Maßnahmenplanung auf eine personale Kooperation einzulassen und dabei die eigenen fachlichen Sichtweisen und Denktraditionen immer wieder zu hinterfragen.

    Bei den beteiligten Leistungsträgern (Jobcenter und DRV Baden-Württemberg), die für das Projekt substantiell/materiell in Vorleistung gehen mussten, entstand dabei verständlicherweise ein hoher Druck, ihre Aufwendungen/Wagnisse auch durch möglichst gute Ergebniszahlen zu legitimieren. Bei den Jobcentern war dennoch die Bereitschaft, auch die eigenen internen Verwaltungsabläufe auf diese neue Projektstruktur abzustimmen, angesichts der je Standort nur bescheidenen Maßnahmekapazitäten (max. zwölf Plätze) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und auch in der projektbezogenen Kooperation mit der DRV Baden-Württemberg gelang es trotz einer insgesamt vertrauensvollen Arbeitsbasis erst zum Ende des ersten Projektjahres und damit zur Hälfte der anfänglich bewilligten Projektlaufzeit, eine für beide Seiten vertretbare Reha-Konzeption für das Projekt Su+Ber zu verabschieden.

    Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung für Su+Ber

    Während solche Schwierigkeiten mit den Leistungsträgern für uns schon in der Projektvorbereitung absehbar waren, hatten wir geglaubt, dass durch die zahlreichen Diskussionen und Fachveranstaltungen der Landesstelle für Suchtfragen im Projektvorlauf und durch ein detailliertes Anforderungsprofil in der ESF-Projektausschreibung bei der Teilnehmergewinnung und in der Projektumsetzung keine größeren Probleme auftreten würden. Tatsächlich hatten wir vor allem im ersten Projektjahr aber an nahezu allen Standorten erhebliche Schwierigkeiten, die in den Arbeitsfördermaßnahmen bereitgestellten Plätze auch zu füllen – deren Auslastung lag in dieser Zeit insgesamt deutlich unter 50 Prozent!

    Als wesentliche Ursachen dieser für uns unerwarteten Entwicklung konnten wir – trotz aller konzeptionellen Absprachen/Vereinbarungen im Vorfeld einer Projektbeteiligung – Folgendes feststellen:

    • Bei vielen Fachkräften der Suchtberatungsstellen herrschte große Skepsis gegenüber einem suchtrehabilitativen Ansatz ohne Abstinenzverpflichtung.
    • In vielen Suchthilfeeinrichtungen wird eine „Reha-Gesamtplanung“ praktiziert, bei der Fragen der Reintegration in Arbeit immer noch meist erst nach einer (stationären) Suchtreha in den Blick genommen wurden.
    • Bei einer Einbeziehung arbeitsorientierter Fördermaßnahmen in die Suchtreha-Planung wurde – unabhängig von der fachlichen Art des Angebots – bevorzugt in trägereigene Maßnahmen vermittelt.

    Offenbar führt eine hohe Autonomie der Fachkräfte in den PSBs bei gleichzeitig subjektiv hoher Arbeitsbelastung in der Fallarbeit dazu, dass vertraute rehabilitative Handlungs- und Denkmuster weitergeführt und innovative Interventionsansätze kaum ernsthaft registriert werden. Im Ergebnis gab es während der drei Projektjahre trotz vielfacher Informationsangebote und Werbung fast ausschließlich von denjenigen Suchtberatungsstellen Vermittlungen in das Projekt Su+Ber, in denen durch Honorarverträge Mitarbeitende unmittelbar in die Projektarbeit eingebunden waren. Aber auch in den direkt am Projekt beteiligten Suchtberatungsstellen gelang es mehrheitlich erst durch eine regelmäßige Präsenz von Projektmitarbeitenden in den eigenen Reha-Teams,  die Quote an Vermittlungen in das „eigene“ Projekt Su+Ber innerhalb der gesamten indikationsgerechten Vermittlungen in Suchtreha zu erhöhen.

    Unterschätzt hatten wir in der Projektplanung aber auch zwei materielle/leistungsrechtliche Faktoren:

    • Aufgrund der knappen Fördermittel für Su+Ber hatten wir für die sechs- bis achtmonatige Projektphase B der Arbeitsförderung und der integrierten ambulanten Suchtreha keine Mehraufwandsentschädigung für die Teilnehmenden vorgesehen. Dadurch waren wir für manchen Kunden/Klienten im Vergleich zu anderen vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen aber deutlich weniger attraktiv (ganz unabhängig von der im Projekt ja zusätzlich geforderten offenen Befassung mit dem eigenen Suchtverhalten).
    • Angesichts der in Baden-Württemberg derzeit sehr guten Arbeitsmarktlage erlebten wir es in der Projektphase A (Motivierung und vorläufige Integrationsplanung) immer wieder, dass Interessenten kurzfristig eine Arbeit fanden und deshalb eine Projektteilnahme im Sinne ihres bisherigen Problembewältigungsmusters fallen ließen. Wenn dann nach oft schon absehbaren Krisen dieser Arbeitsplatz wieder verloren ging, griff die Regelung der „schädlichen Unterbrechung“ der Langzeitarbeitslosigkeit: Eine Wiederaufnahme ins Projekt war dann (eigentlich) genauso wie nach längerer Krankschreibung oder auch kurzfristigen Inhaftierungen (v. a. bei Drogenabhängigen) erst wieder nach einer längeren (kontraproduktiven) Wartezeit möglich; ein möglicherweise günstiges „Motivationsfenster“ blieb wegen unsinniger Zuständigkeitsregelungen so ungenutzt.

    Eine von der Projektkonzeption deutlich abweichende Teilnehmenden-Gruppe

    Im Ergebnis bestand unsere Su+Ber-Teilnehmergruppe v. a. aus Menschen, die von den Jobcentern vermittelt wurden und dort nach zahlreichen, aber wirkungsarmen Maßnahmen als weitgehend hoffnungslose Fälle eingestuft worden waren („hartnäckiger Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit“). Gleichzeitig fehlten uns aus den Suchtberatungsstellen diejenigen Menschen, die sich dort zum wiederholten Mal aktiv um eine Suchtreha-Maßnahme bemühten.

    Es wurde aber auch deutlich, dass mehr als 80 Prozent unserer Teilnehmenden bereits Vorerfahrungen mit der ambulanten Suchthilfe und etwas mehr als die Hälfte auch Erfahrungen mit Suchtreha-Maßnahmen hatten. Zumindest bei dieser Gruppe stark chronifizierter Langzeitarbeitsloser mit Suchtproblemen ist also davon auszugehen, dass aufgrund zweier im Lebensalltag der Menschen ja zusammenhängender Teilhabe-Beeinträchtigungen häufig auch beide leistungsrechtlich getrennten Hilfesysteme in Anspruch genommen werden, allerdings oft ohne irgendeine erkennbare Kooperation und Abstimmung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass wir mit unserem leistungsvernetzten Förder- und Behandlungsangebot von Su+Ber 44 Prozent der Teilnehmenden erstmals für die Nutzung einer Suchtreha-Maßnahme gewinnen konnten.

    Da im Projekt Su+Ber bei den Bemühungen um eine Arbeitsintegration ausdrücklich auch das Suchtverhalten thematisiert werden sollte, war für uns ein freiwilliger und von Sanktionen unabhängiger Zugang zum Projekt grundlegende Bedingung. Daraus leiteten wir die Hypothese ab, dass unsere Projekt-Teilnehmenden trotz ihrer vielfachen Erfahrungen des Scheiterns und vieler aktueller Alltagsprobleme und Beeinträchtigungen sehr wohl weiter an einer Verbesserung ihrer Lebenslage interessiert waren. Auch die zu den formalen Qualifikationen erhobenen Daten lassen vermuten, dass für einen deutlichen Teil der Teilnehmenden die Perspektive einer beruflichen Reintegration keineswegs abwegig ist: Nur 13 Prozent hatten keinen regulären Schulabschluss, aber immerhin 51,5 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung.

    Entwicklung der Teilnehmerzahl

    In der (nach einer Verlängerung) schließlich dreijährigen Projektlaufzeit haben wir nach ESF-Kriterien 301 Teilnehmende ins Projekt Su+Ber aufgenommen, also in die Projektphase A mit ihrem interinstitutionellen Clearing, der vertieften Motivierung und einer vorläufigen Maßnahmenplanung sowie schließlich der formalen Beantragung der ambulanten Suchtreha-Maßnahme. Tatsächlich wurden dann aber von diesen 301 ernsthaften Projektinteressenten nur 199 Teilnehmende in die Projektphase B übernommen, also in die sechs- bis achtmonatige Arbeitsfördermaßnahme mit integrierter ambulanter Suchtreha.

    Nach allen Erfahrungen aus der Motivierungsarbeit der Suchtberatung hatten wir zwar an diesem Übergang mit einem Schwund an Teilnehmenden gerechnet, der Ausstieg von einem Drittel hat uns aber doch beschäftigt. Ein Teil dieser Quote erklärt sich mit den bereits skizzierten leistungsrechtlichen Regelungen („schädliche Unterbrechung“). Andere Teilnehmende fühlten sich abgeschreckt durch die umfangreichen datenschutzrechtlichen Regelungen, die durch die wissenschaftliche Evaluation notwendig wurden und für die wir auch keine grundlegende Vereinfachung finden konnten.

    In der Analyse wurde für uns aber auch deutlich, dass wir es versäumt hatten, Ansätze und Strukturen für eine projektspezifische Veränderungsmotivierung der Teilnehmenden zu entwickeln. Obwohl wir davon ausgegangen waren, dass die vorrangige Triebfeder für die Beteiligung an Su+Ber bei den meisten Teilnehmenden die Gewinnung eines „vollwertigen“ Arbeitsplatzes sei, fanden die meisten (bestenfalls wöchentlichen) Kontakte der Phase A im rein verbalen Setting der Suchtberatungsstelle statt und gingen von den klassischen Konzepten einer Problemanamnese und Motivationsklärung aus.

    Diese Setting-Strukturen hatten Konsequenzen: Im Durchschnitt wurden diejenigen Teilnehmenden, die in oder nach der Phase A bereits wieder aus dem Projekt ausgeschieden sind, knapp vier Monate lang betreut – aus unserer Sicht viel zu viel Lebenszeit für Menschen, die mit einem  Entwicklungswunsch ins Projekt eingetreten waren. Aufgrund der Erfahrungen aus den supervisorischen Praxiswerkstattrunden vermuten wir zudem, dass in diesen Gesprächen mehrheitlich die Suchtproblematik und aktuelle Alltagsprobleme und weniger individuelle Entwicklungssehnsüchte und Hoffnungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt standen. Wir haben es deshalb im zweiten Projektjahr ermöglicht, dass Teilnehmende auch direkt in die Phase B beim Arbeitshilfeträger ins Projekt Su+Ber einsteigen konnten; die für die Projektphase A vorgesehenen Aufgaben konnten dann dort begleitend zu den ersten Arbeitserfahrungen in den ersten drei Wochen bearbeitet und dann nahtlos auch in der ambulanten Suchtreha weitergeführt werden.

    Unterschätzt hatten wir auch einen weiteren Effekt der bereits genannten Skepsis in der ambulanten Suchthilfe gegenüber einem nicht abstinenzgebundenen Suchtreha-Ansatz: An der Mehrzahl der Projektstandorte fanden sich trotz wohlwollender Haltung der PSB-Leitungen nur Fachkräfte für die Mitarbeit im Projekt Su+Ber, die bislang kaum oder gar nicht in Leistungen der ambulanten Suchtreha eingebunden waren. Gleichzeitig fehlte an vielen Standorten aber auch die regelhafte kollegiale Einbindung in das „normale“ Reha-Team. In der Verbindung mit den für alle Beteiligten neuartigen konzeptionellen Anforderungen im Projekt Su+Ber führte dies dazu, dass einige unserer Projektfachkräfte lange Zeit stark verunsichert waren und so die konzeptionellen Entwicklungsräume unserer Reha-Konzeption zunächst kaum für ihre Teilnehmenden nutzen konnten.

    Das Projekt startete aus fördertechnischen Gründen zum Jahresanfang 2016 und damit noch vor dem positiven Ethikvotum zur Evaluationsforschung im Juni 2016. Dies führte – zusammen mit den aufwendigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen, die viele Teilnehmende abschreckten – dazu, dass letztlich nur die Daten von etwa 60 Prozent der tatsächlichen Projekt-Teilnehmenden in die wissenschaftliche Evaluation einbezogen werden konnten.

    „Wir haben die falschen Projekt-Teilnehmenden“

    Rückblickend waren die Austauschrunden der ersten anderthalb Projektjahre neben der Klärung vieler formaler und dokumentationsrelevanter Fragen beherrscht von der Feststellung, dass wir an den meisten Standorten zu wenige und dann auch noch die „falschen“ Teilnehmenden im Projekt hätten, d. h. Personen, die voraussichtlich nicht direkt in den Arbeitsmarkt reintegrierbar wären. Dies fand seine Entsprechung auch in den Ergebnissen unseres prognostischen interinstitutionellen Grobclearings in der Projektphase A: Nur für etwa zehn Prozent der Teilnehmenden wurde von den beteiligten Fachkräften eine gemeinsame positive Prognose abgegeben. Offenbar haben sich in der Wahrnehmung der professionellen Akteure viele statistisch belegte Korrelationen („Vermittlungshemmnisse“, störungsbedingte Leistungseinschränkungen, unzureichende Veränderungsmotivation) als quasi persönliche Eigenschaften zu direkten personalen Zuschreibungen verfestigt und damit verselbständigt („mit diesen Problemen kannst du das doch nicht“). Das gemeinsame Grobclearing wurde so v. a. zum Prüfstein, an dem solche verfestigten individuellen oder institutionellen Zuschreibungen deutlich werden konnten; nach unseren bisherigen Auswertungen haben die prognostischen Einschätzungen dieses Grobclearings nur eine geringe Aussagekraft hinsichtlich des tatsächlich erzielten positiven Projektergebnisses.

    Paradoxerweise wird diese Zuschreibung von Schwächen in der individuellen Betreuungsarbeit oft scheinbar bestätigt durch brüchige und widersprüchliche Selbstkonzepte der Teilnehmenden. Deren eigentlich motivierende Einstellung „Ich will arbeiten, ich brauche das!“ wird regelhaft beeinträchtigt oder blockiert durch die chronifizierte Erfahrung „Ich kann es doch nicht recht machen, ich halte das eh nicht durch“. Vielfältige beschämende Erfahrungen des Scheiterns und unerfüllter Eigen- und Fremderwartungen sind offenbar stärker als einzelne Erfolgserfahrungen. Das Selbstwertgefühl der Menschen als „psychisches Immunsystem“ ist kollabiert. Statt auf Entwicklungskräfte und Alltagskompetenzen zu schauen, konzentrieren sich alle Beteiligten in vermeintlich bester Förder- und Entwicklungsabsicht dann faktisch nur noch auf Schwächen und Defizite, die es durch symptomorientierte Interventionen aufzulösen gelte.

    Fallbezogene Leistungsvernetzung als Weg zu einer gemeinsamen Reha-Verantwortung

    Schon als wir uns in der Projektentwicklung mit den Kriterien des Grobclearings befassten, war uns deutlich, welche fatalen Verstärkungseffekte solche problemorientierten individuellen Prognosen für die „gebrochenen Selbstwirksamkeitserfahrungen“ unserer Teilnehmenden haben (können). Im Projekt Su+Ber haben wir deshalb das Grobclearing als ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Instrument im Rahmen einer konsequenten Leistungsvernetzung konzipiert. Grundsätzlich war demnach eine Projektteilnahme auch dann möglich, wenn nur eine der beteiligten Institutionen eine positive Prognose aussprach. Dieses Instrument der Leistungsvernetzung forderte somit alle Beteiligten zum intensiven Austausch und Abgleich ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen, ihrer Erfahrungen und Bewertungen heraus.

    Dieser weit über eine gewohnte fachliche Kooperation hinausgehende Vernetzungsanspruch in Su+Ber fand im Projektalltag unterschiedliche Akzeptanz. Einzelne Jobcenter sahen sich organisatorisch grundlegend nicht in der Lage, für die Betreuung aller ihrer Teilnehmenden eine konkret verantwortliche Fachkraft zu benennen. Einzelne Fachkräfte zogen sich in diesem Austausch von Sichtweisen und Argumenten immer wieder auf eine übergeordnete Position als Vertreter eines Leistungsträgers zurück. Die breite Mehrheit der Projektbeteiligten erlebte diesen Vernetzungsprozess jedoch als den zentralen fachlichen Gewinn aus der Projektarbeit. Die fallbezogene Verknüpfung persönlicher Sichtweisen, fachlicher Kompetenzen und unterschiedlicher leistungsrechtlicher Perspektiven wurde als Bereicherung erlebt und als Chance, die komplexe Lebenswirklichkeit und die Entwicklungspotentiale der Teilnehmenden umfassender wahrzunehmen und dann auch für die gewünschten Entwicklungsprozesse zu nutzen.

    Im Zuge dieser gemeinsamen Einlassung auf die Teilnehmenden und deren Lebensentscheidungen spürten die Profis oft auch Respekt und Demut: Es wurde für sie erlebbar, dass es bei allen Angeboten einer Teilhabeförderung für Menschen in stark chronifizierten Lebenslagen weniger um die Befähigung zu einer schnellstmöglichen Erreichung irgendwelcher von außen definierter oder verstärkter Ziele gehen sollte, als vielmehr um die Unterstützung einer eigenverantworteten Entwicklung und die Befähigung zu einer individuell spürbar verbesserten Teilhabe. Letztlich muss es um die Förderung einer individuellen Würde gehen, die sich speist aus entwicklungsorientierten Erfahrungen der Selbstwertschätzung und der Selbstwirksamkeit einerseits und der Erfahrung sozialer Wertschätzung und Achtung andererseits.

    Die Feedbacks, die die Profis im Projektverlauf von ihren Teilnehmenden erhielten, machen deutlich, dass eine derart veränderte Betreuungshaltung sehr wohl wahrgenommen und wertgeschätzt wurde: „Ich musste mich mit meinen Schwierigkeiten nicht mehr verstellen, brauchte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen.“ „Die Mitarbeit im Projekt hat mich interessiert, Beikonsum war da kein Thema mehr.“ „Wenn ich eine Aufgabe habe, geht es mir besser.“ „Ich kann etwas, auch so, wie ich derzeit bin.“ Und gleichzeitig machen für mich Rückmeldungen einzelner Projektfachkräfte deutlich, dass dieses gemeinsame Bemühen um einzelne, ganz konkrete Menschen auch zur Verbesserung der eigenen professionellen Identität beigetragen hat.

    Verbesserungsmöglichkeiten für Folgeprojekte

    Zusammenfassend halten wir aufgrund unserer Erfahrungen folgende Ansätze für Verbesserungen bei künftigen vergleichbaren Projekten für grundlegend notwendig:

    • Bei Menschen in chronifiziert teilhabebeeinträchtigten Lebenslagen kann jede suchtrehabilitative Verbesserung der individuellen Lebensqualität soziale und berufliche Krankheitsfolgen und Krankheitsschädigungen reduzieren. Suchtreha-Leistungen dürfen deshalb nicht nur mit dem Ziel einer bestmöglich gesicherten Arbeitsintegration gewährt werden; bei Suchtberatungsstellen sollte zugunsten einer individuell möglichen Teilhabeverbesserung auch für eine bedarfsorientierte Nutzung suchtrehabilitativer Ansätze ohne Abstinenzverpflichtung geworben werden, und es sollten entsprechende Interventionskonzepte entwickelt werden.
    • Damit Menschen unserer Zielgruppen sich angesichts einer Vielzahl von Förderansätzen für ein Konzept unter Einbeziehung spezifischer Suchtreha-Leistungen entscheiden können, müssen motivationale Faktoren (z. B. Mehraufwandsentschädigungen, Zeitperspektiven von Maßnahmen) geschaffen und strukturelle Hemmnisse (z. B. „schädliche Unterbrechung“) bestmöglich beseitigt werden. Gegebenenfalls sollten in enger Abstimmung mit den Jobcentern fallbezogen motivationsstützende Förderalternativen gesucht werden.
    • Für einige Interessenten ist statt einer nur verbalen Klärung und Entwicklungsmotivierung ein frühzeitiger Einstieg in eine Maßnahme der Beschäftigungsförderung motivations- und selbstwertstärkend und ermöglicht gleichzeitig allen Beteiligten konkret sichtbare und ansprechbare Informationen über Belastungsgrenzen und lebensweltliche Hemmfaktoren.
    • Für Langzeitarbeitslose mit Suchtproblemen gibt es nach unserer Erfahrung nur selten nachhaltige und subjektiv befriedigende Arbeitsplätze. Bemühungen um eine berufliche Reintegration sollten deshalb nicht nur an formalen Integrationsdaten orientiert sein, sondern – als Maßnahme einer grundlegenden Teilhabeförderung – gleichgewichtig auch an einer Verbesserung persönlicher Lebensqualität und am Erleben von Selbstwert. Eine solche Teilhabeperspektive sollte von allen Beteiligten akzeptiert sein und an gemeinsam vereinbarten Parametern auch dokumentiert werden. Verbindliche Kooperationspartner bei Jobcentern und Arbeitshilfeträgern erleichtern eine solche gemeinsame Teilhabeperspektive.

    Teilhabeförderung muss sich auch in Ergebniszahlen bewähren

    Jede Form psychosozialer Arbeit und jede Teilhabeförderung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen von der Gesellschaft getragenen Angeboten und individuellen Bedarfen. Somit ist neben allen subjektiv positiven Effekten auch wichtig, wie hoch die Kosteneffizienz und die Zielerreichung eines neuen Projektes ist. Die unzureichende Belegung der zur Verfügung gestellten Plätze im Projekt Su+Ber bedeutet natürlich schon mal eine relativ schlechte Kosteneffizienz. Wir gehen allerdings aufgrund der Verlaufsentwicklung in den drei Projektjahren davon aus, dass bei einer längeren Projektlaufzeit unsere veränderten Strategien der Teilnehmergewinnung und -haltung auch eine deutlich bessere Auslastung ermöglichen könnten.

    Von den 199 Teilnehmenden, die in die Projektphase B gestartet waren, konnten  42 in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit überführt werden. Diese Integrationsquote von insgesamt etwa 21 Prozent entspricht nicht unseren ursprünglichen Hoffnungen bei der Projektkonzeption und zumindest teilweise auch nicht den Erwartungen der beteiligten Jobcenter bzw. der DRV Baden-Württemberg. Zudem waren die Integrationsquoten an den einzelnen Projektstandorten – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation – recht unterschiedlich. Nach unserer Beobachtung spiegeln diese Unterschiede wider, wie intensiv und engagiert sich die Fachleute  der jeweiligen Standorte mit dem Handlungsansatz des Projekts Su+Ber identifiziert und die durch dieses Projekt ermöglichten Handlungsfreiräume auch genutzt haben.

    Es bleibt aber immer noch die Frage, wie eigentlich die Quote von 21 Prozent für die Wiedereingliederung in Arbeit von Menschen unserer Zielgruppen zu bewerten ist bzw. ob nachhaltig wirksamere Maßnahmen für sie konkret zur Verfügung stehen. Es nützt ja wenig, wenn, wie an einem unserer Standorte, nach dem Ende von Su+Ber  zur Sicherung des weiteren Leistungsbezugs der Klientel einfach eine neu benannte Maßnahme aufgelegt wird und die Kunden dann wieder durch eine scheinbar neue Maßnahme geschleust werden. Wir haben uns deshalb in der Analyse unserer Projektarbeit intensiv auseinandergesetzt mit dem Verhältnis von

    • gesellschaftlich geforderten kurzfristigen Ergebniszahlen,
    • den durch SGB IX und das BTHG definierten Anforderungen an eine umfassende Förderung gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe für teilhabebeeinträchtigte Menschen
    • sowie einer subjektiv wahrgenommenen Verbesserung der individuellen Lebenswirklichkeit für die betroffenen Menschen („Lebensqualität“).

    Wir erleben um uns herum eine Praxis der Teilhabeförderung, in der Maßnahmen v. a. nach dem Kriterium kurzfristiger Kosteneinsparung und entlang leistungsrechtlicher Grenzziehungen auf der Basis von Kennzahlen als Verwaltungsakte umgesetzt werden. Dabei werden die betroffenen Menschen zum zu fördernden und zu bewertenden Objekt und letztlich auch zum Störfaktor, weil diese Förderpraxis individuelles Scheitern und kostenträchtige Maßnahmenwiederholungen bei unserer Zielgruppe kaum verringert. Auch wenn wir aufgrund der kurzen  Projektlaufzeit noch keine handfesten Belege liefern können, sind wir nach unseren Erfahrungen aber weiter davon überzeugt, dass – unter Nutzung aller bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen und fachlichen Konzepte – eine konsequent an der Lebenslage der betroffenen Menschen und an ihren Entwicklungssehnsüchten orientierte Förderung/Reha-Maßnahme nicht teurer wäre als die bisherige Praxis, aber für die Teilnehmenden und für die Profis mehr Lebensqualität ermöglichen könnte. Wir brauchen dafür sicherlich neue persönliche Haltungen der Profis, aber wir brauchen auch grundlegende Interventionsansätze, die Handlungsfreiräume schaffen und dazu ermutigen, sich mit den hochkomplexen, natürlich auch widersprüchlichen und biografisch beeinträchtigten „Wirklichkeitskonstruktionen“ von Menschen in chronifizierter sozialer Exklusion auseinanderzusetzen mit dem Ziel einer für sie adäquaten Förderung.

    Was wäre für uns deshalb in einem weiterführenden Projekt wichtig?

    1. Die Praxis von Teilhabeförderung/Behandlung orientiert sich vielfach an linearen Kausalitätsmodellen, denen zufolge einzelne Störungen/Defizite zu Teilhabehemmnissen werden, die behoben werden sollen. Insbesondere die medizinische Suchtreha, die in ihren Anfängen als stationäre Reha ja einen Gegenentwurf zum Lebensalltag der Menschen erlebbar machen wollte, hat die Idee einer rehabilitativen „Befähigung“, die in einem hochspezialisierten Setting effizient vermittelt wird, gefördert. Dieses Modell hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die betroffenen Menschen in der Lage sind, die vermittelten Qualifizierungen/Kompetenzen auch eigenständig und möglichst umfassend in ihren identitätsstiftenden Lebensalltag und ihr Beziehungsnetz zu integrieren. Wenn wir im Kontrast dazu die Alltagsstrukturen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchtproblemen trotz all ihrer Beeinträchtigung auch als Überlebenshilfen sehen, dann wird klar, dass eigenverantwortete radikale Brüche und Veränderungen in diesem Alltag für diese Menschen kaum möglich und selten nachhaltig sind. Wir sind deshalb davon überzeugt davon, dass nachhaltige Teilhabeförderung für diese Zielgruppen nur in alltagsnahen und im Sozialraum verankerten Strukturen gelingen kann, auch um den Preis, dass individuelle Entwicklungen eben oft nur in kleineren Schritten und mit Brüchen möglich sind.
    2. Obwohl die Arbeit der ambulanten Suchthilfe in vielfacher Weise auf eine berufliche Reintegration ausgerichtet ist, versteht sich die Suchtberatung meist nicht als unmittelbar dafür verantwortlicher Akteur. Wenn aber nicht mehr nur die Suchtstörung, sondern deren chronifizierte Einbindung in eine umfassende Lebenslage Grundlage der Hilfen und einer Teilhabeförderung werden soll, dann reicht es nicht, wenn einzelne Fachkräfte in kleinen Projekten sich einem solchen Perspektivenwechsel stellen. In Baden-Württemberg, wo die Kommunen die Hauptfinanziers der Suchtberatung sind, müssen wir vielmehr Land und Kommunen für eine solche gemeinsame Fallverantwortung in der beruflichen Reintegration gewinnen, z. B. indem projektunabhängig die Effekte der Suchtberatung für eine berufliche Reintegration differenziert beobachtet und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden.
    3. Michael Bohne hat in seiner Arbeit sehr anschaulich ausgeführt, wie beschämende Erfahrungen hirnphysiologisch als vorrangige „Gefahreninformation“ abgespeichert werden und in der Folge manches positive Erleben überlagern. In seinen „Big Five der Lösungsblockaden“ beschreibt er Blockaden, die in einem sehr großen Ausmaß auch bei unseren Projekt-Teilnehmenden vorzufinden waren. In der Teilhabeförderung für Menschen in chronifizierten Lebenslagen muss es für uns darum gehen, solche beschämenden Erfahrungen des Scheiterns genauso zu vermeiden wie kurzfristige Erfolgserfahrungen, die die Betroffenen (noch) nicht als Selbstwirksamkeitserfahrung integrieren können, sondern als Glück, Zufall oder als überwiegend externe Unterstützung empfinden (vgl. Sußebach & Willeke, 2019). Wie in jedem guten Management brauchen wir auch für die Teilhabeförderung eine transparente und ehrliche Kultur der Fehlerfreundlichkeit, die Scheitern und Irrtum nicht ausblendet, aber dies als Markierung auf einem eigenverantworteten Entwicklungsweg versteht.
    4. Um solche veränderten Perspektiven plausibel und zu einer effizienten Arbeitsgrundlage werden zu lassen, ist nach unserer Erfahrung eine konsequente fallbezogene Leistungsvernetzung unter der Idee einer gemeinsamen Entwicklungsverantwortung unumgänglich. Bislang legitimiert sich jede Institution über eine abgegrenzte Handlungs- und Leistungsperspektive und wähnt sich in ihrer Abgegrenztheit als wirksamer Partner. Aber erst in einer fallbezogenen Leistungsvernetzung, in der die bestmögliche Förderung gemeinsam in den Blick genommen wird sowie die Möglichkeiten der beteiligten Institutionen und Personen eingefordert und die Grenzen berücksichtigt werden, kann sich eine Teilhabeförderung entwickeln, bei der die Chance auf eine realistische Unterstützung der bestehenden Entwicklungssehnsüchte und -ressourcen der betroffenen Menschen besteht.
    5. Im Projekt Su+Ber haben wir erlebt, wie viel Handlungsenergie im Projekt abgezogen wurde für die Klärung und Einhaltung formalistischer Vorgaben. Wenn Qualität und Effizienz nur noch an formalen Kennwerten gemessen werden, gehen Kreativität und bedarfsorientierte Flexibilität verloren und Entwicklungsförderung verkommt zum Versuch einer Dressur. Entwicklung braucht Zeit, braucht klare, reale Orientierungen, aber auch die Chance zu Irrtümern und Umwegen. In diesem Sinne wünschen wir uns eine Weiterführung von Erfahrungen wie aus unserem Projekt Su+Ber.

    „Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“ (Giovanni Maio, Medizinethiker)

    Weitere Informationen und Berichte aus dem Projekt:
    https://www.werkstatt-paritaet-bw.de/abgeschlossene-projekte/suber-sucht-und-beruf/
    (für die Berichte nach unten scrollen)

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind miteingeschlossen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr
    lesehr@paritaet-bw.de

    Textverweise (die Unterlagen sind über den Verfasser erhältlich):
    • Werkstatt Parität gGmbh: Rahmenkonzeption für eine bei ihrer Arbeitsorientierung leistungsvernetzte ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber. Stuttgart, 12/2016
    • Sara Specht, Karl Lesehr: Das Landes-ESF-Projekt Su+Ber: Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht. Beitrag zu den 24. Suchttherapietagen in Hamburg. 11.06.2019
    • Michael Bohne, Sabine Ebersberger: Synergien nutzen mit PEP. Heidelberg 2019 (Carl Auer-Verlag)
    • Interview mit Michael Bohne zu den Big Five Lösungsblockaden: https://www.youtube.com/watch?v=5i8i7bhGfZw
    • Henning Sußebach, Stefan Willeke: „Die Fee von Fulda“, in: DIE ZEIT 15/2019, 4.4.2019
    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr (70) war 18 Jahre als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er seit 2001 als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und ab 2009 beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der „Fachberatung Sucht“ im von ihm wesentlich initiierten ESF-Projekt Su+Ber hat er in den letzten Jahren noch das Landesprojekt VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung) verantwortet.

  • Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Frank Schulte-Derne
    Rita Hansjürgens
    Ulrike Dickenhorst
    Conrad Tönsing

     

    Einleitung

    Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).

    Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.

    Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)

    Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.

    Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.

    Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.

    Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.

    Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.

    Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.

    Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).

    Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.

    Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).

    Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie

    Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.

    Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.

    Angaben zu den Autoren:

    Frank Schulte-Derne
    Dipl.-Sozialpädagoge
    Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
    Vorsitzender der DG-SAS
    Frank.Schulte-Derne@lwl.org

    Rita Hansjürgens
    M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
    Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Ulrike Dickenhorst
    Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
    Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Conrad Tönsing
    Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
    Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.

    Literatur:
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2013): Vereinbarungen im Suchtbereich. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
    • Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
    • Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
    • Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
    • Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
    • Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im ersten Teil des Artikels (vom 11. Juli 2017) wurden die Schwachstellen des Versorgungssystems im Hinblick auf die Reintegration in Arbeit von abhängigkeitskranken Langzeitarbeitslosen als Hintergrund für die Entstehung des Projektes Su+Ber beschrieben. Im zweiten Teil wird nun das Projekt selbst vorgestellt. Im Rahmen des Projekts Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) haben Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitserkrankung in Baden-Württemberg seit Anfang 2016 die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Arbeitsfördermaßnahme ohne Abstinenzverpflichtung mit dem eigenen Suchtverhalten auseinanderzusetzen, soweit dieses eine berufliche Reintegration und eine soziale Teilhabe konkret beeinträchtigt oder gefährdet. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF).

    Zentrale Entwicklungsziele des ESF-Projekts Su+Ber

    Karl Lesehr

    Anstelle eines weiteren Abmühens an bestehenden sozialleistungsrechtlichen Abgrenzungen und an Schnittstellen, die den institutionellen Eigenlogiken entsprechen, wird in Su+Ber eine neuartige und konsequent nutzerorientierte Vernetzung von Jobcenter, Arbeitshilfeträger und Suchtberatung entwickelt. Dabei ist die Beratungsstelle als anerkannter Leistungserbringer der ambulanten Suchtrehabilitation an einer zeitlichen, örtlichen, personellen und fachlichen Vernetzung zweier teilhabeorientierter Sozialleistungen (Suchtreha und Arbeitsförderung) im Lebensalltag der langzeitarbeitslosen Menschen beteiligt. Durch diese Leistungsvernetzung wird für die Projektteilnehmer eine auch über den Zeitpunkt einer Arbeitsaufnahme hinausreichende Betreuungskontinuität ermöglicht. Durch projektspezifische Instrumente und durch standardisierte Bausteine der Zusammenarbeit soll erreicht werden, dass die beiden Leistungsträger jeweils ihre volle Leistungsverantwortung beibehalten, sich aber auch wie die beiden Leistungserbringer als Partner einer gemeinsamen Entwicklungsförderung verstehen und sich ungeachtet aller eigenen abgegrenzten Leistungszuständigkeiten auf eine gemeinsame Suche nach der im Einzelfall wirksamsten Förderungsoption einlassen.

    Kooperation kann nur dann funktionieren, wenn für alle Beteiligten auch Erfolge erkennbar werden: Das Projekt Su+Ber konzentriert sich deshalb ganz bewusst auf Langzeitarbeitslose, für die schon nach einer relativ kurzen und durch suchtrehabilitative Leistungen gestützten Arbeitsfördermaßnahme eine realistische Chance auf die Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz vermutet und dann realisiert werden kann. Als mögliche Zielgruppen wurden daher definiert:

    • Langzeitarbeitslose, die hinreichend stabil substituiert und an einer vollwertigen beruflichen Reintegration nachweislich interessiert sind,
    • Langzeitarbeitslose, die aufgrund gescheiterter Rehaerfahrungen oder auch persönlicher Entscheidung aktuell nicht zu einer abstinenzgebundenen Suchtrehamaßnahme fähig oder bereit sind (v. a. Alkohol), bei denen aber begründete Aussicht besteht, dass sie mit einem strukturierten Suchtmittelkonsum hinreichend arbeitsfähig und in der Lage sind, ihren Lebensalltag nachhaltig ohne suchtbedingte Krisen in den Griff zu bekommen,
    • langzeitarbeitslose Rehabilitanden aus einer (teil)stationären Suchtrehamaßnahme, die sich bereits für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben und für die eine Rückkehr in die vertraute soziale Umgebung wünschenswert ist, die aber nach ihrer regulären Entlassung noch nahtlos eine gezielte alltagsnahe Weiterbehandlung und Förderung für eine wirksame berufliche Reintegration brauchen,
    • langzeitarbeitslose Teilnehmer aus ambulanter Suchtreha, die sich zwar für eine Suchtmittelabstinenz entschieden haben, die aber im Rehaverlauf wiederholt Probleme bei der Aufrechterhaltung einer umfassenden Abstinenz hatten und die aktuell auch nicht für eine stationäre Suchtrehamaßnahme gewonnen werden können; diese Teilnehmer können dann in die arbeitsorientierte ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber übernommen werden, wenn trotz der Suchtmittelrückfälle während der ambulanten Reha eine erfolgreiche Weiterführung der Suchtrehabilitation im Rahmen des Projekts Su+Ber zu vermuten ist.

    Das Projekt Su+Ber geht davon aus, dass sich für eine derartige konkrete Arbeitsplatzperspektive vor allem Klienten gewinnen lassen, die bereits seit langem wiederholt oder kontinuierlich Betreuungsleistungen der Beratungsstelle nutzen oder die durch abstinenzgebundene Suchtrehamaßnahmen nicht wirksam im Erwerbsalltag stabilisiert werden konnten. Entscheidende Voraussetzung für das Projekt Su+Ber ist deshalb ein Konzept suchtrehabilitativer Leistungen, das sich konsequent an einer konstruktiven Bewältigung von Arbeitsrealität orientiert und bei dem eine Suchtmittelabstinenz nur eine mögliche (und oft auch wünschenswerte) Option im Umgang mit Suchtmitteln darstellt. Ziel der suchtrehabilitativen Arbeit im Projekt Su+Ber ist demnach die Entwicklung einer beschäftigungssichernden eigenen Problemwahrnehmung und Risikokompetenz, also einer der aktuellen Lebenslage entsprechenden Selbststeuerungskompetenz und -bereitschaft.

    Konzeptionelle Umsetzung des ESF-Projekts Su+Ber

    Für diese Projektideen konnte im Förderaufruf NaWiSu im Herbst 2015 die Unterstützung der Landespolitik, aber auch der Regionaldirektion für Arbeit und der DRV Baden-Württemberg gewonnen werden. Mit sechs Standorten konnte das Projekt Su+Ber zum Jahresbeginn 2016 starten. Beteiligt sind sechs Jobcenter (davon drei von Optionskommunen), sechs federführende Suchtberatungsstellen (die sich im Vorfeld mit anderen Suchtberatungsstellen im regionalen Einzugsgebiet auf eine gemeinsame Nutzung dieses Projekts verständigt hatten) und sechs an diesem Projekt interessierte Arbeitshilfeträger. Projektträger ist die Werkstatt Parität Stuttgart. Die zunächst aus haushaltstechnischen Gründen auf zwei Jahre begrenzte Projektlaufzeit wird nach aktuellem Stand wohl bis Ende 2018 auf dann drei Jahre verlängert werden, um so auch sinnvolle erste Entwicklungsdaten gewinnen zu können.

    Im Projekt werden aus Landesmitteln nur die Suchtberatungsstellen (Aufwand für 0,8 Vollzeitkräfte) und der Projektträger gefördert; für die Arbeitsfördermaßnahmen wurden im Projektaufruf vergleichsweise günstige Personalschlüssel definiert, die eine intensive Kooperation ermöglichen sollen und von den beteiligten Jobcentern voll finanziert werden. Die DRV Baden-Württemberg fördert die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch das Institut für Therapieforschung München (IFT). Die Entwicklung der notwendigen Rahmenkonzeption für eine projektspezifische ambulante Suchtreha sowie die Einbindung der projektbezogenen Evaluation in die Systematik der Deutschen Suchthilfestatistik wurden ergänzend einmalig vom Suchtreferat des Sozialministeriums gefördert.

    Das Projekt sieht für die Teilnehmer drei Projektphasen vor:

    • In der Phase A (Clearing) bemühen sich die beteiligten Einrichtungen um die Gewinnung und Motivierung von Projektteilnehmern (Grobclearing, Erarbeitung einer persönlichen Entwicklungsperspektive). Dies erfolgt zunächst in den jeweils eigenen Handlungsfeldern und mündet im gemeinsamen prognostischen Verfahren eines Grobclearings, bei dem alle mit dem potentiellen Projektteilnehmer persönlich befassten Kontaktpersonen eine Einschätzung abgeben sollen (also Jobcenter, Beratungsstelle, Arbeitshilfeträger, Substitutionsarzt, Bewährungshelfer o. ä.). Das Grobclearing dient der für jede Sozialleistung erforderlichen prognostischen Einschätzung der aktuell nutzbaren Fähigkeiten und Ressourcen. Es muss zwingend ergänzt werden um eine Klärung der persönlichen Entwicklungsperspektiven und der Teilhabebereitschaft. Die Ergebnisse dieses umfassenden Grobclearings bilden die Grundlage einer gemeinsam abgestimmten Behandlungs- und Maßnahmenempfehlung gegenüber der DRV Baden-Württemberg bzw. dem Jobcenter. Um schon in dieser Phase der Teilnehmergewinnung die Erfahrungen an einem konkreten Arbeitsplatz motivationsklärend nutzen zu können, wurde im Projektverlauf die Möglichkeit geschaffen, dass potentielle Projektteilnehmer quasi auf Probe dem Arbeitshilfeträger für eine Arbeitsfördermaßnahme zugewiesen werden und dass dann in diesem Setting alle weiteren Clearingaktivitäten erfolgen.
    • Die Phase B (Training, Entwicklung) besteht aus der Integration einer sechs- bis achtmonatigen Maßnahme der Arbeitsförderung und einer Maßnahme der projektspezifischen ambulanten Suchtreha. Die Teilnahme ist nur möglich, wenn die Teilnehmer sich freiwillig für diese Leistungsvernetzung entscheiden und mit dem Projektkonzept einverstanden sind. Im Projekt Su+Ber wird zudem eine personelle Verflechtung zwischen der Suchtberatung und dem Sozialdienst des Arbeitshilfeträgers angeregt, die Arbeitsfördermaßnahme sollte regelmäßig auch vor Ort suchtkompetent begleitet und beobachtet werden (sechs bis acht Wochenstunden). Die Leistungen der ambulanten Suchtreha sollen dabei bestmöglich in die Arbeitsplatzstruktur und in den Lebensalltag der Teilnehmer eingebunden sein und hier v. a. einen konfrontierend-stützenden Charakter haben: Ziel ist es, die Kompetenz der Teilnehmer, ihre arbeitsplatzrelevanten Risiken und Schwächen zu erkennen, zu fördern und die Teilnehmer dann gezielt bei konstruktiven Verhaltensmustern zu unterstützen.Nach den ersten acht Wochen in Phase B wird das Grobclearing wiederholt; dabei sollen sowohl das aktuelle Reintegrationsziel als auch der dafür gewählte Weg über das Projekt Su+Ber überprüft und bei Bedarf zusammen mit dem Teilnehmer Entscheidungen zur Veränderung der individuellen Entwicklungsplanung getroffen werden. Bis zum Ende der sechs- bis achtmonatigen Arbeitsfördermaßnahme soll eine Vermittlung an einen sozialversicherungspflichtigen eigenen Arbeitsplatz intensiv versucht und über Betriebspraktika unterstützt werden.Bei einer vorzeitigen Beendigung der Projektteilnahme nach dem zweiten Grobclearing oder auch bei einer Beendigung ohne erfolgreiche Vermittlung an einen eigenen Arbeitsplatz findet eine abschließende Auswertung statt, in der der Teilnehmer von allen Beteiligten eine differenzierte Bewertung der mit ihm gemachten Erfahrungen erhält. Gemeinsam wird dann nach anderen, möglicherweise wirksameren, Fördermöglichkeiten und Behandlungsformen oder nach anderen aktuell vorrangigen Interventionsformen gesucht; entsprechende Maßnahmen werden möglichst unmittelbar im Kontext der Leistungsvernetzung eingeleitet. Grundhaltung bei all diesen Bemühungen ist, dass eine Maßnahme zwar vielleicht nicht zum gewünschten Ergebnis geführt und der Teilnehmer möglicherweise bislang unbekannte Entwicklungsbedarfe entdeckt hat, dass aber eine vorzeitige Beendigung oder eine Beendigung ohne Arbeitsplatzvermittlung nicht automatisch schon als Versagen oder Scheitern des Teilnehmers wahrgenommen wird.
    • In der Phase C (nachhaltige Stabilisierung der Arbeitsreintegration) hat der Teilnehmer im Regelfall einen eigenen Arbeitsplatz und kann dann für weitere zwölf Monate eine intensive suchtrehabilitative Begleitung und Stabilisierung seiner alltäglichen Arbeits- und Lebenssituation nutzen, auch direkt am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. In diese Weiterbetreuung können im Interesse von Beziehungskontinuitäten auch Fachkräfte des Arbeitshilfeträgers integriert werden.

    Erfahrungen und Ergebnisse aus dem ersten Projektjahr 2016

    An allen Projektstandorten wurden zwischen den beteiligten Akteuren verbindliche und regelmäßige (teilweise monatlich) fallbezogene Arbeitsformen aufgebaut, die von den Beteiligten durchweg als lohnend und hilfreich erlebt werden: In der fallbezogenen Vernetzung geht es nicht mehr nur um Informationsaustausch, sondern zunehmend darum, wie nächste Schritte für einen konkreten Menschen gemeinsam wirksam gestaltet werden können. Vor allem die für das Projekt an mehreren Standorten definierten ‚Scharnierverantwortlichen‘ in den Jobcentern werten diese Netzwerkstrukturen als sehr hilfreich und trotz hoher Sitzungsdichte erstaunlich effizient. Während sich die beteiligten Jobcenter meist relativ leicht über die Beauftragung solcher institutioneller Bezugspersonen für das Projekt Su+Ber verständigen konnten, erwies sich eine vergleichbare Verankerung in den beteiligten Suchtberatungsstellen und v. a. auch in kooperierenden anderen Suchtberatungsstellen teilweise als strukturell mühsam und sogar konflikthaft.

    An einzelnen Standorten gab es durch das Projekt Su+Ber erstmals mehr als nur punktuelle Gesprächskontakte zwischen Suchtberatung und Arbeitshilfeträgern. Das Eintauchen in die Denkvorstellungen und in die Handlungswirklichkeiten der jeweils anderen Seite bedeutet natürlich auch Verunsicherung, wird aber vielerorts als Neuland erlebt, in dem auch bislang unbekannte Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Klienten/Kunden gestaltet werden können. Allein schon die eigenen Suchtklienten außerhalb des Beratungszimmers in einer vergleichsweise normalen Alltagssituation mit all ihren Implikationen erleben zu können, kann Horizonte öffnen.

    Mit dem relativ einfachen Instrument des Grobclearings wurde eine effiziente Form gefunden, in der sich die verschiedensten Akteure trotz aller fachlichen und menschlichen Unterschiede in eine gemeinsame Entwicklungsplanung einbringen und gleichzeitig von den Einschätzungen anderer profitieren können. Nicht zuletzt ist die gemeinsame Bearbeitung dieses Grobclearings für die Teilnehmer selbst eine sehr differenzierte und letztlich stärkende Beziehungserfahrung – sie können im Idealfall ein entwicklungsorientiertes persönliches Beziehungsnetz erleben.

    Gleichzeitig wird über das Projekt Su+Ber auch deutlich, wie ‚behandlungsfixiert‘ in den beteiligten Suchtberatungsstellen teilweise noch gearbeitet wird. Aus den ersten Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung ging hervor, wie wenig die Frage einer konkreten Reintegration in Arbeit beispielsweise bei der Rehagesamtplanung und Rehavermittlung bislang schon berücksichtigt wird oder auch wie selten solche Rehaplanungen nicht nur das Ergebnis eines individualisierten Beratungsprozesses sind, sondern auch die differenzierte Expertise eines ganzen Teams einbeziehen.

    Ähnliches gilt für die Fachkräfte der Arbeitshilfeträger, die ja auch in vielen sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen mit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen konfrontiert sind und deshalb notgedrungen oft sehr pragmatisch-kurzfristige Problemlösungen im Umgang mit diesen Menschen entwickelt haben. Jetzt in der Auseinandersetzung mit suchtkompetenten Kollegen zu entdecken, dass deren zentrales Handwerkszeug eine reflektierte und methodisch geschulte Beziehungsarbeit ist, hilft diesen Fachkräften, einen umfassenderen Blick auf die Lebenslage und damit auf die Entwicklungsoptionen und Förderungsbedarfe des einzelnen Teilnehmers zu finden.

    Zu Projektbeginn hat sich die Projektgruppe intensiv mit dem Institut für Therapieforschung München (IFT) über Möglichkeiten und Details einer wissenschaftlichen Evaluation verständigt. Ziel war es, für alle standardisierten Evaluationsdaten die EDV-gestützte Datenerhebung für die Deutsche Suchthilfestatistik zu nutzen und deshalb alle weiteren für das Projekt notwendigen teilnehmerbezogenen Daten auch darüber zu erheben. Nachdem der Verfasser dieses Artikels als Mitglied des Fachausschusses Statistik der DHS damals unmittelbar in die Überarbeitung des Kerndatensatzes Sucht eingebunden war und zudem in Baden-Württemberg vom Sozialministerium mit der Erweiterung des KDS 3.0 um einen landesspezifischen Datensatz und dessen Implementierung in die Dokusoftware beauftragt war, waren hier zahlreiche Synergieeffekte möglich.

    Im bisherigen Projektverlauf mussten die Initiatoren lernen, dass zahlreiche Klienten (v. a. Substituierte), die nach Einschätzung der betreuenden Beratungsstelle durchaus für eine Projektteilnahme geeignet und daran auch interessiert wären, viel stärker in ihrem aktuellen (eben auch arbeitslosen) Lebensstil verankert sind, als sie sich bislang wohl selbst eingestanden hätten. Es wird verstärkt deutlich, dass vielerorts das Behandlungskonzept der Drogensubstitution immer weniger mit der Perspektive einer Verbesserung beruflicher Teilhabe verbunden ist: Für viele Mitarbeiter in der Suchthilfe und angrenzenden Gebieten impliziert das Bemühen um die Aufnahme einer Arbeit den Ausstieg aus der Substitutionsbehandlung (was auch die Premos-Studie – aber als eher problematisch – skizziert, vgl. Wittchen et al., 2011). Gleichzeitig wurde deutlich, dass für eine wirksame Motivierung für eine berufliche Reintegration eben nicht nur der einzelne Patient/Klient, sondern eben auch verstärkt die subjektiven Realitäten des familiären und sozialen Umfelds einbezogen werden müssen.

    Für den Verfasser als fachlichen Begleiter des Projekts Su+Ber war und ist die schönste Erfahrung, dass immer wieder Projektmitarbeiter in der Suchtberatung begeistert entdecken, welche Gestaltungsfreiräume sich für sie in ihrer Arbeit mit dem Projekt auftun. Natürlich ist dieses Projekt mit einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit verbunden, und natürlich stellen sich in einem solchen Vernetzungsprojekt zahlreiche Fachfragen und auch datenschutzrechtliche Unsicherheiten. Gemeinsam wurden aber bislang für alle diese Fragen konstruktive und alltagstaugliche Lösungen gefunden. Dennoch muss allen Beteiligten klar bleiben, dass niemand für alle Situationen und alle individuellen Bedarfe von Hilfe Suchenden eine passende Problemlösung bereitstellen kann – schon gar nicht im Rahmen eines Modellprojekts, das die Ergebnisse ganz spezifischer Lösungswege sauber evaluieren will.

    Konzeption für eine ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber

    Zentrales Arbeitsergebnis aus dem ersten Projektjahr ist die intensive Erarbeitung einer Rehakonzeption für das Su+Ber-Projekt, die zum Jahresende 2016 auch von der DRV Baden-Württemberg anerkannt wurde. Mit dieser Konzeption gewährt die DRV Baden-Württemberg für das Projekt Su+Ber zahlreiche Entwicklungsfreiräume. Dafür ist die Projektgruppe dankbar und sie ist stolz zugleich, denn es war auch in der Projektgruppe Mut notwendig, um in diesem Maß über bewährte Formen hinaus zu denken und dennoch die gewohnte Leistungsqualität ambulanter Suchtreha nicht aus dem Blick zu verlieren. Viele dieser Entwicklungsfreiräume gilt es nun im weiteren Projektverlauf teilnehmerorientiert und kreativ zu nutzen und zu gestalten – immer mit Blick auf eine wirksame und nachhaltige Reintegration in Arbeit und die darauf orientierte Evaluation der Projektarbeit. Im Folgenden werden wesentliche Innovationen dieser Rehakonzeption dargestellt:

    • Für die ambulante Suchtreha im Projekt Su+Ber wurden die möglichen Zielgruppen (Indikationskriterien) erweitert, es besteht keine Abstinenzvoraussetzung und auch keine zwingende Abstinenzperspektive – zentrales suchtrehabilitatives Kriterium ist vielmehr eine stabile berufliche Reintegration bei dafür notwendiger Reduktion bzw. Auflösung suchtassoziierter Risiken.
    • Die DRV Baden-Württemberg ist bereit, die Ergebnisse des leistungsträgerübergreifenden und interdisziplinären Grobclearings als wesentlichen Baustein der für eine Leistungszusage notwendigen Erfolgsprognose zu nutzen. Analog dazu werden auch projektbezogene Entscheidungen zur vorzeitigen Beendigung einer Projektteilnahme von der DRV für die bewilligte Suchtrehamaßnahme übernommen (im Regelfall endet mit der Projektteilnahme also auch die ambulante Suchtreha, sofern nicht gemeinsam mit dem Rehabilitanden die Weiterführung in einer anderen Suchtrehaform vereinbart wurde).
    • Im Projekt Su+Ber sollen geeignete Verfahren zur Erarbeitung teilhaberelevanter persönlicher Entwicklungsziele und -bereitschaften entwickelt werden, auf deren Grundlage die Nutzung unterschiedlicher Rehaformen wirksamer gesteuert werden könnte.
    • Für die auf eine unmittelbare Arbeitsintegration orientierte ambulante Suchtreha wurden vorläufig sieben suchtrehabilitative Entwicklungsdimensionen formuliert, die für die Fachkräfte sowie für den einzelnen Teilnehmer eine verständliche Grundlage für die jeweiligen in einer Rehagesamtplanung zu vereinbarenden suchtrehabilitativen Leistungen sein sollen. Die Verfasser der Konzeption erhoffen sich von einer konsequenten Zuordnung aller suchtrehabilitativen Leistungen zu diesen sieben Dimensionen, dass darüber auch eine qualitative Professionalisierung der entsprechenden suchtrehabilitativen Kompetenzen der Fachkräfte in der Suchtberatung/ambulanten Suchtrehabilitation erleichtert werden kann.
    • Die ersten Erfahrungen mit den Projektteilnehmern haben rasch gezeigt, dass die vertrauten Arbeitsformen ambulanter Suchtreha bei ihnen auf wenig Gegenliebe und teilweise sogar auf offene Ablehnung stoßen. Manche Teilnehmer wären z. B. mit den üblichen Gruppensitzungen weitgehend überfordert. Sehr positiv ist deshalb, dass sich die DRV Baden-Württemberg darauf eingelassen hat, für die Arbeit im Projekt Su+Ber statt der sonst verbindlichen Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) projektspezifische Leistungskategorisierungen zuzulassen und zu erproben. Der von der Projektgruppe entwickelte Katalog suchtrehabilitativer Leistungen im Projekt Su+Ber gliedert sich auf der ersten Ebene in sieben Inhaltsdimensionen und ordnet diesen dann auf einer zweiten Ebene Leistungsarten zu (jeweils etwa zehn Maßnahmen mit dem einzelnen Teilnehmer bzw. mit einer Gruppe oder im sonstigen sozialen Kontext). Diesen damit inhaltlich und formal definierten Maßnahmen werden dann Zeiteinheiten in 10-Minuten-Schritten zugeordnet. Mit dieser Variabilität von Zeit und der Unabhängigkeit der Leistungsarten von Therapieschulen sollen auch kleinteilige Interventionsformen ermöglicht werden, die im Setting der Arbeitsfördermaßnahme oder im Alltag von den Teilnehmern gut umgesetzt werden können. Für eine Leistungsabrechnung werden solche kleinteiligen Zeiteinheiten dann zu den für die ambulante Suchtreha geltenden Abrechnungseinheiten zusammengefasst.
    • Während sich in den letzten Jahren v. a. in der stationären Suchtrehabilitation das Spektrum arbeitsbezogener Suchtrehaleistungen deutlich ausdifferenziert hat, geht das Projekt Su+Ber bei seiner Leistungsvernetzung davon aus, dass alle unmittelbar auf die Arbeitsintegration bezogenen Förderleistungen in der vorrangigen Leistungszuständigkeit des SGB II bleiben. Für Leistungen wie z. B. das Bewerbungstraining wird die Suchtreha deshalb im Regelfall nur supportiv einbezogen, um dabei die spezifischen Probleme und Risiken, die aufgrund einer Abhängigkeitsstörung bestehen, zu thematisieren.
    • Für das Projekt Su+Ber besteht von Seiten der DRV Baden-Württemberg sowohl die Bereitschaft zu den im Projektverlauf notwendig kurzfristigen Leistungsentscheidungen als auch zu einer Langfristigkeit für die im Projektverlauf konzipierte Gesamtbetreuungszeit (inklusive einer gegebenenfalls für die Absicherung der vollen Projektlaufzeit noch erforderlichen Suchtrehanachsorge). Gleichzeitig besteht die Bereitschaft, einen Übergang in das Projekt Su+Ber aus anderen (abstinenzorientierten) Rehaformen bei fachlicher Begründung und einer Mitwirkungsbereitschaft des Rehabilitanden zeitnah zu ermöglichen.

    Nach den erwartbaren anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur bei der Teilnehmergewinnung, sondern auch bei der konkreten Umsetzung des Projekts im ersten Projektjahr sind die Initiatoren wirklich neugierig darauf, welche differenzierten ersten Ergebnisse und Bewertungen der Projektarbeit sie vom IFT in den nächsten Wochen und Monaten als externes Feedback erwarten dürfen.

    Literatur beim Verfasser. Alle im Text erwähnten projektbezogenen Unterlagen sind als Datei über den Verfasser erhältlich.

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Das Projekt „Chancen und Wege“

    Das Projekt „Chancen und Wege“

    Clarissa Abromeit
    Monika Schnellhammer

    Hinter Langzeitarbeitslosigkeit verbirgt sich oft auch eine Suchtproblematik. Diese Erkenntnis brachte das Jobcenter und den Caritasverband in Osnabrück zusammen an einen Tisch. Heraus kam das erfolgreiche Kooperationsprojekt „Chancen und Wege“, das mittlerweile seit fünf Jahren läuft. Die Teilnehmer/ innen des Programmes sind Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. „Chancen und Wege“ unterstützt sie mittels Arbeitsmöglichkeiten und sozialpädagogischer Betreuung dabei, sich Schritt für Schritt auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten und Vermittlungshemmnisse abzubauen.

    Der problematische Konsum von Suchtmitteln, verhaltensbezogene Störungen, Komorbiditäten und psychische Erkrankungen sind Hemmnisse, die die (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsbezug verhindern können. Für Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen findet zu wenig adäquate Förderung statt, um Vermittlungsergebnisse und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation zu erzielen. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch das Jobcenter Osnabrück im Zuge der Umsetzung des SGB II. Die persönlichen Ansprechpartner/innen des Jobcenters sowie die Fallmanager/innen vermitteln zwar erfolgreich in Arbeit, jedoch ist es ihnen aufgrund ihrer hohen Fallzahlen nicht möglich, ihre Kunden so intensiv wie in einer Maßnahme zu begleiten. Außerdem wurde eine Suchtproblematik als wichtiges Thema vieler Arbeitsuchender erkannt.

    Gemeinsames Ziel: Stabilität schaffen durch Struktur

    Aus diesen Gründen schrieb das Jobcenter über das Regionale Einkaufszentrum Nord eine Maßnahme aus, welche folgende Inhalte aufweisen sollte: Die Maßnahme sollte tagesstrukturierend sein, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, zielgruppenspezifische Angebote umfassen und eine intensive Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse ermöglichen. Mitarbeiter der Suchtberatung des Caritasverbandes in Osnabrück erarbeiteten daraufhin ein Konzept, das explizit diese Zielgruppe mit den entsprechenden Vermittlungshemmnissen erreichen sollte. Durch die suchtspezifische Fachlichkeit, die Nähe zur Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation, aber auch zu anderen Fachbereichen und Kooperationspartnern, sollte der Zugang erleichtert werden, und Schwellenängste der Teilnehmenden sollten verringert werden. Nicht allein die Preiskalkulation, sondern die Qualität der Maßnahme stand dabei im Vordergrund. Der Caritasverband Osnabrück bekam den Zuschlag zunächst für ein Jahr. Inzwischen läuft die Maßnahme im fünften Jahr nach der dritten Ausschreibung, diesmal voraussichtlich bis 2019.

    Das so zustande gekommene Projekt „Chancen und Wege“ (CuW) ist eine Maßnahme zur Aktivierung und Stabilisierung von erwerbsfähigen Erwachsenen nach § 16 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die Teilnehmenden im Alter von über 25 Jahren weisen zahlreiche Vermittlungshemmnisse auf. Ziele der Maßnahme sind die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung der Vermittlungshemmnisse und die Heranführung der Teilnehmenden an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Im besten Fall gelingt nach der Aktivierung und Stabilisierung die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die weiterbegleitet und nachbetreut werden kann.

    An der Maßnahme „Chancen und Wege“ haben seit 2012 247 Personen teilgenommen. Davon konnten 227 Teilnehmende aktiviert werden. Das heißt, je nach Vermittlungshemmnis wurden gemeinsam individuelle Zielvereinbarungen erstellt, und die Teilnehmenden wurden zu weiterführenden Fachstellen begleitet. Hierbei kann es sich um Schuldnerberatung, Wohnungscoaching, Ambulant betreutes Wohnen, Integrationsfachdienst, Rechtliche Betreuung, Ambulante Assistenz oder fachärztliche Behandlungen handeln.

    Seit Juli 2014 wird die Maßnahme gemeinsam in Bietergemeinschaft mit der Dekra Akademie GmbH an einem gemeinsamen Standort durchgeführt. Sowohl die Möglichkeiten der praktischen Erprobung als auch die Netzwerke innerhalb der Dekra Akademie bieten den Teilnehmenden mehr Optionen für ihre beruflichen Perspektiven.

    Voraussetzungen für die Bewerbung und Durchführung sind die Trägerzertifizierung und die Maßnahmezulassung nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung). Das AZAV-Zulassungsverfahren für Träger und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung soll die Qualität der Dienstleistungen nachhaltig verbessern sowie Vergleichbarkeit und Transparenz unter den Dienstleistern herstellen. Die Maßnahme wird jährlich extern auditiert.

    Aufbau des Programms

    „Chancen und Wege“ verfügt über 44 Teilnehmerplätze. Das Jobcenter schließt mit den Teilnehmenden eine Eingliederungsvereinbarung über die Teilnahme bei CuW und vereinbart eine gegenseitige Schweigepflichtsentbindung. Am Ende der Zuweisungsdauer erstellt die zuständige Sozialpädagogin einen Abschlussbericht über den Maßnameverlauf. Dies ist für den Fallmanager im Jobcenter hilfreich, damit weitere Handlungsschritte geplant werden können.

    Die Teilnehmenden werden in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten zu Beginn der Maßnahme einen Wochenplan (s. Abb. 2). Jede Gruppe erscheint an drei Tagen pro Woche für insgesamt mindestens 15 Stunden. Davon finden an zwei Tagen Lernmodule zum Training sozialer Kompetenzen, Gesundheitsförderung und Bewerbungscoaching statt. Zudem begeben sich die Teilnehmenden selbstständig auf Stellensuche und aktualisieren ihre Bewerbungsunterlagen. Einmal pro Woche bereiten sie gemeinsam ein gesundes Frühstück zu. Am Praxistag werden vier Gewerke (Holz, Metall, Lagerlogistik und Handel) angeboten. Die Teilnehmenden werden dazu angeregt, gemeinsam als Gruppe Projekte zu planen und umzusetzen. So stellen sie kleine Möbel und Gegenstände für den Gemeinschaftsbereich sowie nützliche Utensilien für den Eigengebrauch her. Weitere Arbeitserprobungen erfolgen bei begleiteten Praktika in externen Betrieben. Die Qualifizierungsmodule im EDV-Bereich festigen bestehendes Wissen und vertiefen es, ein Zertifikat wird nach erfolgreicher Teilnahme ausgestellt.

    Abb. 2: Beispiel für einen Wochenplan

    Kooperation zwischen „Chancen und Wege“ und Fachambulanz

    Die Teilnehmenden werden individuell über Angebote der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation des Caritasverbandes Osnabrück informiert. Die Vermittlung und Begleitung erfolgt über die zuständige Sozialpädagogin. So werden Berührungsängste verringert und Erstkontakte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen CuW und Fachambulanz gelingt oftmals ein erfolgversprechender Prozess für die Teilnehmenden. Viele werden im Verlauf der Maßnahme der Beratungsstelle zugeführt. Langfristig konnten Beratungs- und therapeutische Settings in der Fachambulanz bei gut einem Viertel der Teilnehmenden etabliert werden.

    Auch nach einer erfolgreich beendeten Rehabilitation hat sich die Kooperation zwischen Fachambulanz und CuW als effektiv erwiesen. Das bedeutet, auch Personen in der Adaption, der ambulanten Behandlung oder Nachsorge können an CuW teilnehmen, um die in der Rehabilitation erlernten Schritte im Alltag umzusetzen. Gerade hier sind Strukturen und berufliche Perspektiven wichtig, um langfristig konsumfrei zu leben. Die Grundlagen für eine dauerhafte Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft können über diesen Weg geschaffen werden. Abbildung 3 stellt die Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“ dar.

    Netzwerkarbeit im Projekt „Chancen und Wege“

    Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung

    Neben den persönlichen Einzelgesprächen und dem Jobcoaching ist die Teilnahme am SKOLL-Training möglich. Dies wird in regelmäßigen Abständen angeboten. Die Ergebnisse der Maßnahme lassen die Überzeugung zu, dass die Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung bei der Wiedereingliederung in den Erwerbsbezug zu erheblichen Verbesserungen führen kann. Mit SKOLL im Settingansatz kann hier ein effektiver Beitrag geleistet werden.

    Das SKOLL Training beinhaltet zehn Trainingseinheiten, in denen es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtmittel bei riskantem Konsumverhalten geht. Im Mittelpunkt der Arbeit steht weniger die Abstinenz als die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Ziel des Trainings ist es, den Konsum zu stabilisieren, zu reduzieren oder ganz einzustellen. Der Umgang mit Suchtdruck und sozialem Druck wird geübt, Stressbewältigung gelernt und ein Krisenplan erarbeitet. So werden Veränderungsprozesse bei riskant konsumierenden Menschen eingeleitet, und die Arbeitsfähigkeit wird wiederhergestellt.

    Diese vielfältigen Ansätze und Angebote werden gerne genutzt, die Teilnehmenden fühlen sich in der Regel durch die Maßnahme gut begleitet. Dies wird in regelmäßigen Abfragen zur Kundenzufriedenheit und durch den monatlichen Austausch mit den „Maßnahmepatinnen“ des Jobcenters deutlich.

    Die sozialpädagogische Begleitung

    Die sozialpädagogische Begleitung ist  das Herzstück der Maßnahme. Es finden regelmäßig Einzelgespräche statt, um die individuellen Vermittlungshemmnisse zu thematisieren und sie mithilfe von Zielvereinbarungen und durch Unterstützung zu verändern. In einem Aktivierungs- und Fortschrittsplan werden der Gesprächsverlauf und die Zielsetzungen für den Teilnehmer dokumentiert.

    Die Förderung der sozialintegrativen Aktivitäten nimmt einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Kompetenzen wie Selbsteinschätzung und die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wie auch lebenspraktische Fertigkeiten wie Verlässlichkeit, Selbstorganisation und äußeres Erscheinungsbild sind wichtige Faktoren bei der Arbeitsplatzsuche. Die Teilnehmenden lernen, dem Tag wieder eine Struktur zu geben, sich für eine Sache oder ein Projekt zu begeistern. Soziale Kompetenzen, wie z. B. im Team zielorientiert zusammenzuarbeiten, Konflikte konstruktiv zu lösen und die Meinung des anderen zu respektieren, können entwickelt und vertieft werden. Teilnehmende bringen ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und beruflichen Kenntnisse für ihr Team ein. Eine besondere Aktivierung und Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung wird über die „Kompetenzbilanz“, ein ressourcenaktivierendes Coachingverfahren, erzielt.

    Häufig werden bei Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblematik neben den substanz- und verhaltensbezogenen Auffälligkeiten weitere Vermittlungshemmnisse festgestellt wie geringe Sozialkompetenz, mangelhafte oder fehlende fachliche Qualifizierungen, fehlende Schulabschlüsse und Ausbildungen, wenig ausgebildete Grundfertigkeiten sowie eine fehlende Tagesstruktur. Weitere gesundheitliche Probleme wie Hepatitis oder Herz- und Kreislauferkrankungen, verbunden mit fehlender Krankheits- und Problemeinsicht, gehen häufig mit stark beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und mangelnder Motivation einher. Aber auch eingeschränkte Mobilität durch den Verlust oder das Fehlen eines Führerscheins oder finanzielle Schwierigkeiten stellen für viele Personen der Zielgruppe große Hemmnisse dar.

    Weitere Eingliederungshemmnisse dieser Zielgruppe können auch eine unkontrollierte Substitutionsbehandlung und die Nichteinhaltung von Auflagen sein, Probleme in und mit der Familie wie frühe Elternschaft, Trennung und/oder Scheidung, Tod eines Familienangehörigen oder Partners, Gewalt in der Familie und Erziehungsschwierigkeiten. Kaum erlebte (positive) Erfahrungswerte auf dem ersten Arbeitsmarkt, verbunden mit mangelnder Kenntnis von Arbeitstugenden und Perspektivlosigkeit, kennzeichnen die Zielgruppe.

    Abbau von Hemmnissen erhöht Jobchancen

    Im Durchschnitt wurden im letzten Maßnahmejahr zehn Vermittlungshemmnisse bei den Teilnehmenden festgestellt. Die zügig in den ersten Arbeitsmarkt vermittelten Personen wiesen demgegenüber durchschnittlich nur 7,5 Hemmnisse auf. Aufgrund der Fallzahlen kann nicht von einer statistischen Signifikanz ausgegangen werden. Aber die Ergebnisse können als Hinweis interpretiert werden, dass der Abbau von Hemmnissen die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich erhöht.

    Eine erfolgreiche Vermittlung wurde durch die regelmäßige Ansprache von Arbeitgebern durch die Jobcoaches der DEKRA Akademie GmbH initiiert. Dabei werden die Vermittlungsprozesse selbst häufig durch vorausgehende Arbeitserprobungen eingeleitet. Mit den Teilnehmern, die in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, kann eine Nachbetreuungsvereinbarung geschlossen werden. Sie umfasst regelmäßige Gespräche über die Entwicklung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Situation.

    Die enge Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Osnabrück, insbesondere den „Maßnahmepatinnen“ im Fallmanagement, mit den persönlichen Ansprechpartnern und den Mitarbeitenden im Arbeitgeberservice hat sich sehr bewährt. Die vielfältigen Kooperationen tragen zu einem guten Ergebnis zugunsten der Förderung der Teilnehmenden in der Maßnahme „Chancen und Wege“ stark bei.

    Fallbeispiel Herr Z

    Herr Z ist Teilnehmer der Maßnahme „Chancen und Wege“. In seiner Biographie spielte das Thema Alkohol schon seit der Kindheit eine Rolle. Er hat den Hauptschulabschluss gerade eben noch geschafft. Die Arbeitsbiographie ist geprägt von diversen Helfertätigkeiten und Gelegenheitsjobs. Zwischendurch kam es immer wieder zu Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund fehlender Motivation und einer Alkoholabhängigkeit. Neben den geringen beruflichen Kenntnissen bestehen aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums gesundheitliche Beschwerden (kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen im rechten Arm) und hohe Schulden. Weiterhin besteht die Gefahr einer sozialen Exklusion. Nach eigenen Angaben fällt es ihm schwer, außerhalb der Szene Kontakte zu knüpfen. Er ist mittleren Alters und möchte seine Rentenansprüche aufbessern. Es geht hier exemplarisch also um folgende Vermittlungshemmnisse:

    • Gesundheitliche Einschränkungen aufgrund einer Suchterkrankung
    • Hohe Schulden
    • Geringe berufliche Kenntnisse

    Herr Z ist motiviert und nimmt pünktlich und zuverlässig an der Maßnahme teil. Seine kognitiven Fähigkeiten sind ausbaufähig. Seine Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind schwach ausgeprägt, und er wirkt schnell überfordert. Es ist schon längere Zeit her, dass er konzentriert Aufgaben bearbeiten sollte. Durch Gedächtnistraining, Lesen in der Gruppe und selbstständige Bearbeitung von Arbeitsblättern wird er angeregt, diese Fähigkeiten zu trainieren.

    Im Verlauf der nächsten Wochen wird mit Herrn Z der Aktivierungs- und Integrationsfortschrittsplan erstellt. Hier werden die verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, soziales Netzwerk, Arbeit und Ausbildung, Finanzen und Wohnung besprochen. Auch ist es wichtig zu erfassen, ob bereits Unterstützung und Netzwerke an anderer Stelle bestehen (Kontakt zur Suchtberatung, Selbsthilfegruppe, ambulante Assistenz etc.). Gemeinsam verschaffen sich die Sozialpädagogin und Herr Z einen Überblick zu Unterstützungsbedarf und vorhandenen Kompetenzen.

    Mit Herrn Z werden Förderschritte und Ziele vereinbart und schriftlich in seinem Aktivierungs- und Integrationsfortschrittplan festgehalten. Diese müssen für ihn erreichbar, konkret und transparent sein. Außerdem wird verabredet, welche Handlungsschritte vorrangig sind. Es geht also um:

    • Abklärung somatischer Beschwerden
    • Gesundheitliche Stabilisierung
    • Förderung kognitiver Fähigkeiten
    • Sortieren und Vorbereiten seiner Unterlagen für einen Termin bei der Schuldnerberatung
    • Emotionale Entlastung
    • Klärung beruflicher Perspektiven
    • Durchführung einer Arbeitserprobung
    • Steigerung der Leistungsfähigkeit
    • Sinnvolle Freizeitgestaltung
    • Aufbau eines stabilen Netzwerkes

    In den kommenden Wochen geht es um die Erweiterung seiner Kompetenzen und die Bearbeitung der Vermittlungshemmnisse.

    Herr Z berichtet, dass für ihn die hohen Schulden eine große Belastung darstellen. Ständig erhält er Post von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten. Dies führt zu Stress, den er mit Alkohol kompensiert, um seine Probleme zu verdrängen. Da es unter Alkoholeinfluss bereits zu peinlichen Situationen in der Öffentlichkeit kam, hat er sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Mittlerweile hat er nur noch zwei Bekannte, die ebenfalls suchterkrankt sind. Außerdem berichtet er, dass sein letzter Arztbesuch einige Jahre her ist, da er befürchtet, dass sich seine Leberwerte verschlechtert haben. Hinzu kommen häufige Magenbeschwerden.

    Im Rahmen der Einzelgespräche werden nun folgende Handlungsschritte erarbeitet:

    1) Herr Z wird umfassend über die Angebote der Fachambulanz des Caritasverbandes aufgeklärt. Nach mehreren Gesprächen mit der Sozialpädagogin lässt er sich darauf ein, in der Suchtberatung einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren, um über sein Konsummuster zu sprechen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Herrn Z ist dieser Schritt sehr unangenehm, da er bereits im Suchthilfesystem bekannt ist. Er schämt sich für die Rückfälligkeit und dafür, dass er in der Beratung erneut Hilfe suchen muss.

    2) Gelegentlich kommt es innerhalb der Maßnahme zu Fehlzeiten. Herr Z meldet sich öfter wegen Magenbeschwerden ab. Auch dies wird in den Einzelgesprächen thematisiert. Herr Z war schon seit Jahren nicht beim Hausarzt. Er hat die Befürchtung, dass etwas mit seinem Magen nicht in Ordnung ist und sich seine Leberwerte weiter verschlechtert haben. Diese Ängste werden ausführlich mit der Sozialpädagogin besprochen. Nach mehreren Gesprächen sieht Herr Z ein, dass mit den jetzigen Magenbeschwerden und den daraus resultierenden Fehlzeiten keine beruflichen Perspektiven entwickelt werden können.

    Es wird vereinbart, dass Herr Z in Begleitung der Sozialpädagogin seinen Hausarzt aufsucht. Es stellt sich heraus, dass Herr Z ein Magengeschwür hat, das gut behandelt werden kann. Seine Leberwerte sind erhöht, jedoch noch nicht besorgniserregend. Der Hausarzt empfiehlt ebenfalls eine Kontaktaufnahme zur Suchtberatung und eine abstinente Lebensweise. Außerdem sollte Herr Z alle sechs Monate einen Gesundheitscheck machen, um Veränderungen frühzeitig festzustellen.

    Nach einer mehrwöchigen Medikamenteneinnahme gegen das Magengeschwür fühlt sich Herr Z viel besser. Auch ist er viel gelöster und freudiger, da sich seine Befürchtungen nicht bestätigten. Er fühlte sich entgegen seinen Erwartungen bei dem Arzt gut aufgehoben und ernstgenommen, sodass er sich nun regelmäßige Arztbesuche vorstellen kann.

    Die Suchterkrankung bzw. Leberwerte bleiben weiterhin ein Thema,  Herr Z kann sich mittlerweile auf das Angebot der Suchtberatung einlassen.

    3) Die Schuldenproblematik besteht schon seit Jahren. Herr Z hat den Überblick verloren. Es wird eine Schufaauskunft beantragt. Außerdem bringt Herr Z alle Unterlagen mit, die er finden konnte. An zwei Nachmittagen werden seine Papiere nach Gläubigern und Datum sortiert. Bereits jetzt wirkt Herr Z erleichtert, da er mit den Unterlagen nicht mehr alleine dasteht. Herr Z wird über verschiedene Möglichkeiten wie Vergleichszahlungen und das Verbraucherinsolvenzverfahren informiert. Um fachliche Unterstützung zu erhalten, wird ein Termin in der Schuldnerberatung vereinbart. Herr Z fühlt sich durch die Vorsortierung seiner Unterlagen gut vorbereitet und nimmt den Gesprächstermin alleine wahr.

    4) Herr Z hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. In den Einzelgesprächen mit dem Jobcoach werden Fähigkeiten, Stärken und berufliche Kenntnisse erfragt. Herr Z gibt an, dass er Erfahrungen als Helfer in den Bereichen Garten und Landschaftsbau, in der Produktion und im Lagerbereich hat.

    Parallel tauscht sich der Jobcoach mit dem praktischen Anleiter aus, um auch über die Entwicklungen aus den hausinternen Praxisprojekten informiert zu sein. Aufgrund kognitiver Einschränkungen ist es wichtig, dass nach beruflichen Perspektiven geschaut wird, in denen es um einfache und sich wiederholende Abläufe geht. Weiterhin ist die Sensibilitätsstörung im rechten Arm zu berücksichtigen. Er kann diesen nicht schwer belasten und hat gelegentlich Taubheitsgefühle.

    Am Praxistag der Maßnahme ist Herr Z im Holzbereich tätig. Hier wird darauf geachtet, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine schweren Maschinen bedient. Er hat sich für ein Gemeinschaftsprojekt mit einem anderen Teilnehmer entschieden. Sie bauen eine Garderobe für den Gruppenraum. Herr Z übernimmt die Planung (Form, Farbe) und welches Material benötigt wird. Außerdem übernimmt er leichte Schleifarbeiten, die er mit großer Sorgfalt ausführt. Der andere Teilnehmer ist für die Umsetzung (Sägen, Leimen, Schrauben, etc.) zuständig. Hier zeigt sich, dass Herr Z besonders gut im Team arbeiten kann. Er hält sich an Absprachen und ist kompromissbereit.

    Im Verlauf der Maßnahme macht Herr Z eine positive Entwicklung durch. Nachdem er sich gesundheitlich stabilisieren konnte (regelmäßige Arztbesuche) nimmt er weiterhin Gespräche in der Suchtberatung wahr. Parallel geht er wöchentlich zur Orientierungsgruppe Alkohol. Diese wird ebenfalls von der Suchtberatung angeboten. Außerdem hat er sich über das Angebot verschiedener Selbsthilfegruppen informiert. Diese thematisieren nicht nur die Suchtproblematik sondern auch das Freizeitverhalten. Nach der Kontaktaufnahme zur Schuldnerberatung werden weitere Schritte für das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeleitet. Die Selbstorganisation seiner Unterlagen behält Herr Z bei. Der Jobcoach arbeitet mit Herrn Z an seiner beruflichen Perspektive. Zunächst wird er ein weiteres Praktikum absolvieren, um positive Referenzen für seine Bewerbungsunterlagen zu sammeln. Auch gab es Gespräche mit dem zuständigen Fallmanager vom Jobcenter Osnabrück, um Fördermöglichkeiten abzuklären.

    Kontakt und Angaben zu den Autorinnen:

    Monika Schnellhammer
    Geschäftsführerin des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Osnabrück
    MoSchnellhammer@caritas-os.de

    Clarissa Abromeit
    Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., Koordinatorin der Maßnahme „Chancen und Wege“
    CAbromeit@caritas-os.de

  • Das Projekt Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber

    Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Karl Lesehr

    Psychosoziale Stabilisierung durch Arbeit

    Dass ein drohender Arbeitsplatzverlust für viele Menschen mit Suchtproblemen eine erstmals ernsthaft aufrüttelnde Bedeutung haben kann, kennt wohl jede Fachkraft in der Suchthilfe. Gleichzeitig gilt für die Arbeit mit Suchtkranken aber auch die Erfahrung, dass geregelte Arbeit und Beschäftigung ganz wesentlich zur Stabilisierung von Lebenslagen beitragen können, die durch eine Suchtproblematik in unterschiedlichster Art und Weise beeinträchtigt sind. 1968 wurde Sucht vor Gericht als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt, was von einigen Akteuren schnell als vermeintlich vorrangige Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung verstanden wurde. In der schließlich 1978 – wieder auf gerichtlichen Druck hin – zustande gekommenen Suchtvereinbarung wurde dann eine gemeinsame Leistungszuständigkeit von Kranken- und Rentenversicherung für die damals bekannten Behandlungsangebote bei Abhängigkeitsstörungen geregelt. Diese Entwicklung war keineswegs zufällig: In der aus den ersten Heilstätten entstandenen stationären Suchtrehabilitation war die berufliche Reintegration – anders als in der Rehabilitation bei sonstigen psychiatrischen Erkrankungen – bereits ein zentrales Ziel des Behandlungssystems. Diese durch die Suchtvereinbarung bestätigte medizinische Suchtrehabilitation hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter fachlich ausdifferenziert, um bei suchtassoziierten Teilhabebeeinträchtigungen für ganz unterschiedliche Patientengruppen jeweils qualifizierte und passgenaue Entwicklungsanstöße geben zu können.

    Gerade weil dieses teilhabeorientierte Behandlungsangebot sich insgesamt unstrittig bewährt hat und weltweit als Erfolgsmodell gilt, ist es aber auch notwendig, seine ‚Schwachstellen‘ in den Blick zu nehmen. Dabei interessieren in diesem Beitrag weniger die zahlreichen behandlungs- und teilhaberelevanten ‚Schnittstellen‘, um deren Verbesserung sich die Suchtreha seit langem bemüht. Für das Projekt Su+Ber impulsgebend ist stattdessen die These, dass mit strukturell neuartigen Förder- und Behandlungsformen für langzeitarbeitslose Menschen mit Abhängigkeitsstörungen wesentliche Verbesserungen ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe erreicht werden könnten (teilhaberelevante Versorgungsschwachstellen).

    Schon in den 90er Jahren hat Günther Wienberg (1992) mit dem einprägsamen Begriff der „vergessenen Mehrheit“ darauf aufmerksam gemacht, dass ein großer Teil der diagnostizierten Abhängigkeitskranken faktisch keinen Zugang zu spezialisierten suchtrehabilitativen Hilfen hat bzw. sie nicht in Anspruch nimmt. In dieser Versorgungsanalyse hat Wienberg verdeutlicht, dass dafür methodische und strukturelle Aspekte des Versorgungssystems mitverantwortlich sind und eben nicht nur eine unzureichende oder fehlende Krankheitseinsicht dieser Menschen, wie es das alte Jellinek-Modell mit seiner „Tiefpunkt-Theorie“ vermeintlich nahelegte.

    Teilhaberelevante Schwachstellen des Suchtbehandlungssystems

    • In der überwiegend wohnort- und alltagsfernen stationären Suchtreha hat sich die Reintegrationsperspektive bei langzeitarbeitslosen Patienten fast zwangsläufig auf die Perspektive einer ‚Teilhabebefähigung‘ verkürzt. Im Wesentlichen gelingt nur in der Drogenrehabilitation, bei der häufig auch ein Wohnortwechsel der Patienten eingeplant wird und längere Behandlungszeiten nutzbar sind, die unmittelbare Verknüpfung von Suchtbehandlung und Arbeitsintegration in nennenswertem Umfang. Die ARA-Studie (Dieter Henkel et al. 2005) hat schon vor Jahren verdeutlicht, wie gering auch nach einer formal erfolgreichen Alkoholrehabilitationsmaßnahme für langzeitarbeitslose Rehabilitanden die Chancen auf eine nachhaltig erfolgreiche berufliche Reintegration und damit auch auf einen Erhalt der erreichten Suchtmittelabstinenz sind. Auch die neu entwickelten Instrumente einer arbeitsorientierten Rehanachsorge bleiben noch zu oft im Beratungssetting und damit auf einer reflektierenden Metaebene stehen und haben dann viel Distanz zum komplexen realen Lebensalltag des Rehabilitanden.
    • Die Regelung des § 16a SGB II wird auch über zehn Jahre nach ihrer Einführung ganz überwiegend nur dafür genutzt, dass Jobcenter Kunden mit vermuteten oder diagnostizierten Abhängigkeitsstörungen an die Suchtberatung verweisen und so möglichst auch in weiterführende Suchtbehandlungen vermitteln. Eine unmittelbare Einbeziehung der Fach- und Steuerungskompetenz der Suchtberatungsstellen in die wohnortnahen Bemühungen um eine konkrete berufliche Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker ist dagegen nur an wenigen Standorten Realität geworden. Dementsprechend sind in den Suchtberatungsstellen das Interesse, aber auch die Handlungskompetenzen für eine direkte suchtkompetente Unterstützung der Klienten bei ihrer nachhaltigen beruflichen Integration in diesem Jahrzehnt kaum gewachsen.
    • Mit der Drogensubstitutionsbehandlung, die sich längst von einer Überbrückungshilfe zu einem grundständigen Behandlungsangebot für Drogenabhängige entwickelt hat, wurde das bislang für die Suchtrehabilitation grundlegende Paradigma einer (zumindest aktuell angestrebten) Suchtmittelabstinenz als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Reintegration auch aus einer medizinischen Perspektive in Frage gestellt. Gleichzeitig entfallen aber für diese durch die Krankenversicherung finanzierte und als ambulante Behandlung im Lebensalltag konzipierte Behandlungsoption aufgrund der für die Suchtrehabilitation bislang geltenden abstinenzorientierten Behandlungskonzepte weitgehend alle in der Suchtvereinbarung seinerzeit für unverzichtbar gehaltenen suchtrehabilitativen Leistungsmöglichkeiten. Langzeitarbeitslose Substituierte (wie im Übrigen auch andere nicht abstinenzwillige oder -fähige Abhängigkeitskranke) sind deswegen für eine berufliche Reintegration fast ausschließlich auf das Leistungsportfolio des SGB II angewiesen. In diesem wurden in den letzten Jahren aber viele Beschäftigungsangebote radikal abgebaut, die angesichts der oft vielfältigen Teilhabebeeinträchtigungen eine wenigstens schrittweise Arbeitsintegration ermöglichen sollen. Außerdem finden im SGB II generell die spezifischen Dynamiken abhängigkeitskranker ‚Kunden‘ nur höchst unzureichend und wenig systematisch Berücksichtigung. So können z. B. aufgrund der leistungsrechtlichen Vorgaben des SGB II die für die suchtkranken Menschen dringend notwendigen Unterstützungsleistungen nach einer Wiedereingliederung an einem Arbeitsplatz im Rahmen einer Arbeitsförderung kaum ermöglicht werden. Aber auch die für alle Fördermaßnahmen im SGB II maßgebliche leistungsrechtliche Definition der „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit ihrem Konstrukt der „schädlichen Unterbrechungen“ wirkt gerade bei Menschen mit Abhängigkeitsstörungen allzu oft als Leistungsbarriere: Bei guter Arbeitsmarktkonjunktur findet nämlich mancher von ihnen relativ leicht einen Arbeitsplatz, scheitert dann aber nach kurzer Zeit aufgrund seines Suchtverhaltens. Diese Krisenerfahrung kann dann aber wegen dieser Regelung oft nicht zeitnah und motivationsfördernd für die Einleitung geeigneter Fördermaßnahmen genutzt werden.

    Systembedingt unzureichende Reintegrationsperspektiven

    Die o. g. Schwachstellen in der aktuellen Versorgungsstruktur haben Auswirkungen für die betroffenen Menschen und für die fachlichen Akteure in den Versorgungsstrukturen:

    • Es gibt bis heute trotz der AOK-Studie (Henkel & Schröder, 2015, 2016) nahezu keine versorgungspolitisch sinnvoll nutzbaren Zahlen über den Anteil der Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen.
    • Aber auch in keiner der an der Suchtbehandlung oder der Arbeitsförderung beteiligten Institutionen wird das maßnahmen- oder förderungsrelevante Ausmaß suchtassoziierter Probleme festgestellt, ebenso wenig wie die aktuelle teilhaberelevante Mitwirkungsfähigkeit und -bereitschaft. Gerade bei den oft länger dauernden psychosozialen Betreuungen Substituierter gibt auch der im KDS dokumentierte soziodemografische Eingangsstatus dafür zu wenig aktuelle Informationen.
    • Die vielerorts genutzte Strategie zur Qualifizierung von Jobcenter-Mitarbeitenden für eine sachgerechtere Problemidentifizierung und Problemansprache bei Kunden mit möglichen Suchtproblemen kann zwar die Zuweisung von Kunden nach § 16a SGB II an die Suchtberatung erhöhen und verbessern, löst dort aber keineswegs die für die Zielgruppe (angesichts nur begrenzter Rehaperspektive, v. a. aufgrund der Abstinenzgebundenheit) bestehenden Motivierungs- und Reintegrationsprobleme.
    • Das Konzept ‚erfolgreiche Suchtbehandlung und Abstinenz als notwendige Voraussetzung für eine berufliche Reintegration‘ ist in seiner Ausschließlichkeit hochselektiv. Es nutzt auch zu wenig die differenzierten Erkenntnisse der Motivationsforschung und vor allem nicht die realen Entwicklungsperspektiven betroffener Menschen: Einerseits sind in der Lebensrealität zahlreiche Menschen mit Abhängigkeitsstörungen auch längerfristig relativ unauffällig in Arbeit, andererseits haben aber viele Langzeitarbeitslose aufgrund ihrer Biografie und aktuellen Lebenslage selber kaum mehr ernsthaft Interesse an einer beruflichen Reintegration.
    • Die Ausgrenzung von Betroffenengruppen aus dem suchtrehabilitativen Angebot verstärkt aber auch eine generalisierte Misserfolgserwartung für diese Menschen im Gesamtversorgungssystem. Die Ausgrenzung reduziert das gesellschaftliche Interesse an konstruktiven Fördermaßnahmen und führt mit dazu, dass Langzeitarbeitslose mit Abhängigkeitsstörungen zu den Jobcenterkunden mit den geringsten Chancen auf eine nachhaltige Vermittlung in Arbeit zählen, also auch die schlechteste gesundheitliche Erfolgserwartung haben.
    • Diese ‚Misserfolgserwartung‘ trägt implizit weiter dazu bei, dass sich tradierte Strukturen einer individualisierten Rehavermittlung ohne umfassende Rehagesamtplanung in vielen Suchtberatungsstellen bis heute erhalten können und dass regionale, einrichtungsübergreifende und fallbezogene Kooperationen zwischen Suchtberatungsstellen und Jobcentern zur Verbesserung der Chancen einer beruflichen Reintegration eher Seltenheitswert haben.
    • Der sozialleistungsrechtlich in der Regel nicht abgesicherte Status der Suchtberatungsstellen erschwert vor allem im Bereich der Drogensubstitution eine teilhabeorientierte Behandlungskooperation (im Sinne der alten Suchtvereinbarung) auf Augenhöhe. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass viele Kommunen, die die Suchtberatung (mit)finanzieren, trotz mancher gut gemeinter Steuerungsbemühungen selten nachhaltig teilhabeorientierte Steuerungsimpulse mit ihrer Finanzierung verbinden und dafür dann auch ihre eigene Mitwirkungsbereitschaft einbringen.

    Strukturelle Herausforderungen an das Suchthilfesystem

    Die Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit den o. g. Problemzusammenhängen befasst und dafür auch intensiv das Gespräch mit dem Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Landespolitik gesucht. Als Institution der Suchthilfe hat sich die Landesstelle im Gegensatz zu Wienberg zunächst auf das eigene Handlungsfeld und damit auch auf die dort mögliche Kooperation mit den Jobcentern beschränkt.

    Fachlicher Hintergrund für die Gespräche waren zum einen die schon seit über einem Jahrzehnt gesammelten Erfahrungen aus dem Projekt Q-Train der AG Drogen Pforzheim, in dem sich überwiegend substituierte Drogenabhängige in einer Arbeitsfördermaßnahme im konkreten Arbeitsalltag mit den Beeinträchtigungen durch ihren Suchtmittelkonsum und ihr suchtassoziiertes Sozialverhalten auseinandersetzen können und müssen. Nach Möglichkeit werden sie dann an einen festen Arbeitsplatz vermittelt, wo sie nach Bedarf noch weiter betreut werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation zu diesem Projekt machen deutlich, dass sich durch den unmittelbaren suchttherapeutischen Fokus auf Arbeitsprozess und Arbeitsleistung bei den auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelten Teilnehmern vergleichbare Stabilisierungs- und sogar Abstinenzeffekte erreichen lassen wie über eine traditionelle Drogenrehabilitationsmaßnahme.

    Einen weiteren wichtigen Hintergrundaspekt bildeten zum anderen die Ergebnisse der bereits erwähnten ARA-Studie und die darauf aufbauenden intensiven Bemühungen der AHG-Fachklinik Wilhelmsheim, durch den Aufbau und die Verbesserung einer möglichst nahtlosen Kooperation mit den zuweisenden Suchtberatungsstellen und den Jobcentern die Reintegrationschancen für ihre langzeitarbeitslosen Rehabilitanden spürbar zu erhöhen.

    Und schließlich haben die gegenüber der ambulanten Suchthilfe teilweise durchaus vorwurfsvollen Äußerungen der DRV zum Rückgang der Suchtreha-Antragszahlen und die darauf aufbauenden Strukturdiskussionen mit der DRV Baden-Württemberg mit dazu beigetragen, dass eine Arbeitsgruppe der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg im November 2013 eine Rahmenkonzeption zur beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den ersten Arbeitsmarkt vorgelegt hat. Nach geduldiger und auch hartnäckiger Weiterverfolgung dieser konzeptionellen Ansätze veröffentlichte das Land schließlich im August 2015 den Förderaufruf zur Einreichung von Projektanträgen zur „Förderung der nachhaltigen Wiedereingliederung langzeitarbeitsloser Abhängigkeitskranker in den Arbeitsmarkt nach der Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen Baden-Württemberg (NaWiSu)“. Die Projektförderung erfolgt etwa zur Hälfte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und richtet sich im Gegensatz zu den meisten anderen ESF-Projekten zur Arbeitsmarktintegration überwiegend an die zu einer Leistungsvernetzung eingeladenen Suchtberatungsstellen. Dieser Förderaufruf bildet den Rahmen für das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht), das im Folgenden vorgestellt wird.

    Ziele des ESF-Förderaufrufs NaWiSu

    Ausgangspunkte für den Förderaufruf waren, wie auch schon für die Rahmenkonzeption der Landesstelle für Suchtfragen, folgende Einschätzungen:

    • In der Gruppe der ‚dauerhaft‘ Langzeitarbeitslosen gibt es – übrigens neben gut einem Drittel abstinent lebender Menschen (!) – eine offenbar wachsende Teilgruppe von Menschen, bei denen eine Abhängigkeitsstörung oder ein suchtassoziierter Lebensstil als wesentliches Integrationshindernis festgestellt oder vermutet werden kann. Diese Teilgruppe der Langzeitarbeitslosen ist nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern vor allem sozialpolitisch ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem.
    • Es scheint unstrittig, dass Jobcenter und Arbeitshilfeträger mit ihren aktuellen Leistungsmöglichkeiten weniger in ihrer Qualifikation als vielmehr strukturell bzw. leistungsrechtlich überfordert sind, wenn es um eine nachhaltige berufliche Reintegration von Langzeitarbeitslosen mit Abhängigkeitsstörungen geht. Unabhängig von allen angestrebten Verbesserungen der Arbeitsmarktinstrumente im SGB II können Bemühungen der Jobcenter deshalb nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, störungsspezifische Fachkompetenzen und Interventionsmöglichkeiten besser und unmittelbar in zielgruppenspezifische Reintegrationsmaßnahmen einzubinden.
    • Die Bemühungen, mit Hilfe des § 16a SGB II die Suchtberatungsstellen stärker in Aktivitäten für eine berufliche Reintegration einzubinden, waren bislang bestenfalls insoweit erfolgreich, als es dabei um die verstärkte Vermittlung in klassische Suchtrehamaßnahmen ging. Darüber hinaus ist die Suchtberatung aber angesichts ihrer Finanzierungsstruktur (freiwillige Leistung der öffentlichen Daseinsvorsorge) und der dadurch sehr begrenzten Ressourcen und Leistungsmöglichkeiten bislang kaum in der Lage, aus eigenen Kräften einen ausreichenden, störungsbezogenen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Reintegration suchtkranker Menschen zu leisten.

    Damit strukturelle Verbesserungen der beruflichen Reintegration langzeitarbeitsloser Menschen mit Abhängigkeitsstörungen gelingen können, werden daher im Förderaufruf NaWiSu folgende fünf Veränderungen angestrebt:

    • Um wirksame fallbezogene Kooperationen zu ermöglichen, müssen in Ergänzung zu den tradierten stationären und damit in aller Regel wohnort- und v. a. alltagsfernen Behandlungsmodellen wohnortnahe ambulante Behandlungsansätze und Fördermaßnahmen verstärkt werden.
    • Für die Teilnehmer müssen integrierte und zeitlich überschaubare Fördermaßnahmen mit einer klaren Zielperspektive entwickelt werden. Dabei sollte die berufliche Reintegration maßnahmenleitend sein, und auch die suchtbezogene Behandlung sollte vorrangig auf dieses Ziel orientiert sein: Die Behandlung muss für die Teilnehmer einen erkennbaren Gewinn für ihre aktuellen persönlichen Entwicklungsperspektiven haben.
    • Die Suchtberatungsstellen werden für solche integrierten Behandlungs- und Reintegrationsmaßnahmen nur dann einen nennenswerten und stabilen Beitrag leisten können, wenn solche Leistungen wenigstens teilweise als suchtrehabilitative Leistungen eigenständig finanziert werden und die Suchtberatung dem Jobcenter damit auch als gleichwertiger Leistungspartner gegenübertreten kann.
    • Angesichts der seit langem eher stagnierenden Entwicklung der ambulanten Suchtrehabilitation hat die stärkere Einbindung einer wohnortnahen beruflichen Reintegration aber nur dann eine Erfolgsperspektive, wenn die bisher für die Suchtreha verbindlichen Behandlungsgrundsätze zugunsten einer unmittelbaren Orientierung auf eine nachhaltige Arbeitsintegration gelockert und dafür auch neuartige Arbeits- und Interventionsformen ermöglicht werden.
    • Gleichzeitig muss die ambulante Suchtreha die in den letzten Jahren aufgebauten spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen der stationären Suchtreha stärker auch für ihren Arbeitsbereich nutzen. Für die Einrichtungen und Fachkräfte der ambulanten Suchthilfe gilt es zudem, neben den natürlich weiterhin sinnvollen und notwendigen Angeboten der traditionellen stationären oder ambulanten Suchtreha im Bewusstsein der Mitarbeitenden und in den Arbeitsstrukturen ein neues Handlungskonzept aufzubauen und zu implementieren und dann auch klientenorientierte Brücken zwischen den unterschiedlichen Optionen einer nachhaltigen Teilhabeförderung zu nutzen. Diese strukturelle Entwicklung v. a. der Suchtberatungsstellen soll im Aufruf NaWiSu modellhaft gefördert werden.

    Im Rahmen des Förderaufrufs wird seit Jahresbeginn 2016 das Projekt Su+Ber (Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht) durchgeführt. Welche Entwicklungsziele und konkrete Maßnahmen es beinhaltet, wird im zweiten Teil des Artikels vorgestellt. Dieser erscheint in Kürze im Rahmen von Teil 2 des Titelthemas „Wege in Arbeit“.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Karl Lesehr, M.A.
    Fachberatung Sucht im Projekt Su+Ber
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der Mitwirkung im Projekt Su+Ber hat er noch die fachliche Leitung des Projekts VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen

    „Suchthilfe und Arbeit“ ist trotz des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren noch immer ein großes Thema. Das ist merkwürdig, denn bereits 1985 war mit der „Hammer Studie“ (Raschke & Schliehe, 1985) eigentlich schon alles gesagt: „Der Ausstieg aus dem Drogenkonsum steht und fällt mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen“. Gleichzeitig erschwert eine Abhängigkeitserkrankung jedoch immens die berufliche Integration. Das Gleiche gilt auch für psychische Erkrankungen oder andere Hindernisse, die von den Agenturen für Arbeit als Vermittlungshemmnisse beschrieben werden. Vermittlungshemmnisse haben dramatische Folgen. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be­rufsforschung (IAB; Achatz & Trappmann) hat im Jahr 2011 den Einfluss multipler Hindernisfaktoren auf die Arbeitsmarktintegration untersucht. Diese Faktoren waren u. a. Alter und Geschlecht, gesundheitliche Einschränkungen, geringe Schulbildung oder Qualifikation, Migrationshinter­grund, langer ALG II-Bezug und schlechte regionale Arbeitsmarktlage. Bei einem Vermittlungshemmnis lag die Wahrscheinlichkeit für den Übergang in eine Erwerbstätigkeit bereits bei nur elf Prozent und sank dann mit jedem weiteren Vermitt­lungshemmnis ab, bis sie bei sechs und mehr Faktoren bei null Prozent angekommen war (Achatz & Trappmann, 2011, S. 30). Damit haben Suchtkranke, die vielfache Vermittlungshemmnisse auf sich konzentrieren, nur eine marginale Integrationschance.

    Seit 30 Jahren steht das Thema Arbeit auch auf der Agenda des Fachverbandes Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr+). „Sorgen mit der Nachsorge“ hieß 1986 die Dissertation des damaligen Geschäftsführers des fdr+, Manfred Sohn. Zweimal veröffentlichte der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung Grundsatzpapiere zu diesem Thema: Im Jahr 2012 das sehr gute Konsenspapier „Förderung der Teilhabe Abhängigkeitskranke am Arbeitsleben“ und im Jahr 2016 den Beschluss „Teilhabe am Arbeitsleben“. Das Problem dieser Veröffentlichungen: An theoretischen Herleitungen herrscht kein Mangel. Was fehlt, ist die praktische Umsetzung des Sozialrechtes in Hilfen für abhängigkeitskranke Menschen. Vor diesem Hintergrund rief der fdr+ 2014 eine Arbeitsgruppe „Arbeit und Bildung“ ins Leben, die im Mai 2017 die Handreichung „Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen“ veröffentlicht hat. In dieser Broschüre werden die Leistungen zur Teilhabe an Arbeit für Suchtkranke detailliert beschrieben. Untermauert von erläuternden und heranführenden Texten geben die Autoren eine ausführliche Übersicht zu den Leistungstypen und Leistungsmöglichkeiten, mit denen suchtkranke Menschen an Arbeit herangeführt werden können. Das Bundesteilhabegesetz, das während der Erstellung der Handreichung mit seinen ersten Teilen in Kraft getreten ist, findet ebenfalls angemessen Berücksichtigung. Folgende gesetzliche Finanzierungsmöglichkeiten werden vorgestellt und erklärt:

    1. Betriebsformen und Trägerstrukturen
    2. Individuelle Leistungstypen
    3. Maßnahmen in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker
    4. Weitere Möglichkeiten zur Förderung der Teilhabe an Arbeit

    Teilhabe am Arbeitsleben ist ein identitätsstiftender Faktor, sie ermöglicht positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Im Vorwort der Handreichung stellen die Autoren dar, wieso Integration und Teilhabe als Leitbild in der Suchthilfe betrachtet werden dürfen und müssen – ein Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, sich um Integration und Teilhabe (weiterhin) nachdrücklich zu bemühen, und dass ein erfolgreiches Wirken möglich ist. Im O-Ton heißt es dort:

    Im Jahr 1968 stellte das Bundessozialgericht fest: Sucht ist Krankheit. Seit 1975 ist durch die „Eingliederungshilfeverordnung“ festgelegt, dass Suchtkranke zu den Personen mit einer seelischen Behinderung zählen. Seit 2009 ist die UN Behindertenrechtskonvention in Deutschland verbindlich und geltendes Recht. Sie hat die Umsetzung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen zum Ziel. Wenn ein Mensch durch seine Abhängigkeitskrankheit keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung hat oder er arbeitslos ist oder wird, gilt er nicht nur als krank, sondern auch als (vorübergehend) „behindert“ im Sinne der Sozialgesetzbücher IX und XII und hat Anspruch auf sozialrechtliche Leistungen zur Überwindung dieser Situation. Dieser Leistungsanspruch ist mit dem Teilhabekonzept der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) eng verbunden, da er eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigungen erfordert.

    Der Eintritt in Erwerbsarbeit, Tätigkeit oder Qualifizierung soll für die abhängigkeitskranke Person einen Rollenwechsel in die Welt positiver Zuschreibungen und der Anerkennung durch Arbeit einleiten. Damit sind gleichfalls positive Erwartungen verbunden, wie etwa die Wiederentdeckung vermeintlich verschütteter Bildungsressourcen oder auch des Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit und die damit zusammenhängenden Kompetenzen. Die Erarbeitung eines subjektiven wie objektiven „Wertes“ in der Arbeitsgesellschaft und nicht zuletzt die Aussicht auf eine selbstbestimmte, auskömmliche Sicherung der Existenz bilden zentrale Anreize für den beruflichen (Wieder-)Einstieg.

    In unserer modernen Arbeitsgesellschaft bildet Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Qualifikationen, Belohnungen und sozialen Einflussmöglichkeiten eine zentrale Basis für die Zuweisung von sozialem Status und von gesellschaftlichen Partizipationschancen. In den Arbeitsmarkt integriert zu sein, wird mit sozialer Teilhabe zunehmend gleichgesetzt, so dass im Umkehrschluss Arbeitslosigkeit mit sozialem Ausschluss verbunden wird.

    Für Abhängigkeitskranke assoziiert „Arbeit haben“ zudem den Ausstieg aus der Sucht. Es ist die Chance, eine bislang meist krisenhafte Berufsbiographie positiv und selbstbestimmt zu gestalten und einen „eigenen Weg“ zu finden. Dabei benötigen alle Teilhabebemühungen und Hilfeangebote positive Zukunftserwartungen für die Menschen, verbunden mit konkreten Chancen. Deswegen sind auch drogenpolitische Paradigmen alternativ zu etablierten Stigmata neu zu formulieren:

    Teilhabe an Erwerbsarbeit für Abhängigkeitskranke kann mithilfe von berufsbezogenen Unterstützungs-, Bildungs- und Beschäftigungsangeboten auch im Rahmen der Suchthilfe stärker als bisher möglich werden. Die vorliegende Arbeitshilfe wird vom grundlegenden Gedanken getragen, dass eine nachhaltige und selbstbestimmte berufliche Integration für Abhängigkeitskranke möglich ist. Suchthilfe muss ihre Adressaten*innen als aktiv an der Arbeitsgesellschaft teilhabende Menschen wahrnehmen und entsprechende Angebote bereitstellen. Das gibt ihnen auf dieser Basis die Möglichkeit, positive Zukunftserwartungen hinsichtlich Verdienst, Selbstwert, Zugehörigkeit und sinnvoller Tätigkeit zu entwickeln.

    Von der Seite der Arbeitsverwaltung und anderer staatlicher Institutionen wird Abhängigkeitskranken jedoch nicht selten mit einer eher defizitorientierten Perspektive begegnet. Sie sollen etwa ihre „Erwerbsfähigkeit wiedererlangen“ und alles hierbei „Hinderliche“ aus dem Weg räumen. Dadurch werden auch andere Fallbeteiligte dazu aufgefordert, jene Hürden in den Arbeitsmarkt zu identifizieren und mithilfe der „richtigen Instrumente“ abzubauen. So dringt diese Perspektive quasi-diagnostisch in die Biographien der Adressaten*innen ein und codiert dort mehrere Fragmente zu sog. Vermittlungshemmnissen um, etwa die Suchterkrankung, eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit, kein oder ein niedriger Bildungsabschluss, der gesundheitliche Zustand bis hin zur Familiensituation. Dieser Begriff erlangte als Defizitindikator für die Vermittlungswahrscheinlichkeit (vgl. Achatz & Trappmann 2011) eine zentrale Bedeutung; im Rahmen der sog. „Job-Perspektive“ wurde er gar zum diagnostischen Parameter, der den Bezug bestimmter Fördermöglichkeiten begründet.

    Aus Sicht der Betroffenen stellen Vermittlungshemmnisse nichts anderes als Spiegelbilder der Akzeptanzdefizite des Arbeitsmarktes dar, entlang derer die Arbeitsverwaltung den Handlungsbedarf für die jeweiligen Integrationsbemühungen vermisst und die die Grenzen der (regionalen) Integrationskultur zeigen.

    Für den Aufbau beschäftigungsbezogener Hilfeangebote stellt sich für die Suchthilfe die Aufgabe, beide Perspektiven zu reflektieren und in den Hilfeprozess zu integrieren. Denn meistens gehören Abhängigkeitskranke zu den Kunden*innen der Arbeitsverwaltung, denen ein besonders hohes Maß an Vermittlungshemmnissen zugesprochen wird und die damit als „schwer vermittelbar“ gelten.

    Beratungsstellen der Suchthilfe erreichen etwa eine halbe Million Menschen jährlich. Wenn etwa 50 Prozent von ihnen arbeitslos oder Sozialhilfebezieher sind müssen für mindestens 250.000 Menschen Angebote zur Teilhabe an Bildung und Arbeit gemacht werden. (…)

    Das Sozialrecht hat in den vergangenen Jahren den Anspruch abhängigkeitskranker Menschen auf Hilfe verbessert. Eingelöst wird dieser Anspruch jedoch nur zum Teil. Immer noch werden Abhängigkeitskranke diskriminiert und von Leistungen der Teilhabe an Arbeit ausgeschlossen. Insbesondere das Fehlen längerfristiger Perspektiven entmutigt viele Menschen und verschlechtert die Chancen zur Wiedereingliederung in Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Verlust der Arbeit führt zu ‚sinnlos‘ zur Verfügung stehender Freizeit. Dieses Aufweichen der Tagesstruktur wird nicht problemlos bewältigt.

    Die beruflichen Angebote in der Suchthilfe liefern den Hintergrund für die Nachhaltigkeit von bio-psycho-sozialen Hilfen. Sie müssen die Grundlage für Teilhabeplanung sein. (…)

    Literatur bei den Autor/innen

    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.: Arbeit und Bildung – Teilhabe ermöglichen. Eine Handreichung, fdr+texte Nr. 12, Berlin 2017.
    Die Broschüre kann zum Preis von 7 Euro beim fdr+ bestellt werden: www.fdr-online.info

    Kontakt:

    Jost  Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (fdr)
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    Tel. 030/85 40 04 90
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

  • BORA kompakt

    BORA kompakt

    Denis Schinner
    Denis Schinner
    Dr. Andreas Koch

    In diesem Beitrag werden alle wesentlichen Aspekte der BORA-Empfehlungen zusammengefasst. Dazu gehören Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung. Die Autoren Dr. Andreas Koch und Denis Schinner waren selbst Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA und haben die Empfehlungen mitentwickelt.

    Zielgruppen

    Um die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der Suchtrehabilitation“ praxisnah strukturieren zu können, wurde eine Unterscheidung von Zielgruppen vorgenommen, an der sich die weiteren Ausführungen zur Diagnostik und insbesondere zur Therapie orientieren. Grundsätzlich werden dabei Rehabilitanden mit Arbeit von arbeitslosen Rehabilitanden unterschieden. Bei den Erstgenannten geht es im Rahmen der Behandlung um den Erhalt des Arbeitsplatzes und die konkrete berufliche Wiedereingliederung. Bei der zweitgenannten Gruppe stehen eher die Entwicklung einer allgemeinen erwerbsbezogenen Perspektive sowie das Training der entsprechenden Kompetenzen im Vordergrund. Ein weiteres Kriterium zu Differenzierung der Zielgruppen ist das Vorhandensein von besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen, die durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren gekennzeichnet sind:

    • lange oder häufige Fehlzeiten
    • eine negative subjektive Prognose hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft
    • drohender Arbeitsplatzverlust
    • Arbeitslosigkeit
    • eine sozialmedizinische Notwendigkeit für berufliche Veränderungen

    Auf dieser Grundlage wurden fünf Zielgruppen definiert:

    • BORA-Zielgruppe 1 = Rehabilitanden mit Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 2 = Rehabilitanden mit Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 3 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III (ALG I). Dieser Zielgruppe werden auch Erwerbstätige zugeordnet, die während einer Krankschreibung arbeitslos geworden sind, und Erwerbstätige, die langzeitarbeitsunfähig sind und nach 18 Monaten von der Krankenkasse ausgesteuert werden (Arbeitsplatz noch vorhanden, Bezug von ALG I oder II).
    • BORA-Zielgruppe 4 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II (ALG II)
    • BORA-Zielgruppe 5 = Nicht-Erwerbstätige

    Diagnostik

    Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges. Die BORA-Empfehlungen bieten den Praktikern in den Rehabilitationseinrichtungen einen umfangreichen Baukasten für Screening-, Diagnostik- und Assessmentverfahren sowie die Therapie- und Teilhabeplanung bezogen auf die oben genannten BORA-Zielgruppen.

    Vorliegende oder neu erhobene Erkenntnisse können und müssen mittels einer ergänzenden Diagnostik untermauert werden. Der diagnostische Fokus richtet sich u. a. auf die Aspekte Gedächtnisleistung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planungs- und Problemlösefunktionen, Impulskontrolle, Persönlichkeitsfaktoren sowie komorbide Störungen.

    In den Empfehlungen wird angeregt, dass das zu Beginn der Rehabilitation erfolgende Screening und die daraus resultierende Zuordnung zu den BORA-Zielgruppen durch die Leistungserbringer erfolgen. Dies soll einer einseitigen Zuweisungspraxis durch die Leistungsträger entgegenwirken. Dabei steht außer Frage, dass es bereits heute Einrichtungen mit einer vorherrschenden Gruppe von Rehabilitanden (spezifischer Zielgruppenmix) und damit einhergehenden besonderen Anforderungen und Leistungsangeboten gibt.

    Werden durch das Screening Risiken hinsichtlich der Entwicklung von arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen entdeckt, sollen diese durch eine anschließende ausführlichere Diagnostik spezifiziert werden. Ausführliche Informationen zu den meisten Diagnostikinstrumenten sind auf der Internetseite www.medizinisch-berufliche-orientierung.de zu finden. An Screening-Instrumenten können die folgenden zum Einsatz kommen: Das Würzburger Screening ist ein Fragebogen für den Einsatz in Rehabilitationseinrichtungen mit neun Fragen zu den Themenbereichen „Subjektive Erwerbsprognose“, „Berufliche Belastung“ und „Interesse an berufsbezogenen Therapieangeboten“. SIBAR (Screening-Instrument für Beruf und Arbeit) ist ein kurzer Fragebogen mit elf Items. SIMBO-C (Screening-Instrument zur Erkennung des Bedarfs an Medizinisch-beruflich orientierter Rehabilitation) berücksichtigt sieben Indikatoren beeinträchtigter beruflicher Teilhabe

    Es können weitere Instrumente und Verfahren zur Analyse der Ausgangsbedingungen in Frage kommen und genutzt werden. Hierzu gehören Assessmentverfahren wie die FCE-Systeme (functional capacity evaluation). Diese messen die individuelle Fähigkeit (capacity) eines Rehabilitanden, Anforderungen einer bestimmten Arbeitstätigkeit zu erfüllen, und beinhalten standardisierte körperlich orientierte Testaufgaben. Zu den FCE-Systemen gehört z. B. EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit). WorkPark-Therapiegeräte können ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden.

    Weiterführend können neben MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) auch IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und/oder Ida (Instrumentarium zur Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten) zum Einsatz kommen.

    Nicht alle diese Verfahren sollen in allen Rehabilitationseinrichtungen eingesetzt werden, es können auch andere Instrumente genutzt werden. Bei konzeptionellen Veränderungen sollen sich die Einrichtungen jedoch der in den BORA-Empfehlungen vorgestellten Instrumente bedienen.

    Therapieplanung

    Wenn die Ergebnisse der Analyse der beruflichen Ausgangsbedingungen und der Eingangsdiagnostik vorliegen, erfolgt die an dem individuellen Integrationspotential und Rehabilitationsbedarf ausgerichtete Entwicklung von Therapiezielen (unter Berücksichtigung der ICF). Die Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Rehabilitanden und interdisziplinär in Abstimmung mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im therapeutischen Team festgelegt werden. Bei Bedarf werden sie im Laufe der Behandlung angepasst. Primäres Ziel einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Ergänzt wird dies um die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Seiten der Rehabilitandin/des Rehabilitanden.

    In der klinikinternen Prozesssteuerung der beruflichen Orientierung sind alle therapeutischen Leistungen als Rehabilitationsmodule untereinander zu vernetzen. So ist bei der Psychotherapie die berufliche Teilhabeplanung stets als fester Bestandteil zu integrieren. Zudem werden in diesem Kontext entsprechende Erfahrungen aus anderen Therapiebereichen (z. B. Arbeits-, Ergo- und Sporttherapie) reflektiert und gegebenenfalls vertieft. Alle im Rahmen der Rehabilitation angebotenen Therapiebausteine müssen einen Beitrag zur Teilhabe und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leisten. Weiterführend ist die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker nicht mehr nur Psychotherapeut/-in, sondern auch Koordinator/-in der Gesamtrehabilitation und der beruflichen Teilhabeplanung.

    Mit der Arbeits- und Ergotherapie, der klinischen Sozialarbeit und weiteren Interventionen zur beruflichen Wiedereingliederung besteht in den Einrichtungen ein oft seit Jahrzehnten etabliertes Therapieangebot, das eine Verknüpfung zum Arbeitsleben herstellt. In den Einrichtungen werden medizinisch-arbeitsorientierte Leistungen unter Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Einschränkungen gezielt eingesetzt. Hierbei kann es auch um das Training von Grundarbeitsfähigkeiten in individuell bestimmten teilhabebezogenen Handlungsfeldern gehen. Die teilhabeorientierten Handlungsfelder werden in drei Bereiche unterteilt:

    • Grundarbeitsfähigkeiten: Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Flexibilität, Arbeitstempo, Konzentration und Merkfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten: Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit, Umgang mit Autoritäten, Umgang in der Gruppe
    • Selbstbild: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Selbsteinschätzung, Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit

    Grundsätzlich dürfen die erwerbsbezogenen Behandlungsanteile in allen Phasen der medizinischen Rehabilitation nicht mehr nachrangig sein, sondern sind – wie die medizinische und psychotherapeutische Behandlung – von zentraler Bedeutung. Die Teilnahme an entsprechenden Angeboten muss verbindlichen Charakter haben. Die Inhalte, Auffälligkeiten, Schwierigkeiten und Ergebnisse dieses Bereichs müssen in die Gesamtrehabilitation einfließen und vom gesamten therapeutischen Team professionsübergreifend berücksichtigt werden.

    Therapieleistungen

    Folgende Therapieleistungen, ausgehend von der KTL 2015, sind grundsätzlich sinnvoll und sollten in den Einrichtungen angeboten werden: Problembewältigung am Arbeitsplatz, Motivierung zur Wiederaufnahme einer Arbeit, Umgang mit Ängsten, Gespräche mit Vertretern des Arbeitgebers sowie dem Reha-Fachberater, interne und externe Belastungserprobung (auch am bisherigen Arbeitsplatz), PC-Schulungskurse, Bewerbungstraining und Sozialberatung. Weiterhin gehören die Arbeitstherapie, die Ergotherapie und die Einleitung weiterführender Maßnahmen zu den im Einrichtungskonzept zu beschreibenden relevanten therapeutischen Leistungen. Die BORA-Empfehlungen enthalten außerdem eine ausführliche Darstellung, welche therapeutischen Leistungen für welche Zielgruppen besonders sinnvoll sein können.

    Bei jungen Rehabilitanden erschwert häufig ein fehlender Schulabschluss die weitere berufliche Integration. Parallel zur Rehabilitation durchgeführte Beschulungsprojekte oder Maßnahmen mit dem Ziel, einen schulischen Abschluss zu erlangen, ob integriert oder in Kooperation, sind grundsätzlich sinnvoll.

    Bezüglich der so genannten klinikinternen Dienstleistungen konnte mit BORA Klarheit geschaffen werden: Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden. Zu beachten ist dabei aber stets, dass dieser Einsatz sich am primären Ziel der medizinischen Rehabilitation orientieren muss. Dazu bedarf es einer gezielten Indikation, einer therapeutischen Zielsetzung und Begleitung. Zudem ist eine zeitliche Begrenzung zu beachten.

    Bei der personellen und räumlich-apparativen Ausstattung der medizinischen Rehabilitationseinrichtungen gelten die Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung. Darin sind Zielgrößen für einzelne Berufsgruppen beziehungsweise Funktionsgruppen beschrieben, die konzeptionell begründet auch nach oben und unten abweichen können. Sie stellen somit kein Dogma dar, sondern lassen Raum für regionale Besonderheiten und konzeptionelle Einrichtungsschwerpunkte. In konzeptionelle Weiterentwicklungen durch die Einrichtungen und Einrichtungsträger sollen die Leistungsträger aktiv einbezogen werden. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich und auch durch Abbildung in den Pflegesätzen zu unterstützen.

    Spezielle Leistungsformen

    BORA muss in allen Leistungsformen Anwendung finden, nicht nur in der stationären Entwöhnung. Für die ambulante Rehabilitation gilt dies genauso wie für die adaptive Behandlung oder die Nachsorge.

    Bereits das gemeinsame Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 3. Dezember 2008 bezeichnet die ambulante Rehabilitation als ein Instrument zum Erhalt bzw. zur Erreichung der Eingliederung in Arbeit und Beruf. Für die Zielgruppen BORA 1 bis 4 kommt ein unterschiedlich umfangreiches Leistungsspektrum in Betracht. Die Leistungen umfassen beispielsweise sozialrechtliche Beratung, Berufsklärung unter Einbeziehung geeigneter Screening-Instrumente, soziale Gruppenarbeit (insbesondere Umgang mit beruflichen Themen), Training sozialer Kompetenzen und Belastungserprobung.

    Eine Adaptionsbehandlung als Spezifikum in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten kann die letzte Phase der stationären Rehabilitation bilden. In den Adaptionseinrichtungen wird seit jeher der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und einem zu erreichenden Erwerbsbezug eine besondere Bedeutung beigemessen. Viele Leistungen und Erfahrungen aus den adaptiven Behandlungen finden heute Einzug in die Konzepte der Entwöhnungen. Man kann also vereinfacht formulieren: Adaption ist BORA. Adaptionsbehandlungen werden v. a. von Rehabilitanden der BORA-Zielgruppe 4 (vereinzelt auch 2, 3 und 5) in Anspruch genommen. Die Leistungen umfassen u. a. die Fortsetzung der medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung, die externe Arbeits- und Belastungserprobung, die Festigung der Abstinenz sowie die persönliche Stabilisierung bei auftretenden Krisen im privaten und beruflichen Alltag. All diese Leistungen zielen insgesamt auf die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration ab. Die Adaptionseinrichtungen erbringen den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Praxis und berücksichtigen den Lebensalltag der Rehabilitanden.

    Auch in den Nachsorgeangeboten müssen und werden im Zuge der Implementierung der BORA-Empfehlungen die erwerbsbezogenen Interventionen einen wachsenden Anteil an den Beratungs- und Unterstützungsprozessen ausmachen. Auch bei geringer Kontaktfrequenz zu den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden muss der (Re-)Integration in das Erwerbsleben bzw. dem Erhalt erwerbsbezogener Strukturen eine größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.

    Kooperationen

    Eine frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der medizinischen Reha ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitanden, die arbeitsbezogenen Ressourcen, die individuellen Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten. Im Verlauf der Rehabilitation können diese Kontakte dafür genutzt werden, dass die Rehabilitanden praktische Erprobungen oder berufliche Orientierungsmaßnahmen absolvieren. Möglichst frühzeitig sollte ein zeitnaher Übergang zu weiteren Leistungen sichergestellt werden – z. B. in eine Adaption, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, in eine berufliche Wiedereingliederung – oder zumindest die erforderlichen Vermittlungsbemühungen. Abhängig vom Einzelfall kommen u. a. folgende Kooperationspartner in Betracht:

    • Arbeitgeber, Werks- und Betriebsärzte, betriebliche Sozial- und Mitarbeiterberatung
    • Arbeitsagenturen, Jobcenter
    • behandelnde Ärzte, Hausärzte, Psychotherapeuten
    • berufliche Rehabilitationseinrichtungen, Bildungsträger, Betriebe
    • gemeinsame Servicestellen der Rehabilitationsträger
    • Integrationsämter, Integrationsfachdienste
    • Reha-Fachberater der Rentenversicherungsträger
    • sozialmedizinischer Dienst der Rentenversicherungsträger
    • Suchtberatungsstellen, Fachstellen, (Sucht-)Selbsthilfegruppen

    Konkrete Kooperationsvereinbarungen sollen neben einer Zielformulierung möglichst auch feste Ansprechpartner enthalten. Rahmenbedingungen der Kooperation sollen so konkret wie möglich benannt werden, z. B. wie der Austausch zwischen den Partnern erfolgt und ob es Evaluations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt. Nur wenn Kooperationen gepflegt werden, können sie erfolgreich sein.

    Zukünftig werden Steuerungsmodelle im Sinne eines Case Management gefragt sein, die Leistungen aus unterschiedlichen Segmenten koordinieren. Erste Pilotprojekte gibt es dazu. Ziel muss sein, dass alle Bemühungen – von der Erstberatung über die Vermittlung in ambulante und stationäre Hilfen und nachsorgende Angebote – vernetzt und zielführend gestaltet werden. Eine Anamnese muss nicht viermal erhoben werden, aber berufliche Erprobungen können mehrfach durchgeführt werden und so die Rehabilitanden in ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen stärken.

    Dokumentation und Qualitätssicherung

    Daten zum Bereich Arbeit, Beruf und Erwerbstätigkeit werden in verschiedenen Systemen dokumentiert:

    • In der Basisdokumentation werden zu Beginn der Behandlung verschiedene Informationen erfasst und am Ende der Behandlung erste Ergebnisindikatoren festgehalten.
    • Die dokumentierten Ergebnisse der Eingangs- und Abschlussdiagnostik stellen eine Grundlage für die Therapieplanung und die Veränderungsmessung dar.
    • In der Patientenakte werden alle wesentlichen Informationen zum Behandlungsverlauf dokumentiert.
    • Die einrichtungsinterne Leistungserfassung erfolgt mit der KTL, deren neue Version 2015 durchaus verbesserte Möglichkeiten zur Dokumentation der arbeits- und berufsbezogenen therapeutischen Leistungen bietet.
    • Im Reha-Entlassungsbericht (neuer Leitfaden der DRV vom September 2014) werden alle wesentlichen Informationen zum Verlauf und zum Ergebnis der Reha zusammengefasst. Von zentraler Bedeutung ist hier die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, die im freien Text (Blatt 2) möglichst gut begründet werden soll.

    Die in der medizinischen Rehabilitation etablierten Systeme für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beinhalten verschiedene Vorgaben für die Leistungsgestaltung und die Struktur von Ergebnisindikatoren. Die externe Qualitätssicherung erfolgt im Rahmen des Reha QS-Programms der Deutschen Rentenversicherung und umfasst folgende Instrumente:

    • Rehabilitandenbefragung mit einzelnen Fragen zur Arbeits- und Berufsorientierung (insbesondere zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit)
    • Peer Review-Verfahren (Checkliste und Manual in neuer Version vom Dezember 2014) zur Überprüfung der inhaltlichen Qualität der Reha-Entlassungsberichte mit dem Fokus Reha-Prozess und Reha-Ergebnis
    • Therapeutische Versorgung (KTL) mit Kennzahlen zu Häufigkeit, Dauer und Differenziertheit der dokumentierten Leistungsdaten (Leistungsverteilung, Leistungsmenge, Leistungsdauer) und einer gesonderte Auswertung der therapeutischen Leistungen im Bereich Arbeits- und Berufsorientierung
    • Reha-Therapiestandards (RTS) mit Anforderungen in einzelnen ETMs (Evidenzbasierte Therapiemodule) mit speziellen therapeutischen Anforderungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit
    • Visitationen nach einer einheitlichen Checkliste, die auch die Aspekte „arbeitsbezogene Leistungen“, „Sozialmedizin“ und „Sozialdienst“ umfasst
    • Rehabilitandenstruktur mit soziodemografischen (z. B. Alter, Bildungsniveau, Erwerbsstatus) und krankheitsbezogenen Merkmalen (z. B. Diagnosen, Leistungsfähigkeit)
    • Sozialmedizinischer Verlauf zum Verbleib der Rehabilitanden im Erwerbsleben mit Bezug zur Beitragszahlung an die gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur aus Erwerbstätigkeit resultieren kann (Ab 2011 haben sich die gesetzlichen Grundlagen für Hartz-IV-Empfänger geändert, d. h., es werden für diese Personengruppe keine RV-Beiträge mehr gezahlt, was aufgrund der hohen Langzeitarbeitslosigkeit im Indikationsbereich Sucht zu einer deutlichen Verschlechterung dieser Kennzahlen führen kann.)

    Zu den genannten Instrumenten und Indikatoren werden regelmäßig einrichtungsspezifische QS-Berichte erstellt, die Grundlage für einen Qualitätsvergleich der Einrichtungen und deren Qualitätsentwicklung sein sollen.

    Im Bereich der internen Qualitätssicherung werden von den Reha-Einrichtungen verschiedene Instrumente zur Analyse von Indikatoren und Kennzahlen im Zeitverlauf und zum Einrichtungsvergleich eingesetzt. Dazu zählen insbesondere:

    • Patientenbefragungen zur Erhebung der Zufriedenheit am Behandlungsende oder am Stichtag, u. a. mit Fragen zu den Leistungen im Bereich Arbeits- und Ergotherapie
    • Basisdokumentation mit Erhebung des Erwerbsstatus vor und nach der Rehabilitation. Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen und in der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS).
    • Katamnesen nach dem Standard des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) nach einem Jahr zum Behandlungserfolg (insbesondere Abstinenz, Erwerbstätigkeit und Kontextfaktoren). Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen.

    Zum internen Qualitätsmanagement besteht für alle stationären Reha-Einrichtungen eine Zertifizierungspflicht nach § 20 Abs. 2a SGB IX (BAR-Vereinbarung von 2009). Der entsprechende Anforderungskatalog umfasst auch Qualitätskriterien, die die Struktur- und Prozessqualität im Bereich arbeits- und berufsbezogene Leistungen betreffen. Für die relevanten Kernprozesse ist ein Prozessmanagement zu etablieren, die Teilnahme an einem Verfahren der externen QS ist vorgeschrieben, und es müssen Verfahren für die interne Messung und Analyse von Ergebnissen eingesetzt werden.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den bestehenden QM- und QS-Systemen bislang nur wenige oder eher globale Indikatoren zur Analyse der Arbeits- und Berufsorientierung enthalten sind. Verschiedene Weiterentwicklungen im QS-Programm der DRV wären denkbar: Im Rahmen der Rehabilitandenbefragung könnten die Leistungen in der Einrichtung, die sich auf Beruf und Arbeit beziehen, differenzierter abgefragt werden. Bei der Analyse der Rehabilitandenstruktur könnten die BORA-Zielgruppen explizit dargestellt werden. Und bei der im Jahr 2015 laufenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards könnten die ETMs, die die Arbeits- und Berufsorientierung betreffen, zusammengefasst und stärker an den BORA-Empfehlungen ausgerichtet werden.

    Aktuell wird auch die Erhebung einer ‚Integrationsquote‘ diskutiert, die den Anteil der konkret in Erwerbstätigkeit gebrachten Rehabilitanden (für jede Reha-Einrichtung) messen soll. Auch wenn das auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, ist Vorsicht geboten, denn der Auftrag der Reha-Einrichtungen bezieht sich primär auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Bei der Integration in eine Erwerbstätigkeit spielen viele Einflussfaktoren und Leistungen außerhalb bzw. vor und nach der medizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Zudem kann eine einzelne Einrichtung weder für ihr regionales Umfeld und die entsprechende Arbeitsmarktsituation verantwortlich gemacht werden noch alle Schwierigkeiten ausgleichen, die aufgrund der konzeptionell bedingten Rehabilitandenstruktur (Zielgruppenmix) bestehen.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Denis Schinner
    Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption
    Merschstraße 49
    59387 Ascheberg-Herbern
    dschinner@netzwerk-suchthilfe.org
    www.netzwerk-suchthilfe.org
    www.facebook.com/fachklinik.release

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Denis Schinner ist Verwaltungsleiter der Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption, Ascheberg-Herbern.

  • Weiterführende Maßnahmen nach der Rehabilitation

    Weiterführende Maßnahmen nach der Rehabilitation

    Jörg Heinsohn
    Jörg Heinsohn

    Die fünf in den BORA-Empfehlungen beschriebenen Zielgruppen bieten nicht nur eine Orientierung für die Planung und Durchführung berufsbezogener Maßnahmen während der Therapie, sondern auch für die Zeit danach. Den einzelnen Zielgruppen lassen sich unterschiedliche weiterführende Maßnahmen zuordnen, die aus der Reha heraus angeregt werden können. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Maßnahmen je nach Zielgruppe in Frage kommen.

    BORA-Zielgruppe 1: Rehabilitanden in Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen

    Sozialmedizinisch ist davon auszugehen, dass eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit besteht. Es gibt somit keine wesentlichen Einschränkungen für die letzte Tätigkeit, und Maßnahmen sind nur beschränkt oder gar nicht erforderlich. Trotzdem ist es sinnvoll, die betriebliche Wiedereingliederung im Rehaprozess vorzubereiten und einzuleiten.

    Formale Möglichkeiten bestehen im Rahmen des betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements nach § 80 SGB IX und mit der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX. Inhaltlich finden Betriebsgespräche, Kontakte zu betrieblichen Sozialdiensten, Betriebsärzten, freiwilligen Suchtkrankenhelfern oder anderen relevanten Personen im betrieblichen Zusammenhang statt.

    BORA-Zielgruppe 2: Rehabilitanden in Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen

    In dieser Gruppe bestehen erwerbsbezogene Probleme bezüglich der Wiedereingliederung am Arbeitsplatz. Lange Arbeitsunfähigkeitszeiten (AU-Zeiten), Konflikte am Arbeitsplatz oder medizinische Gründe können die Ursache sein. Ist die sozialmedizinische Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit eingeschränkt, greifen als formale Möglichkeiten der beruflichen Wiedereingliederung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (LTA) nach §§ 33-38 SGB IX. Die Leistungen können bezogen auf den Rehabilitanden selbst oder an den Arbeitgeber geleistet werden.

    Weiterhin werden in dieser Zielgruppe das Wiedereingliederungsmanagement nach § 80 SGB IX und die stufenweise Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX Anwendung finden. Liegt eine Schwerbehinderung vor, ist das Integrationsamt nach § 101 f. SGB IX oder der Integrationsfachdienst nach § 109 f. SGB IX potentiell zu beteiligen.

    BORA-Zielgruppe 3: Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III

    Rehabilitanden dieser Gruppe weisen in der Regel eine Bezugstätigkeit von mehr als sechs Monaten innerhalb der letzten fünf Jahre auf. Die erste Frage ist, in welchem Umfang für diese Tätigkeit Leistungsfähigkeit besteht. Ist diese mit sechs Stunden oder mehr gegeben, kommen Fördermöglichkeiten nach dem SGB III in der Verantwortlichkeit der Agentur für Arbeit in Betracht: Beratung § 29 f., Vermittlung § 35 f., Maßnahmen zur beruflichen Aktivierung und Eingliederung § 45 f., berufliche Weiterbildung § 81 f. SGB III.

    Liegt die Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit unter drei Stunden, sind nach §§ 33-38 SGB IX Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz (LTA) möglich. Diese können inhaltlich z. B. als Integrations-, Qualifizierungs- oder Umschulungsmaßnahmen gestaltet werden. Auch in diesem Fall sind LTA arbeitgeberbezogen möglich.

    Bei Vorliegen einer Schwerbehinderung ist der Integrationsfachdienst nach § 109 f. SGB IX potentiell zu beteiligen. Bei vorliegender Behinderung sind u. U. Maßnahmen im Rahmen von LTA im Eingangs-, Bildungs- oder Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zu erwägen, § 39 f. SGB IX.

    BORA-Zielgruppe 4: Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II

    In dieser Gruppe ist zunächst wiederum zu prüfen, ob eine Bezugstätigkeit von mehr als sechs Monaten innerhalb der letzten fünf Jahre vorliegt. Ist dies gegeben, können LTA nach §§ 33-38 SGB IX in Frage kommen, vorausgesetzt, es besteht eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit für diese zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Grundsätzlich sei erwähnt, dass LTA nach dem SGB IX auch zum Tragen kommen können, wenn nach der Rehabilitation eine dauerhafte Gefährdung der Integration in den 1. Arbeitsmarkt angenommen werden muss. Diese Auslegungsvariante wird aber nur sehr bedingt von den Leistungsträgern angewandt.

    Wenn keine Bezugstätigkeit vorliegt und eine sozialmedizinische Einschränkung besteht, was bei dieser Gruppe oft der Fall sein wird, dann kommen Maßnahmen nach dem SGB II durch die Jobcenter zum Zug: Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach § 14 f. SGB II und Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach § 28 f. SGB II.

    Bei vorliegender Behinderung kann der Integrationsfachdienst nach SGB IX beauftragt und  Maßnahmen im Eingangs- und Bildungsbereich einer WfbM durchgeführt werden.

    BORA-Zielgruppe 5: Nicht-Erwerbstätige

    In dieser Gruppe bestehen unterschiedliche Förderungsmöglichkeiten. Persönliche und sachliche Voraussetzungen und daraus resultierende Zuständigkeiten müssen geprüft werden und sind ausschlaggebend. Denkbar sind Förderungen nach dem SGB IX (LTA), SGB II, SGB III und SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG).

    In dieser Gruppe können grundsätzlich alle oben beschriebenen Maßnahmen zum Tragen kommen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Zum Teil sind spezifische Fördermöglichkeiten gegeben, wie z. B. die Förderung von Jugendlichen nach dem SGB III oder des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen ebenfalls nach dem SGB III.

    Kontakt:

    Jörg Heinsohn
    Rehaklinik Birkenbuck
    Birkenbuck 4
    79429 Malsburg-Marzell
    J.Heinsohn@rehaklinik-birkenbuck.de
    www.rehaklinik-birkenbuck.de

    Angaben zum Autor:

    Jörg Heinsohn, Diplom-Sozialarbeiter (FH), ist Leiter des Bereichs Sozialtherapie in der Rehaklinik Birkenbuck.