Schlagwort: Jugendhilfe

  • Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Frauke Gebhardt

    Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil unter einem Dach, 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem illegale Drogen konsumiert werden. Und bis zu 150.000 Kinder haben Väter oder Mütter, die glücksspielsüchtig sind.

    Was bedeutet ein Leben im Schatten der elterlichen Sucht für den Alltag der Kinder? Er ist gekennzeichnet von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig erfahren diese Kinder auch Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Die gravierenden Belastungen in der Kindheit haben vielfach lebenslange negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf die schulische Bildung und somit auch auf berufliche Erfolge. Überdies sind Kinder suchtkranker Eltern die größte bekannte Risikogruppe für eine eigene Suchterkrankung und hochanfällig für psychische Erkrankungen und soziale Störungen. Gemessen an der Anzahl der betroffenen Kinder gibt es in Deutschland nur wenig Hilfeangebote. So kommen etwa 15.000 Kinder auf jedes der rund 120 bis 200 existierenden Angebote. Die Hilfelandschaft ist zudem von starken regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

    Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, wurde 2014 ein Prozess angestoßen, woraus 2019 insgesamt 19 Empfehlungen hervorgingen. Nun sind zweieinhalb Jahre vergangen, da stellen sich die Fragen „Wo stehen wir jetzt? Und wo wollen und müssen wir noch hin?“

    Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung wurde begonnen. Aber es fehlen an verschiedenen Stellen noch konkrete Aufträge, um notwendige rechtliche Anpassungen sowohl auf Bundesebene als auch in den Bundesländern durchzusetzen, die Vernetzung voranzutreiben und in der Praxis anwendbare Finanzierungswege zu finden. Ebenso offen ist die Ausgestaltung der bereits umgesetzten Empfehlungen, denn erst in der Anwendung wird sich zeigen, ob die Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Der Weg vom Antrag zum Auftrag

    Die Einsetzung der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) war ein Meilenstein. Wie kam es dazu?

    2014 schlossen sich 19 Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Diesem Antrag folgten zahlreiche Gespräche mit Politikern und Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen, bis schließlich im Juni 2017 mit der einstimmigen Verabschiedung eines interfraktionellen Entschließungsantrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN das erste große Ziel erreicht wurde.

    In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, welche einvernehmlich Vorschläge erarbeiten sollte, um die Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu verbessern. Es sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Weiterhin wurden Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien sowie Fachleute wie Ärzt:innen, Lehrer:innen und weitere Schnittstellenakteur:innen beschlossen. Zudem wurde festgelegt, dass das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, verankert werden soll.

    Im März 2018 tagte die Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums mit Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sowie 29 Verbänden, Fachgesellschaften und Interessensvereinigungen, sieben Wissenschaftler:innen und zwei Moderatoren zum ersten Mal. Nach vier weiteren Sitzungen, drei Fachgesprächen sowie drei umfangreichen Expertisen (Recht, Forschung und Gute Praxis), in denen die Ist-Situation erfasst wurde, konnten dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien vorgelegt werden.

    Sieben Empfehlungen (Empfehlung 1 bis 6 und 19) zielen auf eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Weitere sieben Empfehlungen (Empfehlung 7 bis 12) beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Die verbleibenden sechs Empfehlungen dienen der verbesserten Zusammenarbeit und stärkeren Verzahnung der Hilfen an den Schnittstellen Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen (Empfehlung 13 bis 18).

    Nach der Abschlussveranstaltung im März 2020 hofften die Expert:innen, durchstarten zu können, doch dann kam die Corona-Pandemie und verschärfte sowohl die Lage der Kinder und Jugendlichen als auch die Situation der Hilfeangebote, bremste den frischen Schwung aus und lenkte den politischen Fokus auf andere Themen.

    Von den Empfehlungen zur Umsetzung – Wo stehen wir heute?

    Die 19 Empfehlungen lassen sich vier inhaltlich sehr weit reichenden Kernthesen unterordnen, welche die Ziele zusammenfassen, die zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien erreicht werden müssen:

    • Kernthese I
      Die Leistungen sind sowohl individuell als auch am Bedarf der Familie ausgerichtet flächendeckend auf- und auszubauen und für die betroffenen Kinder über alle Altersgruppen hinweg und ihre Eltern zugänglich zu machen.
    • Kernthese II
      Präventive Leistungen sollten für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen sowie für deren Familien zugänglich sein.
    • Kernthese III
      Um komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden, müssen die bestehenden Hilfs- und Unterstützungsangebote besser ineinandergreifen.
    • Kernthese IV
      In den örtlichen und regionalen Netzwerken müssen Lotsen die Zugänge zu (weiteren) Hilfen und jeweils bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahmen an den Schnittstellen unterschiedlicher Leistungssysteme erleichtern.

    Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteur:innen, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden.

    Kernthese I

    Im Rahmen der Kernthese I wird unter anderem empfohlen eine flexible, kontinuierliche und bedarfsgerechte Alltagsunterstützung als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe mit einem einklagbaren Rechtsanspruch einzuführen (Empfehlung 1). Der ursprünglich als § 28a SGB VIII vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Rahmen der Novellierung des SGB VIII an den § 20 SGB VIII angedockt und stärkt nun den Anspruch der Eltern auf Unterstützung bei der Betreuung des im Haushalt lebenden Kindes. Die fachliche Feststellung von Bedarf und Eignung der Hilfe kann durch die Beratungsstelle erfolgen. Weil nun kein Antrag beim Jugendamt mehr gestellt werden muss, ist der Zugang zum Beratungsangebot deutlich leichter möglich.

    Außerdem empfehlen die Expert:innen der Arbeitsgruppe, die Möglichkeit der Kombination mehrerer Hilfen auszubauen, um das bessere Ineinandergreifen voranzutreiben (Empfehlung 1), einen unmittelbaren und flexiblen Zugang zu Angeboten zu gestalten (Empfehlung 2) sowie die Bedarfsgerechtigkeit und die Qualität von Hilfeangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern (Empfehlung 4). Diese Empfehlungen wurden ebenfalls im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zur Umsetzung, der Finanzierung und der Gestaltung des Übergangs. Eine ausführliche Stellungnahme zu Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung wurde im Mai 2022 von der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Bayern e.V. veröffentlicht.

    Die Empfehlung 3 legt die Sicherstellung flexiblerer Hilfen nahe, die an dem Bedarf der Familie im Einzelfall ausgerichtet sind. In der Hilfeart wird noch häufig das vorherrschende Bild der „Einversorger-Familie“ zugrunde gelegt. Das muss aufgebrochen und an die Lebensverhältnisse der Familien angepasst werden. Wünschenswert wäre, dass hier die Flexibilität weitergedacht wird – nicht nur bezogen auf die Familienverhältnisse, sondern auch auf die Erkrankungen.

    Weiterhin sieht die Arbeitsgemeinschaft großen Handlungsbedarf beim Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen ohne Kenntnis ihrer Eltern (Empfehlung 5). Dies ist besonders relevant, wenn Eltern ihre Krankheit nicht einsehen oder sie noch nicht bereit sind, Unterstützung für ihre Kinder anzunehmen. Bisher hatten Kinder und Jugendliche in diesen Fällen zwar das Recht auf Beratung, allerdings nur, wenn eine Not- und Konfliktlage vorlag, welche in einem ersten Beratungskontext nicht unbedingt offensichtlich ist. Mit dem neuen SGB VIII ist 2021 zumindest die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Not- und Konfliktlage und ohne das Wissen und die Einwilligung der Eltern beraten werden dürfen. Dass dann tatsächlich Kinder den Zugang in die Beratungsstelle finden und wie niedrigschwellig dieser sein kann, sind Herausforderungen für die Praxis.

    In Empfehlung 6 werden der „Ausbau und die Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten und umfassend barrierefreien Online-Plattform“ für Kinder und Jugendliche gefordert. Diese soll die Suche nach wohnortnahen Hilfen durch eine Postleitzahlenrecherche vereinfachen.

    Es gibt bereits zwei erfahrene Anbieter, die Schritte zu einer Umsetzung der Empfehlung 6 gegangen sind. Sowohl KidKit, das Hilfesystem der Kölner Drogenhilfe (www.kidkit.de), als auch NACOA Deutschland e.V. (www.nacoa.de) halten seit 2003 bzw. seit 2014 Online-Plattformen vor, auf denen sich Betroffene anonym Rat suchen können. KidKit richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren und bietet Hilfe zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen in der Familie. Bei NACOA Deutschland e.V. liegt der Schwerpunkt auf der Online- und Telefonberatung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsenen, Angehörige und Fachkräfte zu den Themen Sucht und Traumatisierung in der Familie. Mittels Recherche über Postleitzahlen bzw. digitale Landkarten können sich Betroffene auch eingeständig wohnortnahe Beratung suchen.

    Durch ihre unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte ergänzen sich die beiden Angebote. In einer gemeinsamen Initiative streben KidKit und NACOA Deutschland e.V. an, sich zusammenzuschließen und ihre bereits etablierten Angebote im Verbund ausbauen.

    Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die Strukturen für die Kinder, Jugendliche, Familien und Fachkräfte nachhaltig zu verbessern und die Empfehlung 6 vollständig und qualitätsgesichert umzusetzen, ist es essenziell, dass entsprechende Angebote nicht nur projektfinanziert existieren, sondern in eine Regelfinanzierung überführt werden. Gerade niedrigschwellige Hilfen für (hochtraumatisierte) Kinder und Jugendliche aus stark belasteten Familien dürfen nicht nach Abschluss eines Projektzeitraums wegbrechen oder wegzubrechen drohen, sondern müssen dauerhaft verankert werden und somit eine verlässliche Adresse in der Hilfelandschaft sein.

    Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Kommunikationsplattform geschaffen, die es ihnen kostenfrei ermöglicht, sich praxisnah über verschiedene Probleme und Herausforderungen auszutauschen, eigene Angebote dazustellen, geplante Veranstaltungen zu bewerben sowie Studien und Fachinformationen abzurufen: https://coakom.de/

    Kernthese II

    Die Empfehlungen unter der Kernthese II beziehen sich auf den Bereich der Prävention. Obwohl auch primärpräventive Angebote von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie der Suchthilfe und der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien leisten, geht es bei diesen Empfehlungen in erster Linie um die Leistungen der Krankenkassen nach SGB V.

    In der Empfehlung 7 der AG KpkE heißt es, dass die Leistungen der Krankenkassen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten oder psychisch belasteten Familien an deren spezifischen Bedarfen ausgerichtet werden sollen und dass die Anzahl der entsprechenden Aktivitäten sowie der erreichten Personen gesteigert werden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich anhand der verfügbaren Daten aus dem Präventionsbericht 2021 nicht einschätzen, ob die Ziele der Empfehlung erreicht wurden. Jedoch lässt sich an der Anzahl der gestellten Anträge zur Förderung von vulnerablen Zielgruppen im Rahmen des GKV-Bündnisses für Gesundheit ein hoher Bedarf seitens der Kommunen ablesen.

    In Bezug auf das Förderprogramm des GKV-Bündnisses für Gesundheit (ein Zusammenschluss aller Krankenkassen und ihrer Verbände; die Antragsfristen sind mittlerweile abgelaufen) empfahl die Arbeitsgruppe, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die BZgA gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, dass Kommunen das Förderprogramm auch in Anspruch nehmen (Empfehlung 8). Anfang 2019, also bereits bevor die Empfehlungen veröffentlicht waren, bewarb der GKV-Spitzenverband den Start des Förderprogramms mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen. Aufgrund des komplexen Antragsstellungsprozesses gab es seitens der Nutzer:innen zahlreiche Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Programmorganisation und der Finanzierungslogik. Diese werden in einer externen Evaluation erfasst und fließen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess ein. Insgesamt erhalten laut GKV-Spitzenverband mittlerweile 25 Kommunen, die den Schwerpunkt ihres Projektes auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche aus psychisch bzw. suchtbelasteten Familien legen, eine Förderung durch das GKV-Bündnis für Gesundheit.

    Parallel dazu soll gemeinsam mit Akteure:innen aus Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und dem Gesundheitswesen ein Qualitätsentwicklungsprozess auf Bundes- und Landesebene angestoßen werden. Dieser soll auch ermitteln, wie der Zugang zu (Gruppen-)Programmen in den Kommunen erleichtert werden kann (Empfehlung 8). Der Prozess wird gegenwärtig auf Bundesebene angegangen, die Länderebene müsste in einem weiteren Schritt noch folgen. Hierfür wurde bereits mit dem Handlungsrahmen für eine Beteiligung der Krankenkassen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention eine Grundlage geschaffen. Ein Bestandteil des GKV-Handlungsrahmens ist eine Handreichung für die GKV auf Landesebene, in welcher auch die relevanten Handlungsfelder für eine Beteiligung der GKV, einschließlich des in der Empfehlung 8 geforderten Zugangs zu (Gruppen-)Programmen, aufgeführt werden. Wie es in der Praxis tatsächlich flächendeckend gelingt, die bestehenden Projekte aus dem Modus der Projektförderung in den Modus der Regelfinanzierung zu überführen, bleibt jedoch offen. Denn das Bestreben, das Thema Kinder psychisch und suchtbelasteter Eltern in die Präventionsstrategie einzubringen, orientiert sich an den Ergebnissen der Nationalen Präventionskonferenz (NPK), welche erst 2027 finalisiert werden sollen. Bis sich die Strukturen vor Ort ändern und die Hilfe bei den psychisch und suchtbelasteten Familien ankommt, werden wohl noch einige Jahre vergehen.

    Die Träger der nationalen Präventionskonferenz wurden im Rahmen der Empfehlungen aufgerufen, die Zielgruppe Kinder von psychisch und suchtkranken Eltern und deren Familien stärker in den Blick zu nehmen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Strategie der Länder, Kommunen, Krankenkassen und Jugendhilfeträger zu Hilfenetzwerken und Gruppenangeboten (Empfehlung 9) zu entwickeln. Im Rahmen des Dialogprozesses brachten Träger und Verbände ihre Positionen und die aus ihrer Sicht erforderlichen Änderungen ein. Ende 2020 beschloss die NPK, die nationale Präventionsstrategie stärker gesamtgesellschaftlich und politikfeldübergreifend auszurichten. Dafür wurden zwei Themen festgelegt, darunter das Thema „Psychische Gesundheit im familiären Kontext“. Eine Gruppe von Verbänden erreichte, dass auch ein Workshop zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern durchgeführt werden konnte. Daraus entstand eine Synopse zu Änderungen im SGB V, bezogen auf die psychiatrische Versorgung und Kinder psychisch kranker Eltern, die im Frühjahr 2022 an die Aktion Psychisch Kranke (APK) sowie an Gesundheitspolitiker versendet wurde. Bis heute warten die Verbände gespannt darauf, ob und wie die Änderungsvorschläge angenommen und umgesetzt werden können.

    Die in Empfehlung 10 von der Arbeitsgruppe geforderte Förderung von abgestimmten, koordinierten und vernetzten Vorgehensweisen durch die Sozialversicherungsträger bezieht sich in der Praxis auf die Abstimmungen auf der Landesebene in den Gremien der Landesrahmenvereinbarung. Hier steht die Umsetzung in allen Bundesländern noch am Anfang. Daher wurden auch die Empfehlung 11 „Anpassung und Erweiterung der Landesrahmenvereinbarungen im Sinne der Empfehlung 9“ und die Empfehlung 12 „Weiterentwicklung und Umsetzung der Regelungen und Verfahrensweisen in der Prävention auf Grundlage des Präventionsberichtes“ bisher nicht realisiert.

    Die Empfehlung 13 schlägt eine gesetzliche Klarstellung im SGB V vor, welche die wechselseitige Transparenz zu den Leistungen zwischen GKV und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sicherstellen soll. Diese gesetzliche Anpassung ist mittlerweile erfolgt, wenngleich sie in der Praxis noch keine große Rolle spielen dürfte.

    Kernthese III

    Die Empfehlungen unter der Kernthese III zielen auf ein besseres Ineinandergreifen der Hilfs- und Unterstützungsangebote, um den komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden. Die in Empfehlung 14 geforderte Überwindung der Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, z. B. durch die stärkere Nutzung der Gesamtplankonferenz, ist bereits im Gesetz verankert. Allerdings ist unklar, inwieweit die Praxis die Bestärkung der bestehenden Gesetze durch die Empfehlungen wahrnimmt. Auch die rechtliche und finanzielle Absicherung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Empfehlungen 15 und 16) wurde angegangen, jedoch nicht in dem Umfang, den die Expert:innen der Arbeitsgruppe empfehlen, sondern lediglich in Bezug auf die Finanzierung von niedergelassenen Ärzt:innen, die im Rahmen der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls eingesetzt werden (§ 73 c SGB V). Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, der aber noch Luft nach oben lässt, denn wichtige Grundlagen und nächste Umsetzungsschritte fehlen noch. Bis heute sind daher am individuellen Bedarf orientierte, sozialgesetzbuchübergreifende, familienorientierte Hilfen nicht strukturell verortet und kommen bei den Betroffenen auch nicht an.

    Über die in der Empfehlung 17a geforderten Komplexleistungen wird nach wie vor diskutiert. Das Medizinsystem sieht diese ausschließlich innerhalb des SGB V, die AG KpkE meint in ihren Empfehlungen jedoch SGB-übergreifende Komplexleistungen, die den Fokus der bisher vorwiegend individuenzentrierten Behandlung auf das gesamte Familiensystem erweitern. Für die betroffenen Familien ist es äußert mühsam, die verschiedenen Hilfesysteme zu verstehen und die für sie notwendigen Hilfen eigenständig einzufordern. SGB-übergreifende Komplexleistungen würden dies erleichtern und gleichzeitig die Bindungsqualität, die Erziehungskompetenz und die Resilienz von Kindern und Eltern fördern. Und auch für die Fachkräfte in den unterschiedlichen Bereichen würden SGB-übergreifende Komplexleistungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern, das Entstehen von interdisziplinären Einrichtungen und Diensten für Eltern und ihre Kinder fördern (Empfehlung 17b) und das Nebeneinander-Existieren der Leistungssysteme verhindern.

    Doch bisher ist noch vieles unklar. Es müssen rechtliche Anpassungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern vorgenommen werden, und es braucht eine Regelung der Fallzuständigkeit sowie eine abgestimmte koordinierte Vermittlung zwischen den Systemen. Am wichtigsten scheint aber momentan die Frage: Wer erteilt den rechtlichen Auftrag zur Flexibilisierung der Unterstützung? Im Koalitionsvertrag ist die Hilfe für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Bereich Familie verortet, im Bereich Gesundheit fehlt dadurch ein klarer Auftrag. Für ein solches Vorhaben (Empfehlungen 17a und b) müssen sich allerdings alle Hilfesysteme, in denen sich die Familien bewegen, an einen Tisch setzen.

    Weiterhin empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme erstellt (Empfehlung 18). Dies wurde kommunal und in einzelnen Bundesländern bereits aufgegriffen, ein bundespolitischer Auftrag fehlt jedoch noch. Nach Kenntnisstand von NACOA Deutschland e.V. gibt es allerdings gerade politische Bestrebungen, die Umsetzung der Empfehlungen 6 und 18 voranzutreiben, was wir sehr begrüßen. Die kommentierte Übersicht „Modelle guter Praxis für kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ sowie die Handreichung „Kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz bilden dafür eine wertvolle Grundlage.

    Kernthese IV

    Die letzte Empfehlung (Nr.19) regt die Klarstellung an, dass Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen umfasst, wenn deren Leistungen erforderlich sind. Die ab 2024 bis 2028 geplanten Verfahrenslotsen (nach § 10b SGB VIII) sind eine Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlung im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Sie sollen sowohl eine unabhängige Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Eltern von Kindern mit Behinderung bieten als auch Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe. Wie die Umsetzung gelingt und ob die Hilfen auch bei Kindern aus suchtbelasteten Familien ankommen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

    Ausblick

    Alles in allem wird deutlich, dass bereits einige der Empfehlungen aufgegriffen bzw. umgesetzt wurden. Dennoch ist noch viel zu tun: Konkrete Aufträge müssen auf bundes- und landespolitischer Ebene ausgesprochen werden, um notwendige rechtliche Anpassungen durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben. Für die Praxis und gemeinsam mit den Praktiker:innen müssen praktikable Finanzierungswege und zum Teil kreative Umsetzungswege gefunden werden, damit die Hilfen auch wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Um die noch offenen Ziele und Maßnahmen umzusetzen, bedarf es einer stärkeren systematischen, interdisziplinären und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und vor allem einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden.

    In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!

    Kontakt:

    Frauke Gebhardt
    NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    gebhardt(at)nacoa.de
    https://nacoa.de/

    Angaben zur Autorin:

    Frauke Gebhardt arbeitet seit August 2020 bei NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. Dort leitet sie das Projekt „Bundesweite Vernetzung von Akteuren des Hilfesystems für Kinder suchtkranker Eltern“. Mit diesem Projekt soll aufbauend auf die bestehenden Strukturen ein bundesweites digitales Fachkräfte-Netzwerk geschaffen werden. Des Weiteren ist sie zuständig für Advocacy-Arbeit sowie die COA-Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

    Literatur:
  • Beratung junger Menschen – ein Arbeitsfeld im Wandel

    Beratung junger Menschen – ein Arbeitsfeld im Wandel

    Beratungsangebote im Kreis Segeberg

    Marius Neuhaus

    Der schleswig-holsteinische Kreis Segeberg ist ein mittelschichtsgeprägter Landkreis im Norden der Metropolregion Hamburg mit einer Einwohnerzahl von rund 278.000. Die örtlichen Beratungsangebote der freien Träger werden durch den Landkreis finanziert und beziehen sich auf verschiedene sozialrechtliche Grundlagen oder werden als freiwillige Leistungen bereitgestellt. Die Therapiehilfe gGmbH ist ein Träger der ambulanten und stationären Suchthilfe im norddeutschen Raum. Ihr Angebotsspektrum umfasst: Beratung, ambulante, ganztägig ambulante und stationäre Therapie, Entgiftung, Rehabilitation, Nachsorge sowie Wiedereingliederung in Schule und Beruf. Außerdem ermöglicht die Therapiehilfe Arbeit und Beschäftigung in trägereigenen Einrichtungen. Im Kreis Segeberg betreibt sie Suchtberatungsstellen und Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Zu den weiteren Aufgaben gehört der Betrieb und die Koordination von örtlichen Beratungszentren, in denen verschiedene regional tätige Träger der sozialen Arbeit ihre Angebote unter einem Dach gebündelt vorhalten. Die koordinierende Tätigkeit in den Beratungszentren umfasst u. a. die Durchführung von trägerübergreifenden Projekten, wie der hier beschriebenen Befragung.

    Das Befragungsprojekt

    Im Zeitraum vom 10.05. bis 30.08.2021 wurde eine Online-Befragung junger Menschen durchgeführt. Sie erfolgte unter dem Titel „Sag uns, wie wir dich unterstützen können“. Die befragenden Träger waren die freien Träger der örtlichen Beratungsstellen, die Angebote für junge Menschen vorhalten. Die Befragung erfolgte unter Federführung der Therapiehilfe gGmbH mittels eines Online-Fragebogens und richtete sich an junge Menschen bis 27 Jahre.

    Die Befragung folgte keinem wissenschaftlichen Anspruch, sondern sie diente als Kommunikationsinstrument, um junge Menschen in der Zeit der Pandemie anzusprechen und in einen Prozess der Angebotsentwicklung als Expert:innen in eigener Sache einzubeziehen. Die dreiunddreißig Einzelfragen folgen vier Leitfragen bzw. Auswertungskategorien:

    1. Wer sind die teilnehmenden Personen?
    2. Was beschäftigt die jungen Menschen / sind ihre Themen?
    3. Welche Form der Beratung wünschen sich junge Menschen von den Beratungsstellen?
    4. Wie zufrieden sind die jungen Menschen mit bereits erhaltener Beratung?

    Kategorie 1: Wer sind die teilnehmenden Personen?

    Es haben 380 junge Menschen an der Befragung teilgenommen. 336 vollständige Fragebögen konnten ausgewertet werden. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 15,4 Jahren. 82 Prozent waren unter 18 Jahren. Im Alter von 13 bis 17 Jahren waren 69 Prozent. Der Anteil der weiblichen Befragten lag bei 59 Prozent. Männlichen Geschlechts zu sein, gaben 39 Prozent an. Als divers kategorisierten sich 0,6 Prozent, sich der Zuordnung noch nicht sicher waren 1,5 Prozent der jungen Menschen.

    Neun Prozent der jungen Menschen sahen bei sich einen Migrationshintergrund, 13 Prozent machten zu dieser Frage keine Angabe. 78 Prozent der Teilnehmenden verneinten einen Bezug zu Migration. Eigene Kinder hatten 1,2 Prozent der Befragten. Von der Befragung erfahren hatten 15 Prozent durch die eigene Teilnahme an einer Beratung. Die anderen Teilnehmer:innen wurden über Kooperationspartner:innen in Prävention, Schulsozialarbeit, Schule und offener Jugendarbeit gewonnen.

    Bei der Ansprache der teilnehmenden Personen wurden bewusst offene Antworten ermöglicht. Dies bedeutete, dass sich die jungen Menschen im Bereich Migration und sexueller Identität nicht eindeutig zuordnen mussten. Damit konnte sichtbar werden, dass es junge Menschen möglicherweise vorziehen, sich jenseits einer ethnischen Bipolarität oder einer definierten sexuellen Kategorie zu identifizieren.

    Kategorie 2: Was beschäftigt die jungen Menschen / sind ihre Themen?

    In dieser Auswertungskategorie wurden Fragen gestellt, die die allgemeine Lebenszufriedenheit, die relevanten Lebensthemen, das Nutzungsverhalten von Medien sowie die Bereitschaft zur Annahme einer Beratung umfassen. Die Antworten wurden als Zustimmung auf einer Skala von 1 bis 6 angegeben.

    a) In Bezug auf die allgemeine Lebenszufriedenheit gaben die jungen Menschen folgende Zustimmungswerte: Zufriedenheit mit dem eigenen Leben 4,0; Optimismus bzgl. Zukunft 4,0. Verstanden werden durch Erwachsene 3,7; Zufriedenheit mit Spiel- und Freizeitmöglichkeiten 3,3.

    b) Wichtige Lebensthemen sind absteigend nach der Problemhäufigkeit: Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst 3,5; Unzufriedenheit mit eigenem Körper 3,3; Corona 3,3; Stress mit Eltern und Geschwistern 3,2; Tod oder Verlust eines Menschen 3,2 und innere Leere, Gefühl von Sinnlosigkeit 3,0. Weitere Themen sind (mit absteigender Problemhäufigkeit): Essverhalten; Ängste und zwanghafte Gedanken; Perspektivlosigkeit / Zukunftsangst; Einsamkeit / fehlende Kontakte sowie Medienkonsum, der nicht mehr gesteuert werden kann.

    c) Regelmäßig genutzte Medien waren: WhatsApp (94 Prozent); YouTube (78 Prozent); Instagram (71 Prozent); TikTok (64 Prozent) und E-Mail (39 Prozent).

    d) Eine Bereitschaft zur Annahme einer Beratung äußerten 66 Prozent der Befragten.

    Zu a) Die genannten Werte lassen erkennen, dass die befragten jungen Menschen grundsätzlich über gute Ressourcen des Aufwachsens verfügen, insofern sie überwiegend zufrieden mit ihrem Leben sind und optimistisch in die Zukunft blicken. Während das Verstandenwerden durch die Erwachsenen eine mittlere Zustimmung erfährt, stellen die vorhandenen Freizeitmöglichkeiten jedoch kein ausreichend anregendes Angebot für die jungen Menschen dar.

    Zu b) Bei den Lebensthemen scheinen die für den Entwicklungsabschnitt typischen Themen im Vordergrund zu stehen. Ein Höchstwert im Bereich „Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst“ lässt jedoch erkennen, dass Schule eine Ursache chronischen Stresses zu sein scheint. Dies gilt es zu hinterfragen, denn Schule hat einen pädagogischen Auftrag, und es ist nicht hinzunehmen, dass Kinder und Jugendliche dort Angst und Stress erleben.

    Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper ist für junge Menschen, die ihre gesellschaftlichen Orientierungspunkte ganz überwiegend in sozialen Netzwerken finden, nicht mehr nur eine altersspezifische Aufgabe innerhalb ihrer Peergroup, sondern oftmals eine medial vermittelte Überforderung, die den eigenen Körper eher zu einem Anlass des Selbstzweifels als der Selbstvergewisserung werden lässt.

    Auch wenn die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern sicherlich ein zeitloses Thema darstellt, lohnt es sich, diesem Punkt Aufmerksamkeit zu schenken. So vollzieht sich die Ausdifferenzierung der individuellen und altersspezifischen Lebenswelten der Jugendlichen heute vor dem Hintergrund, dass Familien finanziell und zeitökonomisch immer mehr unter Druck geraten. Die häufige Nennung von „Stress mit Eltern und Geschwistern“ zeigt, dass die Bedeutung von Familie als Rückzugsort und Ort der Selbstwertstärkung in einer immer komplexeren Welt ausgesprochen hoch ist, und es wird die Notwendigkeit deutlich, dass dieser Ort seine basale Funktion der Förderung junger Menschen zu mental gesunden und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten auch unter steigenden gesellschaftlichen Anforderungen erfüllt. Wenig überraschend zeigt sich auch unter dem Stichwort Corona eine hohe Problemhäufigkeit, wobei diese beiden Lebensthemen keine signifikanten Korrelationen zeigen und damit offenbar von den jungen Menschen bisher nicht als ein lebensbestimmendes Problem erlebt werden.

    Eine Herausforderung, wenn nicht Überforderung, stellt der Tod oder Verlust eines Menschen dar (Standardabweichung 1,89; 19 Prozent der Antworten bei Effektstärke 6).  Er löst eine existentielle Verunsicherung aus und stellt die psychosoziale Einbettung in halt- und sinngebende Beziehungen und Wertbezüge auf den Prüfstand. Hier scheint die Erwachsenenwelt keine ausreichend tragende Unterstützung anbieten zu können. Alarmierend ist, dass sich anschließend an die erwähnten Themenbereiche Schule, Körper, Familie und Tod ein Gefühl von Sinnlosigkeit und innerer Leere bei jungen Menschen zeigt (Standardabweichung 1,88), was zumindest eine Teilgruppe als psychisch gefährdet erkennen lässt (16 Prozent der Antworten bei Effektstärke 6). In diesem Sinne können auch die im Weiteren hervortretenden Themen wie eine Reihung emotionaler Nöte und entsprechender Kompensationsstrategien gelesen werden (Essverhalten, Ängste, zwanghafte Gedanken, Perspektivlosigkeit, Einsamkeit, unkontrollierter Medienkonsum).

    Zu c) Überaus deutlich wird, dass Medien im Leben junger Menschen eine große Rolle spielen und sich die sozialen Medien als kommunikations- und vorstellungsprägend in ihrem Leben verankert haben.

    Zu d) Als Bewohner:innen „zweier Welten“, der medialen wie der analogen, zeigen die befragten jungen Menschen jedoch eine hohe Bereitschaft zur Inanspruchnahme von (analoger) Beratung in einer Beratungsstelle.

    Kategorie 3: Welche Form der Beratung wünschen sich junge Menschen von den Beratungsstellen?

    Für die befragten jungen Menschen ist es wichtig, dass Beratung anonym (4,7), ohne Eltern (4,6) und im Einzelkontakt (4,4) stattfindet. Dabei besteht einerseits der Wunsch, dass die Hilfe in der Beratungsstelle stattfindet (4,2), und andererseits, dass sie über Smartphone/PC (4,1) angeboten wird. Jungen Menschen ist es wichtig, dass der/die Berater:in jederzeit kontaktiert werden kann (4,8) bzw. schnell (innerhalb 24h) eine Beratung anbieten kann (4,4). Eine Hilfe in Gruppenform findet den niedrigsten Zustimmungswert (2,9).

    Als bevorzugte Medien werden der Messanger WhatsApp (62 Prozent), das Telefon/Mobiltelefon (55 Prozent) und die Beratung per E-Mail (40 Prozent) genannt. Die Beratungsform soll für 39 Prozent der Befragten eine persönliche Beratung sein. Zwölf Prozent wünschen eine digitale Beratung, und eine Kombination aus beiden bevorzugen 49 Prozent der Befragten.

    Die hohe Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Beratung verbindet sich mit klaren Vorstellungen, welche Form diese haben soll. Dabei wird zum einen der Wunsch nach individueller und flexibel verfügbarer Zuwendung durch eine:n kompetente:n Erwachsene:n  sichtbar, und zum anderen wird deutlich, dass das matching davon abhängt, wie gut die Hilfeform zu den Lebensgewohnheiten des jungen Menschen passt (form follows need). Hilfe wird so gewünscht, dass sie einen geschützten Rahmen bietet, in dem der junge Mensch individuell für sich, seinem Bedürfnis und Impuls folgend, Unterstützung findet. Der persönliche Kontakt mit dem/der Berater:in wird durch die Nutzung von Messanger und Mobiltelefonie ergänzt. So entsteht eine Form der beratenden Begleitung und der (elterlich) beschützenden Assistenz zur Bewältigung des Lebens angesichts einer medialen Fragmentierung der Identitäten.

    Kategorie 4: Wie zufrieden sind die jungen Menschen mit bereits erhaltener Beratung?

    Von den 336 jungen Menschen hatten 76 (23 Prozent) bereits an einer Beratung bei einem der drei an der Befragung beteiligten Träger teilgenommen. 67 Prozent dieser Beratungen waren bereits abgeschlossen. Die aufgesuchten Beratungsstellen waren Erziehungs- und Familienberatungsstellen, eine Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt sowie Suchtberatungsstellen. 42 Prozent der jungen Menschen wussten nicht mehr, in welcher Beratungsstelle sie gewesen waren. Einzelberatung haben 78 Prozent der Befragten wahrgenommen, mit der Familie kamen 37 Prozent der Ratsuchenden, mit Freunden 13 Prozent. Die Beratung fand zu 84 Prozent in Präsenz statt, zu sieben Prozent digital und zu neun Prozent in gemischter Form als blended counseling.

    Die Öffentlichkeitsarbeit der Beratungsstellen in Form von Flyern, einem Internetauftritt und Infomails fand bei den jungen Menschen keine Resonanz. 80 Prozent der jungen Menschen haben sie nicht wahrgenommen. 20 Prozent haben sich auf diese Weise nicht angesprochen gefühlt.

    Die jungen Menschen haben sich in der Beratung atmosphärisch wohl (4,1), als junge Menschen angenommen (4,7) und gut beraten gefühlt (4,4). Die jungen Ratsuchenden gaben mit einem Zustimmungswert von 4,1 an, dass ihnen die Beratung weitergeholfen hat. Die Frage, ob auch neue Sichtweisen für andere Themen gewonnen wurden, fand einen Zustimmungswert von 3,8. Die jungen Menschen wollen zu 79 Prozent wieder in die Beratung kommen und zu ebenfalls 79 Prozent die jeweilige Beratungsstelle weiterempfehlen.

    Junge Menschen machen in Beratungsstellen gute Erfahrungen. Zwar fühlen sie sich durch jugendunspezifische analoge Kommunikationsformen nicht angesprochen, treffen dort aber vermittelt über Dritte auf kompetente Berater:innen, die ausreichend sensibilisiert sind, damit sich junge Menschen angenommen fühlen. Die hohe fachliche Qualifikation der Mitarbeitenden, getragen vom persönlichen Kontakt, konstituiert ein Setting, das sich als geeignet erweist, junge Menschen in ihrer Lebenskompetenz zu stärken. Auf Grund der positiven Erfahrungen mit Beratung wird sie im Folgenden zu einer persönlichen Ressource des jungen Menschen, die bereits durch die Möglichkeit einer Wiederinanspruchnahme stärkend wirkt.

    Anforderungen an Prävention und Beratung

    Junge Menschen sind stärker als jede andere gesellschaftliche Gruppe der durch Digitalisierung, Medialisierung und Globalisierung bewirkten Transformation der Lebens- und Arbeitsweisen ausgesetzt. Dabei entwickeln sie Fähigkeiten und Lebensformen, die die Erwachsenenwelt in Gestalt von Eltern,  Lehrer:innen und pädagogischen Mitarbeiter:innen kaum nachzuvollziehen in der Lage ist. Die belastenden Aspekte dieser Entwicklung werden durch die im Rahmen der Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen noch verschärft, bis hin zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen. Die Herausforderung, die Lebensrealität junger Menschen in ihrer Vielfältigkeit nachzuvollziehen und adäquat zu beantworten, wird damit größer und wichtiger.

    Um die Erwartungen junger Menschen an die Angebotsformen der Träger erfüllen zu können, sind die sozialen Hilfssysteme gefordert, ihre Systemlogik den Bedarfen ihrer (jungen) Nutzer:innen anzupassen. Dafür ist es erforderlich, in eine wechselseitige Kommunikation mit jungen Menschen zu treten und bereit zu sein, von ihnen zu lernen. Diese Nutzer:innenorientierung wird nicht nur zu einer veränderten Form der Öffentlichkeitsarbeit führen, sondern auch ganz neue Angebotsformen hervorbringen.

    Alarmierend ist die Problemhäufigkeit bei „Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst“ (35 Prozent bei Effektstärke 5 und 6). Die starke Leistungsorientierung und den damit einhergehenden Noten- und Normierungsdruck in der Schule erleben viele junge Menschen als Entwertung der eigenen Person. Die Digitalisierung an den Schulen treibt diese Entwicklung voran, ohne dass ausgleichende oder präventive Maßnahmen entwickelt würden. Positiv erlebte und somit gesundheitsfördernde Orte hingegen sind Orte, die sich an den Bedürfnissen junger Menschen ausrichten und eigenverantwortete Selbstbildungsprozesse ermöglichen.  Es ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft, solche Orte zu schaffen. Sie wirken in höchstem Maße als Prävention von Sinnlosigkeitserleben und innerer Leere und machen kompensierende Strategien, wie sie jegliche Form von Suchtverhalten und psychischen Ersatzhandlungen darstellt, überflüssig. Ein solcher Selbstbildungsprozess stellt auch die Inanspruchnahme von Beratung dar, die exemplarisch Sinnhaftigkeit und Selbstwerterhöhung ermöglicht.

    Die betreffenden Beratungseinrichtungen sind herausgefordert, ihre Berührungsängste mit sozialen Medien und jugendspezifischen Inhalten zu überwinden. Dabei liegt in rechtlichen Hürden wie Vorgaben zum Datenschutz die Gefahr, den Anschluss zur Welt junger Menschen zu verlieren. Der mit der Digitalisierung der Angebote verbundene technische Aufwand stellt eine weitere Hürde dar, an der die Lebensweltorientierung in der Praxis der sozialen Arbeit zu scheitern droht. Träger und Mitarbeitende stehen vor der Aufgabe, ihre Arbeits- und Organisationsformen anzupassen und zu flexibilisieren und sich neue Fähigkeiten und Kulturtechniken anzueignen. Es sind Kostenträger gefragt, die die Scheuklappen in Form von starren Verwaltungsabläufen und innovationsfeindlichen Ökonomisierungszwängen ablegen. All diese Faktoren entscheiden an vielen kleinen Stellen, ob es letztlich gelingen kann, Angebotsformen zu entwickeln, die junge Menschen tatsächlich erreichen. Hierbei ist der altbekannte Ruf nach einem Paradigmenwechsel im Sinne eines form follows user aktueller denn je.

    Auch wenn es sich bei der vorliegenden Befragung in einem norddeutschen Landkreis weder um einen repräsentativen Bevölkerungsausschnitt handelt, noch die Befragung wissenschaftlichen Standards entspricht, kann sie doch als Impuls aufgefasst werden, der eine Entwicklungsrichtung aufzeigt, die sich auch in anderen zahlreichen Studien der jüngeren Zeit abzeichnet (z. B. Copsy-Studie, Shell-Studien, Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung, Veröffentlichungen des Deutschen Jugendinstituts DJI, der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe AGJ und des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung EZI). Die Besprechung der Ergebnisse erfolgt aus der Perspektive der Beratungsstellen. Für uns wird deutlich, dass eine Gruppe der jungen Menschen als gefährdet anzusehen ist. Es ist dringend notwendig, sie in ihrer Lebenslage besser wahrzunehmen und über die Angebote der Beratungsstellen wirksamer zu erreichen. Dieser Auftrag erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Belastung junger Menschen durch die Corona-Krise umso verbindlicher. Hierfür ist die beschriebene organisatorische und konzeptionelle Hinwendung zu den jungen Menschen unverzichtbar. Es sei jedem/jeder Leser:in selbst überlassen, den Aussagewert des Vorgestellten zu beurteilen, ein Anstoß zur Diskussion über notwendige Innovationsprozesse innerhalb der Einrichtungen der sozialen Arbeit sei hiermit zumindest gegeben.

    Kontakt:

    Marius Neuhaus
    marius-neuhaus@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Marius Neuhaus, Dipl.-Sozialpädagoge und Systemischer Therapeut (SG), ist tätig als Einrichtungsleitung der Beratungsstellen der Therapiehilfe gGmbH im Kreis Segeberg.

  • Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Wolfgang Rosengarten

    Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.

    Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.

    Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.

    Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren

    Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.

    Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:

    Wenn

    • Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
    • die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
    • die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,

    dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.

    Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).

    Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.

    SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe
    Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.

    Was ist das Besondere?
    SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.

    Dauerhafte Finanzierung
    Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.

    Die Leistung an Mann* und Frau* bringen
    Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.

    Kontakt:
    Ralf Bartholmai
    Fachklinik Böddiger Berg
    34587 Felsberg
    infoboeddigerberg@drogenhilfe.com

    Text: Redaktion KONTUREN online

    Die eigene Arbeit positiv darstellen

    Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.

    Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.

    Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.

    Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.

    Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.

    Große Träger sind im Vorteil

    Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.

    In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.

    Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.

    Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen

    In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.

    Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz
    Sabine Köhler

    Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre alt sind und ohne Eltern bzw. Erziehungsberechtigte in Deutschland einreisen, wurden zunächst „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (umF) genannt. Seit 2015 wird der Begriff „unbegleitete minderjährige Ausländer/innen“ (umA) verwendet, das BAMF spricht von „unbegleiteten Minderjährigen“. Alle Bezeichnungen sind inhaltlich nicht zufriedenstellend. So vernachlässigt der Begriff „Ausländer/innen“, dass Jugendliche ihr Heimatland unfreiwillig verlassen haben und besonders schutzbedürftig sind. Die Bezeichnung „Flüchtling“ beinhaltet Verwechslungsgefahr mit dem asylrechtlichen Status. Unbegleitete minderjährige Ausländer/innen erhalten zunächst eine Duldung. Vielen der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt und eine Flucht ohne Eltern bedeutet weit mehr als eine fehlende „Begleitung“. 

    Diese Kinder und Jugendlichen werden durch das Jugendamt in Obhut genommen und erhalten Leistungen der Jugendhilfe (SGB VIII). Dem Mediendienst Integration zufolge habe das Bundesfamilienministerium auf Anfrage mitgeteilt, dass Anfang 2018 rund 28.500 unbegleitete Minderjährige und 25.500 junge Volljährige in der Zuständigkeit der Jugendhilfe waren. Die Zahl der jungen Volljährigen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da viele Jugendliche im Verlauf der Jugendhilfemaßnahme volljährig geworden sind („junge volljährige Ausländer/innen“). Ein Verbleib in der Jugendhilfe ist über das 18. Lebensjahr hinaus bis maximal zum 21. Lebensjahr nach § 41 SGB VIII möglich, wenn besondere Gründe dafür vorliegen, der bzw. die Jugendliche dies beantragt und das Jugendamt diesem Antrag zustimmt.

    Im Wissen um die oben beschriebenen und weitere Kritikpunkte wird zur besseren Lesbarkeit dennoch im Folgenden die Abkürzung „umA“ benutzt bzw. von Jugendlichen gesprochen. Darin sind auch die über 18-Jährigen eingeschlossen.

    Die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Bei denjenigen, die als umA in Deutschland ankommen, handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Die überwiegend männlichen Kinder und Jugendlichen kommen aus verschiedenen Ländern, der Großteil stammt derzeit aus Afghanistan und Syrien. Vor ihrer Flucht waren sie in unterschiedlichem Ausmaß Bedrohung, Gewalt, Verfolgung, Folter, Krieg/Bürgerkrieg usw. ausgesetzt. Es gibt nicht wenige Jugendliche, die von erlebten Entführungen und/oder Foltermethoden wie Scheinhinrichtungen, Elektroschocks oder Aufhängen an den Füßen berichten.

    UmA unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Fluchtgründe, auf ihr Alter bei Beginn der Flucht, auf die Dauer der Flucht und deren Verlauf. Eine Flucht aus dem Sudan mit der Durchquerung der Sahara, einem Aufenthalt in Libyen und der Überquerung des Mittelmeers ist mit einer Vielzahl lebensbedrohlicher Situationen verbunden, meist auch mit anhaltender oder wiederholter schwerwiegender interpersoneller Gewalt – diese erleben sie selbst und/oder werden Zeuge davon, häufig auch von Todesfällen (z. B. Ertrinkende im Mittelmeer). UmA unterscheiden sich außerdem hinsichtlich ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Familiensituation, der Schul- und beruflichen Ausbildung, ihrer Interessen und Kompetenzen etc. Vor diesem Hintergrund werden umA einerseits als besonders belastet, vulnerabel und schutzbedürftig beschrieben, andererseits als besonders resilient und flexibel.

    Für alle umA ist das Leben in Deutschland mit der Erfahrung verbunden, sich in einer bis dato fremden Kultur mit teilweise anderen Normen und Werten orientieren und zurechtfinden zu müssen. Dies verlangt das Erlernen einer neuen Sprache und etliche weitere gesellschaftliche, soziale und kulturelle Anpassungsleistungen (vgl. z. B. Eisbergmodell nach E. Hall in Müller & Gelbrich, 2014). Interkulturelle Schwierigkeiten und Akkulturationsstress (siehe auch Kulturschockmodell nach K. Oberg in Erll & Gymnich, 2013) sind die Regel, auch von Diskriminierungs­erfahrungen wird berichtet.

    Mehr oder weniger offensichtlich leiden umA unter dem Verlust wichtiger Bezugspersonen, vermissen die (Kern-)Familie und Freunde. Auch wenn mit Hilfe von Smartphones der Austausch leichter möglich ist als früher, bricht dieser häufig ab oder beinhaltet Nachrichten über den Tod von Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Viele leiden unter Schuldgefühlen, selbst in Sicherheit zu sein. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, die Trauerprozesse in der Familie mit zu vollziehen. Häufig besteht der Wunsch, die Familie zu unterstützen oder einen „Auftrag der Familie“ zu erfüllen.

    Im Gegensatz zur Idee, dass das Ankommen in Deutschland Sicherheit und Ruhe bedeutet, sind die Jugendlichen mit vielfältigen Unsicherheiten konfrontiert: Das Asyl- und Aufenthaltsrecht, die unterschiedlichen Aufenthaltstitel und die vielfachen Neuerungen und Veränderungen sind selbst bei verbessertem Sprachniveau kaum durchschaubar. Der unsichere Aufenthaltsstatus, das Warten auf die Anhörung und auf den Bescheid sowie eine prekäre soziale Situation und eine ungeklärte Zukunftsperspektive stellen weitere Belastungen dar.

    Der Schulbesuch ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden: Viele Jugendliche müssen eine neue Schrift und fast alle müssen die Sprache erlernen. Das deutsche Schul- und Ausbildungssystem mit seinen vielfältigen Wegen, das Verhalten der Lehrer/innen und  Schüler/innen und ihr Umgang miteinander, die Vermittlung des Unterrichtsgegenstands usw. unterscheiden sich von den Bedingungen im Herkunftsland und bergen vielfältige Anlässe für Missverständnisse. Häufig wird darauf bestanden, eine „richtige Schule“ besuchen zu können. Der Besuch der Regelschule ist aufgrund des Alters, der nicht ausreichenden Sprachkenntnisse und vielfach auch der Schulbildung oft nicht bzw. nicht sofort möglich. Zeitgleich haben umA Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.

    Viele Jugendliche leiden unter Stress- und Trauma­folge­symptomen wie sich aufdrängenden unangenehmen Erinnerungen, Schlafstörungen sowie Kopf- und Bauchschmerzen, die die schulische und berufliche Entwicklung behindern. Zu beachten ist außerdem, dass u. a. Hoffnungslosigkeit, ein fehlendes Zugehörigkeitserleben, der Eindruck, anderen eine Last zu sein, und Schlafstörungen Risikofaktoren für Suizidalität sind (Teismann et al., 2016).

    Für diese psychischen Belastungen existieren wirksame Behandlungsmethoden, die z. T. adaptiert werden müssen (verändertes Setting aufgrund der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen, unterschiedliche Krankheits- und Heilungskonzepte, kultursensibles Vorgehen, Auftreten aktueller Stressoren und kritischer Lebensereignisse infolge der Migration und der Situation im Heimatland usw.) Der Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung ist erschwert, da viele Jugendliche entsprechende Behandlungsangebote vor dem Hintergrund kultureller Zuschreibungen (zunächst) ablehnen, aber auch, weil viele Behandler/innen der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen und Kulturvermittler/innen zurückhaltend bis skeptisch gegenüber stehen.

    Das Zusammenleben mit anderen umA ist teils hilfreich (Verständigung in der Muttersprache, Erklärungen und Unterstützung durch die „Erfahreneren“), teils aber auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen. Allein die unterschiedliche Bedeutung von Gesten in verschiedenen Ländern (Reker & Grosse, 2010) bietet vielfältige Möglichkeiten für Missverständnisse. Auch Jugendliche aus demselben Land unterscheiden sich oft im Hinblick auf ihre (religiöse) Einstellung und ihre Sozialisation. Dementsprechend ist die Ausübung von sozialem Druck nicht selten und stellt für die persönliche Weiterentwicklung mitunter ein Hemmnis dar. Die erlebten Anforderungen an Eigenständigkeit während der Flucht erschweren mitunter das Einhalten der in den Jugendhilfeeinrichtungen geltenden Routinen und Regeln und andere Anpassungsleistungen.

    Explorative Untersuchung des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe

    Um Hinweise auf konkrete psychosoziale Belastungen, den Suchtmittelkonsum und die Ressourcen von unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen zu erhalten, führte der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) eine explorative Untersuchung durch. Befragt wurden 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen in den eigenen stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Der Verein bietet neben Jugend- und Suchtberatung, Betreutem Wohnen, Rehabilitation und Pflege auch Hilfen für Bildung und Erziehung sowie ambulante und stationäre Jugendhilfe an. In mehreren Einrichtungen besteht ein vollstationäres pädagogisches Betreuungsangebot auf der Grundlage des SGB VIII, Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27, 34, auch in Verbindung mit §§ 35a, 41 und 42.

    Die Erkenntnisse der Befragung sollen dazu genutzt werden, die Betreuungs- und Behandlungsangebote für junge Ausländer/innen mit Fluchthintergrund pass- und zielgenau weiterzuentwickeln. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Folgende Einrichtungen des Vereins waren an der vorliegenden Untersuchung beteiligt (Tab. 1):

    Tab. 1: Beteiligte Einrichtungen

    Methodik

    Stichprobe und Einschlusskriterien

    Zwischen dem 14. und 25. August 2017 wurden in den oben aufgelisteten stationären Jugendhilfeeinrichtungen insgesamt 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen befragt. Es handelt sich um eine Vollerhebung, es gab keine Ausschlusskriterien. 

    Messinstrumente

    Folgende Messinstrumente wurden eingesetzt:

    • ein selbst entwickeltes Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung der Belastungen und des Suchtmittelkonsums der Jugendlichen, das von dem/der zuständigen Bezugsbetreuer/in auszufüllen war,
    • deutsche Version und Übersetzung (in die jeweilige Muttersprache) des SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire; Goodman, 2005). Dieser Fragebogen zu emotionalen und verhaltensspezifischen Stärken und Schwächen wurde von der/dem Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bearbeitet. Subskalen: Emotionale Probleme, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, Prosoziales Verhalten.

    Ergebnisse

    Das Datenmaterial besteht aus den Angaben der Bezugsbetreuer/innen zu 140 von ihnen betreuten unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen.

    Soziodemographische Daten

    Die betreuten Jugendlichen sind im Alter von 13 bis 21 Jahren. Davon sind 95 Prozent männlich und fünf Prozent weiblich. 82,1 Prozent der umA sind zwischen 16 und 18 Jahre alt, zehn Prozent sind zum Erhebungszeitpunkt volljährig, und 7,9 Prozent sind jünger als 16 Jahre.

    Herkunft und Aufenthalt in Deutschland

    Ein Großteil der umA kommt ursprünglich aus Afghanistan (54,3 Prozent), gefolgt von Syrien (17,1 Prozent) und Eritrea (6,4 Prozent). Weitere Herkunftsländer sind Äthiopien (2,9 Prozent), Guinea (3,6 Prozent), Iran (2,1 Prozent), Myanmar (2,1 Prozent), Pakistan (2,1 Prozent), Somalia (2,9 Prozent) und weitere Länder (6,3 Prozent). 22 Prozent der Jugendlichen leben kürzer als ein Jahr in Deutschland, 56 Prozent seit einem bis zwei Jahren und 22 Prozent seit über zwei Jahren.

    Flucht

    Die Fluchtdauer der Jugendlichen variiert. Die meisten (58,2  Prozent) waren länger als einen Monat, 15,7 Prozent über sechs Monate und sechs Prozent über ein Jahr auf der Flucht. Bei etwas mehr als 20 Prozent der Jugendlichen dauerte die Flucht weniger als einen Monat (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Fluchtdauer (Angabe in Prozent)

    Der Anteil der Jugendlichen, die auf dem Landweg geflüchtet sind, beträgt 39,7 Prozent. 51,5 Prozent flüchteten mit dem Boot und auf dem Landweg, 8,5 Prozent kamen per Flugzeug nach Deutschland. 

    Lebensbedrohung

    Die Fachkräfte geben an, dass für 81,2 Prozent der Jugendlichen eine Lebensbedrohung im Heimatland und/oder auf der Flucht bestand. In 63,9 Prozent der Fälle gibt es zusätzlich zu den Schilderungen der Jugendlichen weitere Hinweise auf eine solche Bedrohung. Die Items „Lebensbedrohung des Jugendlichen im Heimatland bzw. auf der Flucht“ und das Item „Konfliktbewältigung“, mit dem die Fähigkeit beurteilt wird, in sozialen Konflikten zu bestehen, korrelieren signifikant negativ. Mit der „Lebensbedrohung“ korreliert außerdem das Item „emotionale Stabilität“. Je mehr Lebensbedrohung angegeben wird, desto schlechter wird die emotionale Stabilität und die Konfliktbewältigung bewertet.

    Die Items beziehen sich auf die „Zielerreichungsskala“, mit der in den umA-Einrichtungen von JJ gemessen wird, inwieweit die Jugendlichen in der Lage sind, eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig zu handeln. Diese Ziele der Jugendhilfemaßnahme leiten sich ab von § 1 SGB VIII. Um den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand abzubilden, werden zu Beginn, halbjährig im Verlauf und am Ende der Maßnahme verschiedene Kompetenzen und Verhaltensweisen der Jugendlichen bewertet. Die Bewertung erfolgt anhand einer Punkteskala von 0 bis 10 Punkten, wobei mit verbessertem Entwicklungsstand oder Erfüllungsgrad der Anforderung die Punktzahl wächst. Die Bewertung findet jeweils in Kleingruppen von Mitarbeitern/innen statt.

    Kontakt zu Angehörigen

    Nach Angaben der Fachkräfte haben 63,5 Prozent der Jugendlichen Angehörige in Deutschland, 81,6 Prozent Angehörige im Heimatland. In den meisten Fällen besteht Kontakt zur Familie (67,6 Prozent). Bei 25,6 Prozent der Jugendlichen sind Angehörige gegenwärtig auf der Flucht und befinden sich somit in einer ungeklärten und oftmals gefährlichen Situation. 70,9 Prozent haben Freunde im Heimatland. Auch Freunde sind gegenwärtig auf der Flucht (18,1 Prozent). 36,5  Prozent haben keine Angehörigen in Deutschland (s. Tab. 2).

    Tab. 2: Angehörige und Freunde

    Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten

    17 Prozent der Jugendlichen äußerten im Rahmen der stationären Jugendhilfe einmalig oder mehrfach Suizidgedanken. 4,4 Prozent der Jugendlichen haben einmalig einen Suizidversuch unternommen. Einmaliges oder mehrfaches selbstverletzendes Verhalten liegt in 15 Prozent der Fälle vor (s. Tab. 3).

    Tab. 3: Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten

    Inanspruchnahme von Behandlungen

    14,5 Prozent der Jugendlichen nehmen seit Eintritt in die Einrichtung regelmäßig Termine im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung wahr. 14,3 Prozent der Jugendlichen nehmen regelmäßige Termine im Rahmen einer psycho­therapeutischen Behandlung wahr.   

    EVAS-Dokumentation

    Unabhängig von der dargestellten Untersuchung werden Verlaufsmessungen in allen JJ-Einrichtungen im Rahmen der EVAS-Dokumentation durchgeführt (EVAS = Dokumentationssystem für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in der Kinder- und Jugendhilfe). 

    Schule

    Fast 90 Prozent der Jugendlichen haben einen Schulplatz, 7,1 Prozent haben einen Ausbildungsplatz. Die meisten der Jugendlichen besuchen eine „InteA“-Klasse. Das hessische Integrationsprogramm InteA ist ein Angebot für Schülerinnen und Schüler, die erst grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben müssen. Jugendliche Flüchtlinge, die noch nicht volljährig sind, lernen zwei Jahre lang Deutsch und werden parallel dazu auf den Hauptschulabschluss vorbereitet. Von den umA in den Einrichtungen von JJ haben bisher sechs Prozent einen Schulabschluss erreicht.

    Suchtmittelkonsum

    Von den 140 Jugendlichen konsumierten nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den letzten 30 Tagen insgesamt 39,3 Prozent Suchtmittel (inklusive Nikotin), 48,6 Prozent lebten abstinent, und bei 12,1 Prozent der Jugendlichen war keine Einschätzung möglich bzw. der Konsum unbekannt.

    Das im letzten Monat am häufigsten konsumierte Suchtmittel ist Nikotin mit 35,9 Prozent. Alkohol wurde von 17,8 Prozent der Jugendlichen konsumiert, Cannabis von 8,1 Prozent und Beruhigungsmittel von 3,6 Prozent der Jugendlichen. So genannte harte Drogen wurden nicht konsumiert. Auch Verhaltenssüchte wie Glücksspiel spielten keine Rolle.

    Abb. 2: Suchtmittelkonsum (Angabe in Prozent) in den letzten 30 Tagen, Angaben der Bezugsbetreuer/innen

    Cannabiskonsum

    Tabelle 4 stellt die Antworten der Bezugsbetreuer/innen zum Cannabiskonsum der Jugendlichen dar. Interessant sind sie im Vergleich zu den Ergebnissen einer Befragung von gleichaltrigen Schüler/innen in Frankfurt am Main (N = 1.509). Laut Angaben der Bezugsbetreuer/innen und soweit bekannt konsumieren die umA seltener Cannabis (7,8 Prozent) als Frankfurter Schüler/innen (23 Prozent; vgl. Werse et al. 2016).

    Tab. 4: Cannabiskonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Alkoholkonsum

    Zieht man die Vergleichszahlen zum Alkoholkonsum heran, ergibt sich das in Tabelle 5 dargestellte Bild:

    Tab. 5: Alkoholkonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Auffällig ist hier, dass nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den Einrichtungen von JJ 61,4 Prozent der Jugendlichen keinen Alkohol konsumieren, wohingegen in der herangezogenen Vergleichsstichprobe (Schüler/innen aus Frankfurt/Main) nur 43 Prozent angeben, keinen Alkohol zu konsumieren.

    Vorfälle aufgrund von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln

    Im Fragebogen sollten die Fachkräfte angeben, ob es seit Betreuungsbeginn Vorfälle aufgrund des Konsums von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln gegeben hat, was bei 23 Prozent der Jugendlichen der Fall war (vgl. Tab. 6).

    Tab. 6: Vorfälle aufgrund von Suchtmittelkonsum seit Betreuungsbeginn

    Bei der Betrachtung aller umA, die durch Vorfälle im Zusammenhang mit Alkohol oder illegalen Suchtmitteln in der Einrichtung auffällig wurden, ergeben sich signifikante Unterschiede in den Kategorien Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung. Bei ihnen wurden Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung als noch nicht ausreichend eingeschätzt.

    Die Gruppe der Konsumierenden

    Um herauszufinden, ob die Gruppe der Suchtmittel-Konsument/innen Besonderheiten aufweist, wurde ein Gruppenvergleich vorgenommen: Als Konsumierende wurden diejenigen klassifiziert, die laut Bezugsbetreuung in den letzten 30 Tagen einmalig oder mehrfach Cannabis konsumiert haben und/oder öfter als einmal – d. h. wöchentlich oder mehrfach wöchentlich – Alkohol konsumiert haben (n=21). Als Vergleichsgruppe wurden diejenigen herangezogen, bei denen kein Cannabiskonsum vorliegt und die während der letzten 30 Tage höchstens einmal Alkohol getrunken haben (n=117; von diesen 117 umA haben 106 während der letzten 30 Tage gar keinen Alkohol getrunken, elf haben während der letzten 30 Tage einmal Alkohol getrunken). Folgende Unterschiede konnten festgestellt werden:

    • Herkunftsland: 76,2 Prozent der Konsumierenden kommen aus Afghanistan. Der Anteil der Afghanen ist auch in der Vergleichsgruppe hoch, aber mit 49,6 Prozent deutlich geringer.
    • Geschlecht: Der Frauenanteil ist in der gesamten Stichprobe gering, die Gruppe der Konsumierenden besteht jedoch ausschließlich aus männlichen umA. Die sechs weiblichen umA befinden sich allesamt in der Vergleichsgruppe. Auch wenn es sich um eine geringe Anzahl handelt
    • Dauer des Aufenthalts in Deutschland: Die Konsumierenden leben seit durchschnittlich 26 Monaten in Deutschland, die anderen erst seit 19,1 Monaten.
    • Suizidgedanken: Von den Konsumierenden hatten 46 Prozent einmal oder mehrfach Suizidgedanken. In der Vergleichsgruppe ist der Anteil der umA, die Suizidgedanken hatten, mit 15 Prozent deutlich geringer.
    • Selbstverletzendes Verhalten: Von den Konsumierenden zeigten 10 Prozent einmal und 19 Prozent mehrfach selbstverletzendes Verhalten (zusammen: 29 Prozent). In der Vergleichsgruppe waren es 5 Prozent (einmal) und 8 Prozent (mehrfach), zusammen waren es 13 Prozent.
    • Psychotherapeutische Behandlung seit der Aufnahme in der Einrichtung: Die Konsumierenden haben seit Betreuungsbeginn häufiger eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen: 45 Prozent vs. 27 Prozent.

    EVAS-Dokumentation

    Hierbei zeigen erste Messungen positive Entwicklungen in verschiedenen Bereichen. Der Anteil der Jugendlichen, die gut, sehr gut bzw. fließend Deutsch sprechen, erhöht sich innerhalb des ersten Betreuungsjahres von 15,2 Prozent auf 54,8 Prozent. Ebenso verbessert sich die Bleibeperspektive, was sich günstig auf die gesamte Betreuung auswirkt: Während zu Beginn der Maßnahme bei nur drei Prozent der Jugendlichen eine Anhörung bei der zuständigen Behörde schon erfolgt war und nur bei 6,3 Prozent ein Bescheid bereits vorlag, ist zum Hilfeende bei 21,4 Prozent eine Anhörung erfolgt und bei 16,7 Prozent liegt ein Bescheid vor. Bei 59,5 Prozent ist zum Hilfeende die „Aktenanlage erfolgt / Asylanatrag gestellt“.

    Mit der Ressourcenskala, die im EVAS-Dokumentationssystem zentral ist, werden verschiedene soziale, kommunikative und gesundheitliche Fähigkeiten des jeweiligen Jugendlichen eingeschätzt und abgebildet. Die Ressourcen der Jugendlichen konnten gestärkt werden. Besonders deutlich ist die Verbesserung in den folgenden Bereichen:

    • Soziale Integration (Fähigkeit, Freundschaften und Beziehungen zu pflegen oder Verantwortung in Gruppen zu übernehmen)
    • Selbstkonzept und Selbstsicherheit (Selbstbewusstes Bewältigen von Lebensaufgaben unter Berücksichtigung der eigenen Interessen)
    • Soziale Attraktivität (Beliebtheit bei Gleichaltrigen, Körperkonzept, Modeorientierung)

    Befragung der Jugendlichen mit dem SDQ

    Mit dem Fragebogen „Strengths and Difficulties Questionnaire“( SDQ) wurden die Jugendlichen selbst befragt. Der SDQ soll Auskunft über emotionale und verhaltensspezifische Stärken und Schwächen liefern. Für ihn liegen den Autoren keine Normwerte oder Vergleichswerte einer deutschen Normpopulation Jugendlicher vor. Zudem ist das Instrument mit methodischen Mängeln versehen, die Zurückhaltung bei der Interpretation notwendig machen (z. B. dreistufiges Nominalskalenniveau). Die Autoren haben den Fragebogen einerseits eingesetzt, da er in verschiedenen Übersetzungen vorlag, was eine Bearbeitung auch bei noch fehlenden Deutschkenntnissen ermöglicht und die laut hinzugezogener Dolmetscher/innen sorgfältig vorgenommen wurden, und andererseits, um Hinweise auf deutliche Besonderheiten zu erhalten.

    Als Vergleichsstichprobe wurden 27 Jugendliche einbezogen, die zum Erhebungszeitpunkt in der stationären Rehabilitationseinrichtung „Therapeutische Einrichtung Eppenhain“ wegen einer diagnostizierten Suchterkrankung behandelt wurden.

    Die Unterschiede in den Subskalen „Emotionale Probleme“, „externalisierende Verhaltensauffälligkeiten“, „Probleme mit Gleichaltrigen“ und „Prosoziales Verhalten“ sind nicht signifikant, was vor dem Hintergrund zu betrachten ist, dass die Vergleichsstichprobe eine klinische Stichprobe (Drogenabhängigkeit) ist. Nur in der Subskala „Hyperaktivität“ bestehen deutliche Unterschiede. Die umA erreichen deutlich geringere Hyperaktivitätswerte als die Vergleichsgruppe. Dieses Ergebnis lässt sich sinnvoll interpretieren, da für die meisten suchtmittelabhängigen Jugendlichen zusätzlich eine ADHS-Diagnose vorliegt.

    Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

    Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mehrzahl der umA, die in den stationären Jugendhilfeeinrichtungen von JJ betreut werden, belastende Erfahrungen im Herkunftsland gemacht haben und in Deutschland vielfachen Anforderungen und Unsicherheiten gegenüberstehen. Es gelingt den meisten umA, in den Jugendhilfeeinrichtungen aktiv mitzuwirken, soziale Netzwerke aufzubauen, regelmäßig die Schule zu besuchen, Deutsch zu lernen und Suchtmittel nicht bzw. nicht in riskanter oder schädigender Weise zu konsumieren.

    Es gibt jedoch nach Einschätzung der Bezugsbetreuer/innen auch Jugendliche, deren emotionale Stabilität und Selbstfürsorge als nicht ausreichend eingeschätzt werden, die selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität zeigen oder im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum auffallen. Es liegen Zusammenhänge zwischen zurückliegenden Erfahrungen und aktuellen Problembewältigungsmustern vor.

    Obwohl es deutliche Hinweise auf Traumata gibt, nimmt die Mehrheit der Jugendlichen zu Beginn der Behandlung keine regelmäßigen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsangebote wahr, was damit zusammenhängen könnte, dass zu Beginn der Betreuung andere Probleme, wie z. B. die Frage des Aufenthalts, dominieren.

    Der Kontakt zu Freunden und Angehörigen hat einen messbaren Einfluss auf die aktuelle Lebenssituation und die Zukunftsängste in Deutschland. Außerdem zeigte sich, dass es einen Zusammenhang zwischen „Angehörige in Deutschland“ und „emotionale Stabilität“ gibt: Jugendliche, die Angehörige in Deutschland haben, erzielen höhere Werte bei der Zielerreichung im Bereich „emotionale Stabilität“. Das Gleiche gilt für die Befähigung zur Konfliktbewältigung.

    Der Kontakt zu Angehörigen – in Deutschland oder im Herkunftsland – hat positive Auswirkungen auf die Jugendlichen, weshalb sie darin unterstützt werden sollten, den Kontakt zu pflegen und aufrechtzuhalten.

    Suchtmittel sind Thema in der Betreuung, jedoch in der gegenwärtigen Situation zunächst nicht das dominierende Problem, auch wenn der Suchtmittelkonsum durchaus in Teamsitzungen und Gesprächen mit den Jugendlichen eine Rolle spielt. Durch die im Abschnitt „Suchtmittelkonsum“ beschriebenen Ergebnisse lässt sich veranschaulichen, dass die Dauer der Flucht einen Einfluss auf das Ausmaß des Cannabiskonsums der Jugendlichen hat. Auffällig ist, dass die hohen Werte im Bereich „Vorfälle mit Suchtmitteln oder Alkohol in der Einrichtung“ nicht gedeckt werden von den konkreten Benennungen zum Suchtmittelkonsum durch die Fachkräfte. Dies ist ein Hinweis darauf ist, dass der tatsächliche Konsum möglicherweise höher ist als der bekannte.

    Schlussfolgerungen für die Praxis

    Ein Teil der  unbegleiteten minderjährigen bzw. jungen Ausländer/innen leidet an psychischen Erkrankungen, viele werden noch nicht entsprechend behandelt. Sowohl das Gesundheitssystem als auch die Suchthilfe sind gefordert, entsprechende Konzepte für die Behandlung von umA anzuwenden bzw. weiterzuentwickeln. Vielen umA ist das deutsche Versorgungssystem nicht bekannt, und viele der hiesigen Angebote sind im Herkunftsland unbekannt. Deshalb gibt es in den Einrichtungen von  Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. z. B. suchtspezifische Informationsangebote in den umA-Einrichtungen sowie Suchtberatungsstellen mit Angeboten für Geflüchtete, die unterschiedlich gut angenommen werden.

    Für einen Einstieg in den deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind das Erlernen der deutschen Sprache sowie das Erreichen eines Schulabschlusses entscheidende Voraussetzungen. Hinsichtlich der schulischen Vorbildung und der sprachlichen Kenntnisse haben die Jugendlichen ungleiche Ausgangslagen. Dementsprechend benötigen sie unterschiedliche, flexible und ihrer individuellen Ausgangslage gerecht werdende Unterstützungsangebote. 

    Suchtmittelkonsum spielt im Betreuungsalltag eine Rolle, ist für die Mehrheit der Jugendlichen jedoch kein vordringliches Problem. Es stehen zunächst andere Probleme im Vordergrund. Zudem fällt das Reden über Suchtmittelkonsum oftmals schwer, z. B. weil das Thema Sucht schambesetzt ist oder Suchtmittelkonsum im Herkunftsmilieu als Sünde gilt. Hier helfen Prävention und Aufklärung. Informationsorientierte Suchtpräventions­veranstaltungen sind sinnvoll, auch um weiterführende (möglicherweise unbekannte) Unterstützungsangebote transparent und zugänglich zu machen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass diese von vielen Jugendlichen angenommen und mit Interesse verfolgt werden. Im Falle derjenigen Jugendlichen, die regelmäßig konsumieren, kommt es darauf an, ein Problembewusstsein zu schaffen und ihnen das Suchthilfesystem gegebenenfalls überhaupt erst näher zu bringen.

    Aufgrund der Gegebenheiten in der Jugendhilfe (z. B. Ausgangsregelungen) ist bei einem Gutteil der Jugendlichen unklar, ob und in welchem Umfang sie Suchtmittel konsumieren, auch wenn die Bezugsbetreuer/innen meist eine sehr enge Arbeitsbeziehung zu den Betreuten haben. Daher plant der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe im nächsten Jahr eine Befragung der Jugendlichen zu ihrem Suchmittelkonsum.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Sabine Köhler
    Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin
    Villa Anna – Stationäre Jugendhilfe-Einrichtung, Eppstein
    Theodor-Fliedner-Weg 5
    65817 Eppstein
    sabine.koehler@jj-ev.de
    Tel. 069/06198 5746-0

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13 

    Literatur
    • Donath, C., Gräßel, E., Baier, D., Hillemacher, T. (2013). The prevalence of suicidal thoughts and attempts in a representative sample of German adolescents. Vortrag am XIV. International Congress of the International Federation of Psychiatric Epidemiology: 6. Juni 2013. Leipzig
    • Kunz, D., Schneider, D. (2017). Flucht und Sucht, in: SuchtAktuell, Heft 02.17, https://www.sucht.de/heft-22017-746.html
    • Lohbeck, A., Schultheiß, J., Petermann, F., Petermann, U. (2005). Die deutsche Selbstbeurteilungsversion des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ-Deu-S). Diagnostica, 61, 222-235. Online (2015): https://econtent.hogrefe.com/doi/full/10.1026/0012-1924/a000153
    • Müller, S., Gelbrich, K. (2014): Interkulturelle Kommunikation. München: Vahlen
    • Oberg, K. (1960): Culture Shock: adjustment to new cultural environment. Practical Antropology 7, 177-182. In: Erll, A. & Gymnich, M. (2013): Interkulturelle Kompetenzen. Stuttgart: Klett
    • Reker, J., Grosse, J. (2010). Versteh mich nicht falsch! Gesten weltweit. Das Handbuch. München: Bierke
    • Teismann, T., Koban, C., Illes, F. & Oermann, A. (2016). Psychotherapie suizidaler Patienten. Göttingen: Hogrefe.
    • Werse et al. (2016). Jahresbericht 2015 Monitoring System Drogentrends. Frankfurt am Main: 2016
  • „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    Iris Otto
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

    Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.

    Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.

    Betreuungsplätze und Fallzahlen

    Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.

    Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung

    Betreuungsangebote

    Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.

    Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen

    Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern  (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).

    Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern

    Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:

    • Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
    • Frühförderstelle
    • Kinderarzt oder Kinderklinik
    • Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
    • Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
    • Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
    • Ergotherapie oder Logopädie

    Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).

    Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.

    Personalausstattung

    Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.

    Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.

    Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz

    Finanzierung

    Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)

    Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.

    Ausblick

    Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.

    Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:

    • Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
    • Kindgerechtes Notfallmanagement (Notfallversorgung, Kinder-Reanimationsmaske etc.)
    • Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
    • Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
    • Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
    • Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
    • Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
    • Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt

    Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.

    Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.

    Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen:
    Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.

  • Factsheet zu Neuen psychoaktiven Substanzen

    Das Projekt MINDZONE vom Landes-Caritasverband Bayern e.V. hat im Oktober 2017 das „Factsheet Neue psychoaktive Substanzen (NpS). Basisinformationen für Fachkräfte und Multiplikatoren“ herausgegeben. Darin finden sich ausführliche aktuelle Informationen und wichtige Fakten zu NpS. Folgende Substanzklassen werden beschrieben:

    • Synthetische Cannabinoide / Cannabimimetika
    • Synthetische Cathinone (Designer-Stimulanzien)
    • Phenethylamine
    • Piperazine
    • Tryptamine
    • Synthetische Opioide / Fentanyl-Derivate
    • Ketamin-Derivate / Dissoziativa
    • Designer-Benzodiazepine
    • Synthetische Kokain-Analoga
    • LSD-Analoga

    Das Factsheet gibt Empfehlungen für die Suchtprävention und hält spezielle Informationen für Fachkräfte und Multiplikatoren aus der Suchthilfe bereit. Dargestellt werden z. B. Konsumenten-Typen und Konsummotive, Bezugs- und Informationsquellen von Konsumenten, Indikatoren für einen NpS-Konsum, Tipps für den Umgang mit NpS-Konsumenten in der Beratungsstelle sowie Schnittstellen zu Kooperationspartnern. Der Anhang widmet sich dem Verhalten im Drogennotfall und Minimalregeln zur Risikominimierung.

    Das 44-seitige Factsheet kann über die Online-Infobörse „Neue Drogen“ heruntergeladen werden. Die Website http://infoboerse-neue-drogen.de/ ist im Dezember 2017 an den Start gegangen und richtet sich an alle, die mit dem Thema NpS zu tun haben: Konsumenten, Angehörige, Fachstellen der Suchtversorgung sowie der Jungendhilfe etc. Sie hält ein breit angelegtes Informations- und Beratungsangebot vor. Projektträger ist der Landes-Caritasverband Bayern e.V.

    Redaktion KONTUREN, 11.01.2018