Schlagwort: Kinder und Jugendliche

  • Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern

    Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern

    Frauke Schwier
    Dr. Hauke Duckwitz
    Dr. Lieselotte Simon-Stolz

    Kinder mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil sind vielfältigen, oft chronischen Belastungen und kumulierenden Risikofaktoren ausgesetzt. Sie gelten als Hochrisikogruppe für die Entstehung einer eigenen psychischen und/oder Suchterkrankung und tragen ein großes Risiko, vernachlässigt oder misshandelt zu werden. Hierbei bilden die Kinder, die bereits durch Exposition von Alkohol oder anderen Substanzen in der Schwangerschaft pränatal geschädigt wurden, eine vulnerable Gruppe mit besonderer Gefährdung. Die Vermittlung von Hilfen sowie der Schutz von Kindern in sogenannten Hochrisikofamilien stellen für die beteiligten Systeme eine besondere Herausforderung dar. Bei hoher Komorbidität von Sucht- und psychischen Erkrankungen – bei 40 bis 50 Prozent der Suchterkrankten bestehen zusätzlich psychische Erkrankungen (Jacobi et al., 2010) – und aufgrund fehlender Möglichkeiten, alle Betroffenen zu erfassen, gehen konservative Schätzungen von ca. fünf Millionen Kindern mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil in Deutschland aus (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017). Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

    Fachkräfte im Gesundheitssystem orientieren sich bei ihrer täglichen Arbeit an Empfehlungen von Leitlinien. Im Folgenden stellen wir die für die Thematik relevanten Leitlinien kurz vor und werden auf den Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“ der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) gezielt eingehen.

    Übersicht aktueller Leitlinien

    Im Februar 2019 wurde unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) die AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019), kurz AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie veröffentlicht. Sie beruht auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, und alle Empfehlungen wurden durch ein repräsentatives Gremium aus 82 Fachgesellschaften und Organisationen aus Medizin, Psychologie, Sozialer Arbeit und Pädagogik erstellt und verabschiedet.

    Die Kinderschutzleitlinie soll Fachkräfte im Gesundheitssystem dabei unterstützen, eine Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und einen sexuellen Missbrauch frühzeitig zu erkennen, festzustellen und mit den erkannten Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung fachgerecht und kompetent umzugehen. Außerdem soll die Leitlinie Fachkräften aus anderen Versorgungsbereichen wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe die Arbeit im Gesundheitssystem transparent darstellen. Alle Informationen und Veröffentlichungen zur Kinderschutzleitlinie sind abrufbar auf den Homepages der AWMF oder DGKiM.

    Eine der Handlungsempfehlungen der Kinderschutzleitlinie besagt, dass bei allen Erwachsenen, die aufgrund einer Intoxikation, eines (versuchten) Suizids oder einer akuten psychischen Dekompensation in der Notaufnahme behandelt werden, danach gefragt werden soll, ob diese Erwachsenen für Minderjährige verantwortlich sind. Wenn diese Frage bejaht wird, soll der Sozialdienst der Klinik informiert werden, um in Erfahrung zu bringen, inwieweit es einen Hilfebedarf in der Familie gibt.

    Weitere aktuelle Leitlinien:

    Fokus: DGKiM-Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“

    ezüglich der Thematik Kinder psychisch und suchtkranker Eltern veröffentlichte der Arbeitskreis Prävention der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin im Dezember 2020 einen Leitfaden für Präventiven Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern. Dieser Leitfaden informiert Fachkräfte im Gesundheitssystem über Prävention und Intervention bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Er beruht auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Anlehnung an die AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie und auf in der Praxis bewährten Vorgehensweisen. Nach einer Einführung in die Thematik werden Empfehlungen für präventives Handeln bezogen auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Kinder gegeben.

    Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf das Fürsorgeverhalten und das familiäre System

    Nicht jede psychische Störung oder Suchterkrankung eines Elternteils führt zwangsläufig zu einer eingeschränkten Erziehungskompetenz oder einer Gefährdung des Kindeswohls. Eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der elterlichen Erziehungsfähigkeit spielen die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und die Kompetenz der Eltern, einfühlsam die Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und diese angemessen zu befriedigen (Plattner, 2017). Psychisch oder suchterkrankte Eltern zeigen jedoch in erhöhtem Maße eine eingeschränkte emotionale Bindungs- und Empathiefähigkeit. Die Auswirkungen auf die Co-Regulation und die Eltern-Kind-Interaktion verdeutlicht Abbildung 1.

    Abbildung 1: Entstehung von Risikokonstellationen – frühe Hinweise bei den Eltern und Auswirkungen auf elterliche Co-Regulation und Interaktion

    Häufig ist der Familienalltag wenig strukturiert und bietet unzureichende kognitive und soziale Anregung, Explorationsmöglichkeiten und Regulationshilfen für die Kinder. Diese erleben ihre Eltern immer wieder als instabil und schlecht berechenbar. Weitere Problemfelder sind die häufige soziale Isolation sowie das hohe Risiko, dass die Eltern sich durch die Kinder persönlich eingeschränkt fühlen und den Kindern negative Emotionen (Ärger, Feindseligkeit, Wut, Hass) entgegenbringen. Betroffene Eltern zweifeln häufig an der eigenen elterlichen Kompetenz mit daraus folgenden Gefühlen von Enttäuschung, Unzulänglichkeit, Versagen und Hilflosigkeit.

    Außerdem zeigt sich eine erhöhte Prävalenz von familiärer Disharmonie (Trennung/ Scheidung), Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen, problematischen Wohnverhältnissen und kritischen Lebensereignissen (z. B. schwere Erkrankung oder Tod eines Elternteils, Krankenhausaufenthalte, Polizeieinsätze, Inhaftierung). Das Risiko für Unfälle und Verletzungen ist erhöht. In manchen Familien herrscht eine Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit. Häusliche Gewalt sowie Vernachlässigung und Misshandlung treten häufiger auf und bedeuten damit ein hohes Entwicklungsrisiko für die Kinder (Klein, 2008).

    Direkte altersbezogene Folgen für die Kinder

    Eine Gefährdung der kindlichen Entwicklung kann bereits durch eine intrauterine Substanzexposition – sowohl von legalen (Nikotin, Alkohol, Medikamente) als auch illegalen Substanzen (häufig auch in Kombination) – und durch pränatale Stressbelastung der Mutter entstehen. Neurobiologische Forschungen zeigen Zusammenhänge zwischen dem Belastungserleben der Schwangeren und Veränderungen der Hirnmorphologie und Neuroendokrinologie des ungeborenen Kindes. Die stressbezogenen Umwelteinflüsse ab dem frühen Kindesalter stellen einen Hauptrisikofaktor für die Entstehung späterer psychopathologischer Erkrankungen dar (Albermann et al., 2019).

    Zum breiten Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit nach intrauteriner Substanzexposition gehören u. a. Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsretardierung, Mikrozephalie (deutlich zu kleiner Kopfumfang), Fehlbildungen, Hyperexzitabilität (Übererregbarkeit des Zentralen Nervensystems), Trink- und Ernährungsschwierigkeiten sowie zerebrale Erkrankungen mit z. T. langfristigen Konsequenzen und erheblichen kognitiven Einschränkungen.

    Nach der Geburt manifestieren sich bei ca. 50 bis 90 Prozent der Neugeborenen nach (legalem oder illegalem) Substanzkonsum in der Schwangerschaft (auch nach Substitution) Entzugssymptome, die unter dem Begriff Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom (NAS) zusammengefasst werden. Klinische Symptome zeigen sich in der Regel innerhalb der ersten 24 bis 36 Lebensstunden, allerdings bei mütterlichem Zusatzkonsum von Benzodiazepinen häufig auch zeitverzögert (nach sieben Tagen bis zu vier Wochen). Deshalb sollten neben Geburtshelfern, Neonatologen, medizinischem Pflegepersonal und Hebammen auch Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein (Rohrmeister & Weninger, 2006).

    Zumindest in den USA haben sowohl die Inzidenz als auch die Behandlungsdauer für das NAS in den letzten Jahren zugenommen. Aus Europa liegen keine systematisch erhobenen Daten vor (Gortner & Dudenhausen, 2017). Nach Schätzungen werden jährlich bundesweit ca. 2.000 Kinder drogenabhängiger Mütter geboren. Das entspricht einer Inzidenz von 1:3000 (Hüsemann, Nagel & Obladen, 2008). Prävalenzdaten zum Konsum illegaler Substanzen in der Schwangerschaft sind nicht verfügbar. Auch eine annähernde Schätzung des illegalen Substanzkonsums ist aufgrund häufiger Verschweigungstendenzen und geringerer Inanspruchnahme von vor- und nachgeburtlichen Hilfen betroffener Schwangerer sehr schwierig.

    Aufgrund des häufigen Mischkonsums von illegalen und legalen Drogen können direkte substanzbezogene Langzeiteffekte auf die Kinder (z. B. auf Regulationsfähigkeit, Lernverhalten und Gedächtnisleistungen) nur eingeschränkt wissenschaftlich belegt werden. Aussagen über Wirkungseffekte, die auf eine einzelne Substanz zurückgeführt werden können, sind bei der derzeitigen Forschungslage nicht möglich. Insbesondere werden jedoch nach wie vor die Langzeitschädigungen durch Nikotin und Cannabinoide erheblich unterschätzt. Generell steigt das Risiko für das Ungeborene mit der Häufigkeit der Einnahme, der Dosis und der Vielfalt der konsumierten Substanzen.

    Exkurs: Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD)

    Eine zahlenmäßig sehr bedeutsame Gruppe sind die Kinder, die durch mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geschädigt wurden. Die im Zusammenhang mit intrauteriner Alkoholexposition auftretenden kindlichen Folgeschädigungen, Entwicklungsstörungen und Behinderungen werden unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD/Fetal alcohol spectrum disorder) zusammengefasst. Bundesweit trinken ca. 28 Prozent der Schwangeren Alkohol in der Schwangerschaft, ca. 16 Prozent zeigen ein binge-drinking-Verhalten (mind. fünf Getränke zu einer Gelegenheit) (Landgraf & Hoff, 2018).

    Nach jetzigem Kenntnisstand muss davon ausgegangen werden, dass jeglicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft den Embryo gefährden kann. Statistische Schätzungen von Kraus et. al, die die Häufigkeit von mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und das Risiko für eine FASD bei intrauteriner Alkoholexposition mit einbeziehen, zeigen eine Inzidenz der FASD von 1,77 Prozent in Deutschland. Eine zuverlässige Prävalenzstudie zu FASD existiert in Deutschland bisher nicht (Kraus et al., 2019). Die aktuell vorliegenden Daten beruhen auf Hochrechnungen oder Schätzungen. Expertenschätzungen gehen von einer einprozentigen FASD-Prävalenz der Gesamtbevölkerung aus. Bezogen auf Deutschland wären somit ca. 0,8 Millionen Menschen, davon 130.000 Kinder, von FASD betroffen (Landgraf & Heinen, 2016; Landgraf & Hoff, 2018).

    Die routinemäßige Erfassung des Alkohol- und Drogenkonsums gehört in Deutschland zum Standard in der Schwangerenvorsorgeuntersuchung. Allerdings wird eine offene Ansprache des Konsums oft vermieden bzw. aufgrund struktureller und zeitlicher Belastungen nur unzureichend nachgefragt (Landgraf & Heinen, 2016; Nagel & Siedentopf, 2017). Hinzu kommt, dass die Frauen die tatsächliche Konsummenge möglicherweise nicht angeben bzw. aus Scham und Angst vor sozialer Stigmatisierung häufig alkoholverneinende Angaben machen. Aufgrund dessen ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Daher sollte bei Screening-Verfahren in der Schwangerschaft auf jeglichen Alkoholkonsum und nicht nur auf riskante Konsummuster geachtet werden. Angestrebtes Ziel der Aufklärung und Beratung sollte die Prävention einer Alkohol-exponierten Schwangerschaft sein.

    Mögliche Folgen der teratogenen und neurotoxischen Wirkungen bei Alkoholexposition in der Schwangerschaft sind Wachstumsstörungen, typische Gesichtsdysmorphien, Hirnschädigungen und Beeinträchtigungen der geistigen und seelischen Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten sowie Funktions- und Alltagsbeeinträchtigungen des Kindes, die bis ins Erwachsenenalter persistieren. Die Störungen können in unterschiedlicher Ausprägung auftreten (Vollbild Fetales Alkoholsyndrom = FAS; nur einzelne Bereiche betreffend = partielles FAS/pFAS; auf entwicklungs-neurologische Störungen beschränkt = Alkoholbedingte Entwicklungsneurologische Störung/ARND), was aber nicht gleichzeitig eine geringere Schwere der Erkrankung impliziert. Für die Diagnostik der FASD steht seit 2016 eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Verfügung (Landgraf & Heinen, 2016). Empfohlen wird eine vernetzte, multimodale, interdisziplinäre Diagnostik und Therapie, wie sie in einigen wenigen spezialisierten Zentren bundesweit oder in sozialpädiatrischen Zentren vorgehalten wird. Dabei sollen die individuelle Problemlage und Alltagseinschränkungen des Kindes immer im Fokus stehen (Landgraf & Hoff, 2018).

    Neben biologischen und (epi)genetischen Faktoren müssen auch die Umgebungs- und Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder nach intrauteriner Substanzexposition aufwachsen, berücksichtigt werden. Das Aufwachsen mit suchtkranken Eltern stellt für die Kinder und Jugendlichen eine enorme Belastung dar. Sie fühlen sich nicht gesehen und erfahren häufig nur unzureichende elterliche emotionale und erzieherische Unterstützung und Fürsorge. Damit sind sie einem entwicklungsgefährdenden, dysfunktionalen elterlichen Verhalten ausgesetzt, in kritischen Fällen auch dem Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Folgen für die Kinder sind umso gravierender, je früher und länger sie mit der elterlichen psychischen und Suchterkrankung konfrontiert sind, je schwerer ausgeprägt die Erkrankung ist und je mehr zusätzliche familiäre Belastungen vorliegen, die nicht durch vorhandene Schutzfaktoren kompensiert werden können. Ein weiteres Problem stellt die „Parentifizierung“, d. h. die Sorge um die Eltern, die Fürsorge für jüngere Geschwister, die Erledigung des Haushalts und das Wahren der Fassade durch die betroffenen Kinder, dar.

    Empfehlungen für präventives Handeln

    Bei Unterstützungsmaßnahmen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern spielen neben der Beratung und Unterstützung der Eltern insbesondere Angebote für die Kinder und Jugendlichen selbst entlang ihrer Entwicklungsphasen eine wichtige Rolle. Diese sollten möglichst frühzeitig erfolgen. Wichtig ist die Ermöglichung eigener Zugangswege für Kinder, die es ihnen erlauben, im Bedarfsfall auch eigenständig und ohne Einverständnis der Eltern nach Hilfe zu fragen, insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern. Diese Empfehlung, die die Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern in ihrem Abschlussbericht formuliert (Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern, 2019, Empfehlung Nr. 2; siehe auch Artikel auf KONTUREN online), wurde inzwischen im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz berücksichtigt. In § 8 SGB VIII wurde das Vorliegen einer „Not- und Konfliktlage“ als Voraussetzung für einen Beratungsanspruch gestrichen. Somit haben Kinder und Jugendliche nun auch ohne ihre Eltern einen uneingeschränkten eigenen Anspruch auf Beratung durch die Kinder- und Jugendhilfe. Die Beratung kann auch durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht werden (Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, 2021).

    Ein zentrales Thema stellt die Psychoedukation der Kinder dar. Folgende Informationen und Botschaften sollten Kindern psychisch und suchtkranker Eltern gegeben werden (Moesgen et al., 2017):

    • Sucht ist eine psychische Erkrankung und somit eine Krankheit.
    • Die Eltern sind wegen ihrer psychischen Erkrankung keine schlechten Menschen.
    • Das Kind hat keine Schuld an psychischen und Suchtproblemen von Vater oder Mutter.
    • Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder die Erkrankung zu heilen.
    • Das Kind hat trotz der Krankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, Freundschaften zu entwickeln, die eigenen Fähigkeiten zu erproben und sich selbst zu lieben und zu achten.

    Präventiver Kinderschutz in Familien mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil bedeutet oft eine Gratwanderung. Es gilt, gefährdete Kinder frühzeitig zu identifizieren und ihnen und den Eltern angemessene Unterstützung anzubieten, dabei gleichzeitig die elterliche Autonomie zu respektieren und schließlich Gefährdungssituationen deutlich abzugrenzen und ggf. geeignete Kinderschutzmaßnahmen einzuleiten (Albermann et al., 2019). Bei Hinweisen auf eine Gefährdung des Wohles oder der Entwicklung des Kindes bei fehlender Mitwirkung der Eltern sollten immer Maßnahmen unter Berücksichtigung des § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Anwendung finden (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019). Wichtig sind in multidisziplinären und multiinstitutionellen Settings ein regelmäßiger (auch fallbezogener) Austausch, z. B. in Netzwerktreffen, Qualitätszirkeln, Helferkonferenzen usw., sowie eine eindeutige Festlegung der Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure.

    Exkurs: Gesetzliche Grundlage zum Vorgehen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 4 KKG)

    Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) regelt im § 4 die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger an das zuständige Jugendamt beim Auftreten von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Unter dem Begriff Geheimnisträger:in sind verschiedene Berufsgruppen aufgeführt, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Fachkräfte des Gesundheitssystems sind dabei explizit benannt.

    Werden diesen Berufsgruppen im Rahmen ihrer Tätigkeit Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung bekannt, so ist ein stufenweises Vorgehen geregelt (s. Abbildung 2).

    Abbildung 2: Vorgehen bei Bekanntwerden von gewichtigen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung (Material entnommen aus Kinderschutzleitlinie 2021)
    Präkonzeptionelle Prävention

    Unter dem Aspekt des präventiven Kinderschutzes ist im Kontext der Betreuung von psychisch und suchtkranken Frauen die Frage zu klären, ob ein aktueller oder zukünftiger Kinderwunsch besteht. Ebenso bedeutsam ist die Berücksichtigung des Risikos einer ungeplanten Schwangerschaft. Diesbezüglich ist eine frühe Anbindung an eine gynäkologische Praxis sowie eine psychiatrische, ggf. suchtmedizinische, Betreuung der Frauen notwendig. Im Rahmen der medizinischen Betreuung sind mögliche Risiken einer Schwangerschaft aufgrund der Schwere der Erkrankung, der Medikation oder eines Substanzkonsums zu prüfen. Ebenso muss die psychopharmakologische Medikation bezüglich eines erhöhten Fehlbildungsrisikos (Embryotoxizität) überprüft werden. Im Bedarfsfall sollte eine Umstellung der Medikation erwogen werden (Kittel-Schneider, 2019).

    Als Leitlinien liegen die AWMF S3-Leitlinien für Unipolare Depression (BÄK, KBV, AWMF, no date), Bipolare Störungen (DGBS & DGPPN, 2019) und Schizophrenie (DGPPN, no date) vor. Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung/Psychoedukation über die jeweilige Erkrankung sollten psychisch und suchtkranke Frauen auch über die Auswirkungen einer möglichen Schwangerschaft auf die Erkrankung informiert werden.

    Schwangerschaft

    Schwangerschaften von psychisch und suchtkranken Frauen gelten als Risikoschwangerschaften. Viele dieser Schwangerschaften sind ungeplant, bei suchtkranken Frauen ca. 85 Prozent. Sie werden oft spät bemerkt oder sich spät eingestanden. Kontakte mit Gynäkolog:innen finden oft erst weit nach dem ersten Trimenon statt. Ängste, Schuld- und Schamgefühle hindern viele Frauen daran, Vorsorge- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Es bestehen oft multikomplexe Problemlagen. Diese aggravierenden Begleitfaktoren erklären das breite Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit und die mögliche Beeinträchtigung nach der Geburt. Zudem ist die körperliche Situation von suchtkranken schwangeren Frauen oft von Mangel- und Fehlernährung und von Begleiterkrankungen wie Hepatitiden und HIV-Infektionen gekennzeichnet. Häufig wird ein zurückliegender oder aktueller Konsum gegenüber Gynäkolog:innen, Kliniken, Hebammen oder Beratungsstellen verheimlicht, wodurch erforderliche Vorbereitungen auf die Geburt und eine fachlich kompetente Betreuung unterbleiben (Tödte & Bernhard, 2016).

    Die bedarfsgerechte Substitutionstherapie mit langwirksamen Opiaten oder Opioiden stellt die Standardtherapie von opiatabhängigen Schwangeren dar (Bundesärztekammer, 2017). Die suchtmedizinische Behandlung ist eine notwendige Initialmaßnahme, der weitere Behandlungen und Interventionsmaßnahmen folgen müssen, um die Risiken für das Kind zu senken. In Kooperation mit weiteren Fachdisziplinen, u. a. der Psychosozialen Betreuung (PSB) und optimalerweise der Jugendhilfe, sollte der umfassende medizinische Behandlungsprozess begleitet und abgesichert werden (Nagel & Siedentopf, 2017). Dies beinhaltet eine frühzeitige Zusammenarbeit von Sozialen Diensten, Kinder- und Jugendheilkunde, Gynäkologie und Suchtmedizin. Die Standards in der Betreuung suchtkranker Schwangerer zeigt Abbildung 3.

    Abbildung 3: Standards in der Betreuung suchtgefährdeter und suchtkranker schwangerer Frauen, modifiziert nach Nagel & Siedentopf 2017; Landgraf & Hoff 2018
    Geburt und frühe Kindheit

    Im Gegensatz zu der vor- und nachgeburtlichen Phase werden in der Geburtsklinik in einem begrenzten Zeitraum (ein bis drei Tage) nahezu alle entbindenden Frauen (98 Prozent) mit ihren Kindern, darunter auch Mütter mit psychosozialen und gesundheitlichen Belastungen, erreicht. Die Mütter sind insbesondere am Tag nach der Entbindung offen für Gespräche. Sie nehmen während der kurzzeitigen stationären Behandlung in der Geburtsklinik Unterstützungsangebote leichter an als später.

    Aufgrund der Häufigkeit von Entzugssymptomen bei Neugeborenen nach mütterlichem Substanzkonsum in der Schwangerschaft (Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom, NAS) sollten Geburtshelfer, Neonatolog:innen, medizinisches Pflegepersonal, Hebammen und Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein. Entwickelt das Neugeborene Entzugssymptome, wird nach der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie Kinderschutz (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019) eine Verlegung in eine neonatologische Abteilung empfohlen, die ein strukturiertes Vorgehen zur Erkennung, Überwachung und Behandlung eines NAS vorhält und anwendet. Die Behandlung sollte auch ein strukturiertes Besuchs- und Interaktionsprotokoll und ein multiprofessionelles Vorgehen, einschließlich einer Fallkonferenz mit den Eltern und den unterstützenden Helfersystemen, beinhalten, um möglichst bereits vor der Entlassung erforderliche Unterstützungsmaßnahmen einleiten zu können. Optimalerweise sollte die stationäre Versorgung in enger Kooperation mit der klinikinternen Kinderschutzgruppe erfolgen.

    Vorrangige Ziele sind die Förderung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung, die Gewährleistung einer zuverlässigen und stabilen sozialen Umwelt, die Vermeidung traumatisierender familiärer Beziehungsmuster und die Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Situation. Für die Kinder sollten routinemäßig folgende Leistungen durchgeführt werden:

    • eine engmaschige Entwicklungsbeobachtung – oft auch über die regelhaften Vorsorgeuntersuchungen hinaus,
    • die Initiierung von erforderlichen therapeutischen, sozial- und heilpädagogischen oder rehabilitativen Maßnahmen und
    • eine kontinuierliche Betreuung bis ins Adoleszenten-Alter. Dies ist zum Beispiel durch die Anbindung an ein Sozialpädiatrisches Zentrum möglich.
    Vorschulkinder (3–6 Jahre)

    Nur ein prozentual sehr kleiner Anteil der betroffenen Kinder findet den Weg in spezielle präventive Angebote, von denen allerdings bundesweit (noch) viel zu wenige existieren. Ein sehr viel größerer Teil der Kinder – insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern – ist ausschließlich in den Settings zu erreichen, in denen sich Kinder und Jugendliche sowieso aufhalten: in Kindertagesstätten, Schulen und Horteinrichtungen sowie in ärztlichen oder therapeutischen Praxen oder in Kliniken. Damit die dortigen Mitarbeitenden mögliche Anzeichen einer familiären Suchterkrankung besser erkennen und adäquat darauf reagieren können, sollten entsprechende Inhalte in die pädagogischen, psychologischen und medizinischen Ausbildungen aufgenommen werden. Kinder- und Jugendärzt:innen nehmen in den ersten fünf Lebensjahren eines Kindes eine zentrale Stellung ein. Sie sehen nahezu alle Kinder zu den gesetzlich vorgesehenen Früherkennungsuntersuchungen U2/U3 bis U9 (1. Lebenswoche bis 64. Lebensmonat) und führen bei ihnen regelmäßig Untersuchungen zur Gesundheit und zur kindlichen Entwicklung durch. In Arztpraxen sollten Materialien zum Thema Suchthilfe und Suchtprävention sowie zu psychisch kranken Eltern zur Verfügung stehen. Bei allen Mitarbeitenden sollten Kenntnisse über lokal verfügbare Unterstützungs- und Beratungsangebote sowie die jeweiligen Zugangswege vorhanden sein.

    Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten sowie in der Eltern-Kind-Interaktion und relevante soziale Risikofaktoren sollen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen im Früherkennungsheft sowie in der Patientenakte dokumentiert werden. Das Vorsorgeheft stellt sowohl für die behandelnden Ärzt:innen als auch für Bildungseinrichtungen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst – mit Einverständnis der Eltern – eine wichtige Informationsquelle über den Entwicklungsverlauf des Kindes, stattgehabte schwere Erkrankungen und psychosoziale Risiken dar.

    Der Öffentliche Gesundheitsdienst führt spätestens im sechsten Lebensjahr vor der Einschulung die Schuleingangsuntersuchung durch. In diesem Rahmen sollten alle Kinder eines Jahrgangs gesehen werden. Außerdem finden in vielen Kommunen weitere (freiwillige) Untersuchungen der Kindergartenkinder durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst und kinder- und jugendzahnärztliche Untersuchungen statt.

    Der Besuch von Kindertageseinrichtungen und anderen Bildungsinstitutionen ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung von Kindern, die mit psychisch oder suchtkranken Eltern aufwachsen. Die Kinder erfahren dort: klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen, wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind), positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes, positive Peerkontakte/Freundschaftsbeziehungen, Förderung von Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung und sozialer Kompetenz, Förderung im Umgang mit Stress und von Problemlösefähigkeiten usw. (Schaich, 2017). Dies bedeutet natürlich auch, dass in ausreichendender Zahl entsprechend ausgebildetes Personal zur Verfügung stehen muss.

    Entwicklungs- oder verhaltensauffällige Kinder im Kindergartenalter bedürfen einer differenzierten fachlichen Diagnostik und Therapie. Hierbei müssen auch bei belasteten familiären Bedingungen mögliche Differentialdiagnosen wie genetisch bedingte Entwicklungsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen, Störungen aus dem Autismus-Spektrum oder somatische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Somit ist in vielen Fällen die Anbindung an eine interdisziplinäre Frühförderstelle, ein Sozialpädiatrisches Zentrum oder eine Praxis/Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll.

    Schulkinder (6–12 Jahre)

    Durch die psychische und Suchterkrankung der Eltern können bei Schulkindern und Jugendlichen Schulleistungsstörungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten auftreten, wobei die Schwierigkeiten im schulischen Alltag besonders sichtbar werden. Hier ist eine enge Vernetzung von Lehrer:innen, Schulsozialarbeitenden, Schulpsycholog:innen, Kinder- und Jugendärzt:innen und dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst notwendig. Besteht der Verdacht, dass das Kind belastet ist, oder stehen Schulprobleme im Vordergrund, ist eine ausführliche Diagnostik zu empfehlen, z. B. in Schulberatungsstellen/im Schulpsychologischen Dienst, in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen oder Sozialpädiatrischen Zentren. Je nach Diagnose bzw. Ursachen der Problematik können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten wie Hilfen zur Erziehung, schulische Förderung, Lerntherapien oder psychotherapeutische Interventionen initiiert werden.

    Für Schulkinder kann auch der Besuch einer Gruppe speziell für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern sehr hilfreich sein. Ein Ziel in diesen Gruppen ist es, das Krankheitsverständnis und die Problemlösekompetenz der Kinder im Umgang mit alltäglichen Belastungssituationen zu fördern. Insbesondere der Kontakt mit gleichaltrigen Betroffenen ist für viele Kinder eine wichtige Erfahrung, die ihnen zeigt, in ihrer Situation nicht alleine zu sein (Jungbauer, 2019).

    Adoleszente (ab 12 Jahren)

    Da zu den Hauptrisiken von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern die Entwicklung einer eigenen psychischen oder Abhängigkeitserkrankung gehört, ist eine Hauptanlaufstelle im Gesundheitssystem in diesem Alter die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Circa 50 Prozent der dort behandelten Patient:innen haben psychisch und suchtkranke Eltern. Das Angebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie reicht von ambulanten Terminen über eine tagesklinische Diagnostik und Therapie bis zur vollstationären Behandlung, ggf. auch geschlossen bei stark fremd- und eigengefährdendem Verhalten. Beratung und Hilfen für Jugendliche bieten bei Fragen zu Sucht und Abhängigkeitserkrankungen auch Drogenberatungsstellen vor Ort an. In der Regel ist aber eine Behandlung ohne längerfristig angelegte Jugendhilfemaßnahmen mit Hilfen zur Erziehung (z. B. Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft, teil- oder vollstationäre Unterbringung) oder Eingliederungshilfe (z. B. Integrationshilfe, Lerntherapie) nicht ausreichend. Eine enge Vernetzung von Gesundheitssystem, Suchthilfe und Jugendhilfe ist daher unabdingbar.

    Die Peer-Group und die Beziehung zu Gleichaltrigen nehmen einen immer größeren Stellenwert ein. Wünschenswert wäre daher neben der Aufklärung der Lehrer:innen auch die Aufklärung der Jugendlichen durch Akteure des Gesundheitssystems (z. B. im Biologie-Unterricht oder im Rahmen der Jugendsprechstunde) über Auswirkungen psychischer und Suchterkrankungen und Unterstützungsmöglichkeiten mit Bekanntmachung örtlicher und bundesweiter Anlaufstellen.

    Verstärkt sollten für Jugendliche auch digitale Beratungsformate (z. B. anonyme Onlineberatung, Foren, Gruppenchats usw.) genutzt werden, da die Nutzung des Internets ein selbstverständlicher Bestandteil jugendlicher Lebenswelten ist und einen niedrigschwelligen Zugang ermöglicht (Jungbauer, 2019). Diese Angebote und Formate haben sich auch in der Corona-Pandemie als hilfreich erwiesen.

    Vernetzung, Kooperation und Fallverantwortung

    Die psychische und Suchterkrankung eines oder beider Elternteile hat Auswirkungen auf die gesamte Familie. Von daher müssen die Unterstützungs- und Hilfeangebote auch das gesamte Familiensystem in den Blick nehmen. In die adäquate und umfassende familienorientierte und individuelle Versorgung ist eine Vielzahl von Institutionen und Fachkräften mit unterschiedlichen Aufträgen, Herangehensweisen und Möglichkeiten eingebunden. Dazu gehören Einrichtungen des Gesundheitssystems, der Jugendhilfe, der Suchthilfe u.a.m., deren Leistungen in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern verankert sind. Dies beinhaltet u. a. eine unterschiedliche Finanzierung der für die Familie vorgesehenen Leistungen. Betroffen sind neben dem SGB VIII und dem SGB V auch Leistungen aus anderen Sozialgesetzbüchern wie dem SGB II, dem SGB IX oder dem SGB XII. Von daher müssen die Hilfen interprofessionell entwickelt, gesteuert und miteinander abgestimmt umgesetzt werden.

    Bestehende Angebote können nur dann genutzt werden, wenn sie den Familien und Fachkräften bekannt sind. Dieses setzt eine Vernetzung der beteiligten Institutionen und Professionen auch Einzelfall übergreifend voraus. Erforderlich sind Kenntnisse über Aufgaben und Aufträge der einzelnen Anbieter, über Angebotsprofile, Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, interne Organisationsabläufe und Arbeitsgrundlagen der jeweiligen Institutionen. Dadurch können falsche Erwartungen abgebaut, gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz aufgebaut und eine realistische Basis für Kooperation geschaffen werden. Raum dazu bieten regelmäßige interprofessionelle Arbeitskreise, Netzwerktreffen, Qualitätszirkel oder Runde Tische. Bei diesen kommunikativen Verständigungsprozessen auf Expertenebene dürfen allerdings die Bedürfnisse der Familien nicht aus dem Blick geraten (Lenz, 2020).

    Bei der fallbezogenen Zusammenarbeit sind Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen, Institutionen und Versorgungssektoren beteiligt. Das Fallmanagement beinhaltet Absprachen sowie Regelungen bezüglich der gemeinsamen Verantwortung für die Familie und der eigenen Zuständigkeit für zu übernehmende Aufgaben sowie die Festlegung der Fallverantwortung.

    Zusammenfassung

    Kinder aus psychisch oder suchtbelasteten Familien tragen ein großes Risiko für Entwicklungs- und gesundheitliche Gefährdungen. Sie gelten als Hochrisikogruppe für eine eigene psychische und/oder Suchterkrankung sowie für Misshandlung und Vernachlässigung.

    Präventiver Kinderschutz muss früh einsetzen – idealerweise bereits vor der Schwangerschaft. Belastungen und Gefährdungen bei Kindern und ihren Familien können im Gesundheitssystem erkannt werden, von daher stellt dieses einen wichtigen Zugangsweg dar. Entsprechende Hilfen können anhand der vorhandenen Ressourcen angeboten und vermittelt werden. Notwendig sind frühzeitig zur Verfügung stehende individuell angepasste Hilfen bis hin zu differenzierten Versorgungsangeboten bei hohem Unterstützungsbedarf. Adäquate Hilfen erfordern einen ganzheitlichen Blick auf das gesamte Familiensystem und eine engmaschige Beobachtung der Entwicklung des Kindes. Damit kann wesentlich zu einer Verbesserung der kindlichen Entwicklungsbedingungen, der Lebensqualität der Kinder und zu einer Reduktion späterer körperlicher und psychischer Störungen beigetragen werden.

    Wirksame Prävention, Unterstützung und Schutz der betroffenen Kinder und ihrer psychisch und suchtkranken Eltern sind nur interdisziplinär in Kooperation mit anderen Professionen und Systemen fachlich adäquat und erfolgreich zu bewältigen. Notwendige Voraussetzungen sind entsprechendes Fachwissen, geeignete Screening-Instrumente, systematisches und strukturiertes Vorgehen, verbindliche Absprachen, gemeinsame Verantwortungsübernahme mit einer eindeutig definierten Fallverantwortung sowie eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung.

    Interessenkonflikt
    Die Autor:innen erklären, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

    Kontakt:

    Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz
    Kinder- und Jugendärztin
    Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM)
    Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention
    E-Mail: info@dgkim.de
    https://www.dgkim.de/

    Angaben zu den Autor:innen:

    Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz, Kinder- und Jugendärztin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention
    Dr. med. Hauke Duckwitz, Kinder- und Jugendarzt, Schwerpunkt Neuropädiatrie, Zertifizierter Kinderschutzmediziner (DGKiM), Sana Krankenhaus Gerresheim
    Frauke Schwier, Kinderchirurgin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Geschäftsführerin Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin

    Literatur:
  • Die Kinder mitnehmen

    Die Kinder mitnehmen

    Nathalie Susdorf
    Gotthard Lehner

    In Hutschdorf bei Thurnau (Landkreis Kulmbach – Oberfranken – Bayern) gibt es zukünftig zwei Einrichtungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: suchtmittelabhängige Frauen und deren Kinder auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft nachhaltig zu unterstützen. Das ist zum einen die DGD Fachklinik Haus Immanuel, eine Rehabilitationseinrichtung zur Behandlung suchtmittelabhängiger Frauen, sowie das derzeit noch im Bau befindliche DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“, das voraussichtlich Ende des Jahres fertiggestellt wird. Den beiden Institutionen angeschlossen ist die Kindertagesstätte „Kindernest“, die sich ebenfalls auf dem Gelände in Hutschdorf befindet.

    Die DGD Fachklinik Haus Immanuel – Mit dem Aufhören anfangen

    DGD Fachklinik Haus Immanuel

    In idyllischer Lage nahe der oberfränkischen Städte Kulmbach, Bayreuth und Bamberg liegt innerhalb eines parkähnlichen Areals die DGD Fachklinik Haus Immanuel. Das Haus behandelt seit 1907 alkoholabhängige Menschen, seit 1961 ausschließlich suchtmittelabhängige Frauen. Heute zählt die Klinik zu den modernsten Suchtkliniken Bayerns. In den letzten Jahren rückten die Mitbetreuung und Förderung von Kindern immer stärker in den Fokus. So wurde 2012 eine heilpädagogische Kindertagesstätte, das Kindernest, eröffnet. Die DGD Fachklinik Haus Immanuel gehört ebenso wie das neue Mutter-Kind-Zentrum zur DGD-Stiftung (DGD steht für Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband) in Marburg. Pro Jahr werden etwa 250 suchtkranke Frauen und ca. 50 Kinder aufgenommen, die ihre Mütter während der Therapie begleiten. Für viele Rehabilitandinnen ist dies ein wichtiger Schritt für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern.

    Wohnen im Haus Immanuel

    Der familiäre Charakter der Klinik ist eine ideale Grundlage, um Rehabilitandinnen auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft zu unterstützen und nachhaltige Therapieerfolge bei alkohol- und medikamentenabhängigen Frauen zu erreichen.

    Der Klinikkomplex verfügt über 60 Therapieplätze für Frauen zwischen 18 und 75 Jahren. Zudem bietet die DGD Fachklinik Haus Immanuel eine gemeinsame Mutter-Kind-Therapie an. Bis zu 12 Kinder können ihre Mütter zur Behandlung nach Hutschdorf begleiten und werden im klinikeigenen Kindernest betreut. Jeder Mensch hat Anspruch auf Privatsphäre, deshalb bewohnen die Rehabilitandinnen moderne Einzelzimmer, die zu Wohngruppen mit max. zwölf Personen gehören. Die Mütter wohnen mit ihren Kindern jeweils in zwei zusammenhängenden Zimmern.

    Gemeinsame Mahlzeiten, kreatives Arbeiten, Begegnungen mit anderen, aktive oder stille Entspannung sind wichtige Komponenten einer erfolgreichen Therapie. Für Entspannung und therapeutische Anwendungen stehen zudem ein hauseigenes Schwimmbad, eine Sporthalle mit Kletterwand, ein Beachvolleyballfeld sowie eine Minigolfanlage zur Verfügung. Auch Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Programm. Der soziale Gedanke, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, unterstützt nicht nur den Therapieerfolg, sondern hilft auch dabei, wieder auf Menschen zugehen zu können.

    Während ihrer Therapie werden die Rehabilitandinnen von einem multiprofessionellen Team aus etwa 70 Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen betreut. Die Mitarbeitenden aus den Bereichen Medizin, Sucht- und Psychotherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sporttherapie sowie Pädagogik, Sozialarbeit und Seelsorge begleiten die Frauen während ihres 15-wöchigen Aufenthalts im Haus Immanuel. Dabei werden die suchtkranken Frauen nach einem ganzheitlichen Ansatz behandelt. Neben medizinischen und therapeutischen Maßnahmen wird besonderer Wert auf ein Umfeld gelegt, das Körper und Seele guttut.

    Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen:

    • Besinnungsphase
    • Intensivphase
    • Belastungsphase

    In allen Phasen wird auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen eingegangen. Jede Rehabilitandin wird bereits ab der ersten Woche einem/einer Bezugstherapeut:in zugeordnet. Neben Einzel- und Gruppentherapie werden verschiedene indikative Gruppen sowie eine integrierte Traumatherapie angeboten.

    Behandlungsangebot der DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Medizinische Versorgung

    Die medizinische Versorgung der Rehabilitandinnen wird durch erfahrene Ärzt:innen gewährleistet. Zu Beginn der Behandlung wird ein individuelles Behandlungskonzept festgelegt. In diesem Rahmen wird auch der Umfang der begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen im Hallenbad, Kneippen, Waldlauf und Gymnastik bestimmt. Zur Linderung des Suchtdrucks wird auch Akupunktur angeboten.

    Psycho-/Sozialtherapie

    Der/die Bezugstherapeut:in ist Ansprechpartner: in für alle Belange, Fragen und Krisen der Rehabilitandinnen. Eine wesentliche Hilfe bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte ist die wöchentliche psychotherapeutische Einzeltherapie. In der Gruppentherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, erarbeiten die Rehabilitandinnen gemeinsam ein Verständnis für ihre Abhängigkeitserkrankung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten für einen Ausstieg aus der Sucht.

    Arbeits- und Ergotherapie

    Ein Aufenthalt im Haus Immanuel soll Rehabilitandinnen wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Ziel ist die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Hierfür stehen die arbeitstherapeutischen Bereiche Büro, Handwerk, Garten, Hauswirtschaft und Küche zur Verfügung. Bei Bedarf erhalten arbeitssuchende Rehabilitandinnen auch PC- und Bewerbungstraining. Bei der Ergotherapie sollen kreative Fähigkeiten (wieder)entdeckt und gefördert werden. Dies vermittelt Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstwertgefühl.

    Physiotherapie

    Bewegung und Entspannung sind wichtig, um ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Leistungsfähigkeit zu bekommen. Angeboten werden z. B. Lauftraining, Nordic Walking, Rückenschule, Fahrrad fahren, Massagen und Wassergymnastik. Die Physiotherapeut:innen der Klinik entwickeln für jede Frau einen passenden Therapieplan. Darüber hinaus wurde die Behandlung der Rehabilitandinnen um das Angebot des therapeutischen Kletterns erweitert.

    Mutter-Kind-Therapie

    Es wird oft vergessen, dass Kinder besonders unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden. Die Mutter-Kind-Einrichtung in der DGD Fachklinik Haus Immanuel kümmert sich darum, die oftmals gestörte Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern und den Kindern wieder eine tragfähige Beziehung zur Mutter zu ermöglichen. Die Mütter bilden eine eigene Therapiegruppe im Haus, das Programm ist auf ihre spezielle Situation abgestimmt.

    Traumatherapie

    Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei alkohol- oder medikamentenabhängigen Frauen etwa dreimal häufiger auf als bei männlichen Rehabilitanden. Die PTBS-Therapie ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlung suchtkranker Frauen und damit fester Bestandteil des Therapieangebots. Ziel ist es, dass die Frauen lernen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, um so die Heilungschancen für die Suchterkrankung langfristig zu verbessern.

    Seelsorge

    Auch die Seelsorge wird im Haus Immanuel großgeschrieben. Unabhängig davon, wie die Rehabilitandinnen zur Kirche stehen, nimmt sich eine Seelsorgerin gerne Zeit für sie. Für die persönliche Ruhe steht ein „Raum der Stille“ zur Verfügung, der jederzeit genutzt werden kann. Die Rehabilitandinnen sind auch herzlich zur wöchentlichen Andacht eingeladen. Hier wird gemeinsam gesungen, gebetet oder sich zu einem biblischen Thema ausgetauscht.

    Mütter und Kinder profitieren gemeinsam

    Die neue Kita „Kindernest“, die im Zuge des Neubaus des Mutter-Kind-Zentrums erweitert wird

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder mit abhängigkeitskranken Müttern und/oder Vätern zusammen. Dadurch laufen sie ganz besonders Gefahr, in ihrem späteren Leben ebenfalls von Alkoholmissbrauch und psychischen Folgeerkrankungen betroffen zu sein. In der DGD Fachklinik Haus Immanuel können bis zu zwölf Begleitkinder betreut werden, während die Mütter ihre Therapie absolvieren: Säuglinge und Kleinkinder im klinikeigenen Kindernest, die Schulkinder besuchen Bildungseinrichtungen in der Region. Auch schwangere Frauen sind in der DGD Fachklinik Haus Immanuel herzlich willkommen.

    Die freundlich und kindgerecht gestalteten Wohn- und Spielbereiche werden Kindern aller Altersgruppen gerecht. Auch die Außenbereiche bieten ideale Bedingungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tages. Trampolin, Minigolf, Spielplätze und Kletteranlagen stehen zur Verfügung. Vor allem der neu angelegte Waldspielplatz bietet hervorragende Möglichkeiten für die Kinder, die (häufig wenig bekannte) Natur zu erkunden. Die Kinder spielen vorwiegend mit den Dingen, die sie im Wald oder auf dem Feld vorfinden. Daneben können sie ihren eigenen Garten bepflanzen und bewirtschaften. Und bei schlechtem Wetter bietet der liebevoll gestaltete Bauwagen Unterschlupf zum Geschichten erzählen, Malen, Basteln und Essen.

    Wenn Tiere der Seele guttun – tiergestützte Therapie

    Neu hinzukommen wird ein Therapieangebot mit Ponys und Alpakas. Dies soll die individuelle Entwicklung der Frauen und Kinder fördern. Durch die tiergestützte Therapie wird z. B. die Sinneswahrnehmung geschärft, das Selbstbewusstsein und die (soziale) Verantwortung werden gestärkt. Gerade Kindern fällt es leichter, über die Betreuung eines Tieres in die Therapie einzusteigen (das Tier als Eisbrecher) oder auch mögliche Einsamkeit zu überwinden (das Tier als Freund). Darüber hinaus werden auf dem weitläufigen Gelände der DGD Fachklinik Haus Immanuel mehrere Bienenvölker angesiedelt. Die Therapeut:innen pflegen gemeinsam mit den Müttern und Kindern die Bienenstöcke, schleudern Honig und ziehen Kerzen, die in der Region vermarktet werden sollen.

    Trotzt aller Bemühungen und Therapiemöglichkeiten kann nicht in jedem Behandlungsfall eine positive Prognose gestellt werden. Die Rückfallrate von suchtkranken, rehabilitierten Frauen liegt immerhin bei 50 Prozent. Immer wieder sucht das Haus Immanuel nach Nachsorgeeinrichtungen für Mütter mit ihren Kindern, die es aber leider in der Form nicht gibt. Um den Rehabilitandinnen und ihren Kindern gerecht zu werden, reifte der Entschluss, selbst ein neues Mutter-Kind-Zentrum zu bauen, das derzeit in direkter Nachbarschaft zur DGD Fachklinik Haus Immanuel fertiggestellt wird.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ – Zurück in ein eigenverantwortliches Leben

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder in einem Haushalt mit alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Eltern. Das bedeutet, ca. jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf. Über das Thema Abhängigkeit wird im Allgemeinen nur selten gesprochen, und wenn doch, zumeist nur sehr abwertend. Die Frauen, die in der Fachklinik Haus Immanuel behandelt werden, kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Traumatische Erlebnisse, gestörte Beziehungen oder auch finanzielle Probleme führten in ihre Abhängigkeitserkrankung. Darunter leiden nicht nur die Frauen selbst. Auch Freunde und Familie tragen die Last mit. Besonders schwer haben es die Kinder.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Die ständige Sorge und Ungewissheit beeinflussen ihre Entwicklung oft negativ und haben langfristige Auswirkungen. So ist das Risiko dieser Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Vergleich zu Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien bis zu sechsmal höher. Mit dem Bau des neuen DGD Mutter-Kind-Zentrums „Rückenwind“, an das auch die Kita Kindernest angeschlossen sein wird, sollen vor allem die Kinder unterstützt werden. Sie werden gemeinsam mit ihren meist noch jungen Müttern betreut und begleitet. An oberster Stelle steht dabei das Kindeswohl.

    Die neue Einrichtung bietet Platz für zwölf Mütter, die eine Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtrehabilitationseinrichtung abgeschlossen haben, und bis zu 16 Kinder. Es sind insgesamt zwölf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern geplant. Durch vielfältige Vernetzungen zu anderen professionellen Hilfswerken (z. B. zur Sprachförderung, Spezialisten für FASD, Sonderschulpädagogik) soll die Rückkehr zur Teilhabe an der Gesellschaft vereinfacht werden. Grundlegend ist hier die Gewöhnung an realitätsnahe und gelingende Alltagsstrukturen, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder. Mütter und Kinder sollen auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben unterstützt werden. Auch die soziale Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft wird gefördert. Mütter und auch Kinder finden wieder ihren Platz im sozialen Umfeld. Im Idealfall gehen Mütter (wieder) einer beruflichen Tätigkeit nach, Kinder können ihre schulischen Leistungen verbessern und weiterführende Schulen besuchen.

    Wer wird im Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen?

    Das Angebot der Mutter-Kind Einrichtung richtet sich an ehemals abhängigkeitskranke Frauen mit Kindern, die nach § 19 SGB VIII einen Hilfebedarf haben. Eine Altersbegrenzung der Mutter ist nicht gegeben. Die Mutter sollte im Regelfall eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abgeschlossen haben, und die Kinder sollten sie als sog. Begleitkinder in der Therapie begleitet haben. Es sollen auch Mütter aufgenommen werden, die aufgrund einer richterlichen Anordnung die Weisung haben, eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen, da ihnen ansonsten die elterliche Sorge entzogen wird. Nach §§ 113 ff. und 123 ff. SGB IX wird Eingliederungshilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen geleistet. Durch das Hilfsangebot für ehemals abhängigkeitskranke Mütter und Schwangere sollen aktuelle Krisen- und Notfallsituationen im Schutze einer stationären Unterbringung überwunden werden. Bei den Kindern wird der Förderbedarf durch das Jugendamt festgestellt.

    Die Problematik FASD

    Man kann davon ausgehen, dass mindestens 1/3 der Kinder, die zukünftig im DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ aufgenommen werden, unter dem Syndrom FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) leiden. Nach Schätzungen der ehemaligen Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler werden jedes Jahr in Deutschland ca. 10.000 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Mortler, 2018). Diese Beeinträchtigung entsteht, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren und damit das Kind schädigen.

    Kinder mit FASD weisen erhebliche Störungen auf. So kann mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Wachstumsauffälligkeiten des Kindes führen. Typischerweise sind die Kinder mit FASD bereits bei der Geburt klein und leicht. Sie bleiben dystroph bis mindestens im Grundschulalter. Darüber hinaus führt eine Alkoholschädigung im Mutterleib zu schwerwiegenden und lebenslang andauernden Defiziten im kognitiven Bereich. Kinder mit FASD können eine globale Intelligenzminderung (IQ < 70) haben. Viele Betroffene weisen ein sehr heterogenes Profil mit Stärken in den sprachgebundenen Intelligenzleistungen und deutlichen Schwächen im logischen Denken, in der Arbeitsgeschwindigkeit, der Konzentration und in zahlengebundenen Aufgaben auf.

    Viele Kinder mit FASD haben eine auditive und/oder visuelle Gedächtnisstörung. Dadurch müssen Lerninhalte sehr häufig wiederholt werden – unabhängig davon, ob es sich um Alltags- oder Schulaufgaben handelt. Die Geduld und die Resilienz der Bezugsperson werden sehr stark beansprucht.

    Die häufigste Begleitstörung bei Kindern mit FASD ist jedoch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Davon betroffene Kinder benötigen eine ständige Begleitung und/oder Unterstützung.

    Zu den psychosozialen Entwicklungsrisiken von Kindern mit FASD zählen langfristig frustrierende Lebenserfahrungen wie Schulabbrüche, soziale Isolation, Stigmatisierung, Obdachlosigkeit und ein fehlendes soziales Netz. Laut einer Studie von Spohr & Steinhausen (2008) hatten nur 13 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen wenigstens einmal einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. 27 Prozent der von FASD betroffenen Erwachsenen lebten in Institutionen, 35 Prozent im betreuten Wohnen, 8 Prozent bei den Eltern, 14 Prozent unabhängig, 8 Prozent mit einem Partner und 8 Prozent mit einer eigenen Familie.

    Das Hilfsangebot im Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Das individuelle Hilfsangebot richtet sich nach den Stärken bzw. Schwächen der Frau sowie dem Förderbedarf des Kindes. Im interdisziplinären Team werden die verschiedenen Aspekte der Behandlung besprochen, und es wird eine zeitliche Perspektive der Förderung von Mutter und Kind festgelegt.

    Beziehungsarbeit

    Eine tragfähige und vertrauensvolle professionelle Beziehung zwischen der Mutter und der Bezugstherapeutin bildet die Basis, auf der alle sozialpädagogischen und therapeutischen Interventionen aufbauen.

    Soziale Einzelfallhilfe

    In der Einzelfallhilfe wird die geplante Maßnahme mit der Mutter besprochen. Dabei werden ihre Vorstellungen berücksichtigt, und es erfolgt die konkrete Umsetzung. Die Einzelfallhilfe beinhaltet:

    • Krisenintervention
    • Beratungs- und Informationsgespräche
    • Planungs-, Organisations- und Strukturierungshilfen (Wochenplan, Haushaltsplan)
    • Abstinenzsicherung
    • Motivationsarbeit
    • Anleitung (bei Bedarf für Versorgung des Kindes, hauswirtschaftliche Tätigkeiten …)
    • Erweiterung der Erfahrungen und des Lebensraums (Freizeitaktivitäten …)
    • Reflexion des Erziehungsverhaltens – ggfs. zusammen mit dem Kind/den Kindern
    Pädagogische Arbeit mit dem Kind

    Die pädagogische Arbeit mit dem Kind findet zu einem großen Teil in der hauseigenen Kita Kindernest mit zwei heilpädagogischen Gruppen statt. Dabei sollen je nach Alter der Kinder folgende Programme durchgeführt werden:

    • Papilio U3
    • Papilio (3.–6. Lebensjahr)
    • Trampolin (6.–12. Lebensjahr)

    Papilio ist ein Programm zur Förderung der psychosozialen Gesundheit und zur Prävention von Verhaltensproblemen für Kinder in Kindertagesstätten und Kindergärten. Die Arbeit der Erzieherinnen/Heilpädagoginnen beinhaltet dabei u. a. die Entwicklungsbeobachtung und -förderung, die Sicherstellung der materiellen und der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, die Freizeitgestaltung sowie das Netzwerken mit Frühfördereinrichtungen.

    Sozialpädagogische Arbeit mit den Müttern

    Um die Erziehungskompetenz der Mutter zu fördern, werden folgende Maßnahmen angeboten:

    • Mutter-Kind-Gruppe
    • Elterncoaching
    • Anleitung im Umgang mit dem Kind
    • Einbeziehung der Kinder in den Alltag
    • Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung
    Soziale Gruppenarbeit

    Die Gruppe bildet ein lebensnahes Umfeld, in dem sich die Mütter in schwierigen Situationen gegenseitig Hilfestellung geben können, sich in der Kinderbetreuung unterstützen und auch soziale Fähigkeiten ausbauen können. Folgende Gruppenaktivitäten werden in neuen DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ angeboten:

    • Freizeitgestaltung, Ausflüge
    • Organisation und Feiern von Festen (private und religiöse)
    • Gemeinsame Projekte
    • Sport
    • Kochen
    • Entspannungsübungen (Jacobson, Autogenes Training, Akupunktur …)
    • Jahresfeste
    • Kreative Beschäftigungen für Mütter und Kinder wie Malen, Basteln, Töpfern
    Sozialpädagogische Arbeit mit dem Umfeld

    Das soziale Umfeld der Frauen kann Ressourcen und Unterstützung bereithalten. Dies gilt es zu nutzen. Ebenso können aber auch Konflikte durch die Partner, die Kindsväter oder die Herkunftsfamilie bestehen. Die eigene Biografie zu verstehen, in eine Unabhängigkeit hineinzuwachsen und Beziehungen zu klären, sind Ziele in diesem Bereich. Hierfür besteht folgendes Angebot:

    • Einbeziehung der Väter und/oder der Partner: Paargespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit der Herkunftsfamilie: Angehörigengespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit dem Freundeskreis: Klärung von Beziehungen, Abbau von Gefährdungen, Stärkung von Ressourcen, Aufbau von stabilisierenden Sozialkontakten
    • Psychoedukation: Wie kann ich meine Krankheit besser verstehen und bewältigen?
    • Umgang mit Depressionen
    • Vermeidung von Rückfällen
    Kooperation mit externen Stellen

    Die Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen ist wichtig, um den Frauen eine umfassende Nutzung des medizinischen und sozialen Hilfespektrums zu ermöglichen. Mit folgenden Einrichtungen kooperiert das Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“:

    • Jugendamt
    • Kinderärzt:innen
    • Ärzt:innen aller Fachrichtungen, Kliniken
    • Frühfördereinrichtungen
    • Schulen, Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), Ausbildungs- und Arbeitsstellen
    • Psychotherapeut:innen
    • Beratungsstellen
    • Ämter, Behörden, Polizei, Opferhilfe Oberfranken (Weißer Ring)
    • Mutter-Kind-Gruppen
    • Arbeitskreise
    • DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Darüber hinaus findet Vernetzungsarbeit mit anderen Mutter-Kind-Einrichtungen und den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe statt.

    Insgesamt steht den Müttern und ihren Kindern ein breit gefächertes Angebot pädagogischer, medizinischer, therapeutischer und psychologischer Hilfen zur Verfügung. Das DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ wird an 365 Tagen im Jahr geöffnet sein. Die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft ist rund um die Uhr gewährleistet. Die Kita Kindernest mit ihren zwei heilpädagogischen Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0–18 Jahren hat an allen Werktagen im Jahr geöffnet. Die offizielle Eröffnung der neuen Einrichtung ist für Anfang 2023 geplant.

    Literatur bei den Autor:innen

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Gotthard Lehner, Klinikleiter
    Nathalie Susdorf, Öffentlichkeitsarbeit

    DGD Fachklinik Haus Immanuel
    Hutschdorf 46
    95349 Thurnau-Hutschdorf
    Tel. 09228 / 99 68-0
    E-Mail: info(at)haus-immanuel.de

    www.dgd-haus-immanuel.de
    www.dgd-rueckenwind.de
    www.dgd-kliniken.de

  • Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Frauke Gebhardt

    Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil unter einem Dach, 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem illegale Drogen konsumiert werden. Und bis zu 150.000 Kinder haben Väter oder Mütter, die glücksspielsüchtig sind.

    Was bedeutet ein Leben im Schatten der elterlichen Sucht für den Alltag der Kinder? Er ist gekennzeichnet von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig erfahren diese Kinder auch Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Die gravierenden Belastungen in der Kindheit haben vielfach lebenslange negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf die schulische Bildung und somit auch auf berufliche Erfolge. Überdies sind Kinder suchtkranker Eltern die größte bekannte Risikogruppe für eine eigene Suchterkrankung und hochanfällig für psychische Erkrankungen und soziale Störungen. Gemessen an der Anzahl der betroffenen Kinder gibt es in Deutschland nur wenig Hilfeangebote. So kommen etwa 15.000 Kinder auf jedes der rund 120 bis 200 existierenden Angebote. Die Hilfelandschaft ist zudem von starken regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

    Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, wurde 2014 ein Prozess angestoßen, woraus 2019 insgesamt 19 Empfehlungen hervorgingen. Nun sind zweieinhalb Jahre vergangen, da stellen sich die Fragen „Wo stehen wir jetzt? Und wo wollen und müssen wir noch hin?“

    Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung wurde begonnen. Aber es fehlen an verschiedenen Stellen noch konkrete Aufträge, um notwendige rechtliche Anpassungen sowohl auf Bundesebene als auch in den Bundesländern durchzusetzen, die Vernetzung voranzutreiben und in der Praxis anwendbare Finanzierungswege zu finden. Ebenso offen ist die Ausgestaltung der bereits umgesetzten Empfehlungen, denn erst in der Anwendung wird sich zeigen, ob die Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Der Weg vom Antrag zum Auftrag

    Die Einsetzung der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) war ein Meilenstein. Wie kam es dazu?

    2014 schlossen sich 19 Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Diesem Antrag folgten zahlreiche Gespräche mit Politikern und Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen, bis schließlich im Juni 2017 mit der einstimmigen Verabschiedung eines interfraktionellen Entschließungsantrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN das erste große Ziel erreicht wurde.

    In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, welche einvernehmlich Vorschläge erarbeiten sollte, um die Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu verbessern. Es sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Weiterhin wurden Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien sowie Fachleute wie Ärzt:innen, Lehrer:innen und weitere Schnittstellenakteur:innen beschlossen. Zudem wurde festgelegt, dass das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, verankert werden soll.

    Im März 2018 tagte die Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums mit Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sowie 29 Verbänden, Fachgesellschaften und Interessensvereinigungen, sieben Wissenschaftler:innen und zwei Moderatoren zum ersten Mal. Nach vier weiteren Sitzungen, drei Fachgesprächen sowie drei umfangreichen Expertisen (Recht, Forschung und Gute Praxis), in denen die Ist-Situation erfasst wurde, konnten dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien vorgelegt werden.

    Sieben Empfehlungen (Empfehlung 1 bis 6 und 19) zielen auf eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Weitere sieben Empfehlungen (Empfehlung 7 bis 12) beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Die verbleibenden sechs Empfehlungen dienen der verbesserten Zusammenarbeit und stärkeren Verzahnung der Hilfen an den Schnittstellen Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen (Empfehlung 13 bis 18).

    Nach der Abschlussveranstaltung im März 2020 hofften die Expert:innen, durchstarten zu können, doch dann kam die Corona-Pandemie und verschärfte sowohl die Lage der Kinder und Jugendlichen als auch die Situation der Hilfeangebote, bremste den frischen Schwung aus und lenkte den politischen Fokus auf andere Themen.

    Von den Empfehlungen zur Umsetzung – Wo stehen wir heute?

    Die 19 Empfehlungen lassen sich vier inhaltlich sehr weit reichenden Kernthesen unterordnen, welche die Ziele zusammenfassen, die zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien erreicht werden müssen:

    • Kernthese I
      Die Leistungen sind sowohl individuell als auch am Bedarf der Familie ausgerichtet flächendeckend auf- und auszubauen und für die betroffenen Kinder über alle Altersgruppen hinweg und ihre Eltern zugänglich zu machen.
    • Kernthese II
      Präventive Leistungen sollten für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen sowie für deren Familien zugänglich sein.
    • Kernthese III
      Um komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden, müssen die bestehenden Hilfs- und Unterstützungsangebote besser ineinandergreifen.
    • Kernthese IV
      In den örtlichen und regionalen Netzwerken müssen Lotsen die Zugänge zu (weiteren) Hilfen und jeweils bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahmen an den Schnittstellen unterschiedlicher Leistungssysteme erleichtern.

    Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteur:innen, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden.

    Kernthese I

    Im Rahmen der Kernthese I wird unter anderem empfohlen eine flexible, kontinuierliche und bedarfsgerechte Alltagsunterstützung als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe mit einem einklagbaren Rechtsanspruch einzuführen (Empfehlung 1). Der ursprünglich als § 28a SGB VIII vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Rahmen der Novellierung des SGB VIII an den § 20 SGB VIII angedockt und stärkt nun den Anspruch der Eltern auf Unterstützung bei der Betreuung des im Haushalt lebenden Kindes. Die fachliche Feststellung von Bedarf und Eignung der Hilfe kann durch die Beratungsstelle erfolgen. Weil nun kein Antrag beim Jugendamt mehr gestellt werden muss, ist der Zugang zum Beratungsangebot deutlich leichter möglich.

    Außerdem empfehlen die Expert:innen der Arbeitsgruppe, die Möglichkeit der Kombination mehrerer Hilfen auszubauen, um das bessere Ineinandergreifen voranzutreiben (Empfehlung 1), einen unmittelbaren und flexiblen Zugang zu Angeboten zu gestalten (Empfehlung 2) sowie die Bedarfsgerechtigkeit und die Qualität von Hilfeangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern (Empfehlung 4). Diese Empfehlungen wurden ebenfalls im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zur Umsetzung, der Finanzierung und der Gestaltung des Übergangs. Eine ausführliche Stellungnahme zu Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung wurde im Mai 2022 von der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Bayern e.V. veröffentlicht.

    Die Empfehlung 3 legt die Sicherstellung flexiblerer Hilfen nahe, die an dem Bedarf der Familie im Einzelfall ausgerichtet sind. In der Hilfeart wird noch häufig das vorherrschende Bild der „Einversorger-Familie“ zugrunde gelegt. Das muss aufgebrochen und an die Lebensverhältnisse der Familien angepasst werden. Wünschenswert wäre, dass hier die Flexibilität weitergedacht wird – nicht nur bezogen auf die Familienverhältnisse, sondern auch auf die Erkrankungen.

    Weiterhin sieht die Arbeitsgemeinschaft großen Handlungsbedarf beim Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen ohne Kenntnis ihrer Eltern (Empfehlung 5). Dies ist besonders relevant, wenn Eltern ihre Krankheit nicht einsehen oder sie noch nicht bereit sind, Unterstützung für ihre Kinder anzunehmen. Bisher hatten Kinder und Jugendliche in diesen Fällen zwar das Recht auf Beratung, allerdings nur, wenn eine Not- und Konfliktlage vorlag, welche in einem ersten Beratungskontext nicht unbedingt offensichtlich ist. Mit dem neuen SGB VIII ist 2021 zumindest die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Not- und Konfliktlage und ohne das Wissen und die Einwilligung der Eltern beraten werden dürfen. Dass dann tatsächlich Kinder den Zugang in die Beratungsstelle finden und wie niedrigschwellig dieser sein kann, sind Herausforderungen für die Praxis.

    In Empfehlung 6 werden der „Ausbau und die Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten und umfassend barrierefreien Online-Plattform“ für Kinder und Jugendliche gefordert. Diese soll die Suche nach wohnortnahen Hilfen durch eine Postleitzahlenrecherche vereinfachen.

    Es gibt bereits zwei erfahrene Anbieter, die Schritte zu einer Umsetzung der Empfehlung 6 gegangen sind. Sowohl KidKit, das Hilfesystem der Kölner Drogenhilfe (www.kidkit.de), als auch NACOA Deutschland e.V. (www.nacoa.de) halten seit 2003 bzw. seit 2014 Online-Plattformen vor, auf denen sich Betroffene anonym Rat suchen können. KidKit richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren und bietet Hilfe zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen in der Familie. Bei NACOA Deutschland e.V. liegt der Schwerpunkt auf der Online- und Telefonberatung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsenen, Angehörige und Fachkräfte zu den Themen Sucht und Traumatisierung in der Familie. Mittels Recherche über Postleitzahlen bzw. digitale Landkarten können sich Betroffene auch eingeständig wohnortnahe Beratung suchen.

    Durch ihre unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte ergänzen sich die beiden Angebote. In einer gemeinsamen Initiative streben KidKit und NACOA Deutschland e.V. an, sich zusammenzuschließen und ihre bereits etablierten Angebote im Verbund ausbauen.

    Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die Strukturen für die Kinder, Jugendliche, Familien und Fachkräfte nachhaltig zu verbessern und die Empfehlung 6 vollständig und qualitätsgesichert umzusetzen, ist es essenziell, dass entsprechende Angebote nicht nur projektfinanziert existieren, sondern in eine Regelfinanzierung überführt werden. Gerade niedrigschwellige Hilfen für (hochtraumatisierte) Kinder und Jugendliche aus stark belasteten Familien dürfen nicht nach Abschluss eines Projektzeitraums wegbrechen oder wegzubrechen drohen, sondern müssen dauerhaft verankert werden und somit eine verlässliche Adresse in der Hilfelandschaft sein.

    Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Kommunikationsplattform geschaffen, die es ihnen kostenfrei ermöglicht, sich praxisnah über verschiedene Probleme und Herausforderungen auszutauschen, eigene Angebote dazustellen, geplante Veranstaltungen zu bewerben sowie Studien und Fachinformationen abzurufen: https://coakom.de/

    Kernthese II

    Die Empfehlungen unter der Kernthese II beziehen sich auf den Bereich der Prävention. Obwohl auch primärpräventive Angebote von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie der Suchthilfe und der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien leisten, geht es bei diesen Empfehlungen in erster Linie um die Leistungen der Krankenkassen nach SGB V.

    In der Empfehlung 7 der AG KpkE heißt es, dass die Leistungen der Krankenkassen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten oder psychisch belasteten Familien an deren spezifischen Bedarfen ausgerichtet werden sollen und dass die Anzahl der entsprechenden Aktivitäten sowie der erreichten Personen gesteigert werden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich anhand der verfügbaren Daten aus dem Präventionsbericht 2021 nicht einschätzen, ob die Ziele der Empfehlung erreicht wurden. Jedoch lässt sich an der Anzahl der gestellten Anträge zur Förderung von vulnerablen Zielgruppen im Rahmen des GKV-Bündnisses für Gesundheit ein hoher Bedarf seitens der Kommunen ablesen.

    In Bezug auf das Förderprogramm des GKV-Bündnisses für Gesundheit (ein Zusammenschluss aller Krankenkassen und ihrer Verbände; die Antragsfristen sind mittlerweile abgelaufen) empfahl die Arbeitsgruppe, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die BZgA gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, dass Kommunen das Förderprogramm auch in Anspruch nehmen (Empfehlung 8). Anfang 2019, also bereits bevor die Empfehlungen veröffentlicht waren, bewarb der GKV-Spitzenverband den Start des Förderprogramms mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen. Aufgrund des komplexen Antragsstellungsprozesses gab es seitens der Nutzer:innen zahlreiche Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Programmorganisation und der Finanzierungslogik. Diese werden in einer externen Evaluation erfasst und fließen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess ein. Insgesamt erhalten laut GKV-Spitzenverband mittlerweile 25 Kommunen, die den Schwerpunkt ihres Projektes auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche aus psychisch bzw. suchtbelasteten Familien legen, eine Förderung durch das GKV-Bündnis für Gesundheit.

    Parallel dazu soll gemeinsam mit Akteure:innen aus Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und dem Gesundheitswesen ein Qualitätsentwicklungsprozess auf Bundes- und Landesebene angestoßen werden. Dieser soll auch ermitteln, wie der Zugang zu (Gruppen-)Programmen in den Kommunen erleichtert werden kann (Empfehlung 8). Der Prozess wird gegenwärtig auf Bundesebene angegangen, die Länderebene müsste in einem weiteren Schritt noch folgen. Hierfür wurde bereits mit dem Handlungsrahmen für eine Beteiligung der Krankenkassen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention eine Grundlage geschaffen. Ein Bestandteil des GKV-Handlungsrahmens ist eine Handreichung für die GKV auf Landesebene, in welcher auch die relevanten Handlungsfelder für eine Beteiligung der GKV, einschließlich des in der Empfehlung 8 geforderten Zugangs zu (Gruppen-)Programmen, aufgeführt werden. Wie es in der Praxis tatsächlich flächendeckend gelingt, die bestehenden Projekte aus dem Modus der Projektförderung in den Modus der Regelfinanzierung zu überführen, bleibt jedoch offen. Denn das Bestreben, das Thema Kinder psychisch und suchtbelasteter Eltern in die Präventionsstrategie einzubringen, orientiert sich an den Ergebnissen der Nationalen Präventionskonferenz (NPK), welche erst 2027 finalisiert werden sollen. Bis sich die Strukturen vor Ort ändern und die Hilfe bei den psychisch und suchtbelasteten Familien ankommt, werden wohl noch einige Jahre vergehen.

    Die Träger der nationalen Präventionskonferenz wurden im Rahmen der Empfehlungen aufgerufen, die Zielgruppe Kinder von psychisch und suchtkranken Eltern und deren Familien stärker in den Blick zu nehmen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Strategie der Länder, Kommunen, Krankenkassen und Jugendhilfeträger zu Hilfenetzwerken und Gruppenangeboten (Empfehlung 9) zu entwickeln. Im Rahmen des Dialogprozesses brachten Träger und Verbände ihre Positionen und die aus ihrer Sicht erforderlichen Änderungen ein. Ende 2020 beschloss die NPK, die nationale Präventionsstrategie stärker gesamtgesellschaftlich und politikfeldübergreifend auszurichten. Dafür wurden zwei Themen festgelegt, darunter das Thema „Psychische Gesundheit im familiären Kontext“. Eine Gruppe von Verbänden erreichte, dass auch ein Workshop zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern durchgeführt werden konnte. Daraus entstand eine Synopse zu Änderungen im SGB V, bezogen auf die psychiatrische Versorgung und Kinder psychisch kranker Eltern, die im Frühjahr 2022 an die Aktion Psychisch Kranke (APK) sowie an Gesundheitspolitiker versendet wurde. Bis heute warten die Verbände gespannt darauf, ob und wie die Änderungsvorschläge angenommen und umgesetzt werden können.

    Die in Empfehlung 10 von der Arbeitsgruppe geforderte Förderung von abgestimmten, koordinierten und vernetzten Vorgehensweisen durch die Sozialversicherungsträger bezieht sich in der Praxis auf die Abstimmungen auf der Landesebene in den Gremien der Landesrahmenvereinbarung. Hier steht die Umsetzung in allen Bundesländern noch am Anfang. Daher wurden auch die Empfehlung 11 „Anpassung und Erweiterung der Landesrahmenvereinbarungen im Sinne der Empfehlung 9“ und die Empfehlung 12 „Weiterentwicklung und Umsetzung der Regelungen und Verfahrensweisen in der Prävention auf Grundlage des Präventionsberichtes“ bisher nicht realisiert.

    Die Empfehlung 13 schlägt eine gesetzliche Klarstellung im SGB V vor, welche die wechselseitige Transparenz zu den Leistungen zwischen GKV und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sicherstellen soll. Diese gesetzliche Anpassung ist mittlerweile erfolgt, wenngleich sie in der Praxis noch keine große Rolle spielen dürfte.

    Kernthese III

    Die Empfehlungen unter der Kernthese III zielen auf ein besseres Ineinandergreifen der Hilfs- und Unterstützungsangebote, um den komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden. Die in Empfehlung 14 geforderte Überwindung der Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, z. B. durch die stärkere Nutzung der Gesamtplankonferenz, ist bereits im Gesetz verankert. Allerdings ist unklar, inwieweit die Praxis die Bestärkung der bestehenden Gesetze durch die Empfehlungen wahrnimmt. Auch die rechtliche und finanzielle Absicherung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Empfehlungen 15 und 16) wurde angegangen, jedoch nicht in dem Umfang, den die Expert:innen der Arbeitsgruppe empfehlen, sondern lediglich in Bezug auf die Finanzierung von niedergelassenen Ärzt:innen, die im Rahmen der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls eingesetzt werden (§ 73 c SGB V). Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, der aber noch Luft nach oben lässt, denn wichtige Grundlagen und nächste Umsetzungsschritte fehlen noch. Bis heute sind daher am individuellen Bedarf orientierte, sozialgesetzbuchübergreifende, familienorientierte Hilfen nicht strukturell verortet und kommen bei den Betroffenen auch nicht an.

    Über die in der Empfehlung 17a geforderten Komplexleistungen wird nach wie vor diskutiert. Das Medizinsystem sieht diese ausschließlich innerhalb des SGB V, die AG KpkE meint in ihren Empfehlungen jedoch SGB-übergreifende Komplexleistungen, die den Fokus der bisher vorwiegend individuenzentrierten Behandlung auf das gesamte Familiensystem erweitern. Für die betroffenen Familien ist es äußert mühsam, die verschiedenen Hilfesysteme zu verstehen und die für sie notwendigen Hilfen eigenständig einzufordern. SGB-übergreifende Komplexleistungen würden dies erleichtern und gleichzeitig die Bindungsqualität, die Erziehungskompetenz und die Resilienz von Kindern und Eltern fördern. Und auch für die Fachkräfte in den unterschiedlichen Bereichen würden SGB-übergreifende Komplexleistungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern, das Entstehen von interdisziplinären Einrichtungen und Diensten für Eltern und ihre Kinder fördern (Empfehlung 17b) und das Nebeneinander-Existieren der Leistungssysteme verhindern.

    Doch bisher ist noch vieles unklar. Es müssen rechtliche Anpassungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern vorgenommen werden, und es braucht eine Regelung der Fallzuständigkeit sowie eine abgestimmte koordinierte Vermittlung zwischen den Systemen. Am wichtigsten scheint aber momentan die Frage: Wer erteilt den rechtlichen Auftrag zur Flexibilisierung der Unterstützung? Im Koalitionsvertrag ist die Hilfe für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Bereich Familie verortet, im Bereich Gesundheit fehlt dadurch ein klarer Auftrag. Für ein solches Vorhaben (Empfehlungen 17a und b) müssen sich allerdings alle Hilfesysteme, in denen sich die Familien bewegen, an einen Tisch setzen.

    Weiterhin empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme erstellt (Empfehlung 18). Dies wurde kommunal und in einzelnen Bundesländern bereits aufgegriffen, ein bundespolitischer Auftrag fehlt jedoch noch. Nach Kenntnisstand von NACOA Deutschland e.V. gibt es allerdings gerade politische Bestrebungen, die Umsetzung der Empfehlungen 6 und 18 voranzutreiben, was wir sehr begrüßen. Die kommentierte Übersicht „Modelle guter Praxis für kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ sowie die Handreichung „Kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz bilden dafür eine wertvolle Grundlage.

    Kernthese IV

    Die letzte Empfehlung (Nr.19) regt die Klarstellung an, dass Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen umfasst, wenn deren Leistungen erforderlich sind. Die ab 2024 bis 2028 geplanten Verfahrenslotsen (nach § 10b SGB VIII) sind eine Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlung im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Sie sollen sowohl eine unabhängige Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Eltern von Kindern mit Behinderung bieten als auch Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe. Wie die Umsetzung gelingt und ob die Hilfen auch bei Kindern aus suchtbelasteten Familien ankommen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

    Ausblick

    Alles in allem wird deutlich, dass bereits einige der Empfehlungen aufgegriffen bzw. umgesetzt wurden. Dennoch ist noch viel zu tun: Konkrete Aufträge müssen auf bundes- und landespolitischer Ebene ausgesprochen werden, um notwendige rechtliche Anpassungen durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben. Für die Praxis und gemeinsam mit den Praktiker:innen müssen praktikable Finanzierungswege und zum Teil kreative Umsetzungswege gefunden werden, damit die Hilfen auch wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Um die noch offenen Ziele und Maßnahmen umzusetzen, bedarf es einer stärkeren systematischen, interdisziplinären und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und vor allem einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden.

    In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!

    Kontakt:

    Frauke Gebhardt
    NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    gebhardt(at)nacoa.de
    https://nacoa.de/

    Angaben zur Autorin:

    Frauke Gebhardt arbeitet seit August 2020 bei NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. Dort leitet sie das Projekt „Bundesweite Vernetzung von Akteuren des Hilfesystems für Kinder suchtkranker Eltern“. Mit diesem Projekt soll aufbauend auf die bestehenden Strukturen ein bundesweites digitales Fachkräfte-Netzwerk geschaffen werden. Des Weiteren ist sie zuständig für Advocacy-Arbeit sowie die COA-Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

    Literatur:
  • Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Benjamin Becker

    Digitale Kommunikation ist für die heranwachsende Generation normal. Die Suchtprävention hat hier noch Barrieren zu überwinden. Wie Digitalisierung und Corona-Krise einen Paradigmenwechsel in der Suchtprävention voranbringen könnten, beschreibt dieser Beitrag aus der Fachsicht von blu:prevent, dem Suchtpräventionsangebot des Blauen Kreuzes für Jugendliche.

    Wenn wir uns aktuell auf eine Sache verlassen können, dann ist es der Wandel. Und zwar ein Wandel, der mittlerweile exponentielle Züge annimmt. Befeuert wird dieser Prozess durch die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Kommunikation und Mediennutzung der Menschen haben sich so stark verändert, dass bereits von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Wirtschaft, Politik, Kirchen, Schulen, Jugendarbeit und natürlich auch die Suchthilfe sind herausgefordert, neue Methoden der Wissensvermittlung zu entwickeln, um Jugendliche in ihrer Kommunikations- und Lebenswelt weiterhin erreichen zu können.

    Wir erhalten regelmäßig Anfragen von Fachkräften, Trägern und Landesstellen, die suchtpräventiv mit jungen Menschen arbeiten und nach zeitgemäßen und innovativen Tools suchen. Daher haben wir mit blu:prevent – bereits vor Corona – damit begonnen, neue und unkonventionelle Wege in der Suchtprävention zu gehen, um geeignete digitale Tools für Jugendliche und Multiplikatoren entwickeln zu können.

    Welche Chancen und Herausforderungen beinhalten digitale Angebote in der Suchtprävention?

    Die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Suchtprävention sind größer, als viele denken. Über digitale Wege wie Social Media, Apps, Podcasts, Plattformen/Websites, YouTube-Clips, Webinare/Online-Schulungen usw. kann plötzlich eine millionenfache Reichweite generiert werden. So kann es kleinen und bisher unbekannten Projekten oder Personen (selbst mit einem kleinen Budget) gelingen, sich aus dem „Nichts“ mit einer cleveren Idee und einem digitalen Konzept erfolgreich zu positionieren und eine wesentliche Rolle auf dem Markt zu spielen.

    Durch die Verbreitung und Bewerbung (Social Media-Advertising, Google Ads, TV-Wartezimmer, YouTube-Werbung) unserer Tools konnte blu:prevent in wenigen Jahren über acht Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen die Personen, die über unsere Kooperationspartner:innen und Influencer erreicht wurden, die in TV-Sendungen, großen YouTube-Channels und bekannten Podcasts eingeladen waren (1). Dies sind alles Chancen, die erst durch die Digitalisierung möglich geworden sind und unbedingt genutzt werden sollten. Dies erfordert Agilität und einen gewissen Pioniergeist bei den Behörden, Institutionen und Verbänden/Vereinen. Weitere großartige Chancen bestehen darin, dass digitale Tools viele der bisherigen Barrieren nicht kennen: Entfernungen, mangelnde Mobilität, Hemmschwellen, Berührungsängste, schwer zugängliche Milieus usw. Dies bemerken wir bei unserem anonymen Chat-Angebot in der blu:app, mit dem wir milieu- und ortsübergreifend jungen Menschen in Notlagen professionell zur Seite stehen können. Auch bei einem kürzlich durchgeführten Online-Präventions-Event mit über 300 Jugendlichen konnten wir erleben, wie positiv neue Formate angenommen werden (2).

    Neben einer hohen Effizienz, ökonomischen Vorteilen und den hohen Reichweiten gibt es auch Nachteile, die ich aber bewusst „Herausforderungen“ nennen möchte. Hierzu zählt, dass wichtige Elemente des Dialogs und Miteinanders in persönlichen Begegnungen (Gestik, Augenkontakt, Intuition, Übertragungen, Körperkontakt, Emotionalität usw.) durch digitalen Kontakt teilweise nicht zu kompensieren sind. Und: Anonymität kann ein Vor- und Nachteil sein.

    Eine weitere Challenge sind die Barrieren, die wir bei vielen Multiplikator:innen, aber auch eigenen Mitarbeitenden, erleben. Dazu gehören technische Barrieren, Barrieren innerhalb der Organisation (Strukturen, Abläufe, Budgets), Barrieren am Markt (Angebot und Nachfrage, keine Akzeptanz am Markt, Konkurrenzangebote, Markt benötigt etwas anderes) und Akzeptanz-Barrieren. Hier bemerken wir vor allem in den Bereichen „Schule“ und „Suchthilfe“, aber auch in Deutschland insgesamt, viele unterschiedliche Hürden.

    Daher möchten wir mit blu:prevent mutig vorangehen, Pilot- und Best-Practice- (auch Fail-Practice-) Modelle liefern und Menschen und Institutionen für diesen vielversprechenden Weg gewinnen. Denn: Für die heranwachsende und kommende Generation (Digital Natives) wird es „normal“ sein, auf digitale Hilfsangebote zuzugreifen, und es wird „unnormal“ werden, auf analoge Angebote angewiesen zu sein. Wir erleben immer mehr das Phänomen, dass für viele Jugendliche die klassischen Wege zu den Hilfsangeboten mit Barrieren und Vorbehalten verbunden sind. Daher werden hybride Angebote (digital & analog) oder rein digitale Angebote & Tools zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen.

    Welche Rolle spielen Influencer:innen in Social Media? 

    Influencer:innen (Beeinflusser:innen) sind meistens Einzelpersonen, die sich im Social Media-Bereich (YouTube, Instagram, TikTok) eine starke Eigenmarke und einen starken eigenen Channel aufgebaut haben und somit zu einer hohen Reichweite gekommen sind. Viele Influencer:innen leben bereits sehr gut von den Einnahmen, die sie von Sponsoren bzw. Firmen, deren Produkte sie bewerben, erhalten.

    Folgende Merkmale werden ihnen von den Usern zugeschrieben: hohes Ansehen, Glaubwürdigkeit, wirken greifbar, geben Orientierung, sind immer da, vertreten Zielgruppe, sind Projektionsfläche für eigene Träume und Vorstellungen. Dadurch üben sie eine hohe Faszination und Überzeugungskraft auf viele Follower aus. Viele Jugendliche suchen die Antworten zu ihren persönlichen Alltagsfragen (Schule, Familie, Pubertät, Stress, Gewalt, Alkohol, Mobbing, Mediennutzung usw.) auf den digitalen Plattformen oder bei „ihren“ Influencer:innen. Das heißt, auch im Bereich Informationsvermittlung, Meinungsbildung, Austausch (Foren) und Hilfestellungen findet ein entsprechender Paradigmenwechsel statt.

    Die „Reiseroute“ von der Fragestellung oder dem Problem der jungen Menschen zum Hilfsangebot hat sich radikal verändert. Nicht mehr die Eltern, Lehrkräfte, Jugendleiter:innen oder Pastor:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen, sondern die Influencer:innen ihrer Wahl. Nicht mehr die Lebenserfahrung steht im Vordergrund, sondern das Verhalten der Peergroup, das Maß an Attraktivität und der Reichweite der Influencer:innen und das Entertainment. Daher stellt sich hier die große Frage, wie es den Institutionen gelingen kann, eigene Influencer:innen auf den Weg zu bringen oder neue (unkonventionelle) Kooperationsformen mit etablierten Influencer:innenn einzugehen.

    Was hat die Corona-Krise aufgedeckt und was können wir aus ihr lernen? 

    Aus meiner Sicht hat uns die Corona-Krise einerseits aufgezeigt, wie wichtig die etablierten Anlaufstellen für Jugendliche an den Schulen, in der Jugendarbeit, den Sportvereinen, Kirchen und der Suchthilfe sind und wie Jugendliche – besonders in der Krise – vertraute Bezugspersonen brauchen und suchen. Andererseits hat uns die Corona-Krise aber auch schonungslos aufgezeigt, wie labil das eigentlich gut ausgebaute Hilfesystem in Deutschland sein kann, wenn es zu analog, zu wenig hybrid und somit zu einseitig aufgestellt ist.

    Wir sehen nun sehr klar, wo Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungs- und Suchthilfesystem liegen, aber auch, wie wenig sie bisher genutzt wurden. Corona macht zudem deutlich, wie stark dieses System in sich gefangen ist, dass es oft an Agilität und Risikofreudigkeit fehlt und dass zu viel Bürokratie und zu lange Entscheidungswege Entwicklungen lähmen. Viele notwendige Veränderungsprozesse werden seit Jahrzehnten linear-kausal behandelt, und der notwendige Schritt in die Transformation, in den Zustand des „Sich selbst neu Erfindens“, ist offensichtlich noch nicht bewusst genug geworden. Hier scheinen der Leidensdruck oder die erforderliche Expertise (noch) nicht hoch genug zu sein.

    Da hier die Influencer:innen, aber auch die Wirtschaft, um ein Wesentliches agiler agieren, besteht real die Gefahr, dass kommerzielle Plattformen, branchenferne Start-ups oder andere Interessent:innen (und Influencer:innen) wichtige Marktanteile mit ihren Ideen oder Technologien übernehmen (Disruption), und es könnte das Szenario eintreten, dass Google, Facebook, Chatbots (Künstliche Intelligenz) oder Influencer:innen die Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten sukzessiv übernehmen. Ob diese Plattformen/Personen die erforderlichen Professionen mitbringen und vernetzt mit dem Suchthilfesystem zusammenarbeiten werden, bleibt fraglich und könnte zu einer enormen Herausforderung bis hin zur Zerreißprobe führen. Noch bietet sich die Chance, gegenzusteuern und auf dem Marktplatz der Player mitzuspielen. Das bedeutet aber, bisherige Denkkategorien, die eigene Komfortzone und festgefahrenen Strukturen zu verlassen und Neuland zu betreten.

    In der Corona-Krise hat es aber auch viele Lichtblicke gegeben: Organisationen haben plötzlich gemerkt, wie schnell Veränderungen und Umstellungen – auch unbürokratisch – an manchen Stellen umgesetzt werden können. Und jede:r einzelne von uns wurde persönlich mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob wir die Krise akzeptieren und als Teil der Wirklichkeit annehmen und an ihr wachsen wollen, oder ob wir stetig gegen sie ankämpfen, Kraft verlieren und gleichzeitig viele Chancen der Neuorientierung und des Wachstums auslassen. 

    Krisen fordern uns oft auf, Dinge/Haltungen/Einstellungen neu zu definieren. Für mich bedeutet das, Traditionen und Werte zu berücksichtigen, bestehende Schätze zu heben und gleichzeitig die Entschlossenheit zur Entwicklung zu zeigen.

    Welche Haltung wird in der Zukunft entscheidend sein? 

    Grundsätzlich wird das Thema „Haltung“ in den nächsten Jahren sehr entscheidend sein! Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Genauso, wie es nicht ausreicht, einfach alle bisher analogen Verfahren zu digitalisieren. Fakt ist, dass die Jugendlichen konsequent ihren eigenen Weg gehen werden und wir entweder mit adäquaten Angeboten am Start sind oder nicht. Die – während der Coronazeit – stark besuchten Chat-Angebote, Foren und E-Mail-Beratungen verschiedener Organisationen bestätigen diesen Trend. Es braucht neue Denkweisen (Mindsets) und eine Transformation in vielen Bereichen, damit wir junge Menschen weiterhin gut und nachhaltig erreichen können. Die Haltung „Wer wagt gewinnt“ sollte unsere zukünftige Projektarbeit prägen. Es bedarf einer neuen Form der Risikobereitschaft, Flexibilität und Kreativität.

    Auf Fortbildungen präsentiere ich Thesen, die polarisieren und zum Nachdenken anregen, wie: „Kreativität schlägt Potential!“ oder „Der Rahmen ist wichtiger als der Inhalt!“. Es gilt, „Out of the Box“ zu denken und Neues zu entdecken. Es ist zu beobachten, dass die klassischen Hierarchien, Strukturen und Prozesse oftmals mit den aktuellen Fragestellungen und unterschiedlichen Anspruchsgruppen überfordert sind. Daher sind auch neue Arbeitsformate notwendig. Bekannte Methoden/Formate sind: Think Tanks, Design Thinking, Scrum, Bar Camps, Co-Creation. Eine Anpassung an die Branche bzw. das Projekt ist allerdings immer erforderlich. Der Weg zum Ziel und zu nachhaltigen Lösungen wird immer mehr unter Einbindung des interdisziplinären Teams (multiprofessionelle Kompetenzen) und der Dialoggruppe (Co-Creation) verwirklicht. Vieles wird zukünftig im Prozessverlauf (Work in Progress) gelernt, getestet und neu ausprobiert. Offenheit, Kreativität und die Erlaubnis zum Scheitern sind wichtige Merkmale des zukünftigen Arbeitens.

    Das klingt vielleicht nach großen Hürden, kann aber auch unglaublich viel Spaß machen, da es eine Abenteuerreise ist! Und viele Jugendliche nehmen es mit Begeisterung zur Kenntnis, wenn Hilfsangebote digital sind, ihre Sprache sprechen und in ihre Lebenswelt passen. Das erleben wir in der Praxis bei unserem Chat-Angebot (über 1.300 Anfragen/Jahr), der App (blu:app), den E-Learning-Modulen (blu:interact) und unseren Social-Media-Angeboten (@vollfrei). Für Multiplikatoren bieten wir (Online-)Fortbildungen zu diesem Thema an. Weitere Infos, unsere Tools und unseren Shop (kostenlose Materialen) finden Sie unter www.bluprevent.de

    Anmerkungen:
    (1) Zurzeit kooperieren wir mit Dominik Forster. https://www.youtube.com/channel/UCoMZAJLqlC6WEPV5stind5w

    Mit Samuel Koch haben wir ein gemeinsames Video erstellt.
    https://www.youtube.com/watch?v=TzzENc46PNg

    (2) Suchtpräventionsevent mit Audi und FC Ingolstadt mit dem Namen „Schanzer Pluspunkt“
    https://www.schanzer-pluspunkt.de/

    Der Artikel ist erstmals erschienen in:
    proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Bayern
    Heft 1/2022
    https://projugend.jugendschutz.de/projugend-1-2022/

    Kontakt:

    Benjamin Becker
    blu:prevent
    Blaues Kreuz in Deutschland
    benjamin.becker(at)blaues-kreuz.de

    Angaben zum Autor:

    Benjamin Becker ist Leiter von blu:prevent, Jugend- und Präventionsangebote des Blauen Kreuzes in Deutschland.

  • Beratung junger Menschen – ein Arbeitsfeld im Wandel

    Beratung junger Menschen – ein Arbeitsfeld im Wandel

    Beratungsangebote im Kreis Segeberg

    Marius Neuhaus

    Der schleswig-holsteinische Kreis Segeberg ist ein mittelschichtsgeprägter Landkreis im Norden der Metropolregion Hamburg mit einer Einwohnerzahl von rund 278.000. Die örtlichen Beratungsangebote der freien Träger werden durch den Landkreis finanziert und beziehen sich auf verschiedene sozialrechtliche Grundlagen oder werden als freiwillige Leistungen bereitgestellt. Die Therapiehilfe gGmbH ist ein Träger der ambulanten und stationären Suchthilfe im norddeutschen Raum. Ihr Angebotsspektrum umfasst: Beratung, ambulante, ganztägig ambulante und stationäre Therapie, Entgiftung, Rehabilitation, Nachsorge sowie Wiedereingliederung in Schule und Beruf. Außerdem ermöglicht die Therapiehilfe Arbeit und Beschäftigung in trägereigenen Einrichtungen. Im Kreis Segeberg betreibt sie Suchtberatungsstellen und Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Zu den weiteren Aufgaben gehört der Betrieb und die Koordination von örtlichen Beratungszentren, in denen verschiedene regional tätige Träger der sozialen Arbeit ihre Angebote unter einem Dach gebündelt vorhalten. Die koordinierende Tätigkeit in den Beratungszentren umfasst u. a. die Durchführung von trägerübergreifenden Projekten, wie der hier beschriebenen Befragung.

    Das Befragungsprojekt

    Im Zeitraum vom 10.05. bis 30.08.2021 wurde eine Online-Befragung junger Menschen durchgeführt. Sie erfolgte unter dem Titel „Sag uns, wie wir dich unterstützen können“. Die befragenden Träger waren die freien Träger der örtlichen Beratungsstellen, die Angebote für junge Menschen vorhalten. Die Befragung erfolgte unter Federführung der Therapiehilfe gGmbH mittels eines Online-Fragebogens und richtete sich an junge Menschen bis 27 Jahre.

    Die Befragung folgte keinem wissenschaftlichen Anspruch, sondern sie diente als Kommunikationsinstrument, um junge Menschen in der Zeit der Pandemie anzusprechen und in einen Prozess der Angebotsentwicklung als Expert:innen in eigener Sache einzubeziehen. Die dreiunddreißig Einzelfragen folgen vier Leitfragen bzw. Auswertungskategorien:

    1. Wer sind die teilnehmenden Personen?
    2. Was beschäftigt die jungen Menschen / sind ihre Themen?
    3. Welche Form der Beratung wünschen sich junge Menschen von den Beratungsstellen?
    4. Wie zufrieden sind die jungen Menschen mit bereits erhaltener Beratung?

    Kategorie 1: Wer sind die teilnehmenden Personen?

    Es haben 380 junge Menschen an der Befragung teilgenommen. 336 vollständige Fragebögen konnten ausgewertet werden. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 15,4 Jahren. 82 Prozent waren unter 18 Jahren. Im Alter von 13 bis 17 Jahren waren 69 Prozent. Der Anteil der weiblichen Befragten lag bei 59 Prozent. Männlichen Geschlechts zu sein, gaben 39 Prozent an. Als divers kategorisierten sich 0,6 Prozent, sich der Zuordnung noch nicht sicher waren 1,5 Prozent der jungen Menschen.

    Neun Prozent der jungen Menschen sahen bei sich einen Migrationshintergrund, 13 Prozent machten zu dieser Frage keine Angabe. 78 Prozent der Teilnehmenden verneinten einen Bezug zu Migration. Eigene Kinder hatten 1,2 Prozent der Befragten. Von der Befragung erfahren hatten 15 Prozent durch die eigene Teilnahme an einer Beratung. Die anderen Teilnehmer:innen wurden über Kooperationspartner:innen in Prävention, Schulsozialarbeit, Schule und offener Jugendarbeit gewonnen.

    Bei der Ansprache der teilnehmenden Personen wurden bewusst offene Antworten ermöglicht. Dies bedeutete, dass sich die jungen Menschen im Bereich Migration und sexueller Identität nicht eindeutig zuordnen mussten. Damit konnte sichtbar werden, dass es junge Menschen möglicherweise vorziehen, sich jenseits einer ethnischen Bipolarität oder einer definierten sexuellen Kategorie zu identifizieren.

    Kategorie 2: Was beschäftigt die jungen Menschen / sind ihre Themen?

    In dieser Auswertungskategorie wurden Fragen gestellt, die die allgemeine Lebenszufriedenheit, die relevanten Lebensthemen, das Nutzungsverhalten von Medien sowie die Bereitschaft zur Annahme einer Beratung umfassen. Die Antworten wurden als Zustimmung auf einer Skala von 1 bis 6 angegeben.

    a) In Bezug auf die allgemeine Lebenszufriedenheit gaben die jungen Menschen folgende Zustimmungswerte: Zufriedenheit mit dem eigenen Leben 4,0; Optimismus bzgl. Zukunft 4,0. Verstanden werden durch Erwachsene 3,7; Zufriedenheit mit Spiel- und Freizeitmöglichkeiten 3,3.

    b) Wichtige Lebensthemen sind absteigend nach der Problemhäufigkeit: Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst 3,5; Unzufriedenheit mit eigenem Körper 3,3; Corona 3,3; Stress mit Eltern und Geschwistern 3,2; Tod oder Verlust eines Menschen 3,2 und innere Leere, Gefühl von Sinnlosigkeit 3,0. Weitere Themen sind (mit absteigender Problemhäufigkeit): Essverhalten; Ängste und zwanghafte Gedanken; Perspektivlosigkeit / Zukunftsangst; Einsamkeit / fehlende Kontakte sowie Medienkonsum, der nicht mehr gesteuert werden kann.

    c) Regelmäßig genutzte Medien waren: WhatsApp (94 Prozent); YouTube (78 Prozent); Instagram (71 Prozent); TikTok (64 Prozent) und E-Mail (39 Prozent).

    d) Eine Bereitschaft zur Annahme einer Beratung äußerten 66 Prozent der Befragten.

    Zu a) Die genannten Werte lassen erkennen, dass die befragten jungen Menschen grundsätzlich über gute Ressourcen des Aufwachsens verfügen, insofern sie überwiegend zufrieden mit ihrem Leben sind und optimistisch in die Zukunft blicken. Während das Verstandenwerden durch die Erwachsenen eine mittlere Zustimmung erfährt, stellen die vorhandenen Freizeitmöglichkeiten jedoch kein ausreichend anregendes Angebot für die jungen Menschen dar.

    Zu b) Bei den Lebensthemen scheinen die für den Entwicklungsabschnitt typischen Themen im Vordergrund zu stehen. Ein Höchstwert im Bereich „Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst“ lässt jedoch erkennen, dass Schule eine Ursache chronischen Stresses zu sein scheint. Dies gilt es zu hinterfragen, denn Schule hat einen pädagogischen Auftrag, und es ist nicht hinzunehmen, dass Kinder und Jugendliche dort Angst und Stress erleben.

    Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper ist für junge Menschen, die ihre gesellschaftlichen Orientierungspunkte ganz überwiegend in sozialen Netzwerken finden, nicht mehr nur eine altersspezifische Aufgabe innerhalb ihrer Peergroup, sondern oftmals eine medial vermittelte Überforderung, die den eigenen Körper eher zu einem Anlass des Selbstzweifels als der Selbstvergewisserung werden lässt.

    Auch wenn die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern sicherlich ein zeitloses Thema darstellt, lohnt es sich, diesem Punkt Aufmerksamkeit zu schenken. So vollzieht sich die Ausdifferenzierung der individuellen und altersspezifischen Lebenswelten der Jugendlichen heute vor dem Hintergrund, dass Familien finanziell und zeitökonomisch immer mehr unter Druck geraten. Die häufige Nennung von „Stress mit Eltern und Geschwistern“ zeigt, dass die Bedeutung von Familie als Rückzugsort und Ort der Selbstwertstärkung in einer immer komplexeren Welt ausgesprochen hoch ist, und es wird die Notwendigkeit deutlich, dass dieser Ort seine basale Funktion der Förderung junger Menschen zu mental gesunden und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten auch unter steigenden gesellschaftlichen Anforderungen erfüllt. Wenig überraschend zeigt sich auch unter dem Stichwort Corona eine hohe Problemhäufigkeit, wobei diese beiden Lebensthemen keine signifikanten Korrelationen zeigen und damit offenbar von den jungen Menschen bisher nicht als ein lebensbestimmendes Problem erlebt werden.

    Eine Herausforderung, wenn nicht Überforderung, stellt der Tod oder Verlust eines Menschen dar (Standardabweichung 1,89; 19 Prozent der Antworten bei Effektstärke 6).  Er löst eine existentielle Verunsicherung aus und stellt die psychosoziale Einbettung in halt- und sinngebende Beziehungen und Wertbezüge auf den Prüfstand. Hier scheint die Erwachsenenwelt keine ausreichend tragende Unterstützung anbieten zu können. Alarmierend ist, dass sich anschließend an die erwähnten Themenbereiche Schule, Körper, Familie und Tod ein Gefühl von Sinnlosigkeit und innerer Leere bei jungen Menschen zeigt (Standardabweichung 1,88), was zumindest eine Teilgruppe als psychisch gefährdet erkennen lässt (16 Prozent der Antworten bei Effektstärke 6). In diesem Sinne können auch die im Weiteren hervortretenden Themen wie eine Reihung emotionaler Nöte und entsprechender Kompensationsstrategien gelesen werden (Essverhalten, Ängste, zwanghafte Gedanken, Perspektivlosigkeit, Einsamkeit, unkontrollierter Medienkonsum).

    Zu c) Überaus deutlich wird, dass Medien im Leben junger Menschen eine große Rolle spielen und sich die sozialen Medien als kommunikations- und vorstellungsprägend in ihrem Leben verankert haben.

    Zu d) Als Bewohner:innen „zweier Welten“, der medialen wie der analogen, zeigen die befragten jungen Menschen jedoch eine hohe Bereitschaft zur Inanspruchnahme von (analoger) Beratung in einer Beratungsstelle.

    Kategorie 3: Welche Form der Beratung wünschen sich junge Menschen von den Beratungsstellen?

    Für die befragten jungen Menschen ist es wichtig, dass Beratung anonym (4,7), ohne Eltern (4,6) und im Einzelkontakt (4,4) stattfindet. Dabei besteht einerseits der Wunsch, dass die Hilfe in der Beratungsstelle stattfindet (4,2), und andererseits, dass sie über Smartphone/PC (4,1) angeboten wird. Jungen Menschen ist es wichtig, dass der/die Berater:in jederzeit kontaktiert werden kann (4,8) bzw. schnell (innerhalb 24h) eine Beratung anbieten kann (4,4). Eine Hilfe in Gruppenform findet den niedrigsten Zustimmungswert (2,9).

    Als bevorzugte Medien werden der Messanger WhatsApp (62 Prozent), das Telefon/Mobiltelefon (55 Prozent) und die Beratung per E-Mail (40 Prozent) genannt. Die Beratungsform soll für 39 Prozent der Befragten eine persönliche Beratung sein. Zwölf Prozent wünschen eine digitale Beratung, und eine Kombination aus beiden bevorzugen 49 Prozent der Befragten.

    Die hohe Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Beratung verbindet sich mit klaren Vorstellungen, welche Form diese haben soll. Dabei wird zum einen der Wunsch nach individueller und flexibel verfügbarer Zuwendung durch eine:n kompetente:n Erwachsene:n  sichtbar, und zum anderen wird deutlich, dass das matching davon abhängt, wie gut die Hilfeform zu den Lebensgewohnheiten des jungen Menschen passt (form follows need). Hilfe wird so gewünscht, dass sie einen geschützten Rahmen bietet, in dem der junge Mensch individuell für sich, seinem Bedürfnis und Impuls folgend, Unterstützung findet. Der persönliche Kontakt mit dem/der Berater:in wird durch die Nutzung von Messanger und Mobiltelefonie ergänzt. So entsteht eine Form der beratenden Begleitung und der (elterlich) beschützenden Assistenz zur Bewältigung des Lebens angesichts einer medialen Fragmentierung der Identitäten.

    Kategorie 4: Wie zufrieden sind die jungen Menschen mit bereits erhaltener Beratung?

    Von den 336 jungen Menschen hatten 76 (23 Prozent) bereits an einer Beratung bei einem der drei an der Befragung beteiligten Träger teilgenommen. 67 Prozent dieser Beratungen waren bereits abgeschlossen. Die aufgesuchten Beratungsstellen waren Erziehungs- und Familienberatungsstellen, eine Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt sowie Suchtberatungsstellen. 42 Prozent der jungen Menschen wussten nicht mehr, in welcher Beratungsstelle sie gewesen waren. Einzelberatung haben 78 Prozent der Befragten wahrgenommen, mit der Familie kamen 37 Prozent der Ratsuchenden, mit Freunden 13 Prozent. Die Beratung fand zu 84 Prozent in Präsenz statt, zu sieben Prozent digital und zu neun Prozent in gemischter Form als blended counseling.

    Die Öffentlichkeitsarbeit der Beratungsstellen in Form von Flyern, einem Internetauftritt und Infomails fand bei den jungen Menschen keine Resonanz. 80 Prozent der jungen Menschen haben sie nicht wahrgenommen. 20 Prozent haben sich auf diese Weise nicht angesprochen gefühlt.

    Die jungen Menschen haben sich in der Beratung atmosphärisch wohl (4,1), als junge Menschen angenommen (4,7) und gut beraten gefühlt (4,4). Die jungen Ratsuchenden gaben mit einem Zustimmungswert von 4,1 an, dass ihnen die Beratung weitergeholfen hat. Die Frage, ob auch neue Sichtweisen für andere Themen gewonnen wurden, fand einen Zustimmungswert von 3,8. Die jungen Menschen wollen zu 79 Prozent wieder in die Beratung kommen und zu ebenfalls 79 Prozent die jeweilige Beratungsstelle weiterempfehlen.

    Junge Menschen machen in Beratungsstellen gute Erfahrungen. Zwar fühlen sie sich durch jugendunspezifische analoge Kommunikationsformen nicht angesprochen, treffen dort aber vermittelt über Dritte auf kompetente Berater:innen, die ausreichend sensibilisiert sind, damit sich junge Menschen angenommen fühlen. Die hohe fachliche Qualifikation der Mitarbeitenden, getragen vom persönlichen Kontakt, konstituiert ein Setting, das sich als geeignet erweist, junge Menschen in ihrer Lebenskompetenz zu stärken. Auf Grund der positiven Erfahrungen mit Beratung wird sie im Folgenden zu einer persönlichen Ressource des jungen Menschen, die bereits durch die Möglichkeit einer Wiederinanspruchnahme stärkend wirkt.

    Anforderungen an Prävention und Beratung

    Junge Menschen sind stärker als jede andere gesellschaftliche Gruppe der durch Digitalisierung, Medialisierung und Globalisierung bewirkten Transformation der Lebens- und Arbeitsweisen ausgesetzt. Dabei entwickeln sie Fähigkeiten und Lebensformen, die die Erwachsenenwelt in Gestalt von Eltern,  Lehrer:innen und pädagogischen Mitarbeiter:innen kaum nachzuvollziehen in der Lage ist. Die belastenden Aspekte dieser Entwicklung werden durch die im Rahmen der Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen noch verschärft, bis hin zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen. Die Herausforderung, die Lebensrealität junger Menschen in ihrer Vielfältigkeit nachzuvollziehen und adäquat zu beantworten, wird damit größer und wichtiger.

    Um die Erwartungen junger Menschen an die Angebotsformen der Träger erfüllen zu können, sind die sozialen Hilfssysteme gefordert, ihre Systemlogik den Bedarfen ihrer (jungen) Nutzer:innen anzupassen. Dafür ist es erforderlich, in eine wechselseitige Kommunikation mit jungen Menschen zu treten und bereit zu sein, von ihnen zu lernen. Diese Nutzer:innenorientierung wird nicht nur zu einer veränderten Form der Öffentlichkeitsarbeit führen, sondern auch ganz neue Angebotsformen hervorbringen.

    Alarmierend ist die Problemhäufigkeit bei „Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst“ (35 Prozent bei Effektstärke 5 und 6). Die starke Leistungsorientierung und den damit einhergehenden Noten- und Normierungsdruck in der Schule erleben viele junge Menschen als Entwertung der eigenen Person. Die Digitalisierung an den Schulen treibt diese Entwicklung voran, ohne dass ausgleichende oder präventive Maßnahmen entwickelt würden. Positiv erlebte und somit gesundheitsfördernde Orte hingegen sind Orte, die sich an den Bedürfnissen junger Menschen ausrichten und eigenverantwortete Selbstbildungsprozesse ermöglichen.  Es ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft, solche Orte zu schaffen. Sie wirken in höchstem Maße als Prävention von Sinnlosigkeitserleben und innerer Leere und machen kompensierende Strategien, wie sie jegliche Form von Suchtverhalten und psychischen Ersatzhandlungen darstellt, überflüssig. Ein solcher Selbstbildungsprozess stellt auch die Inanspruchnahme von Beratung dar, die exemplarisch Sinnhaftigkeit und Selbstwerterhöhung ermöglicht.

    Die betreffenden Beratungseinrichtungen sind herausgefordert, ihre Berührungsängste mit sozialen Medien und jugendspezifischen Inhalten zu überwinden. Dabei liegt in rechtlichen Hürden wie Vorgaben zum Datenschutz die Gefahr, den Anschluss zur Welt junger Menschen zu verlieren. Der mit der Digitalisierung der Angebote verbundene technische Aufwand stellt eine weitere Hürde dar, an der die Lebensweltorientierung in der Praxis der sozialen Arbeit zu scheitern droht. Träger und Mitarbeitende stehen vor der Aufgabe, ihre Arbeits- und Organisationsformen anzupassen und zu flexibilisieren und sich neue Fähigkeiten und Kulturtechniken anzueignen. Es sind Kostenträger gefragt, die die Scheuklappen in Form von starren Verwaltungsabläufen und innovationsfeindlichen Ökonomisierungszwängen ablegen. All diese Faktoren entscheiden an vielen kleinen Stellen, ob es letztlich gelingen kann, Angebotsformen zu entwickeln, die junge Menschen tatsächlich erreichen. Hierbei ist der altbekannte Ruf nach einem Paradigmenwechsel im Sinne eines form follows user aktueller denn je.

    Auch wenn es sich bei der vorliegenden Befragung in einem norddeutschen Landkreis weder um einen repräsentativen Bevölkerungsausschnitt handelt, noch die Befragung wissenschaftlichen Standards entspricht, kann sie doch als Impuls aufgefasst werden, der eine Entwicklungsrichtung aufzeigt, die sich auch in anderen zahlreichen Studien der jüngeren Zeit abzeichnet (z. B. Copsy-Studie, Shell-Studien, Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung, Veröffentlichungen des Deutschen Jugendinstituts DJI, der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe AGJ und des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung EZI). Die Besprechung der Ergebnisse erfolgt aus der Perspektive der Beratungsstellen. Für uns wird deutlich, dass eine Gruppe der jungen Menschen als gefährdet anzusehen ist. Es ist dringend notwendig, sie in ihrer Lebenslage besser wahrzunehmen und über die Angebote der Beratungsstellen wirksamer zu erreichen. Dieser Auftrag erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Belastung junger Menschen durch die Corona-Krise umso verbindlicher. Hierfür ist die beschriebene organisatorische und konzeptionelle Hinwendung zu den jungen Menschen unverzichtbar. Es sei jedem/jeder Leser:in selbst überlassen, den Aussagewert des Vorgestellten zu beurteilen, ein Anstoß zur Diskussion über notwendige Innovationsprozesse innerhalb der Einrichtungen der sozialen Arbeit sei hiermit zumindest gegeben.

    Kontakt:

    Marius Neuhaus
    marius-neuhaus@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Marius Neuhaus, Dipl.-Sozialpädagoge und Systemischer Therapeut (SG), ist tätig als Einrichtungsleitung der Beratungsstellen der Therapiehilfe gGmbH im Kreis Segeberg.

  • Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Dr. Kai W. Müller
    Knut Kiepe

    Für viele Menschen scheint es nur allzu klar, dass die bereits mehr als ein Jahr währende Corona-Pandemie in Bezug auf die Internetnutzung deutliche Spuren hinterlässt und zu einer signifikant höheren Anzahl an internetbasierten Schädigungen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – führt. „Höhere Internetnutzung gleich mehr Störungen“ ist aber eine zu einfache Formel: Was wir brauchen, ist ein differenzierter Blick – vor allem auf die psychischen Belastungen und ihre Hintergründe. Dies gilt besonders in Zeiten der Pandemie, aber auch generell im Rahmen der Digitalisierung.

    Als wichtige Grundlage und zum besseren Verständnis ist es hilfreich, den historischen Hintergrund zur Diagnostik zu kennen. Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. setzt sich seit 2008 für die Anerkennung von „Internetnutzungsstörungen“ als psychische Erkrankung ein. 

    Der Weg zur Anerkennung

    Bereits im Jahre 2013 entschied die American Psychiatric Association, die so genannte Internet Gaming Disorder zumindest als Forschungsdiagnose in den Anhang des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Version) aufzunehmen. Dem vergleichsweise neuen (jedoch aus klinischer Sicht überaus relevanten) Phänomen wurde damit erstmalig und offiziell der Staus einer Problematik mit Gesundheitsrelevanz zuerkannt.

    Etwa sechs Jahre später folgte der nächste und womöglich noch wichtigere Schritt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete, das bisherige ICD-Kapitel der Substanzabhängigkeiten um den Aspekt der „abhängigen Verhaltensweisen“ (Verhaltenssüchte) zu erweitern und in diesem Zuge auch die „Störung durch Computerspielen“ als eigenständige psychische Erkrankung zu führen. Neben diesem neuen (direkt benannten) Diagnoseschlüssel bietet das ab 2022 gültige ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Version) nun die Möglichkeit, weitere Verhaltenssüchte und somit auch weitere differenzierbare Internetnutzungsstörungen zu verschlüsseln. In einem aktuellen Vorschlag werden hier insbesondere die Subformen der Online-Pornographie-Nutzungsstörung, der Online-Shoppingstörung und der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als relevante Formen benannt (Rumpf et al., 2021).

    Dysfunktional, suchtartig, exzessiv – viele Bezeichnungen für ein Phänomen

    Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Internetnutzungsstörung eigentlich? Zunächst als Phänomen geführt, wurde seit der erstmaligen Dokumentation Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl von inhaltlich mehr oder weniger synonym gebrauchten Bezeichnungen für das diagnostisch noch nicht verortete Störungsbild verwendet – von pathologisch-dysfunktionalem PC-Gebrauch über Internetsucht und Medienabhängigkeit bis hin zur heutigen Internetnutzungsstörung.

    Unabhängig vom konkret benutzten Begriff gilt für alle Bezeichnungen, dass sie als Oberbegriffe zu verstehen sind und dass der PC, das Internet oder gar die Medien an sich nicht als „Suchtmittel“ in einem direkten Zusammenhang mit einem Abhängigkeitsgeschehen stehen. Vielmehr sind es die einzelnen (zumeist) online durchgeführten Aktivitäten (und damit das Verhalten), welche unter bestimmten Voraussetzungen eine exzessive und unkontrollierte Nutzung im Sinne eines Abhängigkeitsgeschehens hervorrufen können.

    Aus den verfügbaren epidemiologischen Studien an repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung und bestätigt durch Zahlen von Nutzern des Hilfesystems wissen wir, dass es vor allem bestimmte internetbasierte Computerspiele sind, die besonders häufig mit einem suchtartigen Konsum im Zusammenhang stehen. Aus diesem Grunde wurde gerade die „Störung durch Computerspielen“ als einzige Variante der Internetnutzungsstörungen im ICD-11 konkret aufgeführt. Gekennzeichnet ist das Störungsbild durch folgende drei diagnostische Kriterien:

    1. Kontrollverlust über das Nutzungsverhalten
    2. Bedeutungserhöhung bzw. Priorisierung der Nutzung, wodurch andere Lebensbereiche (Freizeitverhalten und Alltagsaktivitäten) beeinträchtigt oder verdrängt werden
    3. Fortführung der Nutzung trotz der dadurch entstehenden negativen Folgeerscheinungen

    Ergänzt wird die diagnostische Definition von einer mit den Kriterien einhergehenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus. Damit ist gemeint, dass Betroffene psychische Belastungssymptome entwickeln sowie Probleme im sozialen und leistungsbezogenen Kontext wie etwa Schule oder Beruf erleben.

    Auch auf die in der Bevölkerung seltener auftretenden Varianten von Internetnutzungsstörungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von sozialen Netzwerken, Online-Pornographie oder Einkaufsportalen, werden die vorgenannten Kriterien angewandt, so dass sich für alle Internetnutzungsstörungen ein einheitlicher diagnostischer Rahmen ergibt.

    Die vorliegende epidemiologische Forschung zur Verbreitung von Internetnutzungsstörungen weist mit großer Übereinstimmung aus, dass Jugendliche und junge Erwachsene deutlich häufiger betroffen sind als ältere Personen. Die ermittelten Prävalenzraten der einzelnen Studien unterscheiden sich zwar leicht, liegen aber bei etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, welche die Kriterien einer Internetnutzungsstörung erfüllen, und bei nochmals etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, die ein zumindest problematisches Nutzungsverhalten aufweisen (hier sind also zumindest einige Kriterien einer Störung feststellbar). Bedenkt man, dass in den Studien ebenfalls mit großer Übereinstimmung eine merklich höhere Belastung der Betroffenen durch weitere psychosoziale und psychopathologische Symptome (z. B. erhöhte Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten und Angstsymptome) festgestellt wird, ergibt sich ein deutlicher Handlungsbedarf. Dieser schließt nicht nur die Behandlung, sondern in besonderem Maße auch die Frühintervention ein. Für Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt der Problementwicklung ist ein entsprechendes Früherkennungssystem notwendig. Ebenso bedarf es einer zielgruppenspezifischen Prävention – hier sollte eine Ausweitung und Überprüfung der vorliegenden Konzepte vorgenommen werden. 

    Der Einfluss der Pandemie auf die Fallzahlen

    Die Entstehung von Internetnutzungsstörungen folgt also nach gegenwärtigem Kenntnisstand komplexen Mechanismen. Die Annahme, dass allein die verstärkte Nutzung von Internetangeboten wie bestimmten Computerspielen oder sozialen Netzwerken ein komplexes Abhängigkeitsgeschehen bedingt, ist mit Sicherheit zu kurz gedacht. Bekannt ist, dass vor allem junge Menschen sehr empfindlich auf sich verändernde Rahmenbedingungen und den Wegfall von Strukturen reagieren. Die Pandemie könnte – mit ihren erhöhten und zum Teil dauerhaften psychischen Belastungen – somit als „Brandbeschleuniger“ wirken und zunehmende Internetnutzungsstörungen bzw. deren höhere Prävalenz begründen.

    Die mittlerweile formulierten Störungsmodelle wie etwa das Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution Modell (Brand et al. 2016) oder das Integrative Prozessmodell der Internetsucht (Müller et al., 2016) gehen von einem komplexen Wechselspiel aus individuellen Prädispositionen, wirksamen Strukturmerkmalen der kritischen Internetaktivität und Einflüssen der sozialen Lebenswelt des Individuums aus. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind insbesondere die Beziehungen zwischen den individuellen Risikofaktoren und der aktuellen sozialen Situation von hoher Bedeutung.

    Verschiedene Berufsverbände und Institutionen wie jüngst die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben darauf hingewiesen, dass die indirekten Auswirkungen der Corona-Pandemie gerade junge Bevölkerungsschichten stark beanspruchen und deutliche Effekte auf ihre psychische Gesundheit ausüben. Einige Forschungsdaten speziell zu Internetnutzungsstörungen, auch wenn sie die Problematik noch nicht über einen ausreichend langen Zeitraum abbilden können, erhärten die Vermutung, dass die Pandemie zu einer nochmals stärkeren Verbreitung des Störungsbildes beitragen kann (z. B. Paschke et al., 2021; Bilke-Hentsch et al., 2020; Rumpf et al., 2020).

    In der ambulanten Beratungspraxis werden unter anderen folgende Symptome in Verbindung mit problematischer Internetnutzung häufig berichtet:

    1. Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Reizbarkeit
    2. starke Leistungsschwankungen oder Leistungsabfall (vor allem in Schule und Ausbildung)
    3. Stimmungsschwankungen und Antriebslosigkeit
    4. physische Beeinträchtigungen bzw. körperliche und psychosomatische Beschwerden (bspw. Kopf- und Gliederschmerzen, Haltungsschäden, Schlafstörungen)
    5. allgemeiner Rückzug

    Ein hoher Grad an Online-Beschulung, das Wegfallen von realen Sozialkontakten und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten könnten diese bekannten Effekte in den bisher erlebten Lockdown-Phasen noch verstärkt haben. Erste, bislang jedoch unveröffentlichte Zahlen aus dem ambulanten Versorgungssystem weisen auf einen merklichen Anstieg der entsprechenden Nutzung des Hilfesystems wegen exzessiven Mediennutzungsverhaltens hin. Auch auf theoretischer Ebene unter Bezugnahme auf die oben genannten Störungsmodelle ist diese Entwicklung plausibel.

    Sowohl Praxis als auch Empirie bestätigen daher die Relevanz folgender Einflussfaktoren, die vor allem Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene in der Zeit der Pandemie betreffen:

    1. Wesentliche Ressourcen brechen weg (z. B. Freizeitaktivitäten, direkter Kontakt zum Freundeskreis).
    2. Gesellschaftliche Sicherheit wird vermisst (z. B. gewohnte soziale Strukturen und Alltagsroutinen).
    3. Unsicherheit und Angst prägen das individuelle und gesamtgesellschaftliche Umfeld.
    4. Das Vertrauen in eine verlässliche Umwelt fehlt (unsichere Zukunftsperspektiven und erlebter Kontrollverlust).

    Diese vier Erkenntnisse sind von hoher Bedeutung und dürfen nicht ignoriert werden, sofern wir nicht nachhaltig negative Folgen für unsere Gesellschaft und im Besonderen für die nachkommenden Generationen in Kauf nehmen wollen. Von daher fordern Berufsverbände und auch der Fachverband Medienabhängigkeit e.V., dass die psychosozialen Folgen der aktuellen Krise ernst genommen werden und ein Auffangnetz für die vulnerablen Gruppen gespannt wird – gerade jetzt, wo die Pandemie zurückgedrängt scheint. Ein solches Netz muss spezielle und geeignete Angebote für Prävention und Behandlung vorhalten.

    Im Rahmen des geforderten und notwendigen Ausbaus der Digitalisierung sollten wir mit Blick auf Kinder und Jugendlichen zwei wichtige Eckpunkte berücksichtigen und in das Auffangnetz einbeziehen:

    1. Wir dürfen (vor allem jüngere) Kinder und Jugendliche nach wie vor nicht mit ihrer Mediennutzung alleine lassen – wir müssen aber auch (gerade von Kindern und Jugendlichen) lernen, virtuelle Angebote und Plätze und deren Funktion sowie Stellenwert besser zu verstehen.
    2. Neben den virtuellen Angeboten müssen wir geeignete reale Anlaufpunkte und Aktivitäten schaffen, ausbauen und stärken, da Digitalisierung diese niemals ersetzen kann.

    Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. ist bereit, an einem solchen Netzprojekt mitzuwirken und seine Erfahrungen und Erkenntnisse bezüglich der problematischen Internetnutzung mit einem differenzierten Blick einzubringen.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    kai.mueller(at)unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Kai W. Müller, Diplom-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht an der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin in Mainz. Er ist 1. Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V.
    Knut Kiepe, Diplom-Sozialarbeiter, war über zehn Jahre als Suchtreferent beim Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) tätig. Aktuell leitet er die Jugend-, Drogen- und Suchtberatung Mörfelden-Walldorf.

    Literatur:
    • Bilke-Hentsch, O., Bachmann, S., Batra, A., Conca, A., Funk, L., Gremaud, F., Jenewein, J., Hentsch, S., Klein, M. Michel, G., Müller, K.W., Müller-Knapp, U., Pezzoli, V., Preuss, U., Rexroth, C., Sevecke, K., Thun-Hohenstein, L., Walter, M., Weber, P., Wladika, W. & Jud, A. (2020). Gibt es ein „Post-corona-Adaptations-Syndrom“? Sollte es „post-Corona“-Interventionen geben? Entwicklungspsychiatrische Überlegungen. Leading Opinions Psychiatrie & Neurologie, 3/4, 6-11.
    • Brand, M., Young, K. S., Laier, C., Wölfling, K. & Potenza, M. N. (2016). Integrating psychological and neurobiological considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: An Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 71, 252-266.
    • Müller, K.W., Dreier, M. & Wölfling, K. (2016). Excessive and addictive use of the internet – prevalence, related contents, predictors, and psychological consequences. In L. Reinecke & M.B. Oliver (Eds.), The Roudledge Handbook of Media Use and Well-Being (pp 223-236). New York, Routledge, Taylor and Francis Group.
    • Paschke, K., Austermann, M. I., Simon-Kutscher, K. & Thomasius, R. (2021). Adolescent gaming and social media usage before and during the COVID-19 pandemic. Sucht, 67, 13-22. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000694
    • Rumpf, H.J., Brand, M., Wegmann, E., Montag, C., Müller, A., Wölfling, K., Müller, K., Stark, R., Steins-Löber, S., Hayer, T., Schlossarek, S., Hoffman, H., Lemenager, T., Lindenberg, K., Thomasius, R., Batra, A., Mann, K., te Wild, B., Mößle, T. & Rehbein, F. (2020). Covid-19 Pandemie und Verhaltenssüchte: Erfahrungen, Konsequenzen und Forderungen. Sucht, 66 (4), 212–216.
    • Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (in press). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, in press.
  • Trans und Sucht

    Trans und Sucht

    Cornelia Kost

    Transgeschlechtliche Menschen gehören einer gesellschaftlichen Minderheit an, also einer Gruppe mit einer erhöhten Anfälligkeit für eine mögliche Suchtentwicklung und problematische Substanzkonsummuster. Sie sind von Risikofaktoren und suchtfördernden Umständen betroffen. Die Gründe für ihre gesellschaftliche Benachteiligung liegen in sozio-ökonomischen, kulturellen und psychosozialen Faktoren. Die für die Bewältigung der vielfältigen Belastungen unzureichenden Ressourcen werden in ihrer Gesamtheit Minderheitenstress genannt (vgl. auch „Minoritätenstressmodell“, Brewster et al. 2013).

    Besondere Stresserfahrungen von transgeschlechtlichen Menschen sind familiäre Ablehnung, Diskriminierungserfahrungen und mangelnder Zugang zu einer geschlechtsbejahenden Gesundheitsversorgung. Die kumulative Wirkung von Minderheitenstress ist mit einer erhöhten Komorbidität verbunden. Zu diesen Komorbiditäten gehören schwerwiegende psychische Erkrankungen und Suchtmittelabhängigkeit. Transgeschlechtliche Menschen sind neben dem Risiko für eine Suchterkrankung mit weiteren erheblichen gesundheitlichen Risiken wie HIV und sexualisierter Gewalt belastet (vgl. James et al. 2016, S. 10). Das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, ist für trans Personen deutlich erhöht (Clark et al. 2017). In den USA beträgt die HIV-Rate bei trans Menschen 1,4 % zu 0,3 % bei der Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus ist das Erleben mehrerer Minderheitsstressoren mit einer dramatisch höheren Prävalenz von Suiziden und Suizidversuchen und einer erhöhten Prävalenz von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) verbunden.

    Trans Menschen profitieren von herkömmlichen Angeboten der Suchthilfe zu wenig und werden ungenügend erreicht. Sie erleben häufig Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von mangelnder Fachkenntnis (European Union Agency for Fundamental Rights 2014).

    Deshalb hat der Träger Therapiehilfeverbund in Hamburg die Beratungsstelle 4Be (gesprochen „for be“ im Sinne von „Für das Sein“, „Weil es dich gibt, sind wir für dich da“) gegründet und bietet seit April 2019 Beratungen für geschlechtsdiverse Menschen an. 4Be praktiziert einen nicht pathologisierenden und in der Behandlung nicht diskriminierenden Ansatz (Austin et al 2015) und unternimmt verstärkte Anstrengungen, der gesundheitlichen Ungleichheit entgegenzuwirken (Austin & Craig 2015).

    Damit soll das umfassende Konzept von Gesundheitsförderung der WHO berücksichtigt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Setting-Ansatz, der neben der Stärkung der individuellen Ressourcen auch auf die aktive Gestaltung gesundheitsfördernder Lebenswelten abzielt (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2017).

    Suchthilfe

    Transgeschlechtliche Menschen haben nur beschränkt Zugang zu Angeboten der Suchthilfe, sie gelten als „schwer erreichbar“. Für die eingeschränkte Erreichbarkeit sind beeinträchtigende Faktoren auf Seiten der Suchthilfe, sozial-strukturelle Hindernisse sowie Unzulänglichkeiten der jeweiligen Settings verantwortlich.

    Geschlechtsdiverse Menschen werden im Hilfesystem regelhaft mit starren Vorstellungen von Geschlecht konfrontiert, die sich an binären Biologismen orientieren (Renner et al. 2020). Diese werden von den Genitalien abgeleitet, die gleichsam eine eindeutige geschlechtliche Identifizierung erzeugen sollen, entweder weiblich oder männlich. Menschen werden damit von der Geburt an identifiziert und lebenslang unterscheidbar angesprochen. Diese binäre Klassifizierung als Mann oder Frau erscheint als natürlich und nicht diskutierbar. Deshalb müssen trans Menschen nicht nur erleben, dass sie dem falschen Geschlecht zugeordnet werden und/oder von ihnen mit dem falschen Pronomen gesprochen wird (misgendern), sondern v. a. dass ihre geschlechtliche Wahrnehmung grundsätzlich in Frage gestellt und negiert wird.

    Zu den erschwerenden sozial-strukturellen Hindernissen gehört ein geringerer sozioökonomischer Status, der einhergeht mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz wie Mobbing oder Aufstiegshindernisse oder gleich ganz dem Verlust des Arbeitsplatzes. Dazu kommen Fehlzeiten aufgrund von Behandlungsterminen und wiederholte Krankenhausaufenthalte mit zum Teil längeren Erholungsphasen z. B. nach einer Operation. Die Versorgungssituation ist beschränkt auf wenige Anlaufstellen in Ballungsräumen. Für diese wenigen Plätze bestehen in der Regel lange Wartezeiten. In der Fläche gibt es selten therapeutische oder endokrinologische Hilfsangebote. Dabei ist die Situation für die unter 18-Jährigen noch schlechter.

    Für die Arbeit mit Transsexuellen sind die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit (AWMF 2018) und darüber hinaus die Richtlinie des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen 2020) bindend. Sie schreiben Mindestqualifikationen der Mitarbeiter_innen vor, die in den meisten Beratungssettings nicht erbracht werden können.

    Grundsätzlich ist es heikel, transgeschlechtliche Menschen auf ihre Sucht-Gefährdung anzusprechen und zu versuchen, sie für spezifisch auf sie ausgerichtete Maßnahmen zu gewinnen. Es besteht das Risiko der Stigmatisierung und Schuldzuweisung („Blaming the victim“), und es besteht die Gefahr, eine vorhandene Vulnerabilität zusätzlich zu verstärken (Montada et al. 1988). Das Angebot von 4Be ist deshalb in der Ansprache der Menschen und der Umsetzung zeit- und ressourcenintensiver als andere Angebote. Der Fokus darf ja nicht nur auf konkrete, bereits vorhandene riskante Konsummuster ausgerichtet sein, denn die anzugehenden Risiken und vor allem die Komorbiditäten sind vielfältiger und komplexer.

    Die Ansprache dieser Zielgruppe durch 4Be hat deshalb drei Ziele:

    1. Zugang zu den Menschen schaffen, die Menschen erreichen;
    2. Akzeptanz gewinnen, die Menschen lassen sich auf das Angebot ein;
    3. Wirkung erzielen, es kommt zu Veränderungen und Verbesserungen beim Suchtmittelkonsum und den Komorbiditäten.

    Peerkonzept

    Das Angebot im Bereich Genderdiversität von 4Be integriert alle relevanten Inhalte rund um das Thema. Dazu ist eine spezifische Fachkompetenz notwendig, durch die ein Suchtproblem identifiziert werden kann, und die handlungsfähig macht. Dafür bietet sich ein Peer-Angebot an, das auf die ressourcenstärkende Beziehung zu einer Bezugsperson aus der Community setzt.

    Für die Suchtarbeit bedeutet dieser Ansatz allerdings Neuland, und die Suchtberatung verlässt die gewohnten Pfade. So müssen Kommunikationsmittel und -wege speziell auf diese Zielgruppen ausgerichtet werden. Hier spielen das Internet und die sozialen Medien eine besondere Rolle. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen Anforderungen des Datenschutzes und gruppenorientierter Kommunikation. Auch in diesem Kontext bietet das Peer-Angebot Entwicklungsmöglichkeiten, da sich die Peers unmittelbar in der Community aufhalten.

    Unter dem Wort „Peer“ versteht man einen „Gleichrangigen“, es geht also um ein Angebot auf Augenhöhe. Dieses Angebot eignet sich besonders für Menschen, die sich mit jemandem austauschen möchte, die_der ähnliche Erfahrungen gemacht hat und die eigenen Erfahrungen dadurch auf besondere Art nachvollziehen kann. In der Peer-Beratung unterstützen und beraten Menschen, die eigene seelische Krisen erfahren haben, nach einer Beratungsausbildung andere Betroffene. Peer-Berater_innen hören vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung zu und bieten Beistand in Krisensituationen.

    Sucht

    Es gibt nur wenige valide Zahlen zur Suchtmittelabhängigkeit genderdiverser Menschen. Zahlen aus der Allgemeinbevölkerung zur Prävalenz von Suchtmittelabhängigkeit heranzuziehen, bildet den Minderheitenstress nicht hinreichend ab. In einer Studie in den USA berichteten 26,3 % der teilnehmenden trans Personen, in der Vergangenheit Drogen oder Alkohol in schädlicher Weise konsumiert zu haben, um mit transbezogener Diskriminierung umzugehen (Klein & Golub 2016).

    In einer weiteren, internetbasierten Studie aus den USA zum Substanzkonsum bei erwachsenen trans Personen in den letzten drei Monaten machten 21,5 % der Teilnehmenden Angaben über exzessiven Alkoholkonsum, 24,4 % über Cannabiskonsum und 11,6 % über den Konsum anderer Drogen (Gonzalez et al. 2017). Ergebnisse aus der Hamburger ENIGI-Studie zeigen, dass der Alkoholkonsum von trans Personen nicht als grundsätzlich auffällig oder klinisch relevant eingestuft werden kann. Bei insgesamt 6,9 % der befragten Stichprobe wurde der Alkohol- oder Drogenkonsum als schädlich oder abhängig eingestuft (Kürbitz et al. 2018).

    Abb. 1: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Suchtverteilung

    Die Daten der Jahresauswertung 2020 von 4Be beruhen auf den Selbsteinschätzungen der Klient_innen, die über einen Fragebogen erhoben wurden, und den Feststellungen der Peers (N=186). Im Wesentlichen dürften Menschen mit Suchtthematik eine entsprechende Beratung aufsuchen. Allerdings konnten bei 34 % (2019: 39 %) keine Feststellungen zu Suchtmitteln gemacht werden. Das liegt vor allem an den Einmalberatungen, bei denen kein Fragebogenrücklauf erfolgen konnte. Die Quote der Menschen mit einer Suchtthematik ist im Jahr 2020 leicht auf 66 % gestiegen (2019: 61 %).

    Die Verhaltenssüchte und vor allem nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) stehen an erster Stelle der Befunde in der Beratung. Zusammen mit Internet-basierten Süchten und Kaufsucht machen sie 28 % (2019: 21 %) der Nennungen von süchtigem Verhalten aus.

    Problematischer Alkoholkonsum konnte bei 14 % der Klient_innen festgestellt werden und verzeichnet damit einen spürbaren Rückgang im Vergleich zu 2019 (36 %). Die Zahlen bewegen sich damit in Richtung der Ergebnisse der ENIGI-Studie (Köhler et al. 2019).

    An dritter Stelle der Suchterkrankungen stehen die Essstörungen mit 10 % in der Reihung Anorexie (5 %), Binge Eating (3 %) und Bulimie (2 %). Beim Cannabiskonsum liegt mit 9 % eine Steigerung der Feststellungen im Vergleich zu 2019 (7 %) vor. Alle anderen Suchtformen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Nikotin und Medikamentenabhängigkeit haben als Thematik mit jeweils 1 % gegenüber den Zahlen aus 2019 (7 % und 6 %) keine Relevanz mehr.

    Abb. 2: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Alters- und Geschlechterverteilung

    Für eine Suchtberatungsstelle ist ein Durchschnittsalter von 26,5 Jahren niedrig. Die trans Männer (bei der Geburt weiblich zugewiesen) haben einen Anteil von 44 % und ein Durchschnittsalter von 23,4 Jahren. Sie stellen damit die jüngste Gruppe. Die trans Frauen (bei der Geburt männlich zugewiesen) haben einen Anteil von 40 % und sind im Durchschnitt 29,2 Jahre alt. Die kleinste Gruppe bilden Menschen, die sich nicht binär verorten. Zu dieser Gruppe zählten sich 16 % mit einem Durchschnittsalter von 28,7 Jahren. Mit dieser Altersverteilung haben wir bezogen auf das Suchtmittel ungefähr eine Drittelung: 38 % haben nicht stoffgebundene Süchte, 28 % haben stoffgebundene Süchte und 34 % sind ohne Befund in der Beratung. Die Bedeutung von Verhaltenssüchten steigt, seitdem wir diese spezielle Arbeit machen.

    Suizidalität

    Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist in der Suchtberatung für genderdiverse Menschen eine besondere Herausforderung. Bei trans Suchterkrankten zählen zu den häufigsten Belastungsfaktoren Diskriminierung und vor allem sexuelle Gewalt. Suizidprophylaxe gehört zu den Standardinterventionen in der Beratungsarbeit.

    Im Jahr 2017 starben in Deutschland 9.241 Menschen durch einen Suizid (Statista 2019), das sind 0,0114 % der Bevölkerung (Wagner & Hofmann 2020). In der Lebenszeitprävalenz hatten 8 % der Bevölkerung Suizidgedanken und 1,5 % versuchten sich das Leben zu nehmen.

    Die umfangreichste Studie zur Suizidalität bei Transsexuellen stammt aus den USA (Herman et al. 2019). Diese Studie zeigt, dass die Prävalenz von Suizidgedanken und -versuchen bei trans Erwachsenen signifikant höher ist als in der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung. So hatten die trans Erwachsenen bezogen auf die letzten zwölf Monate eine fast zwölfmal höhere Prävalenz von Suizidgedanken und eine etwa 18-mal höhere Prävalenz von Suizidversuchen.

    Die US-amerikanische Transgender-Umfrage (USTS) von 2015, die bislang größte Umfrage unter Transgender-Personen in den USA, ergab, dass 81,7 Prozent der Befragten in ihrem Leben jemals ernsthaft über Selbstmord nachgedacht hatten, während 48,3 Prozent dies im vergangenen Jahr getan hatten. 40,4 Prozent gaben an, irgendwann in ihrem Leben Suizidversuche unternommen zu haben, und 7,3 Prozent gaben an, im vergangenen Jahr Suizidversuche unternommen zu haben (James et al. 2016).

    Der Hauptrisikofaktor ist die kumulative Wirkung von Minderheitenstress. 97,7 Prozent derjenigen, die im vergangenen Jahr mindestens vier unterschiedliche diskriminierende oder gewalttätige Erfahrungen gemacht hatten, gaben an, ernsthaft über Suizid nachgedacht zu haben, und 51,2 Prozent haben einen Suizidversuch unternommen.

    Diese Raten sinken übrigens schnell, wenn die Betroffenen im sozialen Umfeld und in den Familien Unterstützung bekommen, wenn sie eine Hormontherapie und/oder chirurgische Versorgung wünschten und anschließend auch erhielten und wenn sie in einem Staat mit einem Nichtdiskriminierungsgesetz zur Geschlechtsidentität leben.

    Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV)

    Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wurde als Forschungsdiagnose im DSM-5 (American Psychological Association 2013) aufgenommen. Die Forschungen sollen überprüfen, ob NSSV eine eigenständige psychische Störung oder ein transdiagnostisches Phänomen darstellt, welches mit vielen psychischen Störungen einhergehen kann. In der ICD-10 ist das selbstverletzende Verhalten eines der Diagnosekriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus. Zudem besteht die Möglichkeit, auf der 4. Achse eine „vorsätzliche Selbstschädigung“ zu kodieren. Mit der derzeitigen Veröffentlichung der ICD-11 ist die nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E) unter den Symptomen oder Merkmalen, welche das Erscheinungsbild oder Verhalten umfassen (MB23), in der Kategorie „Mortality and Morbidity Statistics“ aufgeführt.

    Die Arbeit im ersten Jahr in der Beratungsstelle hat gezeigt, dass in der Gruppe der Jungerwachsenen Zwänge in Form von selbstverletzendem Verhalten (NSSV) mit dem Störungsbild einer Verhaltenssucht häufig sind. NSSV steht mit Suizidalität und vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum im Sinne einer Symptomverschiebung im Zusammenhang (In-Albon et al. 2015). Dem wird in der weiteren Arbeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein.

    Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wird im DSM-5 definiert als direkte, sich wiederholende, sozial nicht akzeptierte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht. Die häufigsten Methoden sind Schneiden, Ritzen und Sich-selbst-Schlagen. Bei der Geburt weiblich einsortierte Jugendliche schneiden sich häufiger (Cutting-Type), und bei der Geburt männlich einsortierte Jugendliche schlagen sich häufiger (Hitting-Type) (In-Albon et al. 2020). NSSV wird häufig zur Selbst- und Emotionsregulation genutzt, z. B. dient das Fühlen von Schmerz dazu, unangenehme Gefühle zu beenden.

    NSSV tritt insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig auf. Zwischen 25 und 35 % der Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung haben sich bereits mindestens einmal selbst verletzt, wiederholend und damit mit suchtartigem Charakter verletzen sich circa 4 % (In-Albon et al. 2020). Für die Arbeit von 4Be ist bedeutsam, dass die Prävalenzraten bei Angehörigen sexueller Minderheiten mit durchschnittlich 40,5 % (In-Albon et al. 2020) deutlich erhöht sind. Man kann sagen, dass NSSV neben Suizidalität und Sucht eine der wesentlichen begleitenden psychischen Störungen bei jugendlichen trans ist.

    Corona

    Die beiden Lockdowns im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Corona-Pandemie) von März bis Mai und seit Oktober 2020 führten zu vermehrten Aufnahmen im Vergleich zu den durchschnittlichen Aufnahmen. Im März gab es eine Steigerungsrate von 14 % und im Oktober eine Steigerung um 21 %. Die Krise hat dazu geführt, dass spürbar mehr Menschen sich Hilfe gesucht haben.

    Vor allem bei den unter 18-Jährigen in der Beratung bei 4Be gab es Auswirkungen. Ihr Anteil liegt bei 12 % mit 31 laufenden Betreuungen. 77 % (24) sind trans männlich, 16 % (5) sind trans weiblich und 3 sind geschlechtsdivers. Die Bedürfnisse geschlechtsdiverser Kinder werden in der Pandemie kaum berücksichtigt. Viele sind durch die Kontaktbeschränkungen sehr belastet, sie fühlen sich einsam und haben wenig Struktur im Alltag. Kinder und Jugendliche verbringen während der Pandemie viel mehr Zeit zu Hause. Plötzlich spielen familiäre Konflikte im Kontext Transgeschlechtlichkeit eine viel wichtigere Rolle, weil das Thema zu Hause immer greifbar ist. In Hamburg warten viele Kinder und Jugendliche vergeblich auf einen Therapieplatz, um ihre Transgeschlechtlichkeit zu behandeln.

    Kinder, die vor der Corona-Pandemie ihre Transgeschlechtlichkeit irgendwie im Griff zu haben glaubten – durch die Struktur im Alltag mit Schulbesuch, Hausaufgaben, Freunden und diversen Hobbies –, hatten bzw. haben nun viel mehr Zeit übrig und fühlen sich einsam, und ihre Gedanken kreisen nur noch um ihr Geschlecht. Der entstehende Druck äußert sich in einer erheblichen Zunahme der Nutzung sozialer Medien, Internetkonsum, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und einer Steigerung der Suizidalität.

    Vor allem bei Jugendlichen, die in einem nicht supportiven Umfeld leben, in dem von den Eltern oder im Rahmen einer öffentlichen Betreuung nicht anerkannt wird, dass Transgeschlechtlichkeit ernst zu nehmen ist und behandelt werden muss, eskaliert die Situation. Hinzu kam im ersten Lockdown ein Aufnahmestopp in den Jugendhilfeeinrichtungen, der die Jugendlichen und unsere Einrichtung vor große Probleme stellte.

    Fazit und Ausblick

    Beratungsarbeit im Kontext von Transgeschlechtlichkeit und Komorbiditäten wie Sucht steht in mehreren Spannungsfeldern.

    Für die Konzepte von „Diagnostik“ und „Komorbidität“ ist das Verständnis von Transgeschlechtlichkeit als Krankheit Bedingung. Die seit dem 09.10.2018 in Kraft getretene S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit räumt dem diagnostischem Prozess großen Raum ein.

    So sagt sie zwar einerseits, dass es weder aus klinischer noch aus wissenschaftlicher Sicht Kriterien oder Differentialdiagnosen gibt, die eine Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie (GIK/GD) von vornherein ausschließen. Bei begleitenden psychischen Störungen wie beispielsweise einer affektiven Störung, einer sozialen Phobie oder Selbstverletzungsverhalten ist eine Verzögerung der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen nicht zielführend, da es durch die Einleitung entsprechender Maßnahmen (z. B. Hormon- und/oder Epilationsbehandlung) in vielen Fällen zu einer Remission sowohl der GIK/GD-Symptomatik als auch der psychischen Störung kommen kann. Erst im Behandlungsverlauf lässt sich unterscheiden, ob die Symptomatik reaktiv ist oder unabhängig von der GIK/GD besteht (vgl. AWMF 2018, S. 22).

    Allerdings sei ein längerer diagnostischer Prozess vor der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen gerechtfertigt, wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass die begleitende psychische Störung die GIK/GD wesentlich mitbeeinflusst. Das gilt insbesondere bei vorliegender aktueller psychotischer Symptomatik, Sonderformen der Dissoziativen Störung mit verschiedengeschlechtlichen Ego-States oder einer umfassenden Identitätsunsicherheit und bei einem akuten, klinisch relevanten Substanzmissbrauch (vgl. AWMF 2018, S. 22).

    Es ist immer wieder zu beobachten, dass vorhandene Komorbiditäten zum Anlass genommen werden, die transsexuellen Menschen in Behandlungen zu zwingen. Es wird unterstellt, dass die Komorbiditäten in einem Zusammenhang mit der GIK/GD stehen oder stehen könnten. Die medizinisch notwendigen Modifikationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale werden den Menschen verwehrt und damit die Chancen, sie irgendwie doch zu erreichen, ungünstig beeinflusst.

    Diagnostik ist vor allem durch die Vorgaben der MDS-Richtlinie an ein binäres Paradigma der Transgeschlechtlichkeit (Mann zu Frau, Frau zu Mann) gekoppelt. Auch die Vorstellung von einer Transition als linearem Behandlungsverlauf der körperlichen und sozialen Anpassung von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann fördert eine starke Erwartungshaltung bei den Behandler_innen und Klient_innen gleichermaßen (vgl. Renner et al. 2020). Es gibt das Ideal eines Prozesses, an dessen Anfang ein komorbiditätsfreier transgeschlechtlicher Mensch steht, der am Ende den gesellschaftlichen Identitätsvorgaben des Zielgeschlechtes körperlich und seelisch soweit wie möglich entsprechen soll.

    Die diagnostischen Kriterien verwischen die Diversität von trans Personen hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und ihren Behandlungsanliegen. Nicht alle trans Personen halten körpermodifizierende Behandlungen für notwendig. Wenn sie sich als non-binär oder genderqueer verstehen, verfolgen sie teilweise ausgewählte Modifikationen. Dogmatismus und cis heteronormative Vorstellungen bringen Menschen dazu, vorgezeichnete Wege zu gehen. Biografien werden entsprechend modifiziert, um in ein schwarz/weiß-Schema zu passen.

    Diagnostik von Transgeschlechtlichkeit erfährt international einen Paradigmenwechsel, denn die Begriffe und die diagnostischen Kriterien verändern sich in Richtung einer Entpathologisierung. Gegenüber der ICD-10-Diagnose Transsexualismus, die für das deutsche Gesundheitssystem weiterhin sozialrechtlich verbindlich ist, ist die Geschlechtsinkongruenz in der ICD-11 nicht mehr als psychische Störung, sondern in einem neuen Kapitel „Conditions related to sexual health“ (World Health Organization 2018) aufgenommen. Nach DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) liegt eine Geschlechtsdysphorie vor, wenn die Geschlechtsinkongruenz zu einem klinisch bedeutsamen Leidensdruck führt. Grundlage einer Behandlung ist nicht mehr die Trans-Identität, sondern die Geschlechtsdysphorie, also das Leiden unter der Geschlechtsinkongruenz. Genauso wie die ICD-11-Diagnose Geschlechtsinkongruenz beschränkt sich die DSM-5-Diagnose Geschlechtsdysphorie nicht auf binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und schließt non-binäre Geschlechter ein.

    Weltweit besteht fachlicher Konsens darüber, dass trans Menschen eine ganzheitliche Gesundheitsförderung mit dem Zugang zu einer multimodalen, trans-informierten Gesundheitsversorgung erhalten sollen (Coleman et al. 2012; T’Sjoen et al. 2020; World Medical Association 2015). Transitionsunterstützende Behandlungen umfassen damit ein weites Spektrum möglicher Maßnahmen. Nicht zuletzt erreichen wir bei 4Be Menschen in einem sehr frühen Stadium von Suchterkrankung. Es bleibt damit Zielsetzung und Hoffnung zugleich, dass wir mit unseren Ansätzen progrediente Verläufe wirksam verhindern oder abmildern können.

    Der Artikel ist in einer kürzeren Fassung bereits auf „Partnerschaftlich. Das Online-Magzin des GVS“ erschienen.

    Kontakt:

    Cornelia Kost
    4Be – TransSuchtHilfe
    Böckmannstraße 4
    20099 Hamburg
    Tel. 040/2000 10 5422
    info@4be-trans.de
    https://www.therapiehilfe.de/for_be_trans_sucht_hilfe.html

    Angaben zur Autorin:

    Cornelia Kost ist Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Suchtfortbildungsinstitute, Vorstandsmitglied der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen, Gerichtsgutachterin im TSG-Verfahren, Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. und dem Bundesverband Trans* e.V. Sie leitet seit 2019 „4Be TransSuchtHilfe“ in Hamburg.

    Literatur:
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  • Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz
    Sabine Köhler

    Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre alt sind und ohne Eltern bzw. Erziehungsberechtigte in Deutschland einreisen, wurden zunächst „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (umF) genannt. Seit 2015 wird der Begriff „unbegleitete minderjährige Ausländer/innen“ (umA) verwendet, das BAMF spricht von „unbegleiteten Minderjährigen“. Alle Bezeichnungen sind inhaltlich nicht zufriedenstellend. So vernachlässigt der Begriff „Ausländer/innen“, dass Jugendliche ihr Heimatland unfreiwillig verlassen haben und besonders schutzbedürftig sind. Die Bezeichnung „Flüchtling“ beinhaltet Verwechslungsgefahr mit dem asylrechtlichen Status. Unbegleitete minderjährige Ausländer/innen erhalten zunächst eine Duldung. Vielen der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt und eine Flucht ohne Eltern bedeutet weit mehr als eine fehlende „Begleitung“. 

    Diese Kinder und Jugendlichen werden durch das Jugendamt in Obhut genommen und erhalten Leistungen der Jugendhilfe (SGB VIII). Dem Mediendienst Integration zufolge habe das Bundesfamilienministerium auf Anfrage mitgeteilt, dass Anfang 2018 rund 28.500 unbegleitete Minderjährige und 25.500 junge Volljährige in der Zuständigkeit der Jugendhilfe waren. Die Zahl der jungen Volljährigen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da viele Jugendliche im Verlauf der Jugendhilfemaßnahme volljährig geworden sind („junge volljährige Ausländer/innen“). Ein Verbleib in der Jugendhilfe ist über das 18. Lebensjahr hinaus bis maximal zum 21. Lebensjahr nach § 41 SGB VIII möglich, wenn besondere Gründe dafür vorliegen, der bzw. die Jugendliche dies beantragt und das Jugendamt diesem Antrag zustimmt.

    Im Wissen um die oben beschriebenen und weitere Kritikpunkte wird zur besseren Lesbarkeit dennoch im Folgenden die Abkürzung „umA“ benutzt bzw. von Jugendlichen gesprochen. Darin sind auch die über 18-Jährigen eingeschlossen.

    Die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Bei denjenigen, die als umA in Deutschland ankommen, handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Die überwiegend männlichen Kinder und Jugendlichen kommen aus verschiedenen Ländern, der Großteil stammt derzeit aus Afghanistan und Syrien. Vor ihrer Flucht waren sie in unterschiedlichem Ausmaß Bedrohung, Gewalt, Verfolgung, Folter, Krieg/Bürgerkrieg usw. ausgesetzt. Es gibt nicht wenige Jugendliche, die von erlebten Entführungen und/oder Foltermethoden wie Scheinhinrichtungen, Elektroschocks oder Aufhängen an den Füßen berichten.

    UmA unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Fluchtgründe, auf ihr Alter bei Beginn der Flucht, auf die Dauer der Flucht und deren Verlauf. Eine Flucht aus dem Sudan mit der Durchquerung der Sahara, einem Aufenthalt in Libyen und der Überquerung des Mittelmeers ist mit einer Vielzahl lebensbedrohlicher Situationen verbunden, meist auch mit anhaltender oder wiederholter schwerwiegender interpersoneller Gewalt – diese erleben sie selbst und/oder werden Zeuge davon, häufig auch von Todesfällen (z. B. Ertrinkende im Mittelmeer). UmA unterscheiden sich außerdem hinsichtlich ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Familiensituation, der Schul- und beruflichen Ausbildung, ihrer Interessen und Kompetenzen etc. Vor diesem Hintergrund werden umA einerseits als besonders belastet, vulnerabel und schutzbedürftig beschrieben, andererseits als besonders resilient und flexibel.

    Für alle umA ist das Leben in Deutschland mit der Erfahrung verbunden, sich in einer bis dato fremden Kultur mit teilweise anderen Normen und Werten orientieren und zurechtfinden zu müssen. Dies verlangt das Erlernen einer neuen Sprache und etliche weitere gesellschaftliche, soziale und kulturelle Anpassungsleistungen (vgl. z. B. Eisbergmodell nach E. Hall in Müller & Gelbrich, 2014). Interkulturelle Schwierigkeiten und Akkulturationsstress (siehe auch Kulturschockmodell nach K. Oberg in Erll & Gymnich, 2013) sind die Regel, auch von Diskriminierungs­erfahrungen wird berichtet.

    Mehr oder weniger offensichtlich leiden umA unter dem Verlust wichtiger Bezugspersonen, vermissen die (Kern-)Familie und Freunde. Auch wenn mit Hilfe von Smartphones der Austausch leichter möglich ist als früher, bricht dieser häufig ab oder beinhaltet Nachrichten über den Tod von Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Viele leiden unter Schuldgefühlen, selbst in Sicherheit zu sein. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, die Trauerprozesse in der Familie mit zu vollziehen. Häufig besteht der Wunsch, die Familie zu unterstützen oder einen „Auftrag der Familie“ zu erfüllen.

    Im Gegensatz zur Idee, dass das Ankommen in Deutschland Sicherheit und Ruhe bedeutet, sind die Jugendlichen mit vielfältigen Unsicherheiten konfrontiert: Das Asyl- und Aufenthaltsrecht, die unterschiedlichen Aufenthaltstitel und die vielfachen Neuerungen und Veränderungen sind selbst bei verbessertem Sprachniveau kaum durchschaubar. Der unsichere Aufenthaltsstatus, das Warten auf die Anhörung und auf den Bescheid sowie eine prekäre soziale Situation und eine ungeklärte Zukunftsperspektive stellen weitere Belastungen dar.

    Der Schulbesuch ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden: Viele Jugendliche müssen eine neue Schrift und fast alle müssen die Sprache erlernen. Das deutsche Schul- und Ausbildungssystem mit seinen vielfältigen Wegen, das Verhalten der Lehrer/innen und  Schüler/innen und ihr Umgang miteinander, die Vermittlung des Unterrichtsgegenstands usw. unterscheiden sich von den Bedingungen im Herkunftsland und bergen vielfältige Anlässe für Missverständnisse. Häufig wird darauf bestanden, eine „richtige Schule“ besuchen zu können. Der Besuch der Regelschule ist aufgrund des Alters, der nicht ausreichenden Sprachkenntnisse und vielfach auch der Schulbildung oft nicht bzw. nicht sofort möglich. Zeitgleich haben umA Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.

    Viele Jugendliche leiden unter Stress- und Trauma­folge­symptomen wie sich aufdrängenden unangenehmen Erinnerungen, Schlafstörungen sowie Kopf- und Bauchschmerzen, die die schulische und berufliche Entwicklung behindern. Zu beachten ist außerdem, dass u. a. Hoffnungslosigkeit, ein fehlendes Zugehörigkeitserleben, der Eindruck, anderen eine Last zu sein, und Schlafstörungen Risikofaktoren für Suizidalität sind (Teismann et al., 2016).

    Für diese psychischen Belastungen existieren wirksame Behandlungsmethoden, die z. T. adaptiert werden müssen (verändertes Setting aufgrund der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen, unterschiedliche Krankheits- und Heilungskonzepte, kultursensibles Vorgehen, Auftreten aktueller Stressoren und kritischer Lebensereignisse infolge der Migration und der Situation im Heimatland usw.) Der Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung ist erschwert, da viele Jugendliche entsprechende Behandlungsangebote vor dem Hintergrund kultureller Zuschreibungen (zunächst) ablehnen, aber auch, weil viele Behandler/innen der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen und Kulturvermittler/innen zurückhaltend bis skeptisch gegenüber stehen.

    Das Zusammenleben mit anderen umA ist teils hilfreich (Verständigung in der Muttersprache, Erklärungen und Unterstützung durch die „Erfahreneren“), teils aber auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen. Allein die unterschiedliche Bedeutung von Gesten in verschiedenen Ländern (Reker & Grosse, 2010) bietet vielfältige Möglichkeiten für Missverständnisse. Auch Jugendliche aus demselben Land unterscheiden sich oft im Hinblick auf ihre (religiöse) Einstellung und ihre Sozialisation. Dementsprechend ist die Ausübung von sozialem Druck nicht selten und stellt für die persönliche Weiterentwicklung mitunter ein Hemmnis dar. Die erlebten Anforderungen an Eigenständigkeit während der Flucht erschweren mitunter das Einhalten der in den Jugendhilfeeinrichtungen geltenden Routinen und Regeln und andere Anpassungsleistungen.

    Explorative Untersuchung des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe

    Um Hinweise auf konkrete psychosoziale Belastungen, den Suchtmittelkonsum und die Ressourcen von unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen zu erhalten, führte der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) eine explorative Untersuchung durch. Befragt wurden 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen in den eigenen stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Der Verein bietet neben Jugend- und Suchtberatung, Betreutem Wohnen, Rehabilitation und Pflege auch Hilfen für Bildung und Erziehung sowie ambulante und stationäre Jugendhilfe an. In mehreren Einrichtungen besteht ein vollstationäres pädagogisches Betreuungsangebot auf der Grundlage des SGB VIII, Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27, 34, auch in Verbindung mit §§ 35a, 41 und 42.

    Die Erkenntnisse der Befragung sollen dazu genutzt werden, die Betreuungs- und Behandlungsangebote für junge Ausländer/innen mit Fluchthintergrund pass- und zielgenau weiterzuentwickeln. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Folgende Einrichtungen des Vereins waren an der vorliegenden Untersuchung beteiligt (Tab. 1):

    Tab. 1: Beteiligte Einrichtungen

    Methodik

    Stichprobe und Einschlusskriterien

    Zwischen dem 14. und 25. August 2017 wurden in den oben aufgelisteten stationären Jugendhilfeeinrichtungen insgesamt 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen befragt. Es handelt sich um eine Vollerhebung, es gab keine Ausschlusskriterien. 

    Messinstrumente

    Folgende Messinstrumente wurden eingesetzt:

    • ein selbst entwickeltes Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung der Belastungen und des Suchtmittelkonsums der Jugendlichen, das von dem/der zuständigen Bezugsbetreuer/in auszufüllen war,
    • deutsche Version und Übersetzung (in die jeweilige Muttersprache) des SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire; Goodman, 2005). Dieser Fragebogen zu emotionalen und verhaltensspezifischen Stärken und Schwächen wurde von der/dem Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bearbeitet. Subskalen: Emotionale Probleme, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, Prosoziales Verhalten.

    Ergebnisse

    Das Datenmaterial besteht aus den Angaben der Bezugsbetreuer/innen zu 140 von ihnen betreuten unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen.

    Soziodemographische Daten

    Die betreuten Jugendlichen sind im Alter von 13 bis 21 Jahren. Davon sind 95 Prozent männlich und fünf Prozent weiblich. 82,1 Prozent der umA sind zwischen 16 und 18 Jahre alt, zehn Prozent sind zum Erhebungszeitpunkt volljährig, und 7,9 Prozent sind jünger als 16 Jahre.

    Herkunft und Aufenthalt in Deutschland

    Ein Großteil der umA kommt ursprünglich aus Afghanistan (54,3 Prozent), gefolgt von Syrien (17,1 Prozent) und Eritrea (6,4 Prozent). Weitere Herkunftsländer sind Äthiopien (2,9 Prozent), Guinea (3,6 Prozent), Iran (2,1 Prozent), Myanmar (2,1 Prozent), Pakistan (2,1 Prozent), Somalia (2,9 Prozent) und weitere Länder (6,3 Prozent). 22 Prozent der Jugendlichen leben kürzer als ein Jahr in Deutschland, 56 Prozent seit einem bis zwei Jahren und 22 Prozent seit über zwei Jahren.

    Flucht

    Die Fluchtdauer der Jugendlichen variiert. Die meisten (58,2  Prozent) waren länger als einen Monat, 15,7 Prozent über sechs Monate und sechs Prozent über ein Jahr auf der Flucht. Bei etwas mehr als 20 Prozent der Jugendlichen dauerte die Flucht weniger als einen Monat (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Fluchtdauer (Angabe in Prozent)

    Der Anteil der Jugendlichen, die auf dem Landweg geflüchtet sind, beträgt 39,7 Prozent. 51,5 Prozent flüchteten mit dem Boot und auf dem Landweg, 8,5 Prozent kamen per Flugzeug nach Deutschland. 

    Lebensbedrohung

    Die Fachkräfte geben an, dass für 81,2 Prozent der Jugendlichen eine Lebensbedrohung im Heimatland und/oder auf der Flucht bestand. In 63,9 Prozent der Fälle gibt es zusätzlich zu den Schilderungen der Jugendlichen weitere Hinweise auf eine solche Bedrohung. Die Items „Lebensbedrohung des Jugendlichen im Heimatland bzw. auf der Flucht“ und das Item „Konfliktbewältigung“, mit dem die Fähigkeit beurteilt wird, in sozialen Konflikten zu bestehen, korrelieren signifikant negativ. Mit der „Lebensbedrohung“ korreliert außerdem das Item „emotionale Stabilität“. Je mehr Lebensbedrohung angegeben wird, desto schlechter wird die emotionale Stabilität und die Konfliktbewältigung bewertet.

    Die Items beziehen sich auf die „Zielerreichungsskala“, mit der in den umA-Einrichtungen von JJ gemessen wird, inwieweit die Jugendlichen in der Lage sind, eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig zu handeln. Diese Ziele der Jugendhilfemaßnahme leiten sich ab von § 1 SGB VIII. Um den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand abzubilden, werden zu Beginn, halbjährig im Verlauf und am Ende der Maßnahme verschiedene Kompetenzen und Verhaltensweisen der Jugendlichen bewertet. Die Bewertung erfolgt anhand einer Punkteskala von 0 bis 10 Punkten, wobei mit verbessertem Entwicklungsstand oder Erfüllungsgrad der Anforderung die Punktzahl wächst. Die Bewertung findet jeweils in Kleingruppen von Mitarbeitern/innen statt.

    Kontakt zu Angehörigen

    Nach Angaben der Fachkräfte haben 63,5 Prozent der Jugendlichen Angehörige in Deutschland, 81,6 Prozent Angehörige im Heimatland. In den meisten Fällen besteht Kontakt zur Familie (67,6 Prozent). Bei 25,6 Prozent der Jugendlichen sind Angehörige gegenwärtig auf der Flucht und befinden sich somit in einer ungeklärten und oftmals gefährlichen Situation. 70,9 Prozent haben Freunde im Heimatland. Auch Freunde sind gegenwärtig auf der Flucht (18,1 Prozent). 36,5  Prozent haben keine Angehörigen in Deutschland (s. Tab. 2).

    Tab. 2: Angehörige und Freunde

    Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten

    17 Prozent der Jugendlichen äußerten im Rahmen der stationären Jugendhilfe einmalig oder mehrfach Suizidgedanken. 4,4 Prozent der Jugendlichen haben einmalig einen Suizidversuch unternommen. Einmaliges oder mehrfaches selbstverletzendes Verhalten liegt in 15 Prozent der Fälle vor (s. Tab. 3).

    Tab. 3: Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten

    Inanspruchnahme von Behandlungen

    14,5 Prozent der Jugendlichen nehmen seit Eintritt in die Einrichtung regelmäßig Termine im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung wahr. 14,3 Prozent der Jugendlichen nehmen regelmäßige Termine im Rahmen einer psycho­therapeutischen Behandlung wahr.   

    EVAS-Dokumentation

    Unabhängig von der dargestellten Untersuchung werden Verlaufsmessungen in allen JJ-Einrichtungen im Rahmen der EVAS-Dokumentation durchgeführt (EVAS = Dokumentationssystem für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in der Kinder- und Jugendhilfe). 

    Schule

    Fast 90 Prozent der Jugendlichen haben einen Schulplatz, 7,1 Prozent haben einen Ausbildungsplatz. Die meisten der Jugendlichen besuchen eine „InteA“-Klasse. Das hessische Integrationsprogramm InteA ist ein Angebot für Schülerinnen und Schüler, die erst grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben müssen. Jugendliche Flüchtlinge, die noch nicht volljährig sind, lernen zwei Jahre lang Deutsch und werden parallel dazu auf den Hauptschulabschluss vorbereitet. Von den umA in den Einrichtungen von JJ haben bisher sechs Prozent einen Schulabschluss erreicht.

    Suchtmittelkonsum

    Von den 140 Jugendlichen konsumierten nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den letzten 30 Tagen insgesamt 39,3 Prozent Suchtmittel (inklusive Nikotin), 48,6 Prozent lebten abstinent, und bei 12,1 Prozent der Jugendlichen war keine Einschätzung möglich bzw. der Konsum unbekannt.

    Das im letzten Monat am häufigsten konsumierte Suchtmittel ist Nikotin mit 35,9 Prozent. Alkohol wurde von 17,8 Prozent der Jugendlichen konsumiert, Cannabis von 8,1 Prozent und Beruhigungsmittel von 3,6 Prozent der Jugendlichen. So genannte harte Drogen wurden nicht konsumiert. Auch Verhaltenssüchte wie Glücksspiel spielten keine Rolle.

    Abb. 2: Suchtmittelkonsum (Angabe in Prozent) in den letzten 30 Tagen, Angaben der Bezugsbetreuer/innen

    Cannabiskonsum

    Tabelle 4 stellt die Antworten der Bezugsbetreuer/innen zum Cannabiskonsum der Jugendlichen dar. Interessant sind sie im Vergleich zu den Ergebnissen einer Befragung von gleichaltrigen Schüler/innen in Frankfurt am Main (N = 1.509). Laut Angaben der Bezugsbetreuer/innen und soweit bekannt konsumieren die umA seltener Cannabis (7,8 Prozent) als Frankfurter Schüler/innen (23 Prozent; vgl. Werse et al. 2016).

    Tab. 4: Cannabiskonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Alkoholkonsum

    Zieht man die Vergleichszahlen zum Alkoholkonsum heran, ergibt sich das in Tabelle 5 dargestellte Bild:

    Tab. 5: Alkoholkonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Auffällig ist hier, dass nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den Einrichtungen von JJ 61,4 Prozent der Jugendlichen keinen Alkohol konsumieren, wohingegen in der herangezogenen Vergleichsstichprobe (Schüler/innen aus Frankfurt/Main) nur 43 Prozent angeben, keinen Alkohol zu konsumieren.

    Vorfälle aufgrund von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln

    Im Fragebogen sollten die Fachkräfte angeben, ob es seit Betreuungsbeginn Vorfälle aufgrund des Konsums von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln gegeben hat, was bei 23 Prozent der Jugendlichen der Fall war (vgl. Tab. 6).

    Tab. 6: Vorfälle aufgrund von Suchtmittelkonsum seit Betreuungsbeginn

    Bei der Betrachtung aller umA, die durch Vorfälle im Zusammenhang mit Alkohol oder illegalen Suchtmitteln in der Einrichtung auffällig wurden, ergeben sich signifikante Unterschiede in den Kategorien Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung. Bei ihnen wurden Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung als noch nicht ausreichend eingeschätzt.

    Die Gruppe der Konsumierenden

    Um herauszufinden, ob die Gruppe der Suchtmittel-Konsument/innen Besonderheiten aufweist, wurde ein Gruppenvergleich vorgenommen: Als Konsumierende wurden diejenigen klassifiziert, die laut Bezugsbetreuung in den letzten 30 Tagen einmalig oder mehrfach Cannabis konsumiert haben und/oder öfter als einmal – d. h. wöchentlich oder mehrfach wöchentlich – Alkohol konsumiert haben (n=21). Als Vergleichsgruppe wurden diejenigen herangezogen, bei denen kein Cannabiskonsum vorliegt und die während der letzten 30 Tage höchstens einmal Alkohol getrunken haben (n=117; von diesen 117 umA haben 106 während der letzten 30 Tage gar keinen Alkohol getrunken, elf haben während der letzten 30 Tage einmal Alkohol getrunken). Folgende Unterschiede konnten festgestellt werden:

    • Herkunftsland: 76,2 Prozent der Konsumierenden kommen aus Afghanistan. Der Anteil der Afghanen ist auch in der Vergleichsgruppe hoch, aber mit 49,6 Prozent deutlich geringer.
    • Geschlecht: Der Frauenanteil ist in der gesamten Stichprobe gering, die Gruppe der Konsumierenden besteht jedoch ausschließlich aus männlichen umA. Die sechs weiblichen umA befinden sich allesamt in der Vergleichsgruppe. Auch wenn es sich um eine geringe Anzahl handelt
    • Dauer des Aufenthalts in Deutschland: Die Konsumierenden leben seit durchschnittlich 26 Monaten in Deutschland, die anderen erst seit 19,1 Monaten.
    • Suizidgedanken: Von den Konsumierenden hatten 46 Prozent einmal oder mehrfach Suizidgedanken. In der Vergleichsgruppe ist der Anteil der umA, die Suizidgedanken hatten, mit 15 Prozent deutlich geringer.
    • Selbstverletzendes Verhalten: Von den Konsumierenden zeigten 10 Prozent einmal und 19 Prozent mehrfach selbstverletzendes Verhalten (zusammen: 29 Prozent). In der Vergleichsgruppe waren es 5 Prozent (einmal) und 8 Prozent (mehrfach), zusammen waren es 13 Prozent.
    • Psychotherapeutische Behandlung seit der Aufnahme in der Einrichtung: Die Konsumierenden haben seit Betreuungsbeginn häufiger eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen: 45 Prozent vs. 27 Prozent.

    EVAS-Dokumentation

    Hierbei zeigen erste Messungen positive Entwicklungen in verschiedenen Bereichen. Der Anteil der Jugendlichen, die gut, sehr gut bzw. fließend Deutsch sprechen, erhöht sich innerhalb des ersten Betreuungsjahres von 15,2 Prozent auf 54,8 Prozent. Ebenso verbessert sich die Bleibeperspektive, was sich günstig auf die gesamte Betreuung auswirkt: Während zu Beginn der Maßnahme bei nur drei Prozent der Jugendlichen eine Anhörung bei der zuständigen Behörde schon erfolgt war und nur bei 6,3 Prozent ein Bescheid bereits vorlag, ist zum Hilfeende bei 21,4 Prozent eine Anhörung erfolgt und bei 16,7 Prozent liegt ein Bescheid vor. Bei 59,5 Prozent ist zum Hilfeende die „Aktenanlage erfolgt / Asylanatrag gestellt“.

    Mit der Ressourcenskala, die im EVAS-Dokumentationssystem zentral ist, werden verschiedene soziale, kommunikative und gesundheitliche Fähigkeiten des jeweiligen Jugendlichen eingeschätzt und abgebildet. Die Ressourcen der Jugendlichen konnten gestärkt werden. Besonders deutlich ist die Verbesserung in den folgenden Bereichen:

    • Soziale Integration (Fähigkeit, Freundschaften und Beziehungen zu pflegen oder Verantwortung in Gruppen zu übernehmen)
    • Selbstkonzept und Selbstsicherheit (Selbstbewusstes Bewältigen von Lebensaufgaben unter Berücksichtigung der eigenen Interessen)
    • Soziale Attraktivität (Beliebtheit bei Gleichaltrigen, Körperkonzept, Modeorientierung)

    Befragung der Jugendlichen mit dem SDQ

    Mit dem Fragebogen „Strengths and Difficulties Questionnaire“( SDQ) wurden die Jugendlichen selbst befragt. Der SDQ soll Auskunft über emotionale und verhaltensspezifische Stärken und Schwächen liefern. Für ihn liegen den Autoren keine Normwerte oder Vergleichswerte einer deutschen Normpopulation Jugendlicher vor. Zudem ist das Instrument mit methodischen Mängeln versehen, die Zurückhaltung bei der Interpretation notwendig machen (z. B. dreistufiges Nominalskalenniveau). Die Autoren haben den Fragebogen einerseits eingesetzt, da er in verschiedenen Übersetzungen vorlag, was eine Bearbeitung auch bei noch fehlenden Deutschkenntnissen ermöglicht und die laut hinzugezogener Dolmetscher/innen sorgfältig vorgenommen wurden, und andererseits, um Hinweise auf deutliche Besonderheiten zu erhalten.

    Als Vergleichsstichprobe wurden 27 Jugendliche einbezogen, die zum Erhebungszeitpunkt in der stationären Rehabilitationseinrichtung „Therapeutische Einrichtung Eppenhain“ wegen einer diagnostizierten Suchterkrankung behandelt wurden.

    Die Unterschiede in den Subskalen „Emotionale Probleme“, „externalisierende Verhaltensauffälligkeiten“, „Probleme mit Gleichaltrigen“ und „Prosoziales Verhalten“ sind nicht signifikant, was vor dem Hintergrund zu betrachten ist, dass die Vergleichsstichprobe eine klinische Stichprobe (Drogenabhängigkeit) ist. Nur in der Subskala „Hyperaktivität“ bestehen deutliche Unterschiede. Die umA erreichen deutlich geringere Hyperaktivitätswerte als die Vergleichsgruppe. Dieses Ergebnis lässt sich sinnvoll interpretieren, da für die meisten suchtmittelabhängigen Jugendlichen zusätzlich eine ADHS-Diagnose vorliegt.

    Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

    Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mehrzahl der umA, die in den stationären Jugendhilfeeinrichtungen von JJ betreut werden, belastende Erfahrungen im Herkunftsland gemacht haben und in Deutschland vielfachen Anforderungen und Unsicherheiten gegenüberstehen. Es gelingt den meisten umA, in den Jugendhilfeeinrichtungen aktiv mitzuwirken, soziale Netzwerke aufzubauen, regelmäßig die Schule zu besuchen, Deutsch zu lernen und Suchtmittel nicht bzw. nicht in riskanter oder schädigender Weise zu konsumieren.

    Es gibt jedoch nach Einschätzung der Bezugsbetreuer/innen auch Jugendliche, deren emotionale Stabilität und Selbstfürsorge als nicht ausreichend eingeschätzt werden, die selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität zeigen oder im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum auffallen. Es liegen Zusammenhänge zwischen zurückliegenden Erfahrungen und aktuellen Problembewältigungsmustern vor.

    Obwohl es deutliche Hinweise auf Traumata gibt, nimmt die Mehrheit der Jugendlichen zu Beginn der Behandlung keine regelmäßigen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsangebote wahr, was damit zusammenhängen könnte, dass zu Beginn der Betreuung andere Probleme, wie z. B. die Frage des Aufenthalts, dominieren.

    Der Kontakt zu Freunden und Angehörigen hat einen messbaren Einfluss auf die aktuelle Lebenssituation und die Zukunftsängste in Deutschland. Außerdem zeigte sich, dass es einen Zusammenhang zwischen „Angehörige in Deutschland“ und „emotionale Stabilität“ gibt: Jugendliche, die Angehörige in Deutschland haben, erzielen höhere Werte bei der Zielerreichung im Bereich „emotionale Stabilität“. Das Gleiche gilt für die Befähigung zur Konfliktbewältigung.

    Der Kontakt zu Angehörigen – in Deutschland oder im Herkunftsland – hat positive Auswirkungen auf die Jugendlichen, weshalb sie darin unterstützt werden sollten, den Kontakt zu pflegen und aufrechtzuhalten.

    Suchtmittel sind Thema in der Betreuung, jedoch in der gegenwärtigen Situation zunächst nicht das dominierende Problem, auch wenn der Suchtmittelkonsum durchaus in Teamsitzungen und Gesprächen mit den Jugendlichen eine Rolle spielt. Durch die im Abschnitt „Suchtmittelkonsum“ beschriebenen Ergebnisse lässt sich veranschaulichen, dass die Dauer der Flucht einen Einfluss auf das Ausmaß des Cannabiskonsums der Jugendlichen hat. Auffällig ist, dass die hohen Werte im Bereich „Vorfälle mit Suchtmitteln oder Alkohol in der Einrichtung“ nicht gedeckt werden von den konkreten Benennungen zum Suchtmittelkonsum durch die Fachkräfte. Dies ist ein Hinweis darauf ist, dass der tatsächliche Konsum möglicherweise höher ist als der bekannte.

    Schlussfolgerungen für die Praxis

    Ein Teil der  unbegleiteten minderjährigen bzw. jungen Ausländer/innen leidet an psychischen Erkrankungen, viele werden noch nicht entsprechend behandelt. Sowohl das Gesundheitssystem als auch die Suchthilfe sind gefordert, entsprechende Konzepte für die Behandlung von umA anzuwenden bzw. weiterzuentwickeln. Vielen umA ist das deutsche Versorgungssystem nicht bekannt, und viele der hiesigen Angebote sind im Herkunftsland unbekannt. Deshalb gibt es in den Einrichtungen von  Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. z. B. suchtspezifische Informationsangebote in den umA-Einrichtungen sowie Suchtberatungsstellen mit Angeboten für Geflüchtete, die unterschiedlich gut angenommen werden.

    Für einen Einstieg in den deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind das Erlernen der deutschen Sprache sowie das Erreichen eines Schulabschlusses entscheidende Voraussetzungen. Hinsichtlich der schulischen Vorbildung und der sprachlichen Kenntnisse haben die Jugendlichen ungleiche Ausgangslagen. Dementsprechend benötigen sie unterschiedliche, flexible und ihrer individuellen Ausgangslage gerecht werdende Unterstützungsangebote. 

    Suchtmittelkonsum spielt im Betreuungsalltag eine Rolle, ist für die Mehrheit der Jugendlichen jedoch kein vordringliches Problem. Es stehen zunächst andere Probleme im Vordergrund. Zudem fällt das Reden über Suchtmittelkonsum oftmals schwer, z. B. weil das Thema Sucht schambesetzt ist oder Suchtmittelkonsum im Herkunftsmilieu als Sünde gilt. Hier helfen Prävention und Aufklärung. Informationsorientierte Suchtpräventions­veranstaltungen sind sinnvoll, auch um weiterführende (möglicherweise unbekannte) Unterstützungsangebote transparent und zugänglich zu machen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass diese von vielen Jugendlichen angenommen und mit Interesse verfolgt werden. Im Falle derjenigen Jugendlichen, die regelmäßig konsumieren, kommt es darauf an, ein Problembewusstsein zu schaffen und ihnen das Suchthilfesystem gegebenenfalls überhaupt erst näher zu bringen.

    Aufgrund der Gegebenheiten in der Jugendhilfe (z. B. Ausgangsregelungen) ist bei einem Gutteil der Jugendlichen unklar, ob und in welchem Umfang sie Suchtmittel konsumieren, auch wenn die Bezugsbetreuer/innen meist eine sehr enge Arbeitsbeziehung zu den Betreuten haben. Daher plant der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe im nächsten Jahr eine Befragung der Jugendlichen zu ihrem Suchmittelkonsum.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Sabine Köhler
    Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin
    Villa Anna – Stationäre Jugendhilfe-Einrichtung, Eppstein
    Theodor-Fliedner-Weg 5
    65817 Eppstein
    sabine.koehler@jj-ev.de
    Tel. 069/06198 5746-0

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13 

    Literatur
    • Donath, C., Gräßel, E., Baier, D., Hillemacher, T. (2013). The prevalence of suicidal thoughts and attempts in a representative sample of German adolescents. Vortrag am XIV. International Congress of the International Federation of Psychiatric Epidemiology: 6. Juni 2013. Leipzig
    • Kunz, D., Schneider, D. (2017). Flucht und Sucht, in: SuchtAktuell, Heft 02.17, https://www.sucht.de/heft-22017-746.html
    • Lohbeck, A., Schultheiß, J., Petermann, F., Petermann, U. (2005). Die deutsche Selbstbeurteilungsversion des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ-Deu-S). Diagnostica, 61, 222-235. Online (2015): https://econtent.hogrefe.com/doi/full/10.1026/0012-1924/a000153
    • Müller, S., Gelbrich, K. (2014): Interkulturelle Kommunikation. München: Vahlen
    • Oberg, K. (1960): Culture Shock: adjustment to new cultural environment. Practical Antropology 7, 177-182. In: Erll, A. & Gymnich, M. (2013): Interkulturelle Kompetenzen. Stuttgart: Klett
    • Reker, J., Grosse, J. (2010). Versteh mich nicht falsch! Gesten weltweit. Das Handbuch. München: Bierke
    • Teismann, T., Koban, C., Illes, F. & Oermann, A. (2016). Psychotherapie suizidaler Patienten. Göttingen: Hogrefe.
    • Werse et al. (2016). Jahresbericht 2015 Monitoring System Drogentrends. Frankfurt am Main: 2016
  • „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    Iris Otto
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

    Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.

    Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.

    Betreuungsplätze und Fallzahlen

    Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.

    Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung

    Betreuungsangebote

    Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.

    Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen

    Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern  (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).

    Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern

    Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:

    • Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
    • Frühförderstelle
    • Kinderarzt oder Kinderklinik
    • Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
    • Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
    • Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
    • Ergotherapie oder Logopädie

    Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).

    Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.

    Personalausstattung

    Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.

    Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.

    Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz

    Finanzierung

    Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)

    Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.

    Ausblick

    Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.

    Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:

    • Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
    • Kindgerechtes Notfallmanagement (Notfallversorgung, Kinder-Reanimationsmaske etc.)
    • Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
    • Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
    • Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
    • Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
    • Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
    • Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt

    Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.

    Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.

    Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen:
    Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.

  • Sucht bei Kindern und Jugendlichen

    Wie kann verhindert werden, dass Kinder und Jugendliche Suchtverhalten entwickeln? Und wie kann die therapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Suchtstörungen verbessert werden? Antworten auf diese Fragen wollen Psychologen, Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychiater in einem neuen Forschungsverbund finden, der vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen im Kindes- und Jugendalter (DZSKJ) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) geleitet wird. Der Startschuss für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 3,6 Millionen Euro geförderten Vorhaben erfolgte am 1. Dezember.

    „Suchtstörungen tragen maßgeblich zur Krankheitslast in entwickelten Gesellschaften bei und stellen ein erhebliches Entwicklungsrisiko für Kinder und Jugendliche dar“, erklärt Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des DZSKJ und Koordinator des neuen Projekts. Trotz wissenschaftlicher Fortschritte im Verständnis über die Entstehung von Suchtstörungen seien die Effekte von Prävention und Behandlung der Suchtstörungen vergleichsweise gering. „Notwendig sind deshalb wirkungsvolle, an neuen Erkenntnissen orientierte Interventionsmaßnahmen.“ Konkrete Ziele des Forschungsvorhabens sind die Entwicklung kindgerechter Versorgungsansätze für psychische Störungen, die Erforschung prägender Einflüsse auf die Gesundheit und die jeweilige Krankheit sowie die Entwicklung von Risikogruppen-bezogenen Präventionsansätzen.

    Das Verbundprojekt mit dem Namen „IMAC-Mind“* wird vom BMBF im Rahmen der „Förderinitiative Gesund – ein Leben lang“ für vier Jahre mit insgesamt 3,6 Millionen Euro gefördert, knapp 1,1 Millionen Euro davon gehen ans DZSKJ. Beteiligt sind sieben Institute: neben dem UKE das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die Uniklinik Erlangen-Nürnberg, die Katholische Hochschule Köln, die Universitätsmedizin Rostock, die Uni Bochum sowie das Institut für Therapieforschung in München. Die Fäden des Gesamtprojekts laufen in Hamburg zusammen: „Wir freuen uns und sind stolz, dieses wichtige Projekt zu koordinieren“, sagt Prof. Thomasius. „Und es zeigt auch, welch bedeutsame Rolle das DZSKJ bei Suchtfragen im Kindes- und Jugendalter innehat.“ Das Wissenschaftler-Team will jetzt zielgruppenspezifische und entwicklungsangepasste Interventionen sowohl für Jugendliche mit ersten psychopathologischen Symptomen als auch für stationär behandelte Jugendliche mit Substanzgebrauchsstörungen entwickeln. Ein weiteres im UKE angesiedeltes Teilprojekt hat die Aufgabe, die Forschungsarbeiten aller Teilprojekte methodisch und statistisch zu begleiten. Dies erfolgt im Institut für Medizinische Biometrie und Epidemiologie.

    Weitere Projekte zur Alkoholprävention bei Kindern und Jugendlichen, an denen das DZSKJ beteiligt ist, sind das internationale, von der Europäischen Kommission unterstützte Vorhaben „Localize it!“, der vom BMBF-geförderte Forschungsverbund „Pro-HEAD“ und ein von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unterstütztes Projekt, das sich mit Gesundheitsförderungs- und Präventionsansätzen bei Kindern aus suchtbelasteten Familien befasst.

    * IMAC-Mind: Improving Mental Health and Reducing Addiction in Childhood and Adolescence through Mindfulness: Mechanisms, Prevention and Treatment; auf Deutsch: Verbesserung der psychischen Gesundheit und Verringerung von Suchtgefahr im Kindes- und Jugendalter durch Achtsamkeit: Mechanismen, Prävention und Behandlung

    Pressestelle des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), 30.11.2017