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  • Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Stefanie Bötsch

    Die mediale Aufbereitung des Konsums psychoaktiver Substanzen prägt für einen Großteil der Allgemeinbevölkerung das Bild von konsumierenden Menschen und Sucht. Vor allem der Konsum illegalisierter Substanzen wird häufig in Verbindung mit Kriminalität, sozialen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Problemen dargestellt (Hughes et al. 2011) und trägt somit einen beachtlichen Teil zur Stigmatisierung konsumierender Menschen bei.

    Um dem Stigmatisierungsprozess entgegenzuwirken, können auf der einen Seite Journalist:innen mit Fachwissen, das durch Interviews oder Hintergrundgespräche vermittelt wird, bei ihrer Recherche unterstützt werden. Auf der anderen Seite hat die professionelle Suchthilfe die Möglichkeit, selbst mit attraktiven und zielgruppengerechten Angeboten die breite Aufklärung in die Hand zu nehmen und somit vollständig den Einfluss auf die Inhalte zu behalten. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, eignen sich hier vor allem digitale Angebote. Allerdings bringt die digitale Aufklärungsarbeit über psychoaktive Substanzen einige Hürden mit sich, die berücksichtigt werden müssen. In diesem Artikel werden diese Herausforderungen beleuchtet und praxisnahe Einblicke anhand des Psychoaktiv-Podcasts gegeben.

    Das bietet der Psychoaktiv-Podcast

    Der Psychoaktiv-Podcast wird seit 2020 von der Suchttherapeutin und Sozialarbeiterin Stefanie Bötsch produziert. In Substanzkundefolgen werden unterschiedliche psychoaktive Substanzen porträtiert, während in den anderen Folgen Themen aus den Bereichen Substanzgebrauchsstörung, Drogenpolitik, Safer Use oder Suchttherapie behandelt werden. Regelmäßig sind auch Expert:innen aus Forschung und Praxis zu Gast und berichten über ihr jeweiliges Fachgebiet. Ziel des Podcasts ist es, nicht nur wissenschaftsbasierte Inhalte rund um psychoaktive Substanzen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sondern auch die professionelle Suchthilfe nahbarer zu machen, um Menschen den Weg in die Suchtberatung bei Bedarf zu erleichtern.

    Der Podcast erreicht aktuell ca. 100.000 Menschen im Monat. Die Zuhörerschaft besteht sowohl aus Konsumierenden und Angehörigen als auch aus Fachpersonal. Begleitend werden Beiträge auf Social Media (Instagram und TikTok) erstellt.

    Digitale Angebote nicht nur für Jugendliche!

    Wenn in der Suchthilfe ein Angebot geplant wird, ist eine der ersten Fragen, welche Zielgruppe man überhaupt erreichen möchte. Vor allem bei digitalen Angeboten stehen häufig Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus. Für die Plattform TikTok ergibt das sicherlich Sinn. Bei der ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2023 gaben 41 Prozent der 14- bis 29-Jährigen an, TikTok mindestens einmal pro Woche zu nutzen, während nur noch 18 Prozent der 30- bis 49-Jährigen TikTok wöchentlich nutzen. Auf Instagram sind jedoch auch Altersgruppen über 30 häufiger vertreten. Zwar sind die Jungen die größte Gruppe, 79 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nutzen die Plattform wöchentlich, aber auch 46 Prozent der 30- bis 49-Jährigen sind mindestens ein Mal die Woche auf Instagram aktiv (Koch, 2023).

    Vor allem bei Podcasts lohnt sich die Überlegung, bewusst auch eine ältere Zielgruppe anzusprechen. 45,9 Prozent der 14- bis 29-Jährigen hören Podcasts und sind damit auch hier die Altersgruppe, die am stärksten vertreten ist. Allerdings zeigt die Studie „Online-Audio-Monitor (OAM) 2023“ bei dieser Altersgruppe einen absteigenden Trend, während bei den Altersgruppen 30 bis 49 Jahre und 50+ seit 2021 eine steigende Tendenz zu beobachten ist, wie in Abbildung 1 zu sehen ist (mindline media GmbH, 2023).

    Abb. 1: Regelmäßige Nutzung von Podcasts und Radiosendungen zum Nachhören. Eigene Darstellung nach mindline media GmbH (2023)

    Auch in der Altersverteilung der Hörer des Psychoaktiv-Podcasts lässt sich erkennen, dass über die Hälfte zwischen 35 und 54 Jahre alt ist. Den geringsten Anteil machen die 18- bis 24-Jährigen und die Altersgruppe über 65 Jahren aus (s. Abb. 2). Jetzt könnte sich die Annahme aufdrängen, dass dies daraus resultiert, dass der Podcast auch vermehrt von Fachpersonal gehört wird. Es ist zwar nicht möglich, diese Annahme komplett zu widerlegen, anhand von privaten Rückmeldungen aus der Zuhörerschaft wird jedoch deutlich, dass die stark vertretene Altersgruppe 35 bis 54 Jahre auf jeden Fall nicht nur von Fachpersonal ausgefüllt wird.

    Abb. 2: Altersverteilung im Psychoaktiv-Podcast vom 04.07.2023 bis 04.07.2024. Eigene Darstellung

    Hürden bei der digitalen Wissenschaftskommunikation

    Bei Aufklärungsarbeit zu psychoaktiven Substanzen und Sucht auf Instagram, TikTok oder auch YouTube kommt es häufig zu dem Problem, dass diese Plattformen Beiträge zu diesen Themen entweder in ihrer Reichweite drosseln oder entfernen. Ferner, und für die klassische Aufklärungsarbeit nicht ganz so wichtig, können diese Themen auch von Monetarisierungsprogrammen ausgeschlossen werden. Aus diesem Vorgehen der Plattformen ziehen die Creators (die Ersteller:innen der Inhalte) unterschiedliche Konsequenzen. Um die Themen trotzdem ansprechen zu können, werden entweder andere Begriffe verwendet (sehr bekanntes Beispiel ist der Begriff „Brokkoli“ anstatt Cannabis) oder drogenspezifische Stichworte z. B. durch einen Piep-Ton ersetzt. So wird es für Algorithmen schwieriger, die Inhalte zu erkennen, und die Inhalte können sich verbreiten.

    Ein Beispiel aus der Praxis: Auf der TikTok-Seite des Psychoaktiv-Podcasts werden seit acht Wochen Kurzvideos erstellt. In dieser Zeit werden drei Videos von TikTok gesperrt, und der Kanal wird mit Warnungen versehen (ab zwei Warnungen wird das komplette Profil gelöscht). Weitere zwei Videos werden von der Reichweite her erheblich gedrosselt. Auf Widerspruch der Produzentin werden all diese Maßnahmen zurückgenommen, und eine Löschung des Kontos kann verhindert werden. TikTok zeigt sich zumindest sehr transparent dahingehend, welche Konsequenzen bei Verstoß gegen die Community Richtlinien angewendet werden, und bietet eine niedrigschwellige Möglichkeit des Widerspruchs. Trotz des aktiven Vorgehens von Seiten TikToks gegen den Inhalt auf der Psychoaktiv-Seite haben einige Videos eine hohe bis virale Reichweite erreicht.

    An dieser Stelle zeigt sich der große Vorteil von Podcasts, wenn es um die Wissenschaftskommunikation rund um psychoaktive Substanzen geht. Podcasts werden über einen RSS-Link auf unterschiedliche Podcast-Plattformen verteilt. Die Macht einzelner Plattformen ist dadurch deutlich reduziert, da diese bei Podcasts keine Monopolstellung einnehmen. Zwar nutzen die unterschiedlichen Plattformen auch Algorithmen, z. B., um ihre Charts zu generieren, doch es scheint, dass inhaltliche Einschränkungen nur sehr begrenzt angewendet werden. Auf Anfrage von Seiten des Psychoaktiv-Podcasts bei Spotify gibt die Plattform an, keine inhaltsbezogene Reichweitendrosselung vorzunehmen.

    Chancen und Risiken einer digitalen Community

    Wenn ein Podcast, ein Instagram- oder TikTok-Account oder ein YouTube-Kanal wächst, steigt in der Regel auch die Interaktion mit den Nutzer:innen. Dann bietet es sich an, eine Brücke zu einem professionellen Hilfeangebot zu bauen, seien es digitale Kurzinterventionen, Motivationsarbeit, Onlineberatung oder Ähnliches. Auch kann es sein, dass die Community anfängt, sich untereinander zu unterstützen, und somit eine digitale Selbsthilfe rund um das Format entsteht.

    Die Kehrseite der Medaille kann jedoch darin bestehen, dass es zu konsum- und drogenverherrlichendem Verhalten, Werbung für den Kauf illegalisierter Substanzen oder abwertenden Kommentaren gegenüber konsumierenden Menschen kommen kann. Vor allem, wenn ein Beitrag viral geht, kann es in kurzer Zeit zu einer hohen Anzahl an Kommentaren kommen, die kontrolliert und sortiert werden müssen. Für ein erfolgreiches Community-Management gilt es dementsprechend, vorab zu planen, wie mit unterschiedlichen Situationen umgegangen werden kann und welche eigenen Community-Regeln man bei den Kommentaren anwenden möchte.

    Da Podcasts auf zahlreichen Plattformen publiziert werden und Interaktionsmöglichkeiten nur eingeschränkt und auch nicht auf jeder Plattform vorhanden sind, verschiebt sich die Interaktion mit der Zuhörerschaft in der Regel auf andere begleitende Plattformen wie z. B. Instagram. Dies erschwert es, mit dem Endkonsumenten/der Endkonsumentin in Kontakt zu treten, und kann eine Hürde für die Bildung einer interaktiven Community darstellen. Allerdings sind dann auch die Risiken deutlich geringer.

    Fazit

    Digitale Aufklärungsarbeit birgt viele Chancen – sei es die Reduktion von Stigmatisierung, die Werbung für die Suchthilfe oder die Möglichkeit, für unterschiedliche Altersgruppe passende Formate zu entwickeln. Trotz allem braucht vor allem die Aufklärung zu psychoaktiven Substanzen viel Fingerspitzengefühl, um gegen Algorithmen anzukommen, die darauf abzielen, Inhalte, die vermeintlich gegen Community-Richtlinien verstoßen, abzustrafen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Bötsch
    M.A. Suchttherapie und Sozialmanagement
    Produzentin des Podcasts „Psychoaktiv“
    Stefanie Bötsch | Der Podcast für Suchtprävention
    info@stefanieboetsch.de

    Quellen:
  • Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung oder einer verhaltensbezogenen Störung findet sich häufig eine „Multiproblemlage“ (z. B. Giersberg et al. 2015). Diese Konstellation erfordert es, Hilfe in verschiedenen Hilfekontexten anzubieten. Dafür stehen in einem konkreten regionalen Sozialraum in der Regel verschiedene Angebote bereit, die in der Lage sind bzw. extra dafür eingerichtet wurden, Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht zu unterstützen (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Suchthilfebezogene Angebote im kommunalen Raum (eigene Darstellung)

    Die in Abb. 1 genannten Unterstützungsangebote sind eine idealtypische Beschreibung. Sie agieren in Bezug auf die oben angesprochenen „Multiproblemlagen“ als (Sucht-)Hilfenetzwerk, zu dem auch die Angebote der Suchtselbsthilfe gehören. Die Fokussierung auf die Substanzkonsumstörung ist dabei mehr oder weniger explizit.

    Häufig stellen Angebote mit verschiedenen sozialrechtlichen Kontexten in einem regionalen Suchthilfesystem eine Sonderform für Menschen mit Suchterfahrungen – gemeint sind Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und Beeinträchtigungen sowie ihr soziales Umfeld – dar. Zu den unterschiedlichen sozialrechtlichen Kontexten gehören z. B. der versicherungsrechtliche Leistungsanspruch, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe oder Jobcenter. Diese Vielfalt führt dazu, dass je nach sozialrechtlichem Hintergrund die Logiken und Ressourcen, mit denen Menschen mit Substanzkonsumstörung erreicht werden sollen, recht unterschiedlich sind und dass häufig erstmal ein gemeinsames Fallverständnis konstruiert werden muss, um Unterstützungsleistungen tatsächlich, und nicht nur prinzipiell, zu ermöglichen (vgl. Blankenburg und Hansjürgens 2022) (dies gilt auch für andere Personengruppen mit interprofessionellem Unterstützungsbedarf, z. B. Krebspatient:innen). So besteht z. B. im sozialversicherungsrechtlichen Kontext der medizinisch orientierten Suchthilfe seit 1968 ein Rechtsanspruch auf Behandlung explizit für Personen mit einer Substanzkonsumstörung. Dies gilt jedoch nicht in allen Bereichen. So ist z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe, insbesondere nach der Neuordnung durch das BTHG, der Status von suchterfahrenen Menschen noch nicht in allen Bereichen geklärt und bringt für die unterstützende Organisation, z. B. beim Stellen notwendiger Anträge für die Leistungsgewährung, Unsicherheiten. Der Leistungsanspruch muss hier über ein spezifisches Konstrukt, z. B. Behinderung, begründet werden (vgl. Tranel und Hansjürgens 2022).

    Darüber hinaus gibt es weitere professionelle Hilfeangebote, für die zwar kein Antrag nötig ist, deren Mitarbeitende aber Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht nicht immer ohne Misstrauen begegnen (z. B. Jugendhilfe, komplementäre Hilfen, Jobcenter etc.). Nicht zu vergessen sind die Angebote der Selbsthilfe, die einer weiteren Logik folgen, nämlich der der Peer-Unterstützung und Genesungsbegleitung. Hier sind häufig informelle Zugänge und Logiken des Zugangs zu beachten.

    Funktion Suchtberatung als zentrale Schnittstelle für Vermittlung

    Um in dieser Komplexität eine passgenaue Hilfe für Betroffene und ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, fungiert die Suchtberatung als sektorenübergreifende Schnittstelle. Darin hat sie sich bis heute als unverzichtbar erwiesen (Hansjürgens und Schulte-Derne 2021). Eine ihrer in diesem Zusammenhang als zentral angesehenen Tätigkeiten ist die „Vermittlung“. Diese Vermittlung soll einerseits dazu dienen, passende Hilfeangebote für Personen zu finden bzw. Fehlallokationen (= falsche Zuordnungen) zu vermeiden (Gatekeeperfunktion), andererseits soll sie – bei einer grundsätzlich angenommenen Ambivalenz zur Annahme von Hilfen – die Motivation zur Annahme von Hilfen, insbesondere im medizinischen Kontext (Entzug und medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen), herstellen (Brückenfunktion und Motivierung) (Hansjürgens 2018).

    Dass dieses Unterfangen nicht trivial zu sein scheint, zeigt sich in bisher gescheiterten Versuchen, diese „Vermittlung“ aus administrativer Sicht weniger aufwendig zu gestalten, indem sogenannte bürokratische Hürden gesenkt wurden. Konzipiert wurde ein Verfahren mit der Bezeichnung „Direkt- oder Nahtlosvermittlungen“ aus dem medizinischen Sektor (z. B. Arztpraxen oder Krankenhäuser) in die medizinische Rehabilitation. Empirisch untersucht wurde der Versuch, Hausärzt:innen mit Hilfe evidenzbasierter Screening- und Kurzinterventionsverfahren und der Möglichkeit einer Direktvermittlung in stationäre Rehabilitation zu ermutigen, hier aktiver vorzugehen und einen neuen Behandlungspfad zu etablieren (Fankhänel et al. 2014). Dieser Versuch wurde im Rahmen der Studie als grundlegend gescheitert beurteilt (ebd.).

    Darüber hinaus zeigt die Deutsche Suchthilfestatistik, dass über alle Substanzen hinweg nur ein Prozent der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation aus ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, und 16,8 Prozent erfolgen aus psychiatrischen Krankenhäusern (möglicherweise aus dem Entzug) (IFT Institut für Therapieforschung 2022b, Tab. 2.11). Demgegenüber wurden aus Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung 54,3 Prozent der Personen, die eine Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen antraten, vermittelt (ebd.).

    Diese Datenlage gibt Anlass zu fragen, welche Plausibilitäten die gute Funktionalität der Leistung „Vermittlung“ der Suchtberatung gegenüber anderen Instanzen erklären können. Da Vermittlung in diesem Kontext zu einem weit überwiegenden Teil innerhalb der Leistung „Sucht- und Drogenberatung“ (IFT Institut für Therapieforschung 2022a, Tab. E 6) durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit angeboten wird, soll für den nachfolgenden Plausibilisierungsversuch die handlungstheoretische Perspektive Sozialer Arbeit eingenommen werden.

    Vermittlung als sozialarbeiterische Tätigkeit im Kontext von Suchtberatung

    Aus der Perspektive von Leistungsträgern wird Vermittlung häufig als formaler administrativer Akt verstanden, bei dem Klient:innen sowohl über prinzipiell zur Verfügung stehende Hilfeangebote informiert werden als auch handlungspraktische Unterstützung beim Erstellen der dafür notwendigen Anträge erhalten. Aus dieser Perspektive ist Vermittlung eine Art „Clearing- und Durchgangsstation“ mit vorbereitendem bzw. zuarbeitendem Charakter auf dem Weg zu einer „eigentlichen Leistung“. Die oben dargestellte empirische Datenlage zeigt jedoch, dass sich die Performanz von Vermittlung in der Suchtberatung allein über diese Sichtweise nicht plausibilisieren lässt. Um etwas handlungstheoretisches Licht in diese Blackbox zu bringen, soll hier eine Perspektivenerweiterung aus sozialarbeiterischer Sicht vorgenommen werden.

    Will man die oben beschriebene empirisch sichtbare Performanz von Suchtberatung in Bezug auf Vermittlung in stationäre Rehabilitation besser verstehen – was zu einer Erklärung des Erfolges durch die fachliche Leistung Sozialarbeitender führt –, kommen neben der administrativen Dimension mindestens noch drei weitere Dimensionen dazu (s. Abb. 2):

    Abb. 2: Multiperspektivischer Blick auf Vermittlung (eigene Darstellung)

    Suchtberatung zeichnet sich demnach durch folgende vier Dimensionen aus:

    • die administrative Perspektive: Information über bestehende Hilfeangebote, Unterstützung bei Antragstellung
    • die inhaltliche Perspektive: Themen, die zum Inhalt gemacht und verhandelt werden
    • die Beziehungsperspektive: das Geschehen zwischen den Akteur:innen (Klient:in und Sozialarbeiter:in)
    • die theoretische Perspektive: die Frage, wie sich das Geschehen im Rahmen der Vermittlung aus system- bzw. sozialarbeitstheoretischer Sicht erklären lässt

    Weiter ist zu fragen, in welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven zueinanderstehen und was dies für die Handlungsebene (Inhalt und Interaktion) einer sozialarbeiterischen Fachkraft bedeuten kann.

    Vermittlung als inhaltliches Geschehen

    Betrachtet man Vermittlung aus einer inhaltlichen Perspektive, stellt sich die Frage, welche Themen mit welcher Priorisierung verhandelt werden. Zunächst einmal wäre hier – mit Blick auf empirische Rekonstruktionen in der Suchtberatung (Hansjürgens 2014, 2018) und eine darauf Bezug nehmende handlungstheoretische Konzeptionalisierung – die sozialarbeiterische Fallkonstruktion (Hansjürgens 2022) zu nennen. Kernelement dieser Konstruktion ist, dass Klient:innen Raum gegeben wird bzw. gegeben werden sollte, sich und ihre aktuelle Situation klarer wahrzunehmen, zu verstehen und darüber sprechen zu können. Dadurch soll Klient:innen die Erfahrung ermöglicht werden, dass sie sich verständlich machen können und gehört werden. Dies hat häufig den Effekt, dass Klient:innen in einer möglicherweise für sie unübersichtlich gewordenen Situation wieder selbstwirksam agieren und das Gefühl von Kontrolle über Geschehnisse zurückbekommen und sich für Reflexionen öffnen können.

    Gleichzeitig werden in diesem erstmal primär auf die Darstellungen der Klient:innen ausgerichteten und manchmal wenig formal geordneten Verständigungsprozess häufig wichtige Detailinformationen gegeben (z. B. in Bezug auf die berufliche Situation, die familiäre Situation, die Wohnsituation). Diese Details mögen zwar in einem als administrativ verstandenen Vermittlungsprozess eine untergeordnete Rolle spielen, sind aber für die Klient:innen persönlich von hoher Bedeutung. Nicht selten geben diese Details wichtige Hinweise darauf, wie ein Angebot gestaltet sein müsste, damit es für den oder die spezifische:n Klient:in annehmbar ist. Darüber hinaus können diese Informationen Erklärungen für eine möglicherweise bisher ambivalente Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von Hilfen liefern. Eine ambivalente Haltung beruht nicht selten auf der oben erwähnten Multiproblemlage (existenzbedrohende materielle und soziale Umstände) und eher weniger darauf, dass der/die Klient:in die Hilfe nicht annehmen will.

    Diese prekäre Multiproblemlage drückt sich auch dadurch aus, dass die Klient:innen häufig nur (noch) wenig Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre soziale Situation haben (z. B. Partner:in droht mit Verlassen; Jugendamt, Jobcenter oder Gericht haben eine Suchthilfemaßnahme zur Auflage gemacht; Vermieter:in droht mit Kündigung usw.). Diese sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die eigene soziale Situation deuten neuere Konzeptionen als Mangel an Teilhabe (Bartelheimer et al. 2022, S. 26). Der Konsum psychoaktiver Substanzen wirkt in dieser Situation (genau wie bei psychischen Komorbiditäten) als kurzfristige Entlastung. Mittel- bzw. langfristig jedoch verstärkt sich die mangelnde Teilhabe durch das Konsumverhalten und es entwickelt sich eine Sucht.

    Diese Deutung und die Anerkennung, dass die soziale Situation als Belastung und akute Bedrohung erlebt wird, ermöglichen es, eine ambivalente oder ablehnende Haltung als Ausdruck der mangelnden Teilhabe zu verstehen, und nicht als Teil der Krankheit Sucht. Dies verändert die Perspektive auf den Fall insofern, als nicht die Substanzkonsumstörung oder Verhaltenssucht zuerst behandelt werden muss, um Teilhabe zu ermöglichen. Vielmehr kann durch die Erarbeitung von Wahloptionen im Rahmen des Vermittlungsprozesses, die sich auf verschiedene Bereiche und nicht nur auf ein Mitspracherecht bei der Einrichtungswahl beziehen können, erst ein Zugang zu subjektiv bedeutsamen Zielebenen in Bezug auf soziale Teilhabe geschaffen werden. Dies geht über eine Entwicklung von smarten Therapiezielen weit hinaus.

    Der Fokus auf die Selbstwahrnehmungen und Priorisierungen der Klient:innen ermöglicht es, die Situation des/der Klient:in noch genauer zu verstehen und im Dialog zu verdeutlichen, welche professionelle Unterstützung (z. B. durch eine Rehabilitation oder eine andere Maßnahme) Teilhabe wieder ermöglichen kann (vgl. Abb. 3). Hier ist es besonders wichtig, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern eine realistische subjektiv bedeutsame Zukunftsvision zu entwickeln, die mit Hilfe professioneller Unterstützung realisiert werden könnte. Empirische Untersuchen zeigen, dass diese Zukunftsvision im Rahmen eines professionellen Prozessbogens Sozialer Arbeit eine zentrale Grundlage für „Motivation“ darstellt (Sommerfeld et al. 2018, S. 79).

    Abb. 3: Perspektive auf den Fall aus Sicht Sozialer Arbeit in der Suchtberatung (eigene Darstellung)

    Ein weiteres wichtiges Thema auf der inhaltlichen Ebene, das entscheidend ist für eine Passung von Bedarfen, Wünschen und Angebot, ist die Synchronisation von bisheriger Lebensführung und Veränderung. Die Lebensführung von Klient:innen zeigt sich aufgrund der Multiproblemlage und der daraus entstandenen mangelnden Teilhabe oft ressourcenarm und damit wenig flexibel. Klient:innen haben sich an diese häufig lang andauernde Situation gewöhnt und deshalb nicht selten eine wenig flexible, eigensinnig wirkende Haltung entwickelt, die als Widerstand gegen Veränderung oder auch als Überforderung gedeutet werden könnte. Durch die Erzählung des/der Klient:in können sich wichtige Hinweise auf eine für ihn/sie als angemessen erlebte Synchronisation (Timing) ergeben.

    Synchronisation bedeutet hier, das richtige Zeitfenster für mögliche Veränderungen zu finden bzw. nicht zu verpassen – nicht nur in Bezug auf das Antrittsdatum einer weiterführenden Maßnahme, sondern auch in Bezug auf Veränderungen in der Lebensführung (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Auszug des/der Partner:in, andere bedeutsame Ereignisse im Leben des/der Klient:in). Synchronisation bedeutet, achtsam zu sein und jedes Mal im Vermittlungsprozess gemeinsam zu überlegen, was die mögliche Veränderung für die Annahme einer weiterführenden Hilfe bedeuten könnte. Grundsätzliche Optionen könnten sein, eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung anzuregen oder ein passives Zuwarten auszuhalten, aber den /die Klient:in im Prozess zu halten. Dies erfordert eine achtsame, verstehensorientierte und geduldige Haltung der beratenden Person und bietet gleichzeitig für Klient:innen die erforderliche Sicherheit, in einer unsicheren Situation nicht aus dem Kontakt zu gehen.

    Aus der inhaltlichen Perspektive betrachtet entsteht die Motivierung bzw. die Ermutigung zum Wahrnehmen einer professionellen Unterstützung, z. B. einer Behandlung, dann, wenn für Klient:innen deutlich wird, dass sie in ihrer ganz persönlichen Situation gesehen werden, sich verständlich machen können, eine konkrete, für sie wahrnehmbare Unterstützung in der Bewältigung der aus ihrer Perspektive bedeutsamen Probleme erfahren und tatsächliche Wahlmöglichkeiten erhalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Diskussion einer gemeinsam getroffenen Auswahl von Handlungsoptionen, die aus der Perspektive der Klient:innen machbar erscheinen, wozu auch Bemühungen um ein gutes Timing (Synchronisation) gehören, eine (manchmal sehr langsam) wachsende Zuversicht stärken kann. Dieses Vorgehen sorgt zugleich dafür, dass Teilhabe ermöglicht und erfahren werden kann.

    Ein solches partizipatives, dialogisches Vorgehen verlangsamt den Vorgang einer Vermittlung mit zwei Zielen. Das erste Ziel besteht in der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des/der Klient:in bezüglich einer häufig unter äußerem Druck getroffenen Entscheidung. Das zweite Ziel besteht darin, dass der/die Klient:in genug Zeit bekommt, um eine selbstverantwortete gute Wahl in Bezug auf Zeit und Ort einer weiterführenden Hilfe zu treffen. Letzteres erhöht die intrinsische Motivation, weil die eigene bewusst getroffene Entscheidung im Vordergrund steht, und nicht die Erfahrung des Getriebenseins. Zudem schränkt es die Gefahr einer Fehlallokation ein.

    Vermittlung als beziehungsorientiertes Geschehen

    Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet, geht es im Rahmen von Vermittlung neben inhaltlichen Aspekten auch um Beziehungsaspekte, denn diese lassen sich nur analytisch, aber nicht in der Realität voneinander trennen. Eine Beziehung entwickelt sich immer, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf Einfluss nehmen (wollen) oder nicht. Eine Erfahrung des Scheiterns oder des „Nicht-Funktionierens“ einer Beziehung ist verbunden mit der Entwicklung von Misstrauen. Dies gilt ebenso für Erfahrungen des Überprüft-Werdens (z. B. in der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Maßnahme geeignet scheint), denn Menschen mit einer Substanzkonsumstörung waren solchen Erfahrungen in der Vergangenheit häufig ausgesetzt. Ob dies seine Berechtigung hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn die Erfahrung und Bewertung einer Situation ist davon unabhängig.

    Hinzu kommt, wie die Stigma-Forschung aus dem medizinischen und alltagsweltlichen Kontext zeigt, dass Menschen mit einer Substanzkonsumstörung mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird (Schmidt et al. 2022; Schomerus 2011; Schomerus et al. 2010). Auch im Kontext von Familien- und Jugendberatung konnte gezeigt werden, dass die Kommunikation im Zusammenhang mit einem als süchtig konnotierten Verhalten von Jugendlichen durch eine „Hermeneutik des Misstrauens“ (Cleppien 2012) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schilderungen von Personen mit substanzbezogenen Störungen nicht selten als nicht wahrheitsgemäß oder verlässlich gedeutet werden.

    Für den Kontext von Vermittlung als beziehungsorientiertem Geschehen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass Klient:innen eher nicht mit einem generalisierten Vertrauen oder mit einer neutralen Einstellung in die vermittelnde Institution, z. B. die Suchtberatung, kommen, sondern eher mit der Erfahrung des Misstrauens – es sei denn, sie hätten z. B. im Rahmen der Organisation oder Institution von Suchthilfe schon einmal vertrauensfördernde Erfahrungen gemacht. Eine misstrauisch bewertete Beziehung hat jedoch die Tendenz, dass sich das Misstrauen der Beteiligten gegenseitig verstärkt, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Misstrauen in der Beziehung hat Auswirkungen auf die Qualität der inhaltlichen Aussagen. Dabei geht es nicht darum, dass Klient:innen bewusst falsche oder unzureichende Angaben machen, sondern darum, dass eine mit Vertrauen bewertete Beziehung sich darin zeigt, dass Klient:innen proaktiv mitarbeiten und benötigte Informationen auch geben (sich öffnen) und nicht zurückhalten oder sich gehemmt fühlen, sie zu geben, wie Arnold (2009, S. 182 f.) in einer Studie im Rahmen von stationärer Jugendhilfe herausgearbeitet hat. Vertrauen oder Misstrauen stellt sich nicht explizit, sondern eher subtil, als „interpersonelle Atmosphäre“ oder „wechselseitige leibliche Resonanz und Affektabstimmung“ her (Fuchs 2015, S. 104). Vertrauen kann also nicht erzwungen oder rationalisiert werden, sondern muss in der Interaktion erfahren werden, sozusagen als Gegenerfahrung zu bisher Erlebtem. Erschwerend kommt hinzu, dass Klient:innen mit einer Substanzkonsumstörung nicht selten unter zusätzlichen Störungen wie z. B. einer komplexen Traumatisierung, einer Borderlinestörung, einer Depression oder Angststörung leiden. Auch dieser Umstand wirkt sich aus, und es kann sich eine eher misstrauische als eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entwickeln.

    So wird plausibel, dass der Akt der Vermittlung nicht nur ein rationaler Prozess, ausgehend von objektivierbaren Bedarfen und Hemmnissen, ist, sondern auch zentraler Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2019). Die Unterstützung der Entwicklung in Richtung Vertrauen vor dem Hintergrund einer eher misstrauischen Alltags- und medizinischen/sozialen Fachwelt sowie einer psychischen Beeinträchtigung, die sich ebenfalls auswirkt, kann daher als explizit fachliche Leistung von Sozialarbeitenden beschrieben werden.

    Gelingt es den Fachkräften in den Beratungsstellen nicht, das bei den suchterfahrenen Personen in ihrer Vorgeschichte entstandene Misstrauen durch die sog. Beziehungsarbeit im Rahmen von Vermittlung zu wandeln, und entwickelt sich eine eher misstrauische Arbeitsbeziehung, führt dies zur gegenseitigen Ausübung von Macht. Klient:innen üben z. B. Macht aus, indem sie nicht die benötigten Informationen geben, sich nicht motiviert verhalten und letztlich nicht kooperieren, indem sie z. B. nicht zu Terminen erscheinen oder den Kontakt abbrechen. Dieses Verhalten wiederum bestärkt Fachkräfte in ihrer ebenfalls misstrauischen Einstellung gegenüber Klient:innen, sodass letztlich ein gegenseitiges Misstrauen entsteht.

    Folglich ist die oben angesprochene Teilhabe (siehe „Vermittlung als inhaltliches Geschehen“) kein ausschließlich normativer Aspekt, der sich administrativ auf ein „Wunsch- und Wahlrecht“ reduzieren ließe, sondern ein funktionaler: Teilhabe (in Form von ermöglichten und reflektierten Wahloptionen) stärkt Vertrauen, Vertrauen fördert Vermittlung. Vertrauensfördernd wirkt, wenn sich Klient:innen und Berater:innen verständigen zu können, wenn sie realistische Möglichkeiten miteinander erarbeiten, wenn ein transparenter Umgang mit administrativen Herausforderungen herrscht, wenn Klient:innen konkrete Unterstützung, Zeit, emotionalen Rückhalt und Sicherheit in Krisenphasen erfahren, wenn ein „Ankommen“ zunächst in der vermittelnden Organisation und dann in der Organisation, in die vermittelt wurde, möglich wird. Misstrauen wird erzeugt durch für Klient:innen intransparente administrative Überprüfungen, personellen Wechsel, unklare Verständigungsprozesse, die Erwartung einer einseitigen Anpassung und durch Versprechungen, die (gefühlt) nicht eingehalten werden. Organisationsinterne Abläufe im Kontext von Vermittlung sollten diesbezüglich reflektiert werden.

    Die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens vor dem Hintergrund der häufig durch Misstrauen geprägten Erfahrungen der Klient:innen ist eine wichtige Prämisse dafür, dass sich Klient:innen auf unbekanntes Terrain begeben, dass sie sich für professionelle Unterstützung entscheiden und der Übergang in eine andere oder erweiterte Hilfeform gelingen kann.

    Vermittlung aus system- und sozialarbeitstheoretischer Perspektive

    In einer empirischen Untersuchung beschreiben Sommerfeld et al. (2011) die Integration von Klient:innen in eine stationäre (psychiatrische) Einrichtung und auch das Heraustreten aus dieser zurück in das „normale“ Leben aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Phasenübergang“ zwischen zwei sozialen Ordnungen. Weiter konzipieren sie aus einer sozialarbeitstheoretischen Perspektive die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext als Begleitung und Unterstützung eines solchen Phasenübergangs. Sie konnten empirisch zeigen, dass in Fällen, in denen es gelingt, diese Übergänge gut durch eine Fachkraft zu begleiten, Veränderungsprozesse von Klient:innen stabilisiert werden und daher besser gelingen können. Dieser Effekt erklärt sich dadurch, dass Phasenübergänge viel Energie benötigen und die Menschen im Vorfeld und auch noch einige Zeit nach dem erfolgten Übergang besonders krisenanfällig sind. Die Krisenanfälligkeit nach dem Übergang kann dazu führen, dass Menschen in alte Verhaltensweisen „zurückfallen“, was gerade im Kontext einer Suchterkrankung ein bekanntes Phänomen nicht nur in Bezug auf den Konsum darstellt.

    Weiter konnten die Forschenden beobachten, dass sich Krisen im Zusammenhang mit Phasenübergängen ankündigen und auch noch nach dem erfolgten Übergang, den sie als „Sprung“ bezeichnen, eine Weile beobachtbar sind, z. B. durch stärkere Unruhe und Erregungszustand der Patient:innen. Gerade in der Phase des Übergangs entscheidet sich, ob die anvisierten Veränderungen auch unter anderen Kontextbedingungen aufrechterhalten werden können. Dieses Phänomen des Phasenübergangs ist aus posttherapeutischen Kontexten bekannt und wird in Suchtberatungsstellen strukturell durch z. B. Nachsorge aufgefangen. Neu wäre, diese theoretischen Erkenntnisse auch für eine prätherapeutische oder sonst wie geartete Veränderung im Rahmen von Vermittlung zu nutzen und konzeptionell einzubinden.

    Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive kann Vermittlung als Ermöglichung von Teilhabe an professionellen Hilfen betrachtet werden (Sommerfeld et al. 2016), die spezifische Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Erst dadurch, dass Klient:innen in einer für sie schwierigen Lage zunächst stabilisiert werden, um weitere Eskalationen zu verhindern, und dann auf eine Neujustierung ihrer psychosozialen und manchmal auch biologischen Situation (falls schon irreparable Schäden eingetreten sind) vorbereitet werden, können suchttherapeutische Hilfen wirken. Hierfür muss es gelingen, dass Klient:innen wieder Vertrauen in die Hilfe, aber auch in sich selbst, gewinnen und eine Idee davon entwickelt haben, was die Zukunft für sie bereithalten könnte, wenn sie sich auf das Angebot einlassen. Bei Menschen mit noch starken Ressourcen gelingt dies einfacher. Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben schon sehr eingeschränkt ist, brauchen dafür mehr und intensivere Unterstützung durch Sozialarbeitende in der Suchtberatung.

    Konzeptionelle und praktische Implikationen

    Phasenübergänge sind eine krisenanfällig Zeit und erfordern bei den Klient:innen viel Energie, um den „Sprung“ in eine neue soziale Ordnung zu vollziehen und diese auch aufrechtzuerhalten. Daher sollten diese Übergänge schon im Vorfeld engmaschig beobachtet und so lange begleitet werden, bis sich ein neues Ordnungsmuster (z. B. in einer suchtbezogenen Hilfe ankommen und diese nutzen) stabil etabliert hat. Vermittelt werden kann in verschiedenste professionelle Unterstützungsangebote und in Selbsthilfe. Damit Vermittlung erfolgreich ist, kann es notwendig werden, Klient:innen im Vorfeld der Nutzung weitergehender Unterstützungsmaßnahmen zu stabilisieren und auch ggf. Verhaltensänderungen zu erarbeiten, die notwendig sind, um dort „ankommen“ zu können (z. B. Termine verlässlich wahrnehmen, Konsum kontrollieren / Abstinenz einhalten). Die beidseitige Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung spielt dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus werden im Rahmen von Vermittlung zentrale inhaltliche Daten generiert, die es erst ermöglichen, dass eine weitergehende Maßnahme personenzentriert dialogisch mit dem / der Klient:in ausgewählt werden kann und somit Fehlallokationen mindestens eingeschränkt werden können.

    Auf der inhaltlichen Verfahrensebene bieten Instrumente sozialer Diagnostik erste Möglichkeiten eines angeleiteten (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Situation (Hansjürgens 2020). Die in diesem Zusammenhang gemeinsam erhobenen Daten liefern wichtige Informationen für Therapieplanung und können auch in die administrativ vorgegebenen Formulare eingespeist werden. Mit diesen Informationen kann eine Übergangssituation so gestaltet werden, dass Klient:innen in weiterführenden Hilfen „ankommen“ können: Sie erfahren, dass dort inhaltlich an bereits Berichtetes angeknüpft wird und nicht „alles von vorn“ beginnt. Zentral ist auch hier, Klient:innen echte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Form und Ort der Behandlung zu lassen, ohne dass ihre Entscheidung von Leistungsträgern aufgrund ökonomischer Aspekte in Frage gestellt werden kann.

    Sollten sich die äußeren Umstände so gestalten, dass tatsächlich Eile bei der Vermittlung in Rehabilitation geboten ist, z. B. aufgrund drohender Wohnungslosigkeit oder drohender Entlassung aus dem geschützten Setting eines Entzugs in eine unklare Situation, kann der Sozialbericht und die gezielte Nutzung seiner Kategorien eine Strukturhilfe für die Umsetzung der inhaltlichen Perspektive darstellen und den oben beschriebenen Prozess beschleunigen. Gleichzeitig werden so die formal-administrativen Anforderungen erfüllt, da der Bericht eine Voraussetzung für die Hilfegewährung ist.

    Bedeutsam ist aber auch hier, dass der Sozialbericht nicht ausschließlich als Formular zu begreifen ist, sondern auch unter Druck versucht werden sollte, die Beziehungs- und Reflexionspotenziale der dort angegebenen Kategorien im Gespräch zu nutzen. In der Praxis hat es sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, im Rahmen fallübergreifender Netzwerkarbeit im sozialen Raum „kurze Wege“ zu schaffen, um im Krisenmodus agieren zu können und Klient:innen die (erneute) Erfahrung eines Scheiterns an strukturellen Barrieren zu ersparen.

    Vermittlung sollte als fachliche, qualitativ aufwendige, beziehungsorientierte Tätigkeit Sozialarbeitender innerhalb der Funktion Suchtberatung betrachtet werden und nicht als vorrangig administratives Geschehen. Dies sollte in den Ressourcenplanungen und im Erfolgscontrolling mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte implizites Wissen der Fachkräfte zu der erfolgreichen Vermittlungsarbeit wissenschaftlich gebündelt und systematisiert werden. Dabei können für komplexe Vermittlungsprozesse auch bereits erprobte Mittel wie z. B. ein instrumentengesteuertes, digital unterstütztes Realtime Monitoring, wie es im benannten Forschungsprojekt (Sommerfeld et al. 2011), aber auch im Kontext sozialer Diagnostik, zum Einsatz gekommen ist (Calzaferri 2020), eingesetzt werden. Entsprechende Infrastruktur und ein entsprechendes fachliches Können im Kontext Sozialer Arbeit in der Suchtberatung wären aufzubauen.

    Anmerkung der Autorin: Für wichtige inhaltliche Hinweise danke ich Katrin Blankenburg sehr herzlich.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Alice Salomon-Hochschule Berlin
    hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens ist Inhaberin der Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon-Hochschule in Berlin.

    Literatur:
    • Arnold, Susan (2009): Vertrauen als Konstrukt. Sozialarbeiter und Klient in Beziehung. 1. Aufl. Marburg: Tectum-Verl.
    • Bartelheimer, Peter; Behrisch, Birgit; Daßler, Henning; Dobslaw, Gudrun; Henke, Jutta; Schäfers, Markus (2022): Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Gudrun Wansing, Markus Schäfers und Swantje Köbsell (Hg.): Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bd. 55. 1st ed. 2022. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint Springer VS (Springer eBook Collection), S. 13–34.
    • Blankenburg, Katrin; Hansjürgens, Rita (2022): Multiprofessionelle Teamleistung im sozialen Raum – Überlegungen zu Chancen und Herausforderungen für Soziale Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen. In: Nina Weimann-Sandig (Hg.): Multiprofessionelle Teamarbeit in Sozialen Dienstleistungsberufen, Bd. 4. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 103–114.
    • Calzaferri, Raphael (2020): Realtime-Monitoring als Verfahren der systemisch biografischen Fallarbeit. Ein Gewinn für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 107–124.
    • Cleppien, Georg (2012): Über die Schwierigkeiten Klient/innen zu vertrauen. In: Sandra Tiefel und Maren Zeller (Hg.): Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren (Soziale Arbeit aktuell, 20), S. 49–66.
    • Fankhänel, Thomas; Klement, Andreas; Forschner, Lukas (2014): Hausärztliche Intervention für eine Entwöhnungs- Langzeitbehandlung bei Patienten mit einer Suchterkrankung (HELPS). In: Sucht Aktuell (2), S. 55–59.
    • Fuchs, Thomas (2015): Vertrautheit und Vertrauen als Grundlage der Lebenswelt. In: Phänomenologische Forschungen, S. 100–118.
    • Giersberg, Steffi; Touil, Elina; Kästner, Denise; Büchtmann, Dorothea; Moock, Jörn; Kawohl, Wolfram; Rössler, Wulf (2015): Alkoholabhängigkeit. 1. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Hansjürgens, Rita (2014): Auf dem Weg zu mehr Klarheit. Optionen zur Professionalisierung Sozialer Arbeit in der ambulanten Suchthilfe. Masterthesis. Hochschule, Koblenz.
    • Hansjürgens, Rita (2018): „In Kontakt kommen“. Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verl.
    • Hansjürgens, Rita (2019): Zur Entstehung und Bedeutung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung in der Suchtberatung. In: Suchtmagazin (3), S. 34–37.
    • Hansjürgens, Rita (2020): Der Sozialbericht als Instrument Sozialer Diagnostik in der Suchtberatung? In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 93–106.
    • Hansjürgens, Rita (2022): Ein Fall für Soziale Arbeit. Handlungstheoretische Überlegungen zu einer sozialarbeiterischen Fallkonstruktion. In: Soziale Arbeit 71 (5), S. 162–170.
    • Hansjürgens, Rita; Schulte-Derne, Frank (2021): Suchtberatungsstellen heute. Gemischtwarenladen oder funktional differenzierte Hilfe aus einer Hand? Lengerich: Pabst Science Publishers (Jahrbuch Sucht, 2021).
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022a): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für ambulante Beratungs- oder Behandlungsstellen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022b): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • Schmidt, Hannah; Koschinowski, Julie; Bischof, Gallus; Schomerus, Georg; Borgwardt, Stefan; Rumpf, Hans-Jürgen (2022): Einstellungen von Medizinstudierenden gegenüber alkoholbezogenen Störungen: Abhängig von der angestrebten medizinischen Fachrichtung? In: Psychiatrische Praxis 49(08): S. 428-435. DOI: 10.1055/a-1690-5902.
    • Schomerus, Georg (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? In: Psychiatrische Praxis 38 (03), S. 109-110. DOI: 10.1055/s-0030-1266094.
    • Schomerus, Georg; Holzinger, Anita; Matschinger, Herbert; Lucht, Michael; Angermeyer, Matthias C. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. In: Psychiatrische Praxis 37 (3), S. 111–118. DOI: 10.1055/s-0029-1223438.
    • Sommerfeld, Peter; Dällenbach, Regula; Rüegger, Cornelia (2016): Klinische Soziale Arbeit und Psychiatrie. Entwicklungslinien einer handlungstheoretischen Wissensbasis. Wiesbaden: Springer.
    • Sommerfeld, Peter; Hollenstein, Lea; Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
    • Sommerfeld, Peter; Solèr, Maria; Süsstrunk, Simon (2018): Lebensverlauf, Kontext, Zeit und Wirkung sozialarbeiterischer Intervention. DOI: 10.5169/seals-855350.
    • Tranel, Martina; Hansjürgens, Rita (2022): Ermöglichungsraum für soziale Teilhabe und Gesundheit für Menschen mit chronischer Suchterkrankung. In: Sozialmagazin Heft 01-02, S. 33–40.
  • Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Benjamin Becker

    Digitale Kommunikation ist für die heranwachsende Generation normal. Die Suchtprävention hat hier noch Barrieren zu überwinden. Wie Digitalisierung und Corona-Krise einen Paradigmenwechsel in der Suchtprävention voranbringen könnten, beschreibt dieser Beitrag aus der Fachsicht von blu:prevent, dem Suchtpräventionsangebot des Blauen Kreuzes für Jugendliche.

    Wenn wir uns aktuell auf eine Sache verlassen können, dann ist es der Wandel. Und zwar ein Wandel, der mittlerweile exponentielle Züge annimmt. Befeuert wird dieser Prozess durch die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Kommunikation und Mediennutzung der Menschen haben sich so stark verändert, dass bereits von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Wirtschaft, Politik, Kirchen, Schulen, Jugendarbeit und natürlich auch die Suchthilfe sind herausgefordert, neue Methoden der Wissensvermittlung zu entwickeln, um Jugendliche in ihrer Kommunikations- und Lebenswelt weiterhin erreichen zu können.

    Wir erhalten regelmäßig Anfragen von Fachkräften, Trägern und Landesstellen, die suchtpräventiv mit jungen Menschen arbeiten und nach zeitgemäßen und innovativen Tools suchen. Daher haben wir mit blu:prevent – bereits vor Corona – damit begonnen, neue und unkonventionelle Wege in der Suchtprävention zu gehen, um geeignete digitale Tools für Jugendliche und Multiplikatoren entwickeln zu können.

    Welche Chancen und Herausforderungen beinhalten digitale Angebote in der Suchtprävention?

    Die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Suchtprävention sind größer, als viele denken. Über digitale Wege wie Social Media, Apps, Podcasts, Plattformen/Websites, YouTube-Clips, Webinare/Online-Schulungen usw. kann plötzlich eine millionenfache Reichweite generiert werden. So kann es kleinen und bisher unbekannten Projekten oder Personen (selbst mit einem kleinen Budget) gelingen, sich aus dem „Nichts“ mit einer cleveren Idee und einem digitalen Konzept erfolgreich zu positionieren und eine wesentliche Rolle auf dem Markt zu spielen.

    Durch die Verbreitung und Bewerbung (Social Media-Advertising, Google Ads, TV-Wartezimmer, YouTube-Werbung) unserer Tools konnte blu:prevent in wenigen Jahren über acht Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen die Personen, die über unsere Kooperationspartner:innen und Influencer erreicht wurden, die in TV-Sendungen, großen YouTube-Channels und bekannten Podcasts eingeladen waren (1). Dies sind alles Chancen, die erst durch die Digitalisierung möglich geworden sind und unbedingt genutzt werden sollten. Dies erfordert Agilität und einen gewissen Pioniergeist bei den Behörden, Institutionen und Verbänden/Vereinen. Weitere großartige Chancen bestehen darin, dass digitale Tools viele der bisherigen Barrieren nicht kennen: Entfernungen, mangelnde Mobilität, Hemmschwellen, Berührungsängste, schwer zugängliche Milieus usw. Dies bemerken wir bei unserem anonymen Chat-Angebot in der blu:app, mit dem wir milieu- und ortsübergreifend jungen Menschen in Notlagen professionell zur Seite stehen können. Auch bei einem kürzlich durchgeführten Online-Präventions-Event mit über 300 Jugendlichen konnten wir erleben, wie positiv neue Formate angenommen werden (2).

    Neben einer hohen Effizienz, ökonomischen Vorteilen und den hohen Reichweiten gibt es auch Nachteile, die ich aber bewusst „Herausforderungen“ nennen möchte. Hierzu zählt, dass wichtige Elemente des Dialogs und Miteinanders in persönlichen Begegnungen (Gestik, Augenkontakt, Intuition, Übertragungen, Körperkontakt, Emotionalität usw.) durch digitalen Kontakt teilweise nicht zu kompensieren sind. Und: Anonymität kann ein Vor- und Nachteil sein.

    Eine weitere Challenge sind die Barrieren, die wir bei vielen Multiplikator:innen, aber auch eigenen Mitarbeitenden, erleben. Dazu gehören technische Barrieren, Barrieren innerhalb der Organisation (Strukturen, Abläufe, Budgets), Barrieren am Markt (Angebot und Nachfrage, keine Akzeptanz am Markt, Konkurrenzangebote, Markt benötigt etwas anderes) und Akzeptanz-Barrieren. Hier bemerken wir vor allem in den Bereichen „Schule“ und „Suchthilfe“, aber auch in Deutschland insgesamt, viele unterschiedliche Hürden.

    Daher möchten wir mit blu:prevent mutig vorangehen, Pilot- und Best-Practice- (auch Fail-Practice-) Modelle liefern und Menschen und Institutionen für diesen vielversprechenden Weg gewinnen. Denn: Für die heranwachsende und kommende Generation (Digital Natives) wird es „normal“ sein, auf digitale Hilfsangebote zuzugreifen, und es wird „unnormal“ werden, auf analoge Angebote angewiesen zu sein. Wir erleben immer mehr das Phänomen, dass für viele Jugendliche die klassischen Wege zu den Hilfsangeboten mit Barrieren und Vorbehalten verbunden sind. Daher werden hybride Angebote (digital & analog) oder rein digitale Angebote & Tools zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen.

    Welche Rolle spielen Influencer:innen in Social Media? 

    Influencer:innen (Beeinflusser:innen) sind meistens Einzelpersonen, die sich im Social Media-Bereich (YouTube, Instagram, TikTok) eine starke Eigenmarke und einen starken eigenen Channel aufgebaut haben und somit zu einer hohen Reichweite gekommen sind. Viele Influencer:innen leben bereits sehr gut von den Einnahmen, die sie von Sponsoren bzw. Firmen, deren Produkte sie bewerben, erhalten.

    Folgende Merkmale werden ihnen von den Usern zugeschrieben: hohes Ansehen, Glaubwürdigkeit, wirken greifbar, geben Orientierung, sind immer da, vertreten Zielgruppe, sind Projektionsfläche für eigene Träume und Vorstellungen. Dadurch üben sie eine hohe Faszination und Überzeugungskraft auf viele Follower aus. Viele Jugendliche suchen die Antworten zu ihren persönlichen Alltagsfragen (Schule, Familie, Pubertät, Stress, Gewalt, Alkohol, Mobbing, Mediennutzung usw.) auf den digitalen Plattformen oder bei „ihren“ Influencer:innen. Das heißt, auch im Bereich Informationsvermittlung, Meinungsbildung, Austausch (Foren) und Hilfestellungen findet ein entsprechender Paradigmenwechsel statt.

    Die „Reiseroute“ von der Fragestellung oder dem Problem der jungen Menschen zum Hilfsangebot hat sich radikal verändert. Nicht mehr die Eltern, Lehrkräfte, Jugendleiter:innen oder Pastor:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen, sondern die Influencer:innen ihrer Wahl. Nicht mehr die Lebenserfahrung steht im Vordergrund, sondern das Verhalten der Peergroup, das Maß an Attraktivität und der Reichweite der Influencer:innen und das Entertainment. Daher stellt sich hier die große Frage, wie es den Institutionen gelingen kann, eigene Influencer:innen auf den Weg zu bringen oder neue (unkonventionelle) Kooperationsformen mit etablierten Influencer:innenn einzugehen.

    Was hat die Corona-Krise aufgedeckt und was können wir aus ihr lernen? 

    Aus meiner Sicht hat uns die Corona-Krise einerseits aufgezeigt, wie wichtig die etablierten Anlaufstellen für Jugendliche an den Schulen, in der Jugendarbeit, den Sportvereinen, Kirchen und der Suchthilfe sind und wie Jugendliche – besonders in der Krise – vertraute Bezugspersonen brauchen und suchen. Andererseits hat uns die Corona-Krise aber auch schonungslos aufgezeigt, wie labil das eigentlich gut ausgebaute Hilfesystem in Deutschland sein kann, wenn es zu analog, zu wenig hybrid und somit zu einseitig aufgestellt ist.

    Wir sehen nun sehr klar, wo Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungs- und Suchthilfesystem liegen, aber auch, wie wenig sie bisher genutzt wurden. Corona macht zudem deutlich, wie stark dieses System in sich gefangen ist, dass es oft an Agilität und Risikofreudigkeit fehlt und dass zu viel Bürokratie und zu lange Entscheidungswege Entwicklungen lähmen. Viele notwendige Veränderungsprozesse werden seit Jahrzehnten linear-kausal behandelt, und der notwendige Schritt in die Transformation, in den Zustand des „Sich selbst neu Erfindens“, ist offensichtlich noch nicht bewusst genug geworden. Hier scheinen der Leidensdruck oder die erforderliche Expertise (noch) nicht hoch genug zu sein.

    Da hier die Influencer:innen, aber auch die Wirtschaft, um ein Wesentliches agiler agieren, besteht real die Gefahr, dass kommerzielle Plattformen, branchenferne Start-ups oder andere Interessent:innen (und Influencer:innen) wichtige Marktanteile mit ihren Ideen oder Technologien übernehmen (Disruption), und es könnte das Szenario eintreten, dass Google, Facebook, Chatbots (Künstliche Intelligenz) oder Influencer:innen die Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten sukzessiv übernehmen. Ob diese Plattformen/Personen die erforderlichen Professionen mitbringen und vernetzt mit dem Suchthilfesystem zusammenarbeiten werden, bleibt fraglich und könnte zu einer enormen Herausforderung bis hin zur Zerreißprobe führen. Noch bietet sich die Chance, gegenzusteuern und auf dem Marktplatz der Player mitzuspielen. Das bedeutet aber, bisherige Denkkategorien, die eigene Komfortzone und festgefahrenen Strukturen zu verlassen und Neuland zu betreten.

    In der Corona-Krise hat es aber auch viele Lichtblicke gegeben: Organisationen haben plötzlich gemerkt, wie schnell Veränderungen und Umstellungen – auch unbürokratisch – an manchen Stellen umgesetzt werden können. Und jede:r einzelne von uns wurde persönlich mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob wir die Krise akzeptieren und als Teil der Wirklichkeit annehmen und an ihr wachsen wollen, oder ob wir stetig gegen sie ankämpfen, Kraft verlieren und gleichzeitig viele Chancen der Neuorientierung und des Wachstums auslassen. 

    Krisen fordern uns oft auf, Dinge/Haltungen/Einstellungen neu zu definieren. Für mich bedeutet das, Traditionen und Werte zu berücksichtigen, bestehende Schätze zu heben und gleichzeitig die Entschlossenheit zur Entwicklung zu zeigen.

    Welche Haltung wird in der Zukunft entscheidend sein? 

    Grundsätzlich wird das Thema „Haltung“ in den nächsten Jahren sehr entscheidend sein! Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Genauso, wie es nicht ausreicht, einfach alle bisher analogen Verfahren zu digitalisieren. Fakt ist, dass die Jugendlichen konsequent ihren eigenen Weg gehen werden und wir entweder mit adäquaten Angeboten am Start sind oder nicht. Die – während der Coronazeit – stark besuchten Chat-Angebote, Foren und E-Mail-Beratungen verschiedener Organisationen bestätigen diesen Trend. Es braucht neue Denkweisen (Mindsets) und eine Transformation in vielen Bereichen, damit wir junge Menschen weiterhin gut und nachhaltig erreichen können. Die Haltung „Wer wagt gewinnt“ sollte unsere zukünftige Projektarbeit prägen. Es bedarf einer neuen Form der Risikobereitschaft, Flexibilität und Kreativität.

    Auf Fortbildungen präsentiere ich Thesen, die polarisieren und zum Nachdenken anregen, wie: „Kreativität schlägt Potential!“ oder „Der Rahmen ist wichtiger als der Inhalt!“. Es gilt, „Out of the Box“ zu denken und Neues zu entdecken. Es ist zu beobachten, dass die klassischen Hierarchien, Strukturen und Prozesse oftmals mit den aktuellen Fragestellungen und unterschiedlichen Anspruchsgruppen überfordert sind. Daher sind auch neue Arbeitsformate notwendig. Bekannte Methoden/Formate sind: Think Tanks, Design Thinking, Scrum, Bar Camps, Co-Creation. Eine Anpassung an die Branche bzw. das Projekt ist allerdings immer erforderlich. Der Weg zum Ziel und zu nachhaltigen Lösungen wird immer mehr unter Einbindung des interdisziplinären Teams (multiprofessionelle Kompetenzen) und der Dialoggruppe (Co-Creation) verwirklicht. Vieles wird zukünftig im Prozessverlauf (Work in Progress) gelernt, getestet und neu ausprobiert. Offenheit, Kreativität und die Erlaubnis zum Scheitern sind wichtige Merkmale des zukünftigen Arbeitens.

    Das klingt vielleicht nach großen Hürden, kann aber auch unglaublich viel Spaß machen, da es eine Abenteuerreise ist! Und viele Jugendliche nehmen es mit Begeisterung zur Kenntnis, wenn Hilfsangebote digital sind, ihre Sprache sprechen und in ihre Lebenswelt passen. Das erleben wir in der Praxis bei unserem Chat-Angebot (über 1.300 Anfragen/Jahr), der App (blu:app), den E-Learning-Modulen (blu:interact) und unseren Social-Media-Angeboten (@vollfrei). Für Multiplikatoren bieten wir (Online-)Fortbildungen zu diesem Thema an. Weitere Infos, unsere Tools und unseren Shop (kostenlose Materialen) finden Sie unter www.bluprevent.de

    Anmerkungen:
    (1) Zurzeit kooperieren wir mit Dominik Forster. https://www.youtube.com/channel/UCoMZAJLqlC6WEPV5stind5w

    Mit Samuel Koch haben wir ein gemeinsames Video erstellt.
    https://www.youtube.com/watch?v=TzzENc46PNg

    (2) Suchtpräventionsevent mit Audi und FC Ingolstadt mit dem Namen „Schanzer Pluspunkt“
    https://www.schanzer-pluspunkt.de/

    Der Artikel ist erstmals erschienen in:
    proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Bayern
    Heft 1/2022
    https://projugend.jugendschutz.de/projugend-1-2022/

    Kontakt:

    Benjamin Becker
    blu:prevent
    Blaues Kreuz in Deutschland
    benjamin.becker(at)blaues-kreuz.de

    Angaben zum Autor:

    Benjamin Becker ist Leiter von blu:prevent, Jugend- und Präventionsangebote des Blauen Kreuzes in Deutschland.

  • KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Das Thema digitale Transformation ist in der Suchthilfe angekommen. Träger engagieren sich, Verbände agieren. Das sind positive erste Schritte. Das Arbeitsfeld muss sich allerdings in aller Breite und Tiefe den aktuellen Entwicklungen weiter öffnen und verstehen lernen, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“, die in anderen Bereichen ganze bisherige Geschäftsmodelle zerstört, für die Suchthilfe hat. Digitalisierung ist kein Ereignis, sondern ein Prozess, der auch massive Veränderungen der Arbeitsstruktur und Arbeitsabläufe mit sich bringt.

    Digitalisierung ist nicht die ‚Aufhübschung‘ eines Geschäftsmodells durch einen Internetanschluss. Onlineberatung ergibt wenig Sinn, wenn im Hintergrund wie vor Jahrzehnten gearbeitet wird. Wenn sich eine Organisation ernsthaft damit beschäftigt, digitalisierte Prozesse in die Arbeit zu integrieren, reicht es bei der Umsetzung nicht aus, nur die verfügbaren neuen Technologien für neue Produkte einzusetzen. Vielmehr hat der Einsatz digitalisierter Prozesse weitreichende Konsequenzen für die Organisationsstruktur, das Arbeitskonzept, die Arbeitsprozesse, die Qualifikation des Personals, die Arbeitszeiten sowie die Führungskompetenzen (junge Mitarbeiter haben mehr Ahnung als ältere Kollegen). Eine Neuausrichtung der gesamten Geschäftsstrategie auf digitale Handlungsprozesse ist erforderlich.

    Und noch eine weitere Dimension gilt es zu berücksichtigen: Die digitale Wandlung ist ein disruptiver Prozess. Diese vielfach gehörte Aussage liest sich so einfach. Dabei bedeutet dieser Satz doch, dass aktuelle Geschäftsmodelle zerstört werden und völlig neue Player auf der Angebotsseite, wie aus dem Nichts, auftauchen. Mit anderen Worten: Wäre es auch in der Suchthilfe vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit Plattformen etablieren, die, von völlig fachfremden Betreibern geführt, keine eigenen Dienste anbieten, sondern nur als digitale Vermittlungsplattform für die komfortable Abwicklung von Dienstleistungen zwischen Anbietern und Nutzern agieren? 

    Die professionelle Suchthilfe und ihre Entwicklung in den letzten 50 Jahren

    Die Suchthilfe in ihrer professionellen Ausrichtung hat in den letzten 50 Jahren gezeigt, dass sie ein flexibles und vitales System ist, das sich den unterschiedlichen, von außen an sie herangetragenen Veränderungen (neue Substanzen, Mittelkürzungen) anpassen konnte. Die Kreativität der Träger und die Unterstützung aus dem politischen Raum waren hierbei wichtige Faktoren.

    Es muss jedoch die Frage gestellt werden, ob die bisherigen Überlebensstrategien und Anpassungsprozesse des Suchthilfesystems auch beim digitalen Wandel greifen. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube es nicht. Wir haben es bei der digitalen Transformation nicht mit einem weiteren Veränderungsschritt, vergleichbar mit den oben genannten, zu tun, sondern mit einem Prozess, der gezeigt hat, dass er das Potential besitzt, bisherige Geschäftsmodelle zu zerstören. 

    Neue Marktstrukturen und neue Wettbewerber

    In der Debatte um die Digitalisierung in der Suchthilfe scheint mir ein Aspekt viel zu kurz zu kommen: der mit der Digitalisierung einhergehende Wandel der Marktstrukturen.

    Digitale Plattformen sind das zentrale Geschäftsmodell der digitalen Ökonomie. Das Grundprinzip der „digital matching“-Unternehmen ist einfach: Sie bieten selbst keine Waren an, sondern nur eine digitale Vermittlungsplattform für die einfache Abwicklung von Transaktionen. Damit schieben sie sich zwischen Anbieter und Kunden (Nutzer). Vor allem für die Endkunden ist das praktisch. Sie finden alle Angebote an einer Stelle, können Preise oder Funktionen vergleichen und sofort ordern. Kleineren Anbietern bieten Plattformen die Möglichkeit, ihre Angebote ‚der ganzen Welt‘ bekannt zu machen und anzubieten, ohne allzu große Investitionen, z. B. in Immobilien, tätigen zu müssen.

    Digitale Plattformen werden aber nicht nur von großen internationalen Firmen wie Amazon, Uber oder Booking.com betrieben. Für fast jede Branche gibt es inzwischen diese Geschäftsmodelle. Egal, ob solche Plattformen regional, national oder international agieren, immer gilt, dass die Plattformbetreiber selbst keinerlei Qualifikationen bezüglich der angebotenen Güter oder Dienstleistungen besitzen.

    Mit Pflegedienstleistungen ist die Plattformökonomie bereits in einem Segment des psychosozialen Arbeitsfeldes zu finden. Das „Uber-Prinzip“ in der Pflege bedeutet: Über eine Plattform bieten Menschen mit unterschiedlichstem Erfahrungs- und Ausbildungsgrad Dienstleistungen in den Bereichen Begleitung, Betreuung und Pflege für kürzere oder längere Dauer an. In manchen Modellen arbeiten die Menschen auf selbständiger Basis, in anderen als Angestellte des Plattformunternehmens. Gesellschaftlich entscheidend ist, was dabei mit dem Gesamtsystem der Begleitung, Betreuung und Pflege passiert – mit seiner Stabilität, Fachlichkeit und Qualität.

    Was bedeutet das übertragen auf Suchthilfe und Suchtprävention?

    SCENARIO 1: Digitale Hilfe und digitale Vermittlung von Hilfe

    „Die neuen Technologien … verändern vorhandene … oder gestalten neue Hilfeprozesse [und] ermöglichen damit die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle“. (Kreidenweis 2017, S. 164)

    Verbraucher kennen und schätzen das Konzept der digitalen Plattformen und übertragen ihre Erwartungen an den Angebotsservice auch auf andere (non-profit) Dienstleistungsbereiche. Die Anforderungen und Ansprüche von Kundenseite an die Anbieter von psychosozialen Dienstleistungen werden also wachsen (z. B. 24 Stunden 7 Tage die Woche erreichbar sein). Die Legalqualifikation der Anbieter (Hochschulabschlüsse der Mitarbeiter plus Zusatzqualifikationen, lange Felderfahrung des Trägers) wird bei der Suche nach Informationen und Unterstützung nicht mehr so stark im Vordergrund stehen.

    Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dieses Monopol resultiert neben historischen und gesetzlichen Gründen auch daraus, dass man mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld verdienen kann. Sollte dies durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreichen Fin Techs in der Finanzwirtschaft) und die zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen könnten. (Fachfremde) Anbieter könnten sich als Dienstleister gemäß den heutigen Kunden(Klienten-)anforderungen entwickeln und mit digitalen Services Menschen in schwierigen Lebenslagen oder schambesetzten Situationen einfach, bequem und rund um die Uhr Unterstützung zukommen lassen. Oder aber sie könnten auch ‚nur‘ eine Plattform für entsprechende Anbieter ins Leben rufen. Diese Plattform könnte z. B. folgende Services anbieten:

    • Ein mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestatteter Chatbot gibt 7 Tage rund um die Uhr Antworten auf die wichtigsten, immer wiederkehrenden Fragen.
    • 24h lang Direktvermittlung zu spezialisierten Rechtsanwälten
    • Abklärung, ob ein Anspruch auf medizinische Reha besteht, plus anschließende komplette Abwicklung und Betreuung der Formalitäten inkl. Buchung eines entsprechenden Rehaplatzes
    • Chat mit fachkundiger Person von 8 bis 20 Uhr jeden Tag
    • schnelle Terminvermittlung in ortsnahe Suchthilfeeinrichtung
    • Online-/Teleberatung, Online-/Teletherapie

     SCENARIO 2: Matching und Online-Direktvermittlung zur Fachkraft

    Die Mieten in den Innenstädten haben inzwischen schwindelerregende Höhen erreicht. Die Mietkosten nehmen bei öffentlichen Einrichtungen einen immer größer werdenden Anteil an den Gesamtbudgets ein. Die Kommunen als Leistungsträger sind nicht mehr bereit, Räume zu finanzieren, die nur acht bis zehn Stunden am Tag genutzt werden. Zudem hat sich eine neue Generation von Fachkräften auch im psychosozialen Bereich etabliert, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte. Der herrschende Fachkräftemangel stärkt ihre Position bei der Durchsetzung dieser Vorstellungen gegenüber potentiellen Arbeitgebern.

    Vor dieser Ausgangslange entwirft Horst Bossong (2018) folgendes Scenario: „Die Spezialisierung psychosozialer Einrichtungen wie Schuldnerberatung, Suchtberatung, Erziehungsberatung etc. könnten auf einer gemeinsamen digitalen Plattform zusammengefasst werden. Solche im virtuellen Raum etablierten Gemeinschaftspraxen könnten ihre von freien Mitarbeitenden angebotenen Dienstleistungen just in time anbieten.

    Die Anmeldung samt Anamnese erfolgt über ein Online-Tool. Ein Algorithmus matcht den Hilfesuchenden mit einer passgenau qualifizierten Fachkraft für eine (standardisiert festgelegte) Menge an Beratungsstunden. Sie erbringt die Beratung, Betreuung und Therapievermittlung sodann in ‚hybrider‘ Form, d. h. ohne festes Büro, sondern in je nach Einzelfall verabredeten variablen Formaten, etwa virtuell oder auch an einem physischen Orten zu einem dem Klienten passenden Zeitpunkt.“ 

    SCENARIO 3: Ein Handlungsfeld für große Player

    Die Mediangruppe ist ein privat geführter Klinikträger mit 120 Einrichtungen und 15.000 Mitarbeitern. Mit 18.000 Betten und Behandlungsplätzen werden pro Jahr etwa 230.000 Patienten versorgt. Die Mediangruppe ist auch in der medizinischen Rehabilitation für suchtkranke Menschen aktiv. Dieser große Player in der Sucht-Reha hat die Digitalisierung zur Chefsache erklärt und im April 2018 einen neuen Chief Development Officer (CDO) eingestellt, der sich auf Geschäftsführungsebene gezielt der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens widmet. In einer Pressemitteilung gab Dr. André M. Schmidt, CEO bei Median, bekannt, dass das Unternehmen im Bereich Digitalisierung eine Vorreiter-Position anstrebt (Pressemeldung, 04.04.2018). Dies als Beispiel für einen ‚Großen‘, der sich schon massiv auf den Weg gemacht hat.

    Nur durch das Bewusstmachen solcher Szenarien wird der notwendige Handlungsdruck deutlich. Ihm muss die aktive Auseinandersetzung folgen, um wünschenswerte Entwicklungen zu fördern und Entwicklungsrisiken frühzeitig begegnen zu können. 

    Suchthilfe muss handeln, warum?

    Das Suchthilfesystem in Deutschland zeichnet sich durch differenzierte Leistungserbringer aus, die ein breit gefächertes Angebot für Betroffene und deren Angehörige bereithalten. Diese Angebote weisen heute hohe Standards und qualitätssichernde Begleitmaßnahmen auf. Wenn die Vielfalt der Leistungserbringer und eine nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Trägerlandschaft auch zukünftig die Maximen im Bereich der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung darstellen sollen, muss sowohl die Suchthilfe handeln als auch die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen sicherstellen.

    Dieses Handeln seitens der Suchthilfeträger muss bereits zu einer Zeit passieren, in der das Bestehende noch sehr gut läuft. Und das fällt schwer. Denn so lange es gut läuft, versuchen alle Beteiligten, das Bestehende möglichst zu bewahren. Es wäre allerdings fatal, wenn sich die Suchthilfe im Heute verkämpft und dadurch den realistischen Blick auf morgen vernachlässigt. 

    Die Notwendigkeit digitaler Strategien

    Aber es gibt noch eine andere Gefahr: Die Suchthilfe darf sich bei dem Thema Digitalisierung nicht in zu vielen Einzelprojekten verlieren. Letztlich ist die Digitalisierung eine strategisch-strukturelle Aufgabe. Man kann nicht einfach kleine Einzelprojekte aneinanderreihen und denken, das reiche. Um ein gutes Gesamtergebnis zu erzielen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, braucht es dringend ein Gesamtkonzept – eine Digitalisierungstrategie sowohl für den einzelnen Suchthilfeträger als auch für das Suchthilfesystem als Ganzes. Zur Entwicklung dieser Strategien sind die bisherigen Konzepte nur bedingt tauglich. Es müssen völlig neue Formate und Kooperationen entwickelt werden.

    Der Prozess der digitalen Transformation erfordert enorme Ressourcen. Einzelne kleine wie auch große Einrichtungen sind personell und finanziell überfordert, so dass träger- und verbandsübergreifendes Handeln unumgänglich erscheint, will man die Digitalisierung mitgestalten und nicht nur Zuschauer sein. Dazu müssen sowohl die Träger als auch das System Suchthilfe Strategien entwickeln, wie sie den digitalen Wandel bewältigen wollen. Aktuell scheinen mir diese Strategien zu fehlen, gleichwohl werden digitale Produkte wie Apps oder Online-Beratungsmöglichkeiten bereits umgesetzt bzw. geplant.

    Um Nachhaltigkeit zu erreichen und Fehlinvestitionen zu vermeiden, lassen sich die Umsetzungsschritte einer Strategie zur Bewältigung des digitalen Wandels wie in Abb. 1 gezeigt skizzieren:

    Abb. 1

    Trägerinterne Strategieentwicklung

    Mit Unterstützung externer Expertise aus dem Bereich der Organisationsentwicklung sollten trägerintern im Rahmen einer Strategieentwicklung folgende Fragestellungen geklärt und folgende Arbeitsschritte abgearbeitet werden (s. Abb. 2):

    Abb. 2

    Lösungen entwickeln in „Future Labs“

    Auch wenn die Suchthilfe träger- und verbandsübergreifend agiert, kann sie den anstehenden Wandel nicht alleine bewältigen. Politik muss sie dabei unterstützen. Politik kann aber auch erwarten, dass Lösungen überregional und trägerübergreifend gesucht werden, z. B. in „Entwicklungslabors“ oder „Future Labs“. In solchen Future Labs finden sich Mitarbeitende unterschiedlicher Fachbereiche, externe Expert/innen (z. B. aus Hochschulen, der Start-up-Szene) und Mitarbeitende anderer Organisationen zusammen (s. Abb. 3). Diese Innovationsnetzwerke arbeiten an neuen Konzepten, Services und Geschäftsmodellen, die sie als Empfehlungen und Orientierungen dem Suchthilfesystem zur Verfügung stellen. Aber auch Fragestellungen zum Datenschutz und ethischen Dimensionen der Digitalisierung in der Suchthilfe könnten, ressourcenschonend, zentral diskutiert und die Ergebnisse z. B. über Handreichungen oder Webinare kostengünstig in die Fläche gebracht werden.

    Abb. 3

    Zur Einleitung einer solchen Entwicklung könnten in einem nationalen Future Lab „Suchthilfe“ mit externer multiprofessioneller Expertise folgende Fragestellungen bearbeitet werden (s. Abb. 4):

    Abb. 4

    Aktueller Stand und Ausblick

    In den letzten Monaten sind im Bereich der Suchthilfe vielfältige Entwicklungen und Fortschritte zu konstatieren, die die aufgezeigte Richtung unterstützen:

    • Im Januar 2019 haben die Wohlfahrtsverbände, das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland und der Bundesverband Deutscher Startups ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht (https://www.social-startups.de/wohlfahrtsverbaende/). Darin ist vereinbart, dass sich diese Organisationen stärker austauschen und zusammenarbeiten wollen, um effektiver zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen beizutragen und innovative Lösungen zu entwickeln. Die Verbände fordern in ihrem Positionspapier, dass bei der staatlichen Förderung mehr Priorität und Mittel für gemeinsame Begegnungs- und Experimentierräume sowie für die Verbreitung von erfolgreichen innovativen Projekten bereitgestellt werden. Nötig sind Förderprogramme, die den speziellen Bedürfnissen sozialer Innovationen gerecht werden, damit diese entwickelt und realisiert werden und schließlich den Menschen und der Gesellschaft dienen können.
    • Des Weiteren startete im April die Hessische Landesstelle für Suchtfragen ihr vom Bundesgesundheitsministerium finanziertes bundesweites Modellprojekt „Digitale Lotsen in der Suchthilfe“.

    Angesichts der anstehenden Herausforderungen beim digitalen Wandel ist es unabdingbar, dass zum einen die Verbände eine koordinierende und strukturierende Funktion einnehmen und zum anderen die Politik Unterstützung bietet. Ein Vorhaben von einer solchen Dimension bedarf unbedingt vorheriger strategischer Überlegungen auf Trägerebene, aber auch auf der Ebene des Systems, damit die entwickelten Instrumente und das fachliche Vorgehen die Ziele erreichen, die vorher definiert wurden. Solche Ziele, die sowohl einer Verbesserung der Versorgung als auch der Weiterentwicklung des Suchthilfesystems dienen, könnten z. B. sein:

    • dem Fachkräftemangel begegnen: Technische Assistenzsysteme können vorhandene Mitarbeitende von Routineaufgaben entlasten.
    • den demographischen Wandel gestalten: Mit Teleangeboten kann Immobilität begegnet werden (auch in strukturschwachen ländlichen Regionen).
    • eine bessere Klientenzentrierung/-versorgung erreichen: Technische Assistenzsysteme ermöglichen eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme mit dem Hilfesystem und erschließen damit neue Zielgruppen.
    • die Attraktivität der Angebote für Klienten erhalten: Zielgruppengemäß offeriert entsprechen die Möglichkeiten technischer Assistenzsysteme dem geänderten Dienstleistungsanspruch der Klientel.
    • die Attraktivität des Arbeitsfeldes Suchthilfe erhalten bzw. steigern: Als möglicher Arbeitsplatz steht die Suchthilfe im Wettbewerb mit anderen psychosozialen Arbeitsfeldern. Technische Assistenzsysteme und deren arbeitnehmerfreundliche Ausgestaltung (Homeoffice-Konzepte u. Ä.) können dazu beitragen, den Bedürfnissen der neuen Generation von Fachkräften, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte, entgegenzukommen.
    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    w.schmidt-rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Literatur:
  • Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa

    In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.

    Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)

    Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).

    Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit

    Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).

    Strategien gegen Stigmatisierung

    Das Stigma-Memorandum

    Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.

    Psychologische Forschung

    Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.

    Öffentlicher Diskurs

    Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.

    Behandlung

    Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen,  Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.

    Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention

    Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.

    Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.

    Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich

    Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:

    Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.

    Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.

    Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.

    Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.

    Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.

    Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.

    Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“

    Partizipative Theaterarbeit

    Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.

    Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
    Kontakt:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa
    Gesundheitsakademie Nord e.V.
    Holstenstraße 68a
    24103 Kiel
    regina.kostrzewa@gesundheitsakademie-nord.de
    www.gesundheitsakademie-nord.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.

    Literatur:
    • Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
    • Bottlender, R. & Möller, H.-J. (2005): Psychische Störungen und ihre sozialen Folgen. In: Gaebel, W., Möller, H.-J.& Rössler, W. (Hrsg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart: Kohlhammer. S. 7-17.
    • Brooks, M./Kay-Lambkin, F./Bowman, J./Childs, S. (2012): Self-Compassion Amongst Clients with Problematic Alcohol Use. Springer Science Media, DOI 10.1007/s12671-012-0106-5.
    • Corrigan, P./Schomerus, G./Shuman, V./Kraus, D./Perlick, D./Hamish, A./Kulesza, M./Kane-Willis, K./Qin, S./Smelson, D. (2016): Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict.
    • Dishion, T. J. (1999): When Interventions harm. Peer Groups and Problem Behavior. In: American Psychologist, 54, 755-764.
    • Finzen, A. (2001): Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen. 2. korrigierte Auflage. Bonn: Psychiatrieverlag.
    • Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). In: Nervenarzt 85, 77 – 87.
    • Schomerus, G. (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? Psychiatrische Praxis, 38, 109 – 110.
    • Schomerus, G./Holzinger, A./Matschinger, H. et al. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiatrische Praxis. DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1223438.
    • Schomerus, G. et al. (2010): Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy. In: Drug and Alcohol Dependence, 1 – 6.
    • Vogt, I. (2017): Nobody’s perfect: Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe zu psychisch Kranken. Ein Überblick über die Forschungsergebnisse. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 49 (2), 307 – 323.
    • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit BAG: Suchtforschung des BAG 1996 – 98, Band 2/4: Prävention, 2 – 13.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Ausgangssituation

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Kooperation, Kommunikation und Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen bilden im Prozess der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ganz wesentliche Grundlagen der Leistungserbringung und sind ein Garant für die Qualität der Behandlungsangebote für abhängigkeitskranke Menschen. Kein Indikationsbereich in der medizinischen Rehabilitation weist so viele unterschiedliche Behandlungsformen auf wie die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Das bietet die Möglichkeit, für die Klient/innen möglichst bedarfsgerechte und passgenaue Behandlungsangebote vorzuhalten. Die damit verbundene Differenzierung und Komplexität in den Behandlungsangeboten und -modulen bedarf jedoch der intensiven und aufwändigen Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen. Da nach dem personenzentrierten Ansatz prinzipiell die Rehabilitand/innen im Mittelpunkt zu sehen sind, beinhaltet die Optimierung von Kooperations- und Kommunikationsprozessen immer auch die Frage, wann und in welcher Form die Rehabilitand/innen in die Abstimmungsgespräche (besser) einzubeziehen sind.

    Die Palette an ambulanten, ganztägig ambulanten, stationären und kombinierten Leistungsformen ist in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der ambulanten Weiterbehandlung ausgebaut worden. Mit der Differenzierung im Behandlungsangebot der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind zwangsläufig auch die Anforderungen an Kooperationsleistungen und Absprachen gestiegen. Einen Meilenstein stellte die Einführung der Kombinationsbehandlung dar. Durch die damit verbundene Netzwerkorientierung wurden Aktivitäten an den Schnittstellen und damit auch der Kommunikationsprozess zwischen ambulanter und stationärer Suchthilfe befördert.

    In ihrer „Arbeitshilfe für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen“ geht die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) grundsätzlich auf die Gestaltung der Schnittstellen und Übergänge zwischen den einzelnen Behandlungsangeboten in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ein. Dabei weist sie auf die erforderlichen flexiblen Übergänge zwischen den Leistungen hin und hebt die Bedeutung eines Fallmanagements hervor, das die möglichst nahtlosen Übergänge begleitet (BAR 2006, S. 51 ff.). Längst ist es zu einem Standard im Qualitätsmanagement geworden, dass die Suchthilfeeinrichtungen die Beziehungen zu Rehabilitand/innen, Angehörigen und Bezugspersonen, zu Behandler/innen, Leistungsträgern und der Suchtselbsthilfe im Rahmen des Rehabilitationsprozesses durch Informationsvermittlung, Abstimmungen und Schnittstellenmanagement bewusst gestalten (vgl. hierzu BAR 2009, S. 14). Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies in ausreichendem Maße geschieht bzw. wie verbindlich die Zusammenarbeit in der Praxis tatsächlich gehandhabt wird.

    Die intensive und verbindlich organisierte Kooperation und damit auch die Kommunikation und das Schnittstellenmanagement zwischen der ambulanten Suchthilfe (Beratungsstelle) und der stationären Suchthilfe (Fachklinik) sind heute aus mehreren Gründen so bedeutsam:

    • Die praktische Umsetzung kombinierter Behandlungsformen wie auch der neuen ambulanten Weiterbehandlungsformen und der BORA-Empfehlungen (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) in der Behandlung Abhängigkeitskranker kann nur auf der Basis einer intensiven Kooperation der Beteiligten erfolgreich gelingen. Die Vielschichtigkeit des gesamten Behandlungsangebots wie auch die Komplexität der genannten neuen Leistungsformen selbst zwingen alle Beteiligten zu mehr Transparenz und Verbindlichkeit in der gegenseitigen Information und Kommunikation.
    • Um den Zugang in die medizinische Rehabilitation nahtloser und ggf. auch frühzeitiger zu gestalten, ist eine gute Kooperation entscheidend. Sie kann auch dazu beitragen, die Nichtantrittsquote zu senken und die Qualität der Vermittlung zu verbessern, z. B. durch Erreichen einer stärkeren Compliance und Behandlungsmotivation. Darüber hinaus nutzen den Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsangebote nur dann bzw. kann das Ziel einer optimierten Versorgung nur dann erreicht werden, wenn die Leistungsformen sinnvoll kombiniert und auch individuell eingesetzt werden. Auch dies setzt eine gute Kommunikation und eine gelebte Kooperation zwischen den Beteiligten voraus.
    • Nicht zuletzt sind eine gute Kooperation, eine intensive Kommunikation und ein gelingendes Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auch eine Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe. Die Anträge für Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sind seit einigen Jahren rückläufig. Sicherlich geht diese Entwicklung auf unterschiedliche Ursachen zurück. Belastbare Begründungen liegen derzeit nur bedingt vor. Fakt ist aber, dass die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trotz ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit und auch entgegen der prognostizierten demografischen Entwicklung rückläufig ist. Fakt ist auch, dass es für suchtkranke Menschen durchaus Alternativen zur (scheinbar hochschwelligen) Reha-Behandlung gibt, wie medikamenten- und substitutionsgestützte Behandlungsformen, Behandlungsangebote im Bereich der Sozialpsychiatrie, Betreuungsangebote in der Eingliederungshilfe und auch Therapieangebote über niedergelassene Therapeut/innen. Möglich sind auch Spontanremissionen. Eine standardisierte und verbindliche Kooperation sowie eine transparente Kommunikation zwischen den an einer Rehabilitationsmaßnahme beteiligten Einrichtungen wirken vertrauensbildend auf die Klient/innen und auf externe Kooperationspartner. Das kann die Bereitschaft der betroffenen Abhängigkeitskranken erhöhen, eine Therapiemaßnahme zu beantragen und sie auch tatsächlich anzutreten.

    Neue Behandlungsformen und BORA

    2015 wurden für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker die so genannten neuen Behandlungsformen „Wechsel in eine ambulante Rehabilitationsform“ (ohne Verkürzung der stationären Phase) und „Wechsel in die ambulante Entlassform“ (Verkürzung der stationären Phase) von den Leistungsträgern verabschiedet. Diese können seither als neue Leistungsformen beantragt werden. Ebenfalls 2015 ist das von der DRV und GKV verabschiedete Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung in Kraft getreten, das nach einer stationären oder ganztägig ambulanten Behandlung die Fortsetzung der Behandlung im ambulanten Setting vorsieht. 2014 wurden die BORA-Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker von einer gemeinsamen Expertengruppe aus Vertreter/innen der Leistungsträger und der Verbände entwickelt.

    Neu an den ambulanten Weiterbehandlungsformen ist insbesondere, dass sie aus dem stationären Setting, also aus der bereits laufenden Rehabilitationsmaßnahme heraus beantragt werden müssen. Speziell sind auch die formalen Rahmenbedingungen und Indikationskriterien, die bei der Beantragung berücksichtigt werden müssen. Vereinfacht ausgedrückt gleichen sie einem Produkt‚ ‚das noch beim Kunden reifen muss‘. Damit ist gemeint, dass das Verständnis dieser neuen Leistungsformen und Instrumente wie auch das ihrer Stellung innerhalb der gesamten Angebotslandschaft auf der Ebene der Leistungserbringer wachsen und entwickelt werden muss. Damit verbunden ist auch die passende Beratung und Vermittlung unserer Klientel im Sinne einer Kundenorientierung und als Serviceleistung.

    Das wird auch in der Zielsetzung deutlich, die die DRV mit der Weiterentwicklung der Leistungsformen verbindet: Durch die Erweiterung der Angebotslandschaft soll die Behandlung flexibler und individueller sowie bedarfsgerechter ausgestattet sein. Die Differenzierung in den Behandlungsformen soll zur weiteren Abgrenzung und Profilierung der einzelnen Angebote beitragen. Letztlich strebt die DRV damit auch ein einheitliches Vorgehen aller Rentenversicherungsträger in ihren Behandlungsangeboten an, um die Übersichtlichkeit im Leistungsangebot für die Betroffenen zu gewährleisten.

    Für die Anwendung in der Praxis sind die neuen Behandlungsformen und BORA jedoch keine Selbstläufer. Um sie erfolgreich umzusetzen – d. h., um die Instrumente für die Klienten/innen bedarfsorientiert anzuwenden, die Wiedereingliederung in Arbeit zu verbessern und von den Vorteilen für ambulante und stationäre Einrichtungen zu profitieren –, braucht es eine Verbesserung der Kooperation zwischen den beteiligten ambulanten und stationären Einrichtungen. Dabei wird es weniger wichtig sein, neue Formen zu erfinden, als bewährte Formen der Kooperation zu modifizieren und verbindlich zu gestalten.

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Was bedeutet nun ‚gute‘ Kooperation und Kommunikation oder funktionierendes Schnittstellenmanagement im Gesamtrehabilitationsprozess? Um sich dem anzunähern, soll kurz skizziert werden, was mit Schnittstelle bzw. Schnittstellenmanagement gemeint ist (wobei hier immer auch das Entlassmanagement mitzudenken ist als eine spezielle Form des Schnittstellenmanagements).

    Der Begriff „Schnittstelle“ oder „Interface“ entstammt ursprünglich der Naturwissenschaft und bezeichnet vereinfacht einen „Berührungspunkt zwischen zwei verschiedenen Sachverhalten oder Objekten“ (Gabler Wirtschaftslexikon online). Für unsere Zusammenhänge treffender ist eine Definition aus dem Bereich des Gesundheitswesens, speziell der Integrierten Versorgung. Nach Greiling und Dudek (2009, S. 68) meint eine Schnittstelle „eine Übergangs- bzw. Verbindungsstelle zwischen im Prozess verbundenen organisatorischen Einheiten, Abteilungen bzw. Mitarbeitern, die unterschiedlichen Aufgaben-, Kompetenz- oder Verantwortungsbereichen unterliegen und durch die Wertschöpfungskette verbunden sind. Die Schnittstelle überträgt Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen.“ Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang der Begriff der Wertschöpfungskette, der deutlich macht, dass ‚das Ganze‘ über die Teilleistung einzelner Bereiche hinausgeht und erst durch das sinnvolle Zusammenwirken der Beteiligten entsteht. Im Gesamtrehabilitationsprozess besteht die Wertschöpfungskette daraus, die erforderlichen Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und zu teilen, damit für die Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsformen möglich und die angestrebten Behandlungsziele, bis hin zur Förderung der Integration in Arbeit, erreicht werden.

    Als wesentliche Grundlage einer gelungenen Kooperation und Kommunikation, im Sinne der eben beschriebenen Wertschöpfungskette, nannte Dr. Elke Sylvester, medizinische Leiterin der Fachklinik Nettetal, bei einer Veranstaltung der Caritas Suchthilfe (CaSu) zum Thema „Neue Behandlungsformen“ im April 2016 die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“. Dazu gehört, dass sich die Mitarbeiter/innen der Fachklinik und der Beratungsstelle gegenseitig als fachlich kompetent wahrnehmen und akzeptieren. Dies setzt voraus, dass man sich persönlich kennt und über die spezifische Arbeitssituation des anderen Bescheid weiß. Häufige und wiederkehrende Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Fachkliniken und Beratungsstellen tauchen nach Dr. Sylvester dann auf, „wenn sich die beteiligten Institutionen nicht gut genug kennen und somit keine Idee von der jeweils anderen Arbeitsweise haben“. Vielleicht scheint es vermessen anzunehmen, man könne mit allen Kooperationspartnern eine derart personalisierte Beziehung pflegen. Dennoch stellt dies für eine regelmäßige und dauerhafte Zusammenarbeit eine Grundvoraussetzung dar. Sehr hilfreich im Bereich regelmäßiger Kooperationen wie auch im Rahmen von Verbünden ist es z. B., gegenseitig Hospitationen durchzuführen. Dies erweitert den Blickwinkel auf die Arbeitsweise der beteiligten Partner und hilft, Vorurteile und Barrieren abzubauen.

    In der Anwendung der neuen Leistungsformen bedeutet „Wissen“ aber nicht nur Kenntnisse der beteiligten Partner übereinander, sondern insbesondere auch Wissen darüber, dass es diese neuen Instrumente gibt und wie sie angewendet werden können. Eine Übersicht haben die Suchtverbände zusammengestellt.

    Vorschläge aus der Praxis für eine bessere Zusammenarbeit

    Gerade die Fachkliniken werden in der Umsetzung der ambulanten Weiterbehandlungsformen vor neue Herausforderungen gestellt, da die Fortsetzung der  ambulanten Behandlung aus dem stationären Setting heraus beantragt werden muss und sich die Frage stellt, warum die Behandlung nicht im stationären Setting verbleiben kann. Insofern kann der Schritt, eine ambulante Weiterbehandlung zu beantragen, von Mitarbeiter/innen stationärer Einrichtungen auch als eine Verletzung des fachlichen Selbstverständnisses empfunden werden. Es können auch Befürchtungen bestehen, dass ein Antrag auf ambulante Weiterbehandlung als Eingeständnis der Begrenzung eigener therapeutischer Möglichkeiten verstanden wird oder gar zu einer schlechteren Position der Klinik im Ranking der Häuser führen kann. Abhilfe schaffen hier wieder eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung und das Wissen darum, dass die kooperierende Einrichtung über die passende fachliche Kompetenz verfügt, um die Behandlung zum Wohle der betroffenen Klientin bzw. des betroffenen Klienten weiterzuführen.

    Zusammenfassend aus unterschiedlichen Fachveranstaltungen der Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), u. a. dem oben erwähnten Fachtag zum Thema „Neue Behandlungsformen“, können einige ergänzende Vorschläge zur Verbesserung und Intensivierung der Kooperation benannt werden.

    • Die gegenseitige Informationsvermittlung steht an erster Stelle. Diese beginnt bei einem aussagekräftigen Internetauftritt der stationären Einrichtung, der unterschiedliche Informationen für die Klientel, Angehörige wie auch Berater/innen, möglichst klar strukturiert, bereithält. Hierbei können auch Chat-Foren für Interessierte sehr hilfreich sein. Ergänzend zu den bereits genannten gegenseitigen Hospitationen zum Kennenlernen der jeweils anderen Aufgabengebiete können auch regelmäßige Informationsgruppen bis hin zu gemeinsamen regionalen Fachtagen sinnvoll sein. Solche Treffen ermöglichen es, Praxiserfahrungen auszutauschen, sie unterstützen den gemeinsamen Wissenstransfer und können dazu genutzt werden, auf Neuerungen im Behandlungsangebot einer Einrichtung hinzuweisen. Gemeinsame Teamsitzungen der beteiligten Mitarbeiter/innen in einem Behandlungsverbund ergänzen bzw. vertiefen den Austausch und gegenseitigen Wissensstand.
    • Darüber hinaus bieten manche stationäre Einrichtungen regelmäßig offene Informationsveranstaltungen oder Fachtagungen an. Dabei können sich Betroffene, Interessierte und Angehörige über die therapeutischen Leistungen und ihre Voraussetzungen informieren. Wichtig ist, dass diese Termine auch unter den ambulanten Kooperationspartnern bekannt sind und sie ihrerseits hierauf verweisen können.
    • Gerade im Bereich der kombinierten Behandlungsformen empfiehlt sich die Optimierung der Abläufe im Rehabilitationsprozess. Neben den im Rahmenkonzept Kombinationsbehandlung benannten Kooperations- und Koordinationsformen, wie z. B. Übergabekonferenzen, Berichterstattung, Fallbesprechungen, Qualitätszirkel etc., bieten sich weitergehende Maßnahmen wie der Einsatz eines Fallmanagers bzw. Therapielotsen oder der Einsatz von Checklisten zum Ablaufcontrolling an. Letztere sollten von den ambulanten und stationären Kooperationspartnern gemeinsam entwickelt und abgestimmt werden. Aus ihnen sollte ersichtlich werden, an welchen Schnittpunkten welche Informationen von wem an wen erforderlich werden.
    • Im Rehabilitationsprozess werden regelmäßige Abstimmungsgespräche zwischen den Rehabilitand/innen und den Bezugstherapeut/innen ambulant und stationär erforderlich. Erfahrungen aus der Praxis machen zusätzlich deutlich, dass die Übergangsgespräche im Kontext ambulant und stationär mit klaren Aufträgen und Maßnahmen versehen sein müssen.

    Kombinierte Behandlungsformen und ambulante Weiterbehandlungsformen machen deutlich, dass die Belebung der Schnittstellen zwischen den stationären und ambulanten Akteuren im Gesamtrehabilitationsprozess weit über die Optimierung von Terminen und Abläufen hinausgeht. Es werden inhaltlich-therapeutische Abstimmungen erforderlich, die das bereits erwähnte gegenseitige fachliche Vertrauen voraussetzen und den Charakter von fachlichen Konsultationen haben.

    Kooperationen für die Umsetzung von BORA

    Die erwerbsbezogene Orientierung ist im Rahmen der stationären Behandlung bereits länger bekannt und therapeutischer Alltag. Die Umsetzung von BORA stellt für ambulante Einrichtungen deshalb die größere Herausforderung dar. Erst wenige Beratungsstellen haben ein anerkanntes Konzept für arbeitsbezogene Interventionen in der ambulanten Rehabilitation und Nachsorge.

    Für die erfolgreiche Umsetzung von BORA hat die Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen eine hohe Relevanz. Der Kooperation und Vernetzung ist im BORA-Konzept ein eigenes Kapitel gewidmet. Neben Kooperationen mit einer Vielzahl von externen Akteuren, auf die im Bemühen um die berufliche (Re-)Integration abhängigkeitskranker Menschen eingegangen wird, wird dort auch auf die möglichst frühzeitige Kooperation zwischen Fachkliniken und Suchtberatungsstellen sowie zwischen Kliniken und der Suchtselbsthilfe hingewiesen (BORA 2014, S. 22 ff.).

    Im Kontext von BORA können sich unterschiedliche erwerbsbezogene Bereiche für die Kooperation ambulanter und stationärer Einrichtungen anbieten wie z. B. die berufsbezogene Diagnostik, die Berufs- und Sozialberatung oder das Arbeitsplatztraining. Für ambulante Einrichtungen stellt sich in der Umsetzung von BORA ohnehin die Frage, welche erwerbsbezogenen Instrumente und Angebote sie selbst vorhalten können und müssen und an welcher Stelle sie mit wem zusammenarbeiten könnten bzw. sollten. Für den Einsatz erwerbsbezogener Instrumente bietet es sich an, mit entsprechenden Akteuren im beruflichen Feld vor Ort zu kooperieren, z. B. Jobcenter, Arbeitgeber, Reha-Fachberater etc. Es empfiehlt sich aber auch, zu überprüfen, inwieweit die ambulanten Einrichtungen hierbei mit den Suchtfachkliniken in ihrer Region, ihres Verbundsystems oder mit kooperierenden Fachkliniken zusammenarbeiten könnten.

    Die Umsetzung von BORA im Rahmen kombinierter Behandlungsangebote und die damit verbundene Therapieplanung und Therapiesteuerung stellen besondere Anforderungen an die Qualität der Kooperation zwischen den beteiligten Einrichtungen. Um die unterschiedlichen therapeutischen und erwerbsbezogenen Leistungen der Kooperationspartner im Rahmen des Rehabilitationsprozesses sinnvoll miteinander zu verzahnen, empfiehlt sich der Einsatz der bereits erwähnten Checklisten zur Ablauforganisation.

    Zusammenfassung und Fazit

    Im Therapieprozess gilt kooperatives und vernetztes Arbeiten zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen grundsätzlich als Standard. Durch die zunehmende Komplexität im Behandlungsangebot und das damit verbundene Ziel einer optimierten Versorgung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist es erforderlich, die Kooperation verbindlicher, die Kommunikation regelmäßiger und transparenter und das Schnittstellenmanagement effektiver zu gestalten. Um die Begegnungen und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter/innen in den ambulanten und stationären Einrichtungen auf Augenhöhe und somit zielführend zu gestalten, spielt eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung eine wichtige Rolle. Die nicht immer einfachen Prozesse der Kooperation und Kommunikation bedürfen der regelmäßigen Pflege und müssen von den Beteiligten mit Leben gefüllt werden. Dies lohnt sich: im Sinne der effektiven Weiterentwicklung des Behandlungsangebots, als grundsätzliche Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe, für die Mitarbeiter/innen selbst im Hinblick auf Arbeitsklima und Arbeitszufriedenheit und ganz besonders im Sinne einer bedarfsorientierten und passgenauen Versorgung unserer Klient/innen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
  • Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

    Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

    Rita Hansjürgens
    Rita Hansjürgens

    Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist seit den Anfängen der Versorgung Suchtkranker ein Teil des Hilfesystems. Obwohl regional oft akzeptiert und geschätzt, scheint bis heute im Fachdiskurs unklar zu sein, was genau Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist und wie sie ihre Aufgaben insbesondere im Umgang mit Konsumenten von legalen Suchtmitteln wahrnimmt. Im Rahmen einer qualitativen Arbeitsfeldanalyse wurden diese Tätigkeiten rekonstruiert. Sichtbar wurde, dass die Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe komplexe Tätigkeiten sowohl auf der Ebene des individuellen Kontakts (Mikroebene) als auch auf der Ebene der Vernetzung von Institutionen (Mesoebene) wahrnimmt, die deutlich über einfache Suchtanamnese und formale Vermittlungstätigkeit hinausgehen. Deutlich wurde aber auch, dass der formale Rahmen diese Tätigkeiten nicht abbildet und hier nur wenig Orientierung und Sicherheit gibt. Fachkräfte der Sozialen Arbeit brauchen ein deutlicheres Bewusstsein ihrer eigenen Expertise, und Konzepte der Sozialen Arbeit müssen expliziter in Organisationsstrukturen und Qualitätshandbücher Eingang finden, um Hilfepotentiale der Sozialen Arbeit dauerhaft für KlientInnen zu sichern.

    Ausgangslage

    Die ambulante Suchthilfe im Allgemeinen hat sich hervorgehend aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit primär fürsorgerischer Intention professionalisiert. Heute umfasst sie ein weit differenziertes Angebot für Menschen mit Suchtverhalten oder seinen Vorstufen. Dies Angebot richtet sich an die Betroffenen selbst sowie an ihr soziales Umfeld, unabhängig von der Art und Weise der konsumierten Substanz oder der Verhaltensauffälligkeit, die im Zusammenhang mit Sucht steht. Das Angebot reicht von der ersten Kontaktaufnahme über Beratungsangebote, die Vermittlung in weitere suchtspezifische (Therapie-)Angebote und Nachsorge nach erfolgter Therapie bis hin zu Langzeitprozessen, die mit Unterbrechungen Jahre dauern können.

    Seit ihrem Entstehen Anfang des 20. Jahrhunderts war die ambulante Suchthilfe ein multiprofessionell geprägtes Feld, zunächst durch die Berufsgruppen von Theologen und Diakonen, aber auch zum Teil durch Ärzte geprägt. Aber „seit der Nachkriegszeit strömten immer mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in das Feld der Suchthilfe. Sie wurden zu wesentlichen Trägern der Professionalisierung.“ (Helas 1997)

    Heute hat sich die ehemals ehrenamtlich geprägte ambulante Suchthilfe zu einer professionellen Hilfeleistung entwickelt. Ambulante Suchthilfe besteht heute zu 98 Prozent aus ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen. Der multiprofessionelle Charakter dieses Arbeitsfeldes hat sich gehalten. Aktuell sind dort ÄrztInnen (zwei Prozent) genauso tätig wie PsychologInnen (elf Prozent) oder PädagogInnen, SozialwisssenschaftlerInnen und SoziologInnen (insges. acht Prozent). Aber bis heute stellen SozialarbeiterInnen mit 69 Prozent die größte akademisch ausgebildete Berufsgruppe in der ambulanten Suchthilfe dar (Pfeiffer-Gerschel et al. 2012). Dies bedeutet, dass die ambulante Suchthilfe bis heute ein klassisches Feld der Sozialen Arbeit ist und deshalb vornehmlich durch einen eher sozialarbeiterischen Habitus bzw. sozialarbeiterische Methoden geprägt sein müsste. Umso erstaunlicher ist, dass speziell für das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe eine Analyse in Bezug auf ihre Tätigkeiten und Handlungsweisen nur begrenzt vorliegt und eher einen groben Überblick liefert oder sich vornehmlich auf die Arbeit mit KonsumentInnen von illegalen Suchtmitteln bezieht (Loviscach, Lutz 1996; Preuß-Ruf 2012; Stöver 2012). Dieser Befund war der Auslöser für den Versuch, Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe näher beschreiben zu wollen mit besonderem Fokus auf die Inhalte, auf methodisches Handeln und Professionalität.

    Forschungsdesign

    Fragestellung

    Anhand von Selbstbeschreibungen der Fachkräfte sollte versucht werden zu klären, welche Aufgaben SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe wahrnehmen und wie sie diese bearbeiten. Konkret sollte versucht werden herauszufinden, ob sich Handeln und Selbstwahrnehmung in ausgewählte Theorien und Konzepte der Profession Soziale Arbeit einordnen lassen und zu einer Arbeitsfeldbeschreibung verdichtet werden können.

    Rechtliche Rahmenbedingungen und theoretische Grundlagen

    Von Fachverbänden formulierte Standards und gesetzliche Rahmenvorgaben beschreiben, welche Aufgaben Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe wahrnehmen sollen. Als entsprechende Quellen wurden herangezogen:

    • „Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe“ des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel fdr (2005)
    • „Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen“, herausgegeben von der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren DHS (1999)
    • „Suchthilfe im regionalen Behandlungsverbund“, ebenfalls von der DHS herausgegeben (1999)
    • Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW), insbesondere § 16 Abs. 2 (Hilfen der unteren Gesundheitsbehörde für Abhängigkeitskranke)
    • Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG)
    • SGB VI § 13 Anl. 9 (= Anl. 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“)
    • SGB VI § 13 Anl. 6

    In den letzten Jahren wurden weitere Standards einer professionellen Sozialen Arbeit entwickelt und festgelegt. Zu nennen sind folgende theoretische Grundlagen:

    • Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011)
    • Zuständigkeit und Ziele sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie, welche sich konkret auf die „Schaffung von sozialen Erfahrungsräumen, Erfahrung von Sinn, Schaffung von Sicherheit und Selbstwirksamkeitserfahrungen“ beziehen (Sommerfeld et al. 2011)
    • „Multiperspektivisches Fallverstehen“ als Kernkompetenz „Sozialpädagogischen Könnens“ (Müller 2012)
    • Beschreibung eines Professionsideals Sozialer Arbeit mit den Dimensionen „Spezifisches Berufsethos, Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses, Fähigkeit zum theoriegeleiteten Fallverstehen“ (Becker-Lenz, Müller 2009)

    Forschungsgegenstand und Auswahl der GesprächspartnerInnen

    Gegenstand dieser Forschungsarbeit waren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in der ambulanten Suchtkrankenhilfe arbeiten. Da sich Beschreibungen Sozialer Arbeit in der Suchthilfe vor allem auf den Bereich der Arbeit mit Abhängigen von illegalen Suchtmitteln beziehen, sollte in dieser Forschungsarbeit der Schwerpunkt auf der Sozialen Arbeit im Kontext mit Abhängigen von legalen Suchtmitteln liegen (vornehmlich Alkohol und Medikamente). Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden GesprächspartnerInnen aus dem eher ländlichen Raum mit einem Einzugsgebiet von ca. 150.000 bis 250.000 Einwohnern gesucht. Die Arbeitsstellen liegen teilweise in einem Flächenkreis und sind daher dezentral organisiert. Alle Beratungsstellen liegen in NRW, um von einer einheitlichen Rechtslage in Bezug auf die Finanzierung ausgehen zu können. Zustande kamen fünf Interviews mit drei weiblichen und zwei männlichen InterviewpartnerInnen im Alter von 36 bis 59 Jahren. Es handelt sich um festangestellte MitarbeiterInnen mit zehn bis 30 Jahren Berufserfahrung im Feld der Suchthilfe, davon vier bis 30 Jahre im untersuchten Einsatzgebiet. Die Interviewpersonen sind primär im Aufgabengebiet der allgemeinen Versorgung eingesetzt und nicht in einem Spezialfeld (z. B. Betreutes Wohnen, Prävention, ambulante Therapie), wobei berufliche Vorerfahrungen in diesen Feldern teilweise vorliegen.

    Der explorative Charakter dieser Untersuchung legt eine quantitative Überprüfung der Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt nahe, welche aktuell in Vorbereitung ist.

    Erhebung der Daten

    Es sollte ein qualitatives Design angewandt werden, das dazu geeignet ist, aus einer Beschreibung des konkreten Tuns verifizierbare Kategorien zu extrahieren. Daher wurde als Erhebungsmethode ein leitfadengestütztes Experteninterview mit festangestellten SozialarbeiterInnen der operativen Ebene in Anlehnung an Helfferich (2011) und Bogner (2009) gewählt. Als theoretischen Hintergrund für den Interviewleitfaden wurden die Theorieskizze Sozialer Arbeit mit Zuständigkeiten und Zielen Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie (Sommerfeld et al. 2011) sowie die Beschreibung eines Professionsideals von Sozialer Arbeit auf der Basis eines professionellen Habitus (Becker-Lenz, Müller 2009) herangezogen.

    Auswertung der Daten

    Die Interviews wiesen aufgrund der Unterschiede in Alter, Berufserfahrung im Feld, Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Geschlecht der Befragten maximal kontrastierende Merkmale auf. Sie wurden in Anlehnung an Bohnsack (2003) transkribiert und in Anlehnung an das sequentielle Verfahren der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1980) ausgewertet. In einer sich anschließenden vergleichenden Analyse wurden die gefundenen Fallstrukturen noch einmal verdichtet und in Bezug auf die Beantwortung der Forschungsfrage – welche Aufgaben übernehmen SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe und wie nehmen sie dies wahr? – reformuliert. Dabei dienten die oben genannten theoretischen Grundlagen als „Folie“, um zu überprüfen, ob und wenn ja welche Elemente der aus der Theorie bekannten professionellen Weiterentwicklungen der Sozialen Arbeit in der Praxis der ambulanten Suchtkrankenhilfe auftreten und möglicherweise auch benannt werden.

    Ergebnis der Untersuchung

    Die Forschungsfrage setzte sich aus zwei Teilfragen zusammen. Für jede werden die Ergebnisse im Folgenden einzeln vorgestellt.

    Welche Aufgaben übernehmen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe?

    Als wichtigste Aufgabe wird auf der Ebene der direkten Arbeit mit den KlientInnen (Mikroebene) ein multiperspektivisches Fallverstehen gesehen, welches einen großen Raum einnimmt in der konkreten Arbeit. Diese diagnostische Herangehensweise ist die Grundlage für alle weiteren Tätigkeiten der Fachkräfte sowie auch für die Gestaltung eines Arbeitsbündnisses. Über das Fallverstehen und die Konstituierung des Arbeitsbündnisses, explizit auch in und mit Zwangskontexten (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle), wird die in der Regel vorhandene Ambivalenz der KlientInnen bearbeitet (sog. Motivationsarbeit). Die Auflösung der Ambivalenz führt dann in der Interventionsphase entweder zu einer Vermittlung in weiterführende Hilfen, zu einer problemzentrierten Beratung innerhalb der Einrichtung oder zu einer (vorläufigen) Beendigung des Kontaktes.

    Im Rahmen der Vermittlung übernimmt die ambulante Suchthilfe meist Lotsenfunktion für die KlientInnen im (Sucht-)Hilfesystem und leistet individuelle Hilfe und Unterstützung bei der Antragstellung. Diese direkte Vermittlung bezieht sich auf suchtbezogene Hilfen nach den SGB V und VI (Entgiftung und Therapie) oder die Vermittlung in Selbsthilfe oder andere nicht suchtspezifische Hilfen. Die Tätigkeit der Vermittlung wird von den Fachkräften weniger als „technischer oder administrativer Akt“ verstanden, sondern zum einen als aktive Biographiearbeit und erste Erarbeitung subjektiver weitergehender Therapieziele und zum anderen als Teil der Gestaltung eines Prozessbogens, der mit dem Fallverstehen beginnt und mit der vollzogenen Vermittlung nicht zwangsläufig enden muss. Der Bogen kann sich auf der Basis des sog. Arbeitsbündnisses in Zeiten des Übergangs fortsetzen (z. B. zwischen Therapie und Nachsorge oder bei Nicht-Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen), und die Beratungsstelle kann abermals als Schnittstelle zu einer weiter versorgenden Stelle fungieren.

    Die durch die problemzentrierte Beratung und individuelle Hilfeplanung gewonnen Erkenntnisse in Bezug auf Notwendigkeiten der Hilfe für die Suchtkranken (z. B. bei neuen Trends des Substanzkonsums oder Veränderung der Lebensbedingungen der KlientInnen) führen zu einem vertieften Fallverstehen und fließen in die Vorschläge für eine Optimierung bzw. Anpassung der regionalen Versorgungssituation ein. Abbildung 1 stellt eine Visualisierung der gefunden Tätigkeiten dar.

    Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)
    Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)

    Auf der Mesoebene (Strukturebene) sind als Aufgaben in erster Linie die Kooperation und Vernetzung – teilweise auch die aktive Initiierung und Pflege eines regionalen Suchthilfenetzes – auf der professionellen Ebene zu nennen. Diese Vernetzung erfolgt in Richtung der Hilfen nach SGB V und VI, aber auch in Richtung der Selbsthilfe und der nicht primär suchtbezogenen Hilfen. Als konkrete Elemente der Netzwerkarbeit konnten zum einen die Moderation von und Mitarbeit in Arbeitskreisen gefunden werden und zum anderen Kooperation und Konfliktmanagement mit zunächst eher losen Kontakten. Aus dieser Zusammenarbeit ergibt sich dann ebenfalls (wie auf der Mikroebene) ein Arbeitsbündnis, nun aber zwischen konkreten Organisationen. Über dieses Arbeitsbündnis werden dann feste Kooperationen, teilweise mit Festschreibung in Kooperationsverträgen, und Fortbildungen, z. B. für Einrichtungen der Jugendhilfe, Betriebe oder Einrichtungen der Arbeitsvermittlung, vereinbart (s. Abb. 2).

    Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)
    Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)

    Mit Blick auf das Finanzierungssystem und die vorhandenen Standards kann festgestellt werden, dass die rechtsverbindlichen Vorgaben der gesetzlichen Grundlagen (ÖGDG und PsychKG) sich inhaltlich und fachlich vieldeutig gestalten und eine direkte Ableitung von Aufgaben nicht erlauben. Währenddessen haben die Fachstandards und Richtlinien der Leistungsträger der ambulanten Rehabilitation für diejenigen Einrichtungen, die eine solche im Haus anbieten, einen quasi Rechtsstatus, an dem sich die ganze Organisationsstruktur der Einrichtung orientiert, obwohl die Leistungen im Vorfeld einer ambulanten Therapie ausdrücklich nicht von der DRV und der GKV refinanziert werden. Die für die Umsetzung nötigen Ressourcen speisen sich aus den Leistungsverträgen, die mit den Kommunen auf der Basis des ÖGDG bzw. PsychKG ausgehandelt werden und letztlich eine freiwillige Leistung darstellen. Die eigentliche Versorgungsverpflichtung der unteren Gesundheitsbehörden bezieht sich auf die Vorhaltung eines Sozialpsychiatrischen Dienstes (§ 16, Abs. 2 ÖGDG, § 5 Abs. 1 S. 1 Psych KG).

    Wie nehmen Fachkräfte der sozialen Arbeit ihre Aufgaben wahr?

    Ein Vergleich der von den Fachkräften beschriebenen Tätigkeiten mit den oben genannten theoretischen Grundlagen professionellen sozialarbeiterischen Handelns ergab, dass die Tätigkeiten diesen im Wesentlichen entsprechen:

    • Die wahrgenommen Aufgaben mit ihrem vornehmlich beraterischen, therapienahen Schwerpunkt entsprechen einer Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011).
    • Es kann davon ausgegangen werden, dass die Klärung der Ambivalenz der KlientInnen verbunden mit einer aktiven Unterstützung (nicht Übernahme!) bei der administrativen Beantragung weiterführender Leistungen dazu beiträgt, für die KlientInnen Sicherheit zu schaffen und sie in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, wie dies als Zuständigkeit und Ziel der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie beschrieben wird (Sommerfeld et al. 2011). Um dieses zu verifizieren, müsste eine Untersuchung aus der KlientInnenperspektive erfolgen.
    • Die Art des Fallverstehens zeigt deutliche inhaltliche und methodische Nähe zum multiperspektivischen Fallverstehen (Müller 2012) mit den Dimensionen „Fall von“ (fachlich-sachliche Bestandsaufnahme), „Fall für“ (konsiliarische Beteiligung anderer professioneller Hilfesysteme, teilweise auch mit Initiierung einer Akutversorgung) und „Fall mit“ (systematische Exploration der Sichtweise des Klienten/der Klientin selbst). Die Fachkräfte brachten eine Haltung zum Ausdruck, die die Autonomie der KlientInnen und eine Orientierung an deren biopsychosozialer Integrität betont.
    • Des Weiteren wurde, wie auch schon in den Ergebnissen zu den wahrgenommen Aufgaben dargestellt, ein Arbeitsbündnis geschlossen und gestaltet. Das von den Fachkräften dargelegte Wissen zeigt ein biopsychisches Verständnis von Sucht, das auf den Einzelfall bezogen, durch „Erfahrung“ ergänzt und in das Fallverstehen integriert wird. Dies bedeutet, dass hier alle Elemente eines Professionsideals (Becker-Lenz, Müller 2009) rekonstruiert werden konnten.

    Professionstheoretisch bemerkenswert allerdings war der Befund, dass die Anwendung der beschriebenen Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit in keinem der untersuchten Fälle den Fachkräften bewusst war und als solche beschrieben werden konnte, weiter noch, dass die Fachkräfte die sozialarbeiterischen Konzepte gar nicht kannten. Die Erklärung liegt darin, dass alle Konzepte erst in jüngerer Zeit entwickelt wurden und damit noch nicht Teil der Ausbildung der Befragten waren. Dass die Fachkräfte dennoch danach handelten, ergibt sich daraus, dass sie ihr Tun in der Reflexion der Bedürfnisse und Wünsche der KlientInnen und der Möglichkeiten der organisationalen Rahmenbedingungen entwickelt haben und immer weiterentwickeln. Kristallisationspunkt des dargelegten Wissens ist ein in erster Linie biopsychisches Verständnis von Sucht. Das Wissen um die soziale Dimension wird durch die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionswissen in Fachteams und Supervision ergänzt. Dies bedeutet, sozialarbeiterisches Wissen wurde und wird in Fallbesprechungen, Intervision und Supervision entwickelt und fließt dann in Handlung und Organisationsstrukturen. Dieses speziell sozialarbeiterische Wissen ist aufgrund seiner fallbezogenen Entwicklung als so genanntes implizites Wissen zu kategorisieren. Somit entstehen die sozialarbeiterischen Interventionen und Organisationssturen auf Basis des in Beziehung Setzens von theoretischem (biopsychischem) Wissen, bereits erworbenem Professionswissen (Erfahrungswissen) und den Erfordernissen des konkreten Falls.

    Diskussion

    Im Rahmen der Untersuchung wurde deutlich, dass ambulante Suchtberatungsstellen strukturell eine vermittelnde Rolle einnehmen zwischen Maßnahmen zur Versorgung Hilfebedürftiger, welche in Leistungsverträgen zwischen den Ländern, Kommunen und einzelnen Beratungsstellen festgelegt werden, und Leistungen nach den SGB V und VI. Konkreter handelt es sich hierbei um eine exklusive Scharnierfunktion zu den Hilfen des Sozialgesetzbuches. Ziel ist die Klärung mit den KlientInnen, ob und wenn ja welche konkreten Maßnahmen in welchem Rahmen wann für den konkreten Einzelfall in Frage kommen. Die Bedeutung dieser Funktion für das Suchthilfesystem liegt darin, dass eine zeitlich und inhaltlich passgenaue Vermittlung in weiterführende Hilfen erfolgen kann. Dadurch werden diese Hilfen gewinnbringender und damit für das System ressourcenschonender von den KlientInnen genutzt, weil ihre Veränderungsmotivation ungleich höher zu sein scheint als die von KlientInnen, die diese Hilfen direkt aufsuchen oder ohne ausführliche Vorbereitung „technisch-admininstrativ“ vermittelt werden.

    Dieser Effekt kann entstehen, so die Vermutung, weil es den Fachkräften gelingt, eine funktionale Arbeitsbeziehung – teilweise unter den Bedingungen eines Zwangskontextes (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle) – zu den KlientInnen aufzubauen. Diese Arbeitsbeziehung ermöglicht die Auflösung der Ambivalenzen der KlientInnen bezüglich ihrer Veränderungsmotivation und die Gestaltung eines langfristigen Prozessbogens über den Rahmen einer aktuellen Behandlung hinaus. Dies erleichtert ein erneutes Hilfesuchverhalten bei Rückfällen. Aber auch wenn ein Hilfeprozess ohne weiterführende Maßnahmen abgebrochen wurde, besteht doch die Möglichkeit, dass die KlientInnen erneut Kontakt aufnehmen, da die Beendigung im Rahmen eines Arbeitsbündnisses und nicht im Rahmen eines Konfliktes erfolgte.

    Diese Funktion der ambulanten Suchthilfe im Gesamtsystem der Suchthilfe hat sich historisch entwickelt, ist aber bis heute gesetzlich nicht normiert. Zwar ist die ambulante Suchthilfe aktuell noch mit Ressourcen ausgestattet, aber diese werden auf freiwilliger Basis von Kommunen und teilweise durch Länder, Projekte und Träger gegenfinanziert. Abgesehen von der Unsicherheit, die diese Situation für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit und die Träger ihrer Organisation bedeutet, könnte diese Situation auch ein Risiko für die Versorgung Suchtkranker bzw. für die Effektivität von weiterführenden Maßnahmen insbesondere des SGB V und VI bedeuten, z. B. von Rehabilitationen oder Akutmaßnahmen wie Entgiftungen. Um möglichen Entwicklung in dieser Richtung vorzubeugen, ist es wichtig, dass die Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich ihrer Bedeutung im Gesamtsystem der Suchthilfe bewusst werden und die von ihnen wahrgenommen Aufgaben formulieren und nach außen vertreten. Nur so können notwendige Ressourcen für diese Arbeit, die das Scharnier zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung bildet, dauerhaft legitimiert und damit gesichert werden. Insbesondere die gesetzliche Legitimierung unter expliziter Einbeziehung sozialarbeiterischer Expertise über eine kommunale Kann-Leistung hinaus ist entscheidend, um einheitliche Standards, Ausstattungen und Aufträge für Suchtberatungsstellen formulieren und mit Blick auf integrierte Versorgung weiterentwickeln zu können.

    Implikationen für die Praxis

    Soziale Arbeit liefert einen komplexen Beitrag zur Versorgung Suchtkranker und ihrer Angehörigen im ambulanten Kontext. Schwerpunkt dieser Arbeit ist, eine bezogen auf den jeweiligen Einzelfall und auf regionale Versorgungsstrukturen optimale Verbindung zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung und anderen Hilfsangeboten herzustellen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sollten sich ihrer speziellen Expertise insbesondere in Bezug auf das multiperspektivische Fallverstehen, den Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses und die Gestaltung eines regionalen Hilfenetzes zur Optimierung der Versorgungsstrukturen bewusst werden. Konzepte der Sozialen Arbeit sollten explizit in Organisationskonzepte und Qualitätshandbücher als Standards mit aufgenommen werden, um die Ressourcen, die zu ihrer Umsetzung notwendig sind, dauerhaft zu sichern bzw. deren Evaluation und Weiterentwicklungen zu ermöglichen.

    Interessenkonflikte: Die Autorin gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

    Kontakt:

    Rita Hansjürgens
    Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Leostraße 19
    33098 Paderborn
    r.hansjuergens@katho-nrw.de
    www.katho-nrw.de/paderborn

    Angaben zur Autorin:

    Rita Hansjürgens, M.A., Dipl- Sozialarbeiterin, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn.

    Literatur:
    • Becker-Lenz, Roland; Müller, Silke (2009): Der professionelle Habitus in der sozialen Arbeit. Grundlagen eines Professionsideals. Bern: P. Lang.
    • Bogner, Alexander (2009): Experteninterviews. Theorien, Methoden, Anwendungsfelder. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
    • Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Aufl. Opladen: Leske + Budrich (UTB, 8242).
    • Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) (1999): Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe. Institut für Therapieforschung (IFT). Online verfügbar unter http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Beratungsstellen/leistungsbeschreibung_1999.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2013.
    • fdr (Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V.) (2005): Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe. Vorschläge des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel e. V. zu den Arbeitsgrundlagen von ambulanten Hilfen für Suchtkranke. Unter Mitarbeit von Michael Hoffmann-Bayer, Jost Leune und Birgit Wichelmann-Werth. Hannover, 2005.
    • Helas, Irene (1997): Über den Prozess der Professionalisierung in der Suchtkrankenhilfe. In: Elke Hauschildt (Hg.): Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Geschichte, Struktur und Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S. 147–161.
    • Helfferich, Cornelia (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden.
    • Kemper, Ulrich (2008): Der Suchtbegriff. Versuch einer Annäherung. In: Jahrbuch Sucht, S. 210–226.
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