Schlagwort: Komorbidität

  • ADHS in der Suchtrehabilitation

    ADHS in der Suchtrehabilitation

    Einleitung

    Dr. Ulrich Böhm
    Marcus Breuer

    Mitarbeitende in der Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen sind zunehmend mit AD(H)S als komorbider Störung konfrontiert. Aus Sicht der Rehabilitationseinrichtungen ist dieses Thema herausfordernd. Zum einen stellt das Krankheitsbild selbst eine Herausforderung dar, da die entsprechenden Symptome die Mitwirkungsfähigkeit durchaus beeinträchtigen können. Zum anderen sind die Erwartungen der Rehabilitand:innen hoch, im Zuge der Reha eine gründliche Diagnostik zu erfahren und umfassend behandelt zu werden. Hierbei stoßen die Einrichtungen häufig an die Grenzen ihrer Ressourcen. Auch eine externe Diagnostik steht meistens nicht zeitnah zur Verfügung. Außerdem besteht häufig ein Zielkonflikt: In der Suchtrehabilitation ist die Abstinenz das übergeordnete Behandlungsziel, die wirksamsten zugelassenen Medikamente gegen die ADHS bergen aber oft selbst das Risiko, abhängig zu machen. Ihr Einsatz wird unter Expert:innen unterschiedlich eingeschätzt. Die verschiedenen Herangehensweisen soll dieser Artikel deutlich machen.

    In der letztgültigen S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Registernummer 028 – 045, Stand 02.05.2017) steht zur Frage der Medikamentierung Folgendes: „Wenn eine medikamentöse Behandlung indiziert ist, sollen Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin als mögliche Optionen zur Behandlung der ADHS in Betracht gezogen werden.“ (Langfassung, S. 69) Weiter ist aufgeführt: „Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS, bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezialisten mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und Sucht erfolgen.“ (Langfassung, S. 70)

    Es finden also schwierigste Abwägungsprozesse in der Behandlung statt. Auch die Team-Dynamik wird durch das Thema beeinflusst. Es tauchen Fragen auf wie: Gibt es ADHS überhaupt? Werden wir nicht von Rehabilitand:innen manipuliert, damit sie legal Suchtstoffe erhalten? Ist es überhaupt gerechtfertigt, komorbid erkrankte Rehabilitand:innen mit Stimulanzien zu behandeln, welche Wirkung hat das auf die anderen?

    Bei der Idee zu diesem Beitrag war es uns besonders wichtig, keine Spaltungsprozesse zu induzieren, insbesondere medizinischer Dienst (Pflege, Ärzt:innen) und therapeutisch tätiges Personal sollten an einem Strang ziehen. Mit gutem Beispiel voran wurde diese Einführung von einem Psychologen und einem Arzt verfasst! Mit den hier vorgestellten Berichten von Expert:innen möchten wir Ihnen ein breiteres Bild der gelebten Praxis im Umgang mit ADHS in der Suchtrehabilitation bieten.

    Wir danken allen Expert:innen, die uns Auskunft gegeben haben! Dafür haben wir einen standardisierten Fragebogen zusammengestellt. Die ausformulierten Fragen lesen Sie in den ersten beiden Beiträgen, in denen wir selbst aus unseren Einrichtungen berichten. Die folgenden Darstellungen werden durch entsprechende Stichworte gegliedert.

    Wir wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre!

    Marcus Breuer & Dr. Ulrich Böhm


    Deutscher Orden Ordenswerke, Würmtalklinik, Gräfelfing

    Dr. Bernward Böhle
    Marcus Breuer

    Die Fragen beantworteten:
    Marcus Breuer, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut/ Sozialmedizin, Klinikleitung und Therapeutische Leitung
    Dr. Bernward Böhle, Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapie, Suchtmedizin, Notfallmedizin, Ärztliche Leitung

    Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

    Es gibt in unserer Klinik einen sogenannten Behandlungspfad „Komorbidität ADHS und Sucht“. Dieser steuert und systematisiert unser Procedere im Umgang mit einer möglichen ADS/ADHS. Der Behandlungspfad beinhaltet folgende Bereiche:

    a) Nach Diagnostik und Ableiten eines Schwerpunktes à modulares Vorgehen

    • Hauptproblembereich: Aufmerksamkeit und Konzentration
    • Hauptproblembereich: Hyperaktivität und Impulsivität
    • Bei Mischtypus à Kombination

    b) Psychoedukation und Störungsmodell

    c) Weitere therapierelevante Bereiche

    Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

    Hier sind mehrere Aspekte zu nennen: Erstens ist die Abwägung der Schwerpunktsetzung zwischen der Behandlung der Abhängigkeitserkrankung einerseits sowie der ADS/ADHS andererseits anspruchsvoll – dies betrifft insbesondere die Psychotherapie. Auch die Dauer der Reha-Behandlung ist hierbei relevant.

    Zweitens ist der Umgang mit der häufig geringen Frustrationstoleranz, der Ungeduld sowie der Hyperaktivität der betroffenen Rehabilitand:innen für das Behandlerteam häufig besonders anstrengend. Dies gilt insbesondere, wenn in Therapiegruppen mehrere Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS anwesend und involviert sind.

    Drittens ist die Unterscheidung zwischen Motivationsdefiziten einerseits und Schwierigkeiten in Folge der ADHS manchmal nicht ganz einfach zu treffen.

    Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

    Wir orientieren uns grundsätzlich an der jeweils gültigen AWMF-Leitlinie. Bei einer fraglich vorliegenden ADS bzw. ADHS verwenden wir – im Rahmen des oben erwähnten Behandlungspfades „ADHS und Sucht“ – mehrere Diagnostik-Bestandteile:

    • die „Adult Self Report Scale“ (ASRS) als Screening-Fragebogen
    • Fremdanamnese
    • Zeugnisse (insbesondere Grundschulzeugnisse)
    • die „Hamburger ADHS-Skalen für Erwachsene“ (HASE); diese beinhalten mehrere Subtests, u. a. die WURS-K (Wender Utah Rating Scale – Kurzform)
    • DIVA – Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen

    Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

    Ja, es findet – wenn gewünscht, sowie nach erfolgter Diagnostik – ggf. auch eine Medikation der ADHS statt, wir handeln hier ebenso wie auch bei anderen evtl. vorliegenden komorbiden psychischen Störungen. Es kommen hierbei ausschließlich Atomoxetin (Strattera) oder Antidepressiva mit einem noradrenergen Wirkmechanismus (z. B. SNRI, Venlafaxin) zur Anwendung. In unserer Klinik werden keine Methylphendidate und keine Amphetamine/Amphetaminderivate (Dexamphetamine, Lisdexamphetamine etc.) verwendet; das heißt, es gibt bei uns keine Verschreibung von BtM-Medikamenten wie Ritalin, Elvanse o. ä.

    Hintergrund für die Nicht-Verschreibung von Amphetaminderivaten ist die aus unserer Sicht deutlich zu hohe Gefahr einer Suchtverlagerung bzw. eines Missbrauchs dieser ADHS-Medikation.

    Wir unterscheiden in unserem Vorgehen hierbei nicht nach der Erstindikation Alkoholabhängigkeit vs. Drogenabhängigkeit; unser klinischer Umgang ist für beide Subgruppen gleich. Ein unterschiedlicher Umgang wäre in unserem Diagnosen-gemischten Reha-Setting auch nicht umsetzbar.

    Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

    Ja, die psychotherapeutischen Interventionen beziehen sich insbesondere auf die Bereiche Aufmerksamkeit, Konzentration, Umgang mit vorhandener Hyperaktivität sowie Impulskontrolle. Neben Psychoedukation und speziellem Skilltraining im Rahmen der Einzeltherapie planen wir, zukünftig in unregelmäßigen Abständen auch ein „Kompaktmodul ADHS“ als indikatives Kleingruppenagebot für betroffene Rehabilitand:innen anzubieten.

    Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

    Sport ist häufig eine wesentliche Säule für das Erlernen eines funktionaleren Umgangs mit der eigenen motorischen Unruhe. Insbesondere motorisch anstrengende Aktivitäten („Auspowern“) eignen sich daher gut.

    Bei Interesse besteht in der Ergotherapie die Möglichkeit, innerhalb eines wöchentlichen Angebotes Übungen zur Verbesserung in den Bereichen Konzentration bzw. Aufmerksamkeit durchzuführen.

    Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

    Ja, in unregelmäßigen Abständen im Rahmen von teaminternen Fortbildungen.


    Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen

    Dr. Ulrich Böhm

    Die Fragen beantwortete: Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung

    Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

    Im RehaCentrum Alt-Osterholz gibt es einen differenzierten Ansatz mit einem systematischen Procedere. Sollte sich aus der Anamnese und/oder dem klinischen Eindruck der Verdacht auf eine ADHS ergeben, wird dies fachärztlich untersucht und eine Diagnostik eingeleitet.

    Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

    In der Einrichtung besteht eine kritisch-differenzierte Haltung ohne ideologische Scheuklappen. Die Haltung „ADHS gibt es gar nicht“ ist kaum (mehr) spürbar. Dennoch werden insbesondere Rehabilitand:innen, die eine sehr süchtige Struktur mitbringen und mehr oder weniger offensiv für einen Einsatz von Stimulanzien eintreten, dabei eigene psychotherapeutische Anstrengungen vermeiden und das Heil in der Medikation sehen, kritisch in den Blick genommen. Hier sehen wir durchaus eine große Herausforderung.

    Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

    In der fachärztlichen Untersuchung geht es zunächst um die differentialdiagnostische Einordnung und ein Screening mit dafür geeigneten Testbögen. Sollte sich der Verdacht auf eine ADHS erhärten, werden weitere diagnostische Mittel eingesetzt: Anforderung alter Befunde, Vorlage von Grundschulzeugnissen, wenn möglich eine Fremdanamese. Leider besteht nicht die Möglichkeit einer ausführlichen Diagnostik, weder in der Reha-Einrichtung noch im ambulanten Umfeld. Es erfolgt eine enge Abstimmung zwischen Bezugstherapeut:in und dem fachärztlich psychiatrischen Kollegen, die für sehr wichtig erachtet wird. Insbesondere Verlaufsbeobachtungen im gruppentherapeutischen Kontext sind sehr wertvoll. Bei dringendem Verdacht empfehlen wir eine ausführliche Diagnostik und leiten diese ein, aus Termingründen finden diese Untersuchungen allerdings erst nach der Reha-Behandlung statt. Beim Einsatz von Medikamenten findet eine entsprechende (Vor)Diagnostik statt (Labor, EKG, RR-Kontrollen).

    Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

    Bei bereits fachärztlich vordiagnostizierter ADHS führen wir zunächst die Vormedikation fort, überprüfen aber auch die Diagnose während der Behandlung und setzen dann ggf. die Medikation ab, dies geschieht gar nicht so selten. Sollte sich die Diagnose klinisch bestätigen, setzen wir die Medikation (auch mit Stimulanzien) während der gesamten Behandlung fort.

    Bei nicht vordiagnostizierter Störung setzen wir bei starken klinischen Hinweisen für ADHS in einem ersten Schritt zunächst keine Stimulanzien ein. Bei Vorliegen einer begleitenden depressiven Symptomatik wird zunächst mit Bupropion behandelt, was häufig gute Effekte auch auf die ADHS bewirkt. Bei keiner komorbiden depressiven Symptomatik wird Atomoxetin eingesetzt. Sollten entweder starke Nebenwirkungen auftreten oder sich die klinische Symptomatik nicht verbessern, wird auch eine Medikation mit Stimulanzien geprüft und nach sorgfältiger Abwägung ggf. eingesetzt. Dabei wird die Indikation bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit oder auch mit Drogenabhängigkeit ohne stimulierende Substanzen etwas großzügiger gestellt.

    Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

    Jede:r Rehabilitand:in mit ADHS oder dem Verdacht auf eine ADHS erhält einen Betroffenenratgeber, und es finden verhaltenstherapeutische Interventionen statt. Es gibt allerdings keine Indikationsgruppe ADHS.

    Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

    Die betroffenen Rehabilitand:innen werden besonders für sporttherapeutische Angebote, insbesondere Ausdauersport, sensibilisiert.

    Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

    Es werden in der Einrichtung monatlich interne Fortbildungen angeboten. Eine Fortbildung zum Thema ADHS gab es bisher nicht, ist aber geplant.


    Netzwerk Suchthilfe gGmbH, Fachklinik Release, Ascheberg-Herbern

    Maren Ward

    Die Fragen beantwortete: Maren Ward, M.Sc. Suchttherapie, Therapeutische Leitung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Da unsere Einrichtung auf die Behandlung von komorbiden ADHS-Erkrankungen spezialisiert ist, gibt es ein systematisches Vorgehen, sowohl für Rehabilitand:innen mit vorbestehender ADHS-Diagnose als auch für solche, die im klinischen Alltag Anzeichen für das Vorliegen eines ADHS zeigen. Bei bereits vorbestehender Diagnose werden zunächst die bereits erfolgten Behandlungsversuche eruiert. Im direkten Gespräch mit den Rehabilitand:innen erfolgt außerdem eine Sondierung des individuellen Kenntnisstandes über ADHS. Im Rahmen von 1 zu 1 Psychoedukation werden grundlegende Inhalte vermittelt und bestehende Fragen der Rehabilitand:innen beantwortet. Im Anschluss erfolgt eine Integration in die ADHS-Gruppe.

    Im Rahmen der Einzeltherapien werden die Themen der Gruppentherapie aufgegriffen und ergänzt. Ergänzende arbeits-, ergo und sporttherapeutische Bausteine runden das Behandlungskonzept ab. Während der ärztlichen Visiten werden zudem medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten besprochen und eingeleitet.

    Haltung und Herausforderungen

    Wir legen in unserer Einrichtung großen Wert auf eine wertschätzende, ressourcenorientierte Haltung unser Mitarbeiter:innen im Umgang mit unseren Rehabilitand:innen. Ein Großteil der Menschen mit ADHS hat in der bisherigen Biografie erhebliche Selbstwertkränkungen erleben müssen, die teilweise zur Entwicklung weiter psychischer Störungen beigetragen haben. Wir wollen vermitteln, dass ein veränderter Hirnstoffwechsel zunächst nur eine besondere Art zu denken und zu sein bedeutet und dass sich erst über maladaptive Bewältigungsversuche eine Störung im eigentlichen Sinne ergibt. Wir wollen Rehabilitand: innen helfen, ihre Besonderheiten wertschätzend anzunehmen, und vermitteln dies durch die entsprechende Grundhaltung in unserer Mitarbeiterschaft. Wir versuchen, die besonderen Ressourcen, die diese Menschen mitbringen, in den Vordergrund zu rücken und ihnen damit zu ermöglichen, individuelle Defizite bestmöglich auszugleichen.

    Besondere Herausforderungen ergeben sich über die häufig vorliegenden komorbiden Erkrankungen wie z. B. Depressionen oder Angststörungen und die hohe Sensibilität für Selbstwertkränkungen, die sich durch die individuellen Biografien ergeben. Auch die Integration in die Arbeitstherapie erfordert besonderes Fingerspitzengefühl und eine hohe Fachkompetenz, da Rehabilitand:innen mit ADHS durch ihre Symptomatik meist gravierende Probleme haben, sich an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen.

    Rehabilitand:innen mit ADHS profitieren in besonderem Maße von tragfähigen Arbeitsbeziehungen zu unseren Mitarbeiter:innen. Sie benötigen immer wieder persönliche Ansprache und Motivationsarbeit, daher nimmt die Behandlung einen großen Anteil an  personellen Ressourcen in Anspruch.

    Diagnostik

    Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Rehabilitand:innen ohne bereits vorliegende Diagnose zu uns in die Behandlung kommen. Unsere Mitarbeiter:innen sind daher auf besonders dafür sensibilisiert, ihre Verhaltensbeobachtung entsprechend zu intensivieren. Ergeben sich Hinweise durch Beobachtungen, Anamnese oder Familienanamnese, so erfolgt zunächst ein Screening. Sollte dieses Auffälligkeiten zeigen, folgt eine standardisierte testdiagnostische Phase. Wir arbeiten hierbei sowohl mit den gängigen Fragekatalogen als auch strukturierten Interviews. Um eine ausführliche Erstdiagnostik gewährleisten zu können, arbeiten wir außerdem mit Befragungen der Angehörigen und der Sichtung alter Schulzeugnisse. Die Ergebnisse werden sowohl an ärztliche als auch therapeutische Leitung weitergeleitet. Schließlich werden im Rahmen von Behandlungskonferenzen, im interdisziplinären Team, diagnostische Erkenntnisse besprochen und Behandlungsschritte eingeleitet.

    Medikation

    In vielen Fällen ist eine medikamentöse Einstellung der Rehabilitand:innen erforderlich, um es ihnen zu ermöglichen, auf therapeutischer Ebene an ihren Problemlagen arbeiten zu können. Ist dies aus medizinischer Sicht vertretbar und vom Rehabilitanden erwünscht, erfolgt die Einstellung auf Lisdexamfetamin, Methylphenidat und Atomoxetin. Dabei werden keine generellen Unterschiede zwischen Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit gemacht, da beide Gruppen deutlich von der Behandlung profitieren.

    Psychotherapie

    Unser auf ADHS ausgerichtetes Behandlungskonzept hat in verschiedenen Bereichen speziell angepasste Behandlungsbausteine. Im Rahmen der Psychotherapie finden sowohl im einzel- als auch im gruppentherapeutischen Setting spezifische Angebote statt. Diese beziehen sich auf psychoedukative Inhalte und auf an individuelle Bedürfnisse des Einzelnen oder der Gruppe angepasste Inhalte.

    Besondere Ansätze

    Im Rahmen der Arbeitstherapie kommt es zu individuellen Job-Coachings. Es erfolgt eine Einteilung in an die Fähigkeiten der Menschen angepasste Modelarbeitsplätze. Im Rahmen der Ergotherapie kann bei Bedarf computergestütztes Konzentrationstraining erfolgen. Im Bereich der Sporttherapie nehmen Rehabilitand:innen an angeleiteten Ausdauereinheiten teil. Rehabilitand:innen steht außerdem eine Sauna zur Verfügung, um nach Bedarf durch physikalische Reize Spannungen regulieren zu können.

    Fortbildungsangebote

    Alle Mitarbeiter:innen werden regelmäßig in internen Fortbildungen geschult. Weitere externe Fortbildungsmöglichkeiten bestehen im Bereich Diagnostik. Je nach Bedarf werden weitere Inhalte in die Fortbildungsplanung integriert. Sowohl therapeutische Leitung als auch ärztliche Leitung sind ausgebildete Selbstwerttrainer bei ADHS. In unserer Wissensdatenbank befindet sich außerdem eine große Auswahl an Fachliteratur und Arbeitsmaterialien für verschiedene Berufsgruppen.


    CRT Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Fachklinik Nettetal, Wallenhorst

    Dr. Elke H. Sylvester

    Die Fragen beantwortete: Dr. Elke H. Sylvester, FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Chefärztin

    Umgang mit komorbider ADHS und Medikation

    In der Fachklinik Nettetal werden ausschließlich Männer mit der Hauptdiagnose Drogenabhängigkeit behandelt. Die Einrichtung hat 42 Plätze, davon acht in der Adaption.

    Eine ADHS wird als komorbide psychische Störung mitbehandelt. Eine bestehende Medikation mit Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin wird weitergeführt. Die Indikationsstellung wird insbesondere bei bekannter Amphetaminabhängigkeit kritisch mit dem Rehabilitanden und bei Bedarf auch im Trialog Rehabilitand, Bezugstherapeut:in, Arzt/Ärztin diskutiert. Dosisanpassungen und Absetzversuche erfolgen unter regelmäßigen Verlaufskontrollen in der ärztlichen Sprechstunde und werden in Fallbesprechungen thematisiert.

    Medikamentöse Neueinstellungen im Rahmen der Rehabilitationsbehandlung erfolgen in der Regel mit Atomoxetin.

    Die medikamentöse Therapie ist eingebettet in den Gesamtbehandlungsplan mit strukturierenden Maßnahmen im Rahmen der Arbeits- und Ergotherapie, Einzel- und Gruppentherapie, der indikativen und edukativen Gruppenangebote sowie der Sport- und Freizeitangebote u.s.w.

    Haltung und Herausforderungen

    Das Konzept der Fachklinik Nettetal sieht die Mitbehandlung weiterer komorbid bestehender psychischer Störungen vor. Es besteht die Haltung, dass eine erfolgreiche Suchtbehandlung nur gelingen kann, wenn alle diagnostizierten psychischen Störungen Berücksichtigung finden. Die besondere Herausforderung bei der ADHS-Therapie liegt aus meiner Sicht in der Akzeptanz der Therapie mit Psychostimulanzien, also Medikamenten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und ein eigenes Abhängigkeitspotenzial besitzen. Die kritische Diskussion insbesondere im Hinblick auf eine bestehende Amphetaminabhängigkeit erfolgt regelmäßig in Einzelfall- und Teambesprechungen.

    Diagnostik

    Die Diagnostik in der Fachklinik Nettetal umfasst die klinische Beobachtung, wenn möglich die Vorlage von Grundschulzeugnissen sowie die Durchführung der Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene (HASE). Bei positivem Befund erfolgt die Aufklärung des Rehabilitanden über die Diagnose und die therapeutischen Möglichkeiten inklusive der medikamentösen Therapie, die aufgrund der bestehenden Abhängigkeitserkrankung – wie oben erwähnt – vorzugsweise mit Atomoxetin durchgeführt wird.

    Medikation

    Sofern bei Rehabilitanden bereits eine medikamentöse Therapie etabliert ist, wird diese weitergeführt. Dabei kommen wie o.g. Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin zur Anwendung. Mit einer medikamentösen Therapie mit Guanfacin bestehen bislang keine Erfahrungen.

    Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin fallen als Psychostimulanzien unter das Betäubungsmittelgesetz und haben ein eigenes Abhängigkeitspotenzial, so dass die Gabe in einem schützenden Rahmen der Suchtbehandlung der besonderen Sorgfalt bedarf. Auch sollte ein Procedere bei nicht regulärer Entlassung im Vorfeld besprochen werden, um eine unkontrollierte Einnahme bzw. einen Weiterverkauf der Medikamente möglichst zu verhindern.

    Atomoxetin wird von Patienten, die Erfahrungen mit Psychostimulanzien haben, oft als weniger wirksam empfunden.

    Psychotherapie

    Die komorbide ADHS findet Berücksichtigung in der Bezugstherapie bei der Erstellung des Störungsmodells, der Reha-Zielformulierung sowie der Prozessgestaltung. Ein besonderer Fokus wird auf die Alltagsstrukturierung gelegt. Edukative und indikative Gruppenangebote (u. a. Entspannungstraining, Achtsamkeitstraining, Training emotionaler Kompetenzen) werden nach individueller Indikation in den Rehabilitationsplan integriert.

    Besondere Ansätze

    Nach einem Screening wird in der Ergotherapie bei auffälligem Befund ein RehaCom-Training durchgeführt. Die Teilnahme an der Nordic Walking- oder Laufgruppe wird dringend empfohlen, der Zusammenhang zwischen Ausdauersport und psychischer Stabilität wird individuell erläutert.

    Fortbildungsangebote

    In Teamsitzungen werden sowohl anhand von Einzelfällen als auch in kurzen Referaten von  Mitarbeitenden Informationen zu unterschiedlichen Thematiken gegeben, z. B. komorbide psychische Störungen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, neue diagnostische Verfahren, neue Medikamente.


    Drogentherapie-Zentrum Berlin gGmbH, Fachklinik LAGO am Wannsee

    Dr. Frank Puchert

    Die Fragen beantwortete: Dr. Frank Puchert, Chefarzt

    Umgang mit komorbider ADHS

    Grundsätzlich stellen wir fest, dass die mehrmonatige stationäre Behandlung unter recht sicheren abstinenten Bedingungen bei der Diagnostik und Therapie des AD(H)S nachhaltige Vorteile bietet.

    Wir wissen und stellen im Kontakt mit den Rehabilitand:innen fest, dass Aufmerksamkeitsprobleme bei Substanzabhängigen häufig sind. Nicht selten hilft reines Abwarten. Nicht nur bei Cannabisnutzern – bei denen aber besonders häufig – bildet sich das Problem zurück. Wir beobachten quasi gemeinsam mit den Rehabilitand:innen, wie sich kognitive Folgen des Konsums über die Wochen legen. Über die reine Entwöhnung hinaus bestehen keine zusätzlichen Behandlungsnotwendigkeiten bei dieser Gruppe von Betroffenen.

    Es gibt auch andere. Bei einigen lässt sich im engeren Sinne feststellen, dass der Konsum ursprünglich sogar der Versuch war, das Aufmerksamkeitsproblem zu bekämpfen. Betroffene berichten insbesondere bei dem Konsum von Stimulanzien Ungewöhnliches: sie seien darunter ruhiger geworden, sogar strukturierter. Mitunter erwähnen Rehabilitand:innen sogar Teilhabevorteile: sie seien in der Schule besser mitgekommen, hätten nur unter Konsum eine Ausbildung durchgehalten etc. Diese Personen leiden häufig in besonderer Weise unter dem Wegfall der Substanzwirkung.

    Bei dieser Gruppe von Betroffenen sowie bei denen, die klinisch als aufmerksamkeitsbeeinträchtigt auffallen, sind wir zusätzlich therapeutisch herausgefordert. Hier legen wir besonderen Wert auf fokussierende und achtsamkeitsfördernde Therapien wie Entspannungsübungen, kognitives Training, Bogenschießen etc. Sport stellt auch hier einen wichtigen Therapiebestandteil dar.

    Diagnostik

    Bei hartnäckigen und anhaltenden Problemen unternehmen wir weitere diagnostische Schritte beginnend damit, dass wir evaluieren, ob das Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsproblem anamnestisch anhaltend und früh beginnend ist. Wir streben immer fremdanamnestische Daten an in Form von Berichten Angehöriger, Zeugnissen, mitunter auch in Form von Behandlungsberichten z. B. aus kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken.

    Dies wird ergänzt durch Fragebogendiagnostik (ADHS-Selbstbeurteilungsskala von Rösler et al.), die mit dem Problem behaftet ist, dass subjektive Schilderungen (und Überzeugungen) einen großen Stellenwert haben.

    Medikation

    In der Zusammenschau stellen wir behandlungsbedürftige ADHS/ADS-Probleme fest, die aufgrund der Ausprägung und/oder des individuellen Leidensdrucks die medikamentöse Behandlung nahelegen. Leitliniengerecht empfehlen wir Atomoxetin. Dabei sind die ausreichende somatische Diagnostik und die informierte Zustimmung selbstverständlich. Da wir nicht selten beunruhigende Nebenwirkungen sahen, ist uns die Aufklärung darüber besonders wichtig. Häufiger erlebten wir urogenitale Nebenwirkungen wie spontane Ejakulationen. Auch psychische Auffälligkeiten in Form affektiver Beeinträchtigungen sind wichtig. Selten erlebten wir psychotische Symptome.

    Ein großer Teil der Rehabilitand:innen erlebt wenig Nebenwirkungen, ist zufrieden und will die Behandlung nach Entlassung fortsetzen. Dies erfordert frühzeitige Planung, um kompetente verordnende Ärztinnen und Ärzte zu finden sowie aber auch Lieferengpässe zu evaluieren.

    Bei Nichtwirksamkeit der Atomoxetinbehandlung machten wir Behandlungsversuche bspw. mit Bupropion, die uns nicht sehr überzeugt haben.

    Da wir uns entschieden haben, konsequent ohne potenziell Abhängigkeit erzeugende Medikamente zu behandeln, verzichten wir auf die Vergabe von Stimulanzien. Häufig organisieren wir die Weiterbehandlung in Praxen, wo dies dann ambulant ermöglicht werden kann.


    ADV – Rehabilitation und Integration gGmbH, Fachklinik F42, Berlin

    Martin Rüdiger

    Die Fragen beantwortete: Martin Rüdiger, Psychologischer Psychotherapeut, Therapeutische Leitung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Wir gehen da immer individuell vor. Die meisten vermeintlichen ADHS-Diagnosen stellen sich als Selbstdiagnosen heraus und erfüllen nur selten die tatsächlichen Kriterien. Sollte sich eine tatsächliche ADHS-Diagnose abzeichnen, geht es zunächst darum, den Leidensdruck, bisherige eigene und professionelle Bewältigungsversuche, Zusammenhänge mit der Abhängigkeitserkrankung sowie Veränderungswünsche der Betroffenen zu eruieren. Danach wird dies in die jeweilige Behandlung implementiert (und eine eventuelle Weitervermittlung nach Ende der Therapie in Betracht gezogen). Zudem wird eine mögliche, der primären Abhängigkeitserkrankung angemessene, Medikation geprüft.

    Haltung und Herausforderungen

    Unserer Erfahrung nach sind die tatsächlichen Veränderungsmöglichkeiten bei dieser Diagnose eher gering, die Abgrenzung zu grundlegenden Bindungsproblemen im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung ist schwierig. Insofern geht unsere Arbeit weniger in Richtung Symptomkontrolle, sondern fokussiert auf eine komplementäre, validierende Beziehungsgestaltung und Erkrankungs-Akzeptanz.

    Diagnostik

    Die Diagnostik erfolgt anhand der Anamnese nach Behandlungsbeginn, wenn nötig ziehen wir ein strukturiertes Interview hinzu. Meist scheitert die Diagnosestellung an den objektiven Daten (Zeugnisse etc.) aus der Kindheit.

    Medikation

    Ja, in diesem Fall verwenden wir ausschließlich Atomoxetin.

    Fortbildungsangebote

    Bei Interesse der Mitarbeitenden wird an externe Fortbildungsangebote verwiesen.


    Alida Schmidt-Stiftung, Fachkrankenhaus Hansenbarg, Hanstedt

    Die Fragen beantworteten:
    Dr. Susanne Schulze, Oberärztin
    Bertrand Evertz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt
    Philine Kreter, Psychologin M.sc. und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Seit einigen Jahren richten wir in unserer Klinik ein besonderes Augenmerk auf AD(H)S-Symptome und fragen diese bereits im psychiatrischen Aufnahmegespräch sondierend ab. Ergeben sich hierbei anamnestisch oder klinisch Hinweise auf das Vorliegen eines AD(H)S, erfolgt durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten die gezielte Diagnostik mittels Fragebögen und Interview unter Beachtung möglicher Differentialdiagnosen und Komorbiditäten wie z. B. Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgestörungen. Bestätigt sich der Verdacht und lässt sich das AD(H)S als aufrechterhaltender oder erschwerender Faktor für die Abhängigkeitserkrankung identifizieren, erhält die Rehabilitandin / der Rehabilitand nach Ausschluss von Kontraindikationen das Angebot einer medikamentösen Therapie.

    Haltung und Herausforderungen

    Berufsgruppenübergreifend gibt es in unserer Klinik eine offene Haltung gegenüber der Thematik. Im Umgang mit den Rehabilitand:innen nehmen wir die Auswirkungen der Neurodivergenz auf das Verhalten, Erleben und Fühlen (auch auf die Suchtentwicklung) in den unterschiedlichen therapeutischen Bereichen wahr. Diagnostische Hinweise kommen nicht selten auch aus der Arbeits- und Physiotherapie. Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit ADHS fallen in allen Bereichen zumeist primär durch ihre motorische Unruhe und Impulsivität, andererseits aber auch durch Kreativität und Leistungsbereitschaft auf und reagieren oftmals sehr dankbar auf die Diagnosestellung und das Behandlungsangebot. Dies wirkt sich positiv auf die Beziehungsgestaltung aus und ermöglicht oft gute therapeutische Erfolge.

    Herausfordernd stellen sich zuweilen eine mit der Impulsivität einhergehende Aggressivität und Einschränkungen in der Selbststeuerung dar, die insbesondere dann limitierend für den Reha-Erfolg sind, wenn nicht frühzeitig eine adäquate (medikamentöse) Therapie begonnen werden kann.

    Diagnostik

    Bei Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise erfolgt die ADHS-Diagnostik mittels Selbstauskunftsbögen bzgl. der Kindheit und der Gegenwart, mittels eines standardisierten klinischen Interviews durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten und – sofern verfügbar – mittels fremdanamnestischer Einschätzungen durch Angehörige bzw. anhand von Schulzeugnissen. Ergänzend ermöglichen die Teilnahme an einem AD(H)S-Infoseminar und zur Verfügung gestellte Fach- und Selbsthilfeliteratur es den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden selbst, Stellung zu den diagnostischen Einschätzungen zu beziehen.

    Medikation

    In der Behandlung eines klinisch relevanten und für die Prognose der Sucht und anderer psychiatrischer Komorbiditäten sowie der Arbeitsfähigkeit entscheidenden AD(H)S kommen bei uns in erster Linie Methylphenidat und Lisdexamfetamin zum Einsatz. Die leitliniengemäße Behandlung mit Atomoxetin erfolgt eher selten – einerseits auf Grund der vergleichsweise geringeren Wirksamkeit bei ausgeprägtem ADHS und der etwas geringeren Akzeptanz auf Grund von Nebenwirkungen, andererseits auch auf Grund der unsteten Verfügbarkeit mit schwer kalkulierbaren Lieferengpässen.

    Kommt auf Grund somatischer oder psychiatrischer Komorbiditäten eine Behandlung mit den genannten Präparaten nicht in Frage, greifen wir im Einzelfall auf Bupropion zurück, wobei sich dieses in seiner Wirksamkeit oftmals als nicht befriedigend erweist.

    Das Risiko eines Medikamentenmissbrauchs vor dem Hintergrund der Suchterkrankung besteht und wird mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden offen thematisiert. Insbesondere bei bestehender Drogenabhängigkeit muss die Medikation zuweilen im Verlauf wieder abgesetzt werden, wenn sie sich als „Trigger“ und damit Risikofaktor für einen Rückfall erweist.

    Schwierigkeiten ergeben sich zudem häufig bei der Planung der ambulanten Weiterverordnung im Anschluss an die Reha – einerseits aus krankheitstypischen Gründen: Menschen mit AD(H)S neigen dazu, Aufgaben aufzuschieben, andererseits und vor allem auf Grund der bekannten Hürden bei der Facharztsuche.

    Psychotherapie

    Aktuell wird von psychotherapeutischer Seite einmal monatlich eine interaktionelle Informationsgruppe zu AD(H)S angeboten. In den einzeltherapeutischen Gesprächen wird im Zuge der ADHS-Diagnostik auf individuelle Probleme und Lösungsmöglichkeiten eingegangen. Betroffene Rehabilitand:innen werden ermuntert, auch in gruppentherapeutischen Sitzungen die für sie nützlichen Fidgets zu nutzen. Eine indikative Gruppe zu psychotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten und Skills im Umgang mit Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Prokrastination ist in Planung.

    Besondere Ansätze

    Bislang sind AD(H)S-spezifische Angebote in der Bewegungs- und Ergotherapie noch nicht etabliert. Individuell wird in diesen Bereichen aber störungssensibel auf die besonderen Bedürfnisse eingegangen.

    Fortbildungsangebote

    Hausintern erfolgen Fortbildungen zu Symptomatik und Diagnostik der AD(H)S und es besteht das Angebot von Fallbesprechungen und Supervision. Die Inhalte externer Fortbildungen einzelner Mitarbeitender werden von diesen im Rahmen von Teambesprechungen präsentiert.


    Deutscher Orden Ordenswerke, Schlosspark-Klinik, Bergisch Gladbach

    Sven Bange

    Die Fragen beantwortete: Sven Bange, FA für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Leitender Arzt der Schlosspark-Klinik, jetzt: Einrichtungsleitung der Schwarzbachklinik, Ratingen

    Umgang mit komorbider ADHS

    Zunächst erfolgt eine umfassende Anamneseerhebung und Standarddiagnostik, danach werden die klinischen Eindrücke aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragen und bei Hinweisen oder Vorbefunden zum ADS/ADHS wird eine Abklärung durch ausführliche Diagnostik (HASE vs. Differentialdiagnostik) und Fremdanamnesen/Zeugnisse usw. durchgeführt. Frühestens ca. vier Wochen nach Aufnahme (keine Entzügigkeit mehr, Umstellungsprozess an die Klinikbedingungen fortgeschritten) erfolgt eine medikamentöse Einstellung, der Behandlungsplan wird entsprechend den individuellen Bedürfnissen angepasst (s. u.).

    Haltung und Herausforderungen

    ADHS wird als Erklärungsmodell eingebaut (Selbstbehandlungsversuch/biografische Einordnung) und damit auch dem Patienten zur Verfügung gestellt. Wir erstellen eine individuelle Behandlungsplanung: Was braucht dieser Patient gerade, was steht für ihn im Mittelpunkt? Oft ist die Behandlung der ADHS als hilfreicher Teil der Rückfallprophylaxe zu verstehen. Auch wenn bei uns die Behandlung der Sucht im Fokus steht, ist dies oft gar nicht so sehr voneinander zu trennen. Herausfordernd ist die medikamentöse Einstellung bei mehreren Diagnosen. Wo fängt man bei der therapeutischen Arbeit an (viele Baustellen)? Eine andere Herausforderung besteht darin, sich nicht vom Patienten „anstecken“ zu lassen und Themen-/Sensations-Hopping mitzumachen.

    Diagnostik

    • HASE (WURS-K, ADHS-SB als Screening, WRI ggf. zur Klarifizierung)
    • Ggf. Leistungsdiagnostik, z. B. d2-R
    • Vorbefunde einfordern (Vorbehandlungen, Grundschulzeugnisse), Fremdanamnese (z. B. Eltern)

    Medikation

    Unserer Erfahrung nach ist eine Medikation oft erst der Schlüssel zur gelingenden Therapieteilnahme. Durch die rasche und bessere Wirksamkeit von Medikinet adult gegenüber den oft Wochen brauchenden „Antidepressiva“ wie Strattera usw. sehen wir hier einen klaren Vorteil. Wir sehen jedoch keinen Vorteil von Elvanse gegenüber Medikinet, insbesondere durch die auch nicht mehr testbare Abgrenzung zum Meth-/Amphetamin-Konsum. Daher setzen wir Elvanse nicht mehr ein und versuchen bei derartiger Vormedikation umzustellen. Zu beachten ist natürlich der mögliche Missbrauch von Medikinet durch nasalen Konsum, Sammeln oder das „Weitergeben“ an Nicht-Betroffene. Das lässt sich durch klare Ausgabestrukturen gut regeln.

    Psychotherapie

    Je nach Patientenschaft bieten wir im Bereich Psychotherapie eine Skillsgruppe für ADHS und psychoedukative Einheiten (z. B. Medizin-Infogruppe) an. Nicht speziell für ADHS besteht ein allgemeines Angebot von anspannungssenkenden Interventionen wie Achtsamkeitstraining, Akupunktur, achtsames Dartspielen und Ausdauertraining. Zu Beginn kann es erforderlich sein, dass tägliche Kurzkontakte mit den Bezugstherapeut:innen zur Strukturierung und einer besseren Einpassung in den Alltag stattfinden. Hierdurch können auch Überforderungssituationen mit Hochanspannung und Konflikten vermieden werden.

    Besondere Ansätze

    Zu Beginn der Therapie wird ein Hirnleistungstraining durchgeführt. Treten dort besondere Defizite auf, bekommen die Patienten ein indikatives Hirnleistungstraining zur Förderung von Konzentration, Durchhaltevermögen und Aufmerksamkeit. Die Zeit wird individuell angepasst und langsam gesteigert. Auch die äußeren Umstände können variiert werden je nach Level der Ablenkbarkeit.

    In der Arbeitstherapie bekommen ADHS-Betroffene zunächst aktivere Aufgaben wie im Bereich Garten und Hof sowie der Holzwerkstatt. Im Laufe der Wochen werden sie Stück für Stück an Aufgaben herangeführt, die ein längeres Sitzen und größere Aufmerksamkeitsspannen erfordern, sowie an künstlerisch meditative Aufgaben, z. B. meditatives Malen oder Mandala. In der Arbeitstherapie wird meist allein gearbeitet, auch um Konflikte durch impulsive Handlungen zu vermeiden und Sicherheit zu vermitteln.

    In den ergotherapeutischen Bezugsgruppenstunden geht es zunächst um das Bremsen des Patienten und das Heranführen an die Bezugsgruppe. Ziel ist, Teamfähigkeit und Teamarbeit zu ermöglichen. Im Verlauf ist eine Erweiterung und Anpassung der ergotherapeutischen Ziele sehr regelmäßig erforderlich, um auf die neu erreichten Fähigkeiten aufbauen zu können.

    In der Sporttherapie ist die Ausdauer-orientierte Laufgruppe mit moderater Intensität meistens hilfreich sowie weitere achtsamkeitsbasierte Einheiten wie Körperwahrnehmungstraining, Entspannungsverfahren, achtsames Dartspielen usw. Bei fortgeschrittenen Patienten wird auch Bouldern zur Fokussierung eingesetzt. Bei Mannschaftssportarten ist insbesondere zu Beginn der Behandlung besonders auf die „explosive“ Gruppendynamik durch beteiligte ADHS-Betroffene zu achten.

    Zusätzlich wird Ohr-Akupunktur und Kurzmeditation je zweimal wöchentlich bei freiwilliger Teilnahme angeboten.

    Fortbildungsangebote

    In wiederkehrenden Zyklen oder bei neuen Mitarbeitenden erfolgen regelhaft Schulungen zu dem Thema, zur Klinikhaltung und unseren Behandlungsansätzen. Im gelebten Alltag wird, wie bei anderen begleitenden Störungsbildern auch, immer wieder am Beispiel des aktuellen Patienten in Teamsitzungen, Supervisionen, Fallkonferenzen oder im direkten Kontakt zwischen Team/Bezugstherapeut:nnen und Klinikleitung der Austausch und die gemeinsame Abstimmung des Umgangs praktiziert.


    MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, Oppenweiler

    Dr. Martin Enke
    Prof. Dr. Tillmann Weber

    Die Fragen beantworteten:
    Prof. Dr. Tillmann Weber, ehem. Chefarzt der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, jetzt: Blomenburg Privatklinik Selent, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
    Dr. Martin Enke, Klinikleitung & Leitender Psychologe der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim

    Umgang mit komorbider ADHS

    Die MEDIAN Klinik Wilhelmsheim ist eine Rehabilitationseinrichtung für Abhängigkeitserkrankungen von Alkohol, Medikamenten, Cannabis und pathologischem Glücksspiel. Zur Behandlung häufiger, mit der Abhängigkeit eng interagierender psychischer Komorbiditäten bauen wir aktuell ein spezifisches, paralleles Behandlungskonzept für ADHS, Depressionen und Traumafolgestörungen aus. ADHS hat schon seit einigen Jahren aufgrund der in der stationären Entwöhnung hohen Komorbidität von bis zu 20 Prozent einen hohen Stellenwert in der Behandlung in unserer Klinik. Alle neu aufgenommenen Patienten durchlaufen ein Screening auf ADHS. Ziel ist eine frühzeitige Diagnostik bzw. Überprüfung der Vordiagnose, um eine leitliniengerechte medikamentöse und psychotherapeutische Mitbehandlung schon während der Suchtreha zu gewährleisten. Diese ist strukturell und inhaltlich ergänzend zur Abhängigkeitsbehandlung aufgebaut. Die parallele, aber in den Gesamtbehandlungsplan integrierte Behandlung ermöglicht eine gleichwertige Therapie zur Abhängigkeitserkrankung durch separates Fachpersonal.

    Haltung und Herausforderungen

    Erwachsene mit ADHS können unter einer Vielzahl von Einschränkungen leiden, die sich noch aus der kindlichen Entwicklungsstörung, aus nicht selten fehlangepassten Alltagskompensationen und aus den neurobiologisch gegebenen Defiziten der ADHS selbst ergeben. In den Biographien unserer Patienten sehen wir einen oft dysfunktionalen, aufrechterhaltenden Umgang mit diesen Einschränkungen oder eine mangelnde Behandlung der Einschränkungen. Dafür sehen wir aber teilweise frühe Versuche, sich mit dem Konsumieren von Substanzen selbst zu helfen. Im Ergebnis sind ADHS und Abhängigkeit(en) eng verwobene Krankheiten, die ein komplexeres Vorgehen benötigen.

    Als Klinik ist es unser Anspruch, beide Erkrankungen parallel, aber auch deren komplexe Zusammenhänge integrativ zu behandeln. Es entspricht nicht unserer Haltung, lediglich die Abhängigkeit zu extrahieren und die Behandlung der ADHS auf nachfolgende Angebote zu verschieben. Dieses Vorgehen würde höhere Rückfälle und unzureichende Therapien verursachen. Die Herausforderung unseres ganzheitlichen Behandlungsansatzes ist es, die komplexere Symptomatik in der gegebenen Reha-Zeit auch (an)behandeln zu können. Dafür steigern wir in Absprache mit der Rentenversicherung personelle Ressourcen, mit denen eine parallele Diagnostik, psychiatrische Behandlung und psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapie erfolgt.

    Diagnostik

    Innerhalb der ersten ein bis zwei Wochen nach Aufnahme durchlaufen alle Patienten ein Screening auf ADHS mit einer hohen Sensitivität. Das ist wichtig, da ADHS in vielen Fällen sonst unterdiagnostiziert bliebe, da die Betroffenen nachvollziehbar oft wenig Einsicht in die lebenslang begleitende Symptomatik haben. Bei positivem Screening erfolgt eine detailliertere klinische Befragung und psychometrische Diagnostik durch Fachpersonal. Grundlage ist der Nachweis der ADHS in der Kindheit. Meistens müssen wir diese durch anamnestische Erhebungen, Zeugnisse und Fremdbeurteilungen nachträglich feststellen. Die aktuelle Symptomatik muss durch psychometrische Selbst- und Fremdbeurteilungen sowie klinische Interviews bestätigt werden. Aufgrund der häufigen Komorbiditäten und Symptomüberschneidungen wird die endgültige Diagnose in interdisziplinärer Beurteilung von Psychotherapeuten und Psychiatern festgelegt. In einem etwas vereinfachteren Vorgehen überprüfen wir auch Vordiagnosen.

    Medikation

    Grundsätzlich klären wir alle Patienten mit einer ADHS über die psychopharmakologischen Behandlungsoptionen auf und sprechen dann individuelle Empfehlungen aus. Unser medikamentöses Behandlungsspektrum umfasst die in Deutschland zugelassenen Methylphenidate mit verzögerter Wirkstofffreisetzung (Medikinet adult®, Ritalin adult®), Lisdexamphetamin (Elvanse adult®) und Atomoxetin (Strattera®). Selten können unter bestimmten Voraussetzungen auch sog. Off-Label-Medikamente (Bupropion (Elontril®) oder Guanfacin (Intuniv®)) verordnet werden. Eine relative Kontraindikation für Stimulanzien besteht bei Patienten, bei denen ein Stimulanzienmissbrauch oder Weiterverkauf wahrscheinlicher ist, was bei Patienten aus dem Drogenmilieu (z. B. Dealen, Beschaffungskriminalität) häufiger zutrifft.

    Psychotherapie

    Patienten mit ADHS nehmen an einer geschlossenen Gruppentherapie über 15 Sitzungen teil, die während des stationären Aufenthaltes parallel zur Suchttherapie stattfindet. In dieser Gruppentherapie werden neben psychoedukativen Elementen die Introspektionsfähigkeit für die Symptomatik und Anspannung/Nervosität erhöht, Handlungskompetenzen erweitert und Selbstmanagementstrategien für Impulsivität aufgebaut. Es werden Zukunftsperspektiven mit ressourcenorientierten Ansätzen vertieft sowie Fähigkeiten zur Selbstorganisation verbessert. Zum Erreichen der verbesserten Handlungskompetenzen werden derzeit Möglichkeiten zu Einzeltherapiesitzungen aufgebaut, um aufrechterhaltende Faktoren individuell zu behandeln. Eine psychotherapeutische Kleingruppentherapie zur alltagsnahen Behandlung von aufschiebendem Verhalten und Desorganisation ist ebenfalls zeitnah geplant. Für nähere Informationen lesen Sie hier: Sucht und ADHS | MEDIAN Kliniken.

    Besondere Ansätze

    Bewegungs- und nicht sprachliche Therapien haben eine wichtige, adjuvante Rolle in der Behandlung. Sport- und Bewegungstherapie gehören daher zum festen Wochenplan sowie in den ersten Wochen auch samstags. Hinzu kommt die Kunsttherapie einmal pro Woche. Über computergestützte Therapien werden Konzentration und kognitive Kompetenzen trainiert. Insgesamt bieten wir weit über 30 indikative Gruppentherapien an, um individuelle Problembereiche aufzugreifen, die jedoch nicht störungsspezifisch auf die ADHS-Patienten ausgerichtet sind, sondern allen Patienten zur Verfügung stehen.

    Fortbildungsangebote

    Da wir im Rahmen unseres SuchtPlus-Konzeptes u. a. die komorbide ADHS als Therapieschwerpunkt behandeln und dafür Fachpersonal vorhalten, erfolgen regelmäßig interne und externe Fortbildungen.


    Deutscher Orden Ordenswerke, Schwarzbachklinik, Ratingen

    Sebastian Winkelnkemper

    Die Fragen beantwortete: Sebastian Winkelnkemper, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Chefarzt der Schwarzbachklinik, jetzt: Chefarzt des MEDIAN Rehazentrums Daun – Thommener Höhe und Altburg

    Umgang mit komorbider ADHS

    Bei uns wird vor allem auf die klinische Beobachtung Wert gelegt. Wir arbeiten in den monatlich stattfindenden Fallbesprechungen die UTAH-Wender Kriterien – Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität (z. B. Gefühl der inneren Unruhe), Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, mangelnde Affektkontrolle, Impulsivität, emotionale Überreagibilität – wiederholt „durch“ und achten hierbei auf die Schilderungen aus den unterschiedlichen Bereichen. Die Darstellung aus dem Sport und hierbei insbesondere aus Mannschaftssportarten (Impulsivität) sowie aus der Ergo- und Arbeitstherapie sind von zentraler Bedeutung. Die Einholung einer Fremdanamnese gelingt oftmals nicht, da der Kontakt der Rehabilitand:innen zu den eigenen Eltern nicht immer besteht. Schulzeugnisse sind oftmals ebenfalls nicht einzuholen. Psychologische Testungen wie Impulsivitätsabfragen und der HASE runden die Diagnostik im Bedarfsfall ab, wobei der klinische Eindruck regelhaft im Vordergrund steht.

    Haltung und Herausforderungen

    Sofern eine ADS/ADHS gesichert werden kann, stellen wir regelhaft fest, dass diese vor der Entwicklung der Suchterkrankung bestand. Die Bearbeitung des therapierelevanten Modells wird in diesem Fall beeinflusst und „erleichtert“. Der Konsum erfolgte meist im Sinne einer Selbstmedikation zur Überwindung/Reduktion der Symptome. Mit der Abstinenz ist bei Persistenz der Erkrankung im Erwachsenenalter festzustellen, dass die Symptomatik „durchschlägt“, sich erneut zeigt. Die medikamentöse Behandlung beeinflusst meist lediglich die Konzentrationsfähigkeit und die Fokussierung, so dass anfänglich die Affektlabilität, die Impulsivität und die Desorganisation als Herausforderung zu sehen sind. Die Strukturierung und Begleitung in unserer Einrichtung helfen sicher zur Begleitung und Reduktion der Desorganisation. Eine Herausforderung stellt der Umgang mit Impulsivität und mangelnder Affektkontrolle dar. Anfänglich ist es bei Impulsivität und Emotionalität mitunter erforderlich, „fünfe gerade sein zu lassen“, hier ist es wichtig, therapeutisch darauf einzugehen. Es stellt allerdings eine Überforderung der betroffenen Rehabilitand:innen dar, dies mit der Aufnahme zu erwarten.

    Diagnostik

    Die Anamnese und die klinische Beobachtung aus allen Arbeitsbereichen in der Fachklinik liefern die stimmigsten Hinweise. Wie bereits geschildert, orientieren wir uns an den UTAH-Wender Kriterien und versuchen, die Fremdanamnese einzuholen, auch wenn dies regelhaft misslingt. Ggfs. ergänzen wir die Diagnostik durch die Testung nach HASE und regelhaft durch Impulsivitätsfragebögen.

    Medikation

    Bisher verfügte die Fachklinik leider nicht über die Möglichkeit der BtM-Behandlung. Nachdem wir Anfang 2025 das Pflegezimmer umgebaut haben, können wir zukünftig auch auf Methylphenidate und Lisdexamphetamin zurückgreifen. Bisher haben wir mit Atomoxetin oder bei gleichzeitigem Wunsch der Tabakabstinenz mit Bupropion behandelt. Darüber hinaus haben wir ggfs. „off-label“ Guanfacin verabreicht.

    Psychotherapie und besondere Ansätze

    „Therapeutische Manuale“ verwenden wir nicht. Im Rahmen der Behandlung orientieren wir uns in allen Arbeitsbereichen an der Bearbeitung der Alltagsstrukturierung. Insbesondere die klinische Sozialarbeit und die Ergo- und Arbeitstherapie sind für die Reduktion der Desorganisation von zentraler Bedeutung. Die sportliche Aktivierung thematisiert den Umgang mit Impulsivität und Emotionalität, alle Bereiche arbeiten an der Freizeitgestaltung und hierbei insbesondere am Umgang mit „Langeweile“. Therapeutische Indikativgruppen zielen auf die Steigerung der Konfliktfähigkeit mit Besserung des Umgangs mit Emotionalität ab.

    Fortbildungsangebote

    Unsere Mitarbeiter wurden im Rahmen interner und externer Fortbildungen im Umgang mit der Komorbidität ADS/ADHS geschult. Insgesamt würde ich konstatieren, dass die monatlichen Fallbesprechungen allerdings für alle Mitarbeitenden dauerhaft die beste Schulung darstellen. Die Beobachtung der Verläufe über die Behandlungszeit liefert die wertvollsten Erkenntnisse im Umgang mit psychiatrischen Komorbiditäten und in diesem Fall im Umgang mit ADS und ADHS.


    Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel gGmbH, Fachklinik Kamillushaus, Essen

    Tina Behrouzi

    Die Fragen beantwortete: Tina Behrouzi, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz Fachklinik Kamillushaus

    Umgang mit komorbider ADHS

    In der Fachklinik Kamillushaus in Essen verfügen wir über eine lange Tradition in der Suchtrehabilitation sowie viel Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von AD(H)S. Unsere spezialisierte Ambulanz versorgt pro Quartal über 1.000 AD(H)S-Patient:innen mit und ohne substanzbezogene Störungen. Aufgrund der signifikant höheren Prävalenz von ADHS bei Menschen mit Suchterkrankungen (ca. 21 %, Rohner et al., 2023) führen wir leitliniengerecht bei allen Rehabilitand:innen routinemäßig ein Screening durch. Bei Hinweisen erfolgt zeitnah eine ausführliche Diagnostik sowie eine stringente, integrierte AD(H)S-Therapie.

    Haltung und Herausforderungen

    Unsere therapeutische Haltung basiert auf folgenden Prinzipien:

    ⇒ Diagnostik und Behandlung sollten nicht verschleppt werden; ADHS-Expertise sollte möglichst bald in jeder Einrichtung der Suchtrehabilitation vorhanden sein. Menschen mit komorbider ADHS machen über 20 % der Menschen mit Suchterkrankungen aus und haben schwerere Verläufe (Icick et al., 2020).

    ⇒ Eine individuell abgestimmte Pharmakotherapie bewirkt oft eine signifikante Verbesserung der ADHS-Symptomatik und reduziert teilweise auch Suchtdruck sowie Rückfallrisiko (Barbui et al., 2023, Brynte, 2024). Eine strukturierte Psychotherapie der Suchterkrankung und der ADHS-Symptomatik sollte möglichst parallel erfolgen (Zulauf et al., 2014, Johnson et al., 2021).

    ⇒ Menschen mit AD(H)S leiden unter einem individuellen Profil an Einschränkungen ihrer sogenannten Exekutivfunktionen (EF). Beispiele für EF sind die Unterdrückung und Steuerung von Impulsen, Emotionsregulation, Planung, Steuerung und Bewertung eigener Aktivitäten, Antizipation der Konsequenzen einer Handlung, Aufschieben von Belohnung, Wahrnehmung von Zeit u. a. Eine genauere Kenntnis der individuellen AD(H)S-Kernsymptomatik hilft

    • zu verstehen, wie die individuellen Einschränkungen der Exekutivfunktionen bei einzelnen Patient:innen den Umgang mit der Suchterkrankung erschweren,
    • bei der Kontrolle der Wirksamkeit einer ADHS-Medikation und
    • bei der Erstellung eines personalisierten psycho- und ergotherapeutischen Behandlungsplans.

    ⇒ Unsere Therapieangebote berücksichtigen die durch AD(H)S reduzierte Fähigkeit zur Alltagsorganisation und unterstützen Betroffene durch: Terminerinnerungen, einen Rezepterinnerungsservice, das Zuschicken von Rezepten, Videokonsultationen, schriftliche Medikamentenanweisungen etc.

    ⇒ Unsere psychotherapeutische Arbeit ist bewusst ADHS-informiert, um Fehldeutungen von Überforderung mit der Alltagsorganisation als „Widerstand“ oder „Motivationsmangel“ entgegenzuwirken. Eine besondere Herausforderung ist der zeitliche und fachliche Aufwand für eine gute Differenzialdiagnostik auf der einen Seite und die schlechte Passung mit den aktuell vorhandenen Vergütungsmodellen auf der anderen Seite. Auch finden Patient:innen oft keine Weiterbehandler:innen für AD(H)S. Menschen mit AD(H)S leiden oft unter Schlafstörungen und tun sich deutlich schwerer mit gesunden Lebensgewohnheiten. Der Aufbau von gesunden Routinen erfordert oft viel Coaching in vielen kleinen Schritten.

    Es gibt auch besondere Chancen: Bei starker genetischer Prädisposition für ADHS sollten die Kinder von Rehabilitand:innen früh getestet werden, da eine Behandlung mit Stimulanzien in bestimmten Phasen der kindlichen Entwicklung das Risiko für spätere Suchterkrankungen deutlich senken kann (Groenman et al., 2013 und 2019, Deng & Espiridon, 2024).

    Diagnostik

    Unsere Diagnostik entspricht der aktuellen S3-Leitlinie und umfasst speziell validierte Instrumente für die Diagnostik bei komorbiden Suchterkrankungen. Wichtig ist es, ADHS-Symptome aus der Kindheit und der Zeit vor Entstehung der Suchterkrankung bzw. vor der Entstehung anderer psychischer Störungen sicher zu erfassen, um falsch positive Diagnosen zu vermeiden. Dazu dienen eine ausführliche Entwicklungsanamnese, wenn möglich Fremdanamnese und die Sichtung von Schulzeugnissen und Vorbefunden. Bei Patient:innen ohne Hyperaktivität und mit guter intellektueller Kompensationsfähigkeit bestehen hierbei oft besondere diagnostische Herausforderungen. Auch die Familienanamnese gibt aufgrund der genetischen Komponente Hinweise.

    Medikation

    Die medikamentöse Behandlung der ADHS im Kontext von Suchterkrankungen ist oft mit Vorbehalten belegt. Tatsächlich weist die aktuelle Studienlage darauf hin, dass eine adäquate medikamentöse Therapie – auch mit Stimulanzien – z. B. das Rückfallrisiko reduzieren und die Therapieadhärenz verbessern kann (s. o.).

    Auch wenn Studien über die Verwendung bestimmter Medikamentengruppen bei unterschiedlichen Substanzabhängigkeiten und über die Outcomes in Bezug auf die Suchterkrankung existieren (Fluyau et al., 2021; Paslakis et al., 2010; Chamakalayil et al., 2021; Adler et al., 2010), zeigt die klinische Anwendung, dass Patient:innen oft sehr unterschiedliche AD(H)S-Kernsymptome mit konkreter Auswirkung auf die Suchterkrankung haben (z. B. AD(H)S-bedingte Stimmungsschwankungen, quälende körperliche Hyperaktivität, erschöpfende Reizoffenheit, überschießende emotionale Reaktionen, starkes Prokrastinieren u. a.). Welches Medikament für welches Kernsymptom wirksam ist, muss individuell ausprobiert werden. Auch das Nebenwirkungsprofil macht oft einen Medikamentenwechsel notwendig.

    Nicht-Stimulanzien haben den Vorteil einer kontinuierlichen Wirkung ohne den für Stimulanzien typischen „Rebound“ am Abend. Bei Bedenken bezüglich eines Missbrauchs der Medikation sind folgende Fragen hilfreich: Besteht ein Risiko des Missbrauchs zur kognitiven Leistungssteigerung (hohes Leistungsideal, Student:innen)? Besteht ein Risiko, dass orale Medikamente als Rauschmittel auf anderem Wege appliziert werden? Das ist selten, aber mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden. Für bestimmte Hochrisiko-Gruppen sollten nur Nicht-Stimulanzien eingesetzt werden, ansonsten ist eine gute Aufklärung wichtig, evtl. ist die kontrollierte Abgabe in kleineren Mengen sinnvoll.

    Über Interaktionen von Medikation und Suchtmitteln sollte gut aufgeklärt werden. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass bei Rückfällen meist die Medikation gestoppt wird.

    Gerade junge Erwachsene sollten zudem eindringlich über die Gefahren der Weitergabe von Betäubungsmitteln aufgeklärt werden (medizinische Risiken, Verlust des Studienplatzes, Anzeige etc.). Auch in Deutschland scheint es vor allem an Hochschulen immer mehr zum Missbrauch von Stimulanzien zur kognitiven Leistungssteigerung zu kommen. Ein Vorrat an zu großen Mengen an Stimulanzien bei Patient:innen könnte eine unkritische Weitergabe von Medikation fördern.

    Eine Zulassung von Guanfacin in Deutschland für die Indikation AD(H)S wäre als eine weitere Behandlungsoption wünschenswert.

    Psychotherapie

    Wir bieten regelmäßig eine psychologisch geleitet ADHS-Gruppe für stationäre und ambulante Patient:innen an. Zudem unterstützen wir aktuell den Aufbau einer ADHS-Selbsthilfegruppe. In unserer Ambulanz arbeiten wir an einem Therapiekonzept mit spezialisierter Ergotherapie und spezifischen Coaching-/ psychotherapeutischen Interventionen (z. B. ADHS-spezifische DBT-Skills).

    Besondere Ansätze

    Ambulanten Patient:innen empfehlen wir spezialisierte Ergotherapie, insbesondere funktionelles Alltagstraining. Aufgrund der begrenzten Evidenz ist Neurofeedback aktuell nicht prioritär.

    Fortbildungsangebote

    Ja, wir bieten interne Fortbildungen zum Thema ADHS an, um kontinuierlich eine integrative, ADHS-informierte Behandlungskultur zu fördern.

  • Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    David Schneider
    Ulrich Claussen
    Katharina Munz

    Die heute teils intensive Mediennutzung im Alltagsleben der Bevölkerung ist ein medial verbreitetes und mitunter kontrovers diskutiertes Thema. Auch in der Suchthilfe kommt der Thematik „intensiver Medienkonsum“ eine immer größere Bedeutung zu. Es ist damit zu rechnen, dass die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz der Folgen der allgemeinen Digitalisierung eher zu- als abnehmen wird.

    Das intensive Mediennutzungsverhalten von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung lässt sich als komorbides Verhalten im Sinne einer medienbasierten Abhängigkeit begreifen oder auch als Verlagerung anderer Suchtproblematiken interpretieren. Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit Suchtproblematik ein spezifisches Risiko für problematischen Medienkonsum aufweisen. Studien, die in der stationären Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen und in anderen Hilfesettings durchgeführt wurden, deuten auf einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen und einer erhöhten Vulnerabilität für medienbasiertes Suchtverhalten hin (Müller et al., 2012 a + b; Müller, 2019).

    Seit der Studie von Müller et al. über „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012, auf die wir uns in der vorliegenden Untersuchung zu einem großen Teil beziehen, ist viel Zeit vergangen. Das Internet wird flächendeckend in allen sozialen Milieus genutzt und ist durch Smartphones auch mobil jederzeit verfügbar. Die durch technische Neuerungen bewirkten Veränderungen der Kommunikationsformen haben dazu geführt, dass der Stellenwert digitaler Medien heute ein ganz anderer ist. Deswegen erscheint es uns sinnvoll, an die mitunter über zehn Jahre zurückliegenden Fragen nach dem medienbasierten Verhalten von Klientinnen und Klienten im Suchthilfesystem anzuknüpfen.

    Unserer Einschätzung nach ist es wichtig, das Medienkonsumverhalten anamnestisch abzuklären, es im Blick zu haben und auf entsprechende Anzeichen und Hinweise seitens der unterstützten Personen zu reagieren. Aus der Perspektive der Suchthilfe besteht die Gefahr, dass behandlungsrelevante pathologische Mediennutzung in den verschiedenen Suchthilfesettings lange unentdeckt bleibt und sich − auch in Wechselwirkung mit stoffgebundenen Süchten – negativ auf den individuellen Verlauf auswirkt.

    Forschungsfrage

    In den Einrichtungen des Frankfurter Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) ist das Thema Medienkonsumverhalten – insbesondere im Kontext der Suchtprävention – immer wieder präsent, gleichzeitig liegen wenige aktuelle belastbare Daten vor. Mit der im Folgenden vorgestellten Untersuchung wollten wir feststellen, in welcher Intensität Medien von den von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit tatsächlich genutzt werden.

    Aufgrund der weiten Verbreitung des Internets und der Möglichkeit, dieses auch in Einrichtungen der Suchthilfe während der Beratung und Behandlung zu nutzen, liegt die Hypothese nahe, dass sich die bereits im Jahr 2012 festgestellte Komorbidität weiter erhöht hat. Auch könnte der Anteil der Personen mit einer latenten medienbasierten Abhängigkeit in den ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe weit höher liegen als bisher angenommen, da das Medienkonsumverhalten bei anderweitiger Erstdiagnose oft nicht abgefragt wird. Klientinnen und Klienten werden deshalb nicht ausreichend unterstützt, ihr Medienkonsumverhalten zu hinterfragen und zu ändern. Ziel unserer praxisnahen Untersuchung ist folglich auch, das Thema abhängiger Medienkonsum zu beleuchten und ggf. noch stärker in die Alltagspraxis der Beratung und Behandlung zu integrieren.

    Methode und Design

    Es wurde eine explorative Querschnittsstudie mit n=136 Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit mit einem Befragungszeitpunkt durchgeführt. Die Befragung fand von November 2021 bis März 2022 statt. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden zuvor ausführlich informiert, die Fragebögen wurden den beteiligten Mitarbeiter:innen erläutert. Die Befragung wurde anonym und ohne die Möglichkeit zur Verknüpfung mit anderen Daten aus Betreuung und Behandlung durchgeführt.

    Befragt wurden nur Klient:innen, die bereits mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit oder pathologischem Glücksspiel als Erstdiagnose ins Hilfesystem eingemündet waren. Klient:innen, die aufgrund eines medienbasierten abhängigen Verhaltens als Hauptproblematik die Einrichtungen aufsuchten, waren von der Studie ausgenommen. So sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich das Phänomen der Komorbidität untersucht wurde.

    Um eine Stichprobe von Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankung zu gewinnen, wendeten wir uns an verschiedene Suchthilfeeinrichtungen des Trägervereins JJ. Die Gewinnung der Befragten erfolgte ohne weitere Ausschlusskriterien als anfallende Stichprobe. Wir erhielten 138 Fragebögen zurück, davon waren 136 auswertbar. Es konnte eine sehr gute Datenqualität erreicht werden. Die Antworten verteilen sich auf ein breites Spektrum von Einrichtungstypen, wie in Tabelle 1 ersichtlich. (Am Ende des Artikels werden die beteiligten Einrichtungen aufgezählt*.)

    Tabelle 1: Anzahl der Personen aus den verschiedenen Einrichtungstypen

    Instrumente

    Die Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen OSVe-S (Wölfling, K., Müller, K.W. & Beutel, M.E., 2008) ist ein Fragebogen zur Erfassung medienbasierten Suchtverhaltens. Neben einer Beschreibung des Medienkonsums werden im OSVe-S Kriterien für eine Abhängigkeit erfragt. Einige Fragen beziehen sich beispielsweise auf das Verlangen nach Onlineaktivitäten („Wie häufig erscheint Ihnen Ihr Verlangen nach Onlineaktivitäten so übermächtig, dass Sie diesem nicht widerstehen können?“), andere auf vergebliche Kontrollversuche („Wie häufig haben Sie bisher versucht, Ihr Onlineverhalten aufzugeben bzw. einzuschränken?“). Weitere Items erfragen schädlichen Gebrauch von Medien („Wie häufig vermeiden Sie negative Gefühle [z. B. Langeweile, Ärger, Trauer] durch Onlineaktivitäten?“). Insgesamt können 45 Punkte erreicht werden, mehr als 13 Punkte sprechen für abhängigen, 7 bis 13 Punkte für einen problematischen oder grenzwertigen Medienkonsum.

    Ergänzt wurden die Angaben zum OSVe-S durch Angaben zu Alter, Geschlecht, Betreuungssetting, Einrichtung und Hauptsuchtmittel.

    Stichprobe

    Es werden n=136 Menschen befragt, die sich in einer stationären Suchthilfeeinrichtung befinden oder durch eine ambulante Suchthilfeeinrichtung beraten oder betreut werden: 112 Männer (82,3 %) und 24 Frauen (17,7 %). Es werden fast ausschließlich Erwachsene befragt, das Durchschnittsalter beträgt 36,2 Jahre, die jüngste befragte Person ist 17, die älteste befragte Person 63 Jahre alt.

    Nach der von ihnen hauptsächlich konsumierten Substanz befragt, nennen 60,5 % eine Substanz, 39,5 % nennen mehrere. Insgesamt zeigen sich folgende Ergebnisse: 30,7 % der Befragten nennen Cannabis, 25,4 % Kokain, 23,7 % Alkohol, 18,4 % Opiate, 13,2 % Stimulanzien und 13,2 % Sonstiges.

    Berufstätig sind 25 % der Befragten, 14,4 % in Vollzeit angestellt, 6,1 % in Teilzeit, 4,5 % der Befragten geben eine selbständige Tätigkeit an. Weitere 6,8 % befinden sich in Ausbildung oder Studium. 46,2 % der Befragten geben an, kein Anstellungsverhältnis zu haben, also ohne Erwerbstätigkeit zu sein.

    Aus vorangegangenen Untersuchungen und aus der klinischen Beobachtung vermuten wir, dass es in der hier untersuchten Stichprobe von Menschen mit einer Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit einen relativ hohen Anteil von Personen mit einem missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhalten geben könnte.

    Aufgrund des explorativen Designs unserer Studie haben wir darauf verzichtet, eine Kontrollgruppe zu rekrutieren, und vergleichen die Anteile missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhaltens in unserer Stichprobe mit den Ergebnissen der vorausgegangenen Untersuchung „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz“ (2012).

    Ergebnisse

    Häufigkeit einer problematischen oder abhängigen Mediennutzung

    Insgesamt zeigen 21,3 % der Befragten ein missbräuchliches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten. 78,7 % zeigen ein unauffälliges Mediennutzungsverhalten (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Onlinenutzung: Ergebnisse der beiden Studien im Vergleich

    In der Auswertung von JJ kamen 23 Personen auf einen Wert zwischen 7 und 13 Punkten. Dieser Punktebereich zeigt missbräuchliche Mediennutzung an und liegt bei 16,9 % der Befragten vor.

    Sechs Personen oder 4,4 % weisen einen Punktewert höher als 13 Punkte auf und fallen damit in den Bereich der Abhängigkeit. Im Vergleich mit der Studie aus dem Jahr 2012 lässt sich ein hoher Anteil an Menschen feststellen, die die Kriterien für medienbasiertes Suchtverhalten erkennen lassen.

    Genutzte Onlineangebote

     Die bloße Erfassung der Onlineaktivitäten sagt zunächst wenig über ein potenziell riskantes, missbräuchliches oder gar abhängiges Mediennutzungsverhalten aus. Gerade für Klient:innen in stationären Settings der Suchthilfe stellt z. B. das Chatten über Messenger-Dienste oder Online-Communities eine wesentliche Möglichkeit dar, mit ihren Angehörigen während der Zeit der Reha in Kontakt zu bleiben. Gleichwohl liefern die Daten einen Überblick, welche digitalen Möglichkeiten wie intensiv genutzt werden. Am meisten Zeit wird laut der Befragten für Internetrecherche aufgebracht, gefolgt von Chatten und Online-Communities. Aber auch Angebote wie Glücksspiel werden von 6,8 % oft bzw. sehr oft genutzt. 16,1 % benutzen oft oder sehr oft Onlinesex-Angebote (s. Tabelle 3).

    Tabelle 3: Genutzte Onlineangebote (JJ 2022)

    Begrenzung der online verbrachten Zeit

    Insgesamt ist ein Drittel (33,2 %) der Befragten zumindest gelegentlich länger online, als sie es sich vorgenommen hatten. 11,1 % sind dies oft oder sehr oft. Ihnen gelingt es kaum, sich online zu begrenzen. Es ist dann auch diese Gruppe, die sich schlecht fühlt, wenn sie nicht online sein kann (11,8 %). Gelegentlich schlecht fühlen sich  9,6 %, wenn sie keine Onlineaktivitäten ausüben können.

    Verlangen nach Onlineaktivitäten

    Fragt man nach der Stärke des durchschnittlichen Verlangens nach Onlineaktivitäten, geben insgesamt 41,9 % an, einen mittelstarken bis sehr starken Drang nach Onlineaktivitäten zu verspüren. Bei 13,2 % ist der Drang stark bis sehr stark.

    8 % der Befragten geben an, dass ihnen der Drang nach Onlineaktivitäten sehr oft so übermächtig erscheint, dass sie ihm nicht widerstehen können. 13,2 % der Befragten geben an, dass es ihnen gelegentlich so geht.

    Vermeidung negativer Gefühle

    Um negative Gefühle wie Langeweile oder Ärger zu überspielen, gehen zumindest gelegentlich 41,9 % online. 16,9 % tun dies oft bzw. sehr oft. Dies verweist auf die Kompensations- und Ablenkungskraft des Onlineangebotes.

    Länge und Intensität der Onlineaktivitäten

    Ein schlechtes Gewissen bezüglich der Länge und Intensität ihrer Onlineaktivitäten haben zumindest gelegentlich 35,5 %. 14,0 % geben an, oft oder sehr oft zu viel oder zu lange online zu sein.

    Negative Folgen aufgrund des Onlineverhaltens

    Die Befragten nennen manifeste negative Folgen des Mediennutzungsverhaltens (s. Tabelle 4). Die Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten kennt ein Drittel der Befragten. Knapp 20 % nennen Geldprobleme, was darauf verweist, dass auch kostenintensive Aktivitäten zu verzeichnen sind. 22,1 % nennen Probleme mit der Gesundheit, was ein hoher Wert ist. Leider kann nicht expliziert werden, um welche gesundheitlichen Probleme es sich hierbei handelt. Aus der Beratungspraxis lässt sich schließen, dass es sich hierbei um Probleme der körperlichen Gesundheit wie Schmerzen im Rücken, Belastung der Augen oder auch Probleme mit dem Tag-Nacht-Rhythmus bzw. dem Einschlafen handeln könnte. Auch psychische Probleme sind denkbar, ein erhöhter Medienkonsum geht häufig mit einer zunehmenden Antriebslosigkeit einher und kann die Entstehung von depressiven Symptomen begünstigen.

    Tabelle 4: Von Befragten genannte Problembereiche aufgrund ihrer Mediennutzung (JJ 2022)

    Insbesondere Menschen aus der jüngeren Altersgruppe bis 34 Jahre leiden aufgrund ihrer Mediennutzung häufiger an sogenanntem digitalen Stress, einem Zustand der psychischen und physiologischen Stressbelastung, die auf die Nutzung von z. B. Social Media zurückzuführen ist. So heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2020: „Für die jüngste Altersgruppe (14. bis 34. Lebensjahr) bestätigte sich, dass ein intensiver bis exzessiver Gebrauch von Social Media mit erhöhter Ängstlichkeit und Symptomen aus dem depressiven Formenkreis, insbesondere Antriebsminderung, innerer Unruhe und Erschöpfungszuständen korrespondierte.“ (Müller, 2020)

    In dieser Altersgruppe ist auch in der aktuellen Befragung der Anteil der Personen mit problematischer Mediennutzung erheblich höher als in der älteren Gruppe (s. Tabelle 7).

    Vergleiche zwischen Gruppen

    Im Folgenden werden Personen, die die Kriterien für eine suchtartige Mediennutzung erfüllen, mit Personen verglichen, die keine Mediennutzungsstörung aufweisen.

    Tabelle 5: Geschlecht der Klient:innen mit unauffälligem und mit suchtartigem Mediennutzungsverhalten
    Tabelle 6: Genannte hauptsächlich konsumierte Substanz

    Auffällig ist der hohe Anteil der Menschen, die Stimulanzien konsumieren und gleichzeitig suchtartig Medien nutzen (60,0 %). An zweiter und dritter Stelle für die Häufigkeit einer komorbiden Mediennutzungsstörung stehen Klient:innen, die hauptsächlich Cannabis (35,0 %) und Alkohol (30,8 %) konsumieren (s. Tabelle 6).

    Tabelle 7: Alter der Befragten

    Nicht sehr überraschend wird deutlich, dass der Anteil derjenigen, die Medien suchtartig nutzen, unter den Jüngeren (bis 34 Jahre) höher, ja fast doppelt so hoch, ist als bei den Befragten, die älter als 34 Jahre sind (27,3 % vs. 13,4 %) (s. Tabelle 7).

    Tabelle 8: Betreuungssetting, in dem sich die Befragten zum Zeitpunkt der Befragung befanden

    Auffällig ist in Tabelle 8 die hohe Zahl der von suchtartiger Mediennutzung Betroffenen im ambulanten Setting. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Strukturen in stationären Einrichtungen mehr Kontrolle über den Medienkonsum bieten, während eine Person, die Beratung in einem ambulanten Setting wahrnimmt, außerhalb dieser Termine weitestgehend selbst über ihren Medienkonsum und ihre Tagesstruktur bestimmen kann.

    Vergleich mit vorangegangener Studie

    Im Folgenden werden die JJ-Zahlen mit den Zahlen der Studie „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012 (vgl. Müller et al., 2012) verglichen.

    Nutzung von Onlineangeboten

    Tabelle 9: Nutzung von Onlineangeboten im Vergleich

    Es lässt sich gut erkennen, dass in den letzten Jahren vor allem die Bereiche Online-Einkaufen, Online-Communities und Streamingdienste deutlich stärker genutzt werden (s. Tabelle 9). Der Bereich der Streamingdienste wurde 2012 noch nicht abgefragt, da ein solches Angebot zu diesem Zeitpunkt noch nicht flächendeckend der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung stand. An der aktuellen Prozentzahl lässt sich jedoch erkennen, dass dieser Bereich einen großen Teil der Mediennutzung ausmacht.

    Negative Folgen bzw. Probleme aufgrund des Onlineverhaltens

    Tabelle 10: Entstandene Probleme bei Menschen mit suchtartiger Internetnutzung im Vergleich

    Auffällig ist, dass sich die entstandenen Probleme der Menschen, die eine suchtartige Internetnutzung aufweisen, verbessert haben und in fast allen Bereichen weniger Probleme aufzutreten scheinen, als das in der Studie von 2012 der Fall war (s. Tabelle 10). Dies mag zum einen an der Veränderung der Stichprobe liegen. Prozentual gesehen ist der Anteil der Menschen mit suchtartiger Nutzung stark angestiegen, aber die Konzentration der verschiedenen Probleme pro Person ist nicht mehr so hoch wie bei der Stichprobe aus 2012. Zum anderen lassen sich Medien heutzutage aufgrund von Smartphones etc. möglicherweise besser in den Alltag integrieren und verursachen dadurch gefühlt oder tatsächlich weniger Probleme als vor zehn Jahren. Werte bis zu 69 % sind aber trotz der Verbesserung immer noch sehr hoch, und es verwundert nicht, dass sich diese Probleme bei Menschen mit suchtartiger Nutzung immer noch zeigen.

    Tabelle 11: Entstandene Probleme bei Menschen ohne suchtartige Internetnutzung im Vergleich

    Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass es sich bei Tabelle 11 um die Werte der Personen handelt, die anhand des Fragebogens keine problematische Nutzung des Internets aufweisen. Trotzdem zeigen sich in unserer Untersuchung deutlich höhere Werte für entstandene Probleme als in der Vergleichsstudie.

    Obwohl laut Fragebogen hier keine suchtartige Mediennutzung besteht, berichtet fast ein Viertel der Befragten von Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten und fast ein Fünftel von finanziellen Schwierigkeiten aufgrund des eigenen Mediennutzungsverhaltens. Es scheint also angeraten, auch bei Personen, die in der Befragung keine suchtartige Internetnutzung gezeigt haben und ein scheinbar unproblematisches Nutzungsverhalten haben, genauer nachzufragen, ob ihr Verhalten trotz der niedrigen Punktzahl in der Auswertung Probleme in ihrem Leben verursacht.

    Zusammenfassung und Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aktuelle Zahl der Klient:innen in der ambulanten und stationären Suchthilfe, die Kriterien für ein medienbasiertes Suchtverhalten zeigen, hoch ist. Sie ist deutlich höher (21,3 %) als in der zum Vergleich herangezogenen Studie von Müller et al. aus dem Jahr 2012 (4,2 %).

    Unterscheidet man bei JJ die Suchthilfesettings ambulant und stationär, ergibt sich, dass Klient:innen im ambulanten Setting mit 30,6  % stärker betroffen sind als Personen im stationären Setting mit 16,7 %.

    Jüngere Klient:innen unter 34 Jahren scheinen mehr von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein (27,3 %) als ältere Klient:innen (13,4 %).

    Auch Personen, die unterhalb des Cut-Offs für suchtartige Internetnutzung liegen und somit als „unproblematische“ Nutzer:innen gelten, beschreiben, dass ihr Mediennutzungsverhalten in vielen Bereichen ihres Lebens Probleme verursacht (Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten 23,4 %, Konflikte mit der Familie 15,9 % und Probleme mit der Gesundheit 13,1 %). In diesem Themenfeld ist ebenfalls ein starker Anstieg im Vergleich zur Studie aus 2012 zu erkennen.

    Hervorzuheben ist zudem noch die Differenz zur Allgemeinbevölkerung. Die Studie „Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark“ aus dem Jahr 2023 legt hierzu valide Zahlen vor. Demnach liegt die Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung der Steiermark geräteunabhängig bei 9,7 %. Ausgehend davon, dass sich die Internetnutzung in Deutschland und Österreich nur bedingt unterscheiden dürfte, lässt sich hier ein signifikanter Unterschied der Prävalenzen zwischen Allgemeinbevölkerung (9,7 %) und Personen aus dem Suchthilfesetting (21,3 %) feststellen.

    Diskussion

    Die vorliegende Untersuchung ist als explorative Querschnittsstudie angelegt, eine Intervention wurde nicht vorgenommen, ein randomisiertes und kontrolliertes Design haben wir für unsere Fragestellung „Wie stellt sich das Mediennutzungsverhalten der von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit dar?“ nicht vorgesehen. Dementsprechend können wir hier deskriptive Ergebnisse vorlegen und mit Ergebnissen von vorausgehenden Untersuchungen vergleichen. Aus den Ergebnissen leiten wir weiteres Vorgehen und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung ab, die wir im Folgenden darstellen.

    Aus unserer Sicht sollten einige Ansatzpunkte weiterverfolgt werden. Diese betreffen vor allem eine Anpassung der Versorgung an die hier ermittelten Bedarfe an Beratung und Behandlung, aber auch zusätzliche Forschungsfragen, da die Datenlage zum Mediennutzungsverhalten bei Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeit bislang sehr überschaubar ist. Folgende Ansatzpunkte sehen wir:

    • Anpassen von Dokumentation und Anamnese
    • Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten
    • Weitere Forschung

    Anpassen von Dokumentation und Anamnese

    Die hier vorgelegten Daten spiegeln sich bislang in unseren Jahresstatistiken nicht wider. Dies liegt zum einen an Voreinstellungen der Basisdokumentation, die somit zu einer Unterbetonung des Problems beitragen. Studien zeigen, dass insbesondere die suchtartige Nutzung von Pornographie in den letzten Jahren vermehrt vorkommt und auch in den kommenden Jahren stärker in der Suchthilfe vertreten sein könnte (vgl. Mestre-Bach et al., 2020). Dieses Themenfeld lässt sich in der aktuellen Basisdokumentation noch nicht dokumentieren. Hier sind also bessere Möglichkeiten der digitalen Dokumentation nötig.

    Des Weiteren ist medienbasiertes Suchtverhalten ein Thema, das oft nicht direkt angesprochen wird. Oftmals stehen stoffgebundene Probleme im Fokus von Beratung und Behandlung. Aus den vorgelegten Daten lässt sich die Notwendigkeit ableiten, Mediennutzung in der Anamneseerhebung stets zu erfragen und Beratung und Behandlung auf die Bedarfe hin abzustimmen. Nicht erfasstes Medienverhalten kann nicht behandelt werden – ein Phänomen, das auch in der „IBSfemme“-Studie thematisiert wird (vgl. Müller et al, 2019).

    Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten

    Wenn gleichzeitig eine stoffgebundene Abhängigkeit und ein problematisches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten vorliegen, sollten beide Anliegen in einer Beratung ihren Platz finden, die Aufteilung auf zwei beratende Personen erscheint wenig zielführend und wenig ökonomisch. Eine Aufteilung in allgemeine, oft auch dezentrale Suchtberatungen und Fachstellen für Verhaltenssucht, die vorrangig in Großstädten angeboten wird, bietet keine integrierte Versorgung aus einer Hand und erfordert zusätzliche Wege und weitere Ressourcen.

    Eine Integration der Beratung zu problematischer Mediennutzung erfordert Schulungen für die Beratenden. Sowohl Beratung im Einzelkontakt als auch Beratung in Gruppen für substanzgebundene Störungen erfordert neben allgemeiner beraterischer Kompetenz noch Fachwissen zu Substanzen und zu abhängiger und problematischer Mediennutzung. Eine Spezialisierung weniger Beratender wird der Breite des Problems nicht gerecht. Um mit der Vielzahl der komorbid betroffenen Klient:innen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich kompetent umgehen und passgenaue Angebote entwickeln/umsetzen zu können, müssen Mitarbeiter:innen zum Thema geschult sein und sich kompetent fühlen. Ist dies nicht der Fall, können Gefühle von Überforderung entstehen und Widerstände, sich des Themas anzunehmen.

    Weitere Forschung

    Kinder und Jugendliche gelten als gefährdete Gruppe für die Entwicklung eines problematischen Mediennutzungsverhaltens. Zur Entwicklung von Medienkompetenz sind präventive Angebote erforderlich. Bei bereits bestehenden Problemen mit Mediennutzung sind sekundärpräventive Ansätze zu entwickeln. Die Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängiger oder problematischer Mediennutzung zusätzlich zu einer bereits bestehenden Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen ist wenig erforscht und sollte in die bestehenden Angebote integriert werden. Mögliche Forschungsfragen hierzu wären:

    • Wie kann die Funktionalität dieser beiden Störungen geklärt werden? Bedingt das eine Problem das andere, gehen beide auf eine gemeinsame Ursache zurück oder existieren sie unabhängig voneinander? (vgl. Moggi, 2014)
    • Verändern sich Auftretenswahrscheinlichkeiten von problematischer Mediennutzung im lebensgeschichtlichen Verlauf einer substanzbezogenen Abhängigkeit?
    • Wie ist die Geschlechterverteilung dieser Problematik einzuschätzen und was sind mögliche Ursachen hierzu? Gibt es systematische Unterschiede zu den einzelnen Bereichen problematischer Mediennutzung?
    • Handelt es sich um eine jugendtypische Problematik oder tritt diese auch im höheren Erwachsenenalter auf?
    • Gibt es Zusammenhänge zwischen konsumierten Substanzen und Art der problematischen Mediennutzung?

    Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Großteil der von Substanzen abhängigen Menschen scheint zusätzlich von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein. Zudem lassen Studien in der Allgemeinbevölkerung besonders unter den Minderjährigen und in Bezug auf spezielle Themenfelder wie Online-Sexsucht darauf schließen, dass exzessive Mediennutzung ein Thema ist, das die Suchthilfe und andere Hilfeangebote in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen wird.

    *An der Untersuchung beteiligte Einrichtungen: Therapiedorf Villa Lilly (Bad Schwalbach), Haus der Beratung (Frankfurt), Therapeutische Einrichtung Auf der Lenzwiese (Höchst im Odenwald), Übergangseinrichtung Wolfgang-Winckler-Haus (Kelkheim), Suchthilfezentrum Wiesbaden, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Hochtaunuskreis (Bad Homburg), Betreute Wohngemeinschaft Eddersheim, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Main-Taunus-Kreis (Hofheim), Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Rheingau-Taunus-Kreis (Taunusstein)

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Katharina Munz
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 0611 9004870
    E-Mail: Katharina.munz(at)jj-ev.de

    Ulrich Claussen
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-11
    E-Mail: kontakt(at)claussen-psychotherapie.de

    David Schneider
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-13
    E-Mail: david.schneider(at)jj-ev.de

    Literatur
    • Programmheft Deutscher Suchtkongress 7. – 9. September 2022 in München. Lübeck, 2022
    • Herz, A., Tran, K. (2022). Jugendfreundschaften während der Coronakrise. https://www.dji.de/themen/corona/jugendfreundschaften-in-der-pandemie.html
    • JIM-Studie 2020 + 2021
    • DAK Mediensucht 2020-Studie: Gaming und Social Media und Corona 2020, vor allem S. 82 ff.
    • DKHW Kinderreport 2021
    • Mestre-Bach, G., Blycker, G.R., Potenza, M.N. (2020): Pornography use in the setting of the COVID-19 Pandemic, J Behav Addict. 2020 Jun; 9(2):181-183
    • Moggi, F. (2014) Theoretische Modelle bei Doppeldiagnosen. In: Walter, M., Gouzoulis-Mayfrank, E. (Hrsg.) (2014) Psychische Störungen und Suchterkrankungen: Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart: Kohlhammer
    • Müller, K.W., Koch, A., Beutel, M.E., Dickenhorst, U., Medenwaldt, J., Wölfling, K., (2012 a). Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz. Psychiatrische Praxis, 2012, 39: 286 – 292
    • Müller, K.W., Ammerschläger, M., Freisleder, F. J., Beutel, M., E., Wölfling, K., (2012 b). Suchtartige Internetnutzung als komorbide Störung im jugendpsychiatrischen Setting – Prävalenz und psychopathologische Symptombelastung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40 (5), 2012, S. 331 – 339
    • Müller, K. W., (2019). Internetbezogene Störungen bei weiblichen Betroffenen: Nosologische Besonderheiten und deren Effekte auf die Inanspruchnahme von Hilfen (IBSfemme)
    • Türcke, C., (2019): Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, C.H. Beck, München 2019
    • Müller, K. W. (2020): Die Nutzung von sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche – Ein Überblick über gesundheitsrelevante Aspekte, Kinder- und Jugendmedizin 2020; 20(04): 229-236
    • Gesundheitsfond Steiermark (2023). Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark, Graz 2023
  • Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Stigmatisierung und Selbststigmatisierung im Kontext von Suchterkrankungen

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa

    In allen Nationen, Kulturen, Religionen sowie in allen sozialen Schichten und Hierarchieebenen finden sich Suchtkrankheiten. Störungen des Substanzmissbrauchs stellen mit einer Prävalenz von 16,6 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Jacobi et al. 2014) die größte Gruppe psychischer Störungen dar. Trotz der hohen Anzahl werden Suchtkranke häufig ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert. Der Stigmatisierungsprozess ist ein komplexes Phänomen von Wechselwirkungen zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Dabei nehmen meist historisch entstandene und nicht hinterfragte Vorstellungen von Normalität und Normabweichung eine entscheidende Rolle ein.

    Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber den Trägern des Stigmas führt und eine Diskriminierung bewirkt. Bei vielen Betroffenen löst die Diagnose Sucht durch das Bewusstsein der gesellschaftlichen ‚Ächtung‘ einen Selbstverurteilungsprozess aus. Interviews mit Suchtkranken machen deutlich, dass deren negative Gedanken über sich selbst wie z. B. „Ich tauge nichts“, „Ich kriege nichts auf die Reihe“, „Ich bin ja selbst schuld“ mit diskriminierenden Äußerungen von anderen Personen übereinstimmen. Diese negative Identitätsbildung führt zum Selbstwertverlust und wird als Teil der „zweiten Krankheit“ gesehen. Als „zweite Krankheit“ bezeichnet Finzen (2001) die sozialen Auswirkungen der Stigmatisierung, die als ebenso gravierend eingeordnet werden wie die Grunderkrankung an sich.

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung

    Der Teufelskreis der Stigmatisierung beginnt für viele Betroffene mit der Diagnose Sucht, die verheimlicht wird und zu sozialem Rückzug führt. Diese Normabweichung (Sucht und Rückzug wegen Sucht) bewirkt in der Gesellschaft eine Aktivierung negativer Stereotype – insbesondere von Schuldvorwürfen –, die der Betroffene sich schließlich selbst zuschreibt. Diese Selbstzuschreibung führt zu einer Verhaltensannahme. Infolgedessen geht die Diskriminierung mit einer Verstetigung des kritisierten Verhaltens einher, die wiederum eine Bestätigung der Diagnose bedeutet (Abbildung 1).

    Abbildung 1: Ein Teufelskreis – die Diagnose als Teil des Stigmatisierungsprozesses (vgl. Bottlender & Möller, 2005, S. 15)

    Die Betroffenen sehen sich durch die Stigmatisierung einer bestimmten Rollenerwartung gegenüber, die sie in ihrem Handeln beeinflusst. Der Mechanismus der Anpassung erfolgt wie in jedem anderen Sozialisationsprozess. Durch die an den Menschen herangetragenen Erwartungen wird das Selbstkonzept entsprechend der self-fulfilling prophecy neu bestimmt. Paradoxerweise wird das deviante Verhalten durch den Konformitätsdruck verstärkt und der Wunsch des Betroffenen, sich in gleichgesinnten Gruppen aufzuhalten, gesteigert. Das süchtige Verhalten wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verständlich, dass der Betroffene nicht mehr als vollwertiger Interaktionsteilnehmer anerkannt wird, sondern nur noch unter der Prämisse seines Stigmas bewertet wird. Nach Finzen entsteht beim Betroffenen ein gestörtes Grundvertrauen in die Berechenbarkeit sozialer Interaktionen. Studien zur Stigmatisierung von Suchterkrankungen zeigen als häufigstes Maß für die Ablehnung das Bedürfnis der Betroffenen nach sozialer Distanz. Die Ablehnung von Alkoholikern ist im Vergleich zu anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen am höchsten (Schomerus et al. 2010).

    Auswirkungen von Stigmatisierung auf die Gesundheit

    Mitglieder stigmatisierter Gruppen weisen ein erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen sowie für psychische Störungen auf und zeigen aufgrund der stressauslösenden Diskriminierung eine erhöhte Vulnerabilität. Darüber hinaus zeigen Studien einen erschwerten Zugang der Betroffenen zum Gesundheitssystem. Sie spüren eine ablehnende Haltung von Fachkräften einiger Gesundheitsberufe und reagieren darauf mit Vermeidung oder Abbruch der Behandlung. Teils erfolgen vom Pflegepersonal Schuldzuweisungen, dass die Betroffenen ihre Gesundheitsprobleme ja sozusagen „selbst verschuldet“ hätten (vgl. Vogt 2017).

    Strategien gegen Stigmatisierung

    Das Stigma-Memorandum

    Im Frühjahr 2017 wurde das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ veröffentlicht. Eine der Kernaussagen ist die Empfehlung, dass Befähigung und Wertschätzung im Zentrum des Umgangs mit Suchtkranken stehen müssen. Im Sinne des Empowerments sollen Betroffene und Angehörige unterstützt werden, sich gegen das Stigma zu wehren. Begleitend ist eine qualitative Verbesserung im Hilfesystem und der Prävention erforderlich. Die Suchtprävention muss auf stigmatisierende Effekte überprüft werden, und in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen muss die Anti-Stigma-Kompetenz erhöht werden. Die Öffentlichkeitsarbeit soll durch einen Medienleitfaden zur stigmafreien Berichterstattung professionalisiert und eine Entkriminalisierung des Konsums soll rechtlich weiterentwickelt werden. Im Bereich der Forschung sind Förderungen zur Entwicklung von Strategien der Entstigmatisierung genauso anzustreben wie die Untersuchung von Stigmafolgen bzw. -ursachen, wobei die Einbeziehung Betroffener und Angehöriger notwendig ist.

    Psychologische Forschung

    Weitere Strategien lassen sich aus der psychologischen Forschung entnehmen. Als einheitliche Erkenntnis wird in der Social contact theory (Allport) wie auch in den Prinzipien nach Corrigan et al. (2001) und den Strategien nach Schomerus et al. (2011) der Kontakt, also die direkte Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Stigma, als Grundsatz für die Entstigmatisierung deutlich. Darüber hinaus wird der Protest gegen Diskriminierung durch Meinungsmacher und Fachkräfte sowie die Edukation zur Auflösung stereotyper Verurteilungen als zielführend von Schomerus et al. (2013) benannt. Durch die gesellschaftliche Edukation zum Abbau von Vorurteilen sollen Ansichten, die zur Selbststigmatisierung führen wie „Der Süchtige ist selbst schuld“, aufgelöst werden.

    Öffentlicher Diskurs

    Im öffentlichen Diskurs muss insbesondere auf Sachlichkeit gesetzt werden, Übertreibungen beinhalten häufig stigmatisierende Elemente. Dabei hilft eine akzeptanzorientierte professionelle Grundhaltung, die deutlich macht, dass Sucht nicht die gesamte Person erfasst bzw. ausmacht, also ein Süchtiger nicht nur auf seine Sucht reduziert wird. Das konsequente Auftreten gegen stigmatisierende Angriffe stellt ein wichtiges Element dar, ebenso wie das Arbeiten mit Ansätzen der motivierenden Gesprächsführung.

    Behandlung

    Als eine neue Strategie in der Behandlung wird die Förderung von Selbstmitgefühl gesehen,  Methoden dafür sind Achtsamkeit und Meditation. Unter Selbstmitgefühl wird eine Art Selbstfreundlichkeit verstanden, die mit dem „gemeinsamen Menschsein“ und dem „gelassenen Gewahrsein“ einhergeht. Dadurch kann es dem Betroffenen gelingen, die Selbstverurteilung abzubauen und die Isolation aufzulösen. Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben dazugehört, also die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren, um daran arbeiten zu können, sind wichtige Schritte in dieser Behandlungsstrategie. Brooks et al. (2012) konnten nachweisen, dass das Selbstmitgefühl bei Alkoholabhängigen weniger ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung und dass das Selbstmitgefühl positiv mit dem Selbstwert zusammenhängt. Aus diesem Grund ist diese Behandlungsmethode gerade im Kontext des Abbaus von Selbststigmatisierung sehr vielversprechend.

    Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention

    Entsprechend dem o. g. Memorandum wird empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen routinemäßig auf mögliche stigmatisierende Effekte hin geprüft werden. Im Memorandum wird herausgestellt, dass Gesundheitsförderung und Prävention durch abschreckende und stereotypisierende Elemente stigmatisierend wirken und die Zielgruppen dadurch ausgegrenzt bzw. abgewertet werden können.

    Im Rahmen selektiver Prävention besteht die Gefahr, dass die Zielgruppe allein durch die erhöhte Risikoexposition und ohne Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, schon als Risikoträger identifiziert wird. Wicki et al. (Zürich 2000) ermittelten anhand einer Literaturrecherche bei 25 Prozent der sekundärpräventiven Programme eine Zunahme des Substanzkonsums der Jugendlichen. Die Forscher begründeten den negativen Effekt durch Etikettierung der Zielgruppe als Risikojugendliche und den vermehrten Kontakt mit anderen riskant konsumierenden Peers. Als Ursache für solche unerwünschten Programmergebnisse (Dishion 1999) wird der „deviant talk“ benannt, wodurch sich die Jugendlichen gegenseitig innerhalb der Gruppe in ihrem abweichenden Verhalten bestärken. Obwohl die Ressourcenorientierung in der Suchtprävention zunimmt, überwiegen Konzepte für Risikogruppen, die anhand von Risikofaktoren ermittelt werden. Diese Faktoren geben aber nur einen Hinweis auf potentielle Gefährdungen und können keine Kausalitäten darstellen. Sobald Präventionsfachkräfte im Rahmen der Risikobewertung Zusammenhänge konstruieren und Werturteile fällen, greifen soziale Stigmata und Gefährdungsannahmen unreflektiert ineinander.

    Die Stigma-Checkliste der Stadt Zürich

    Eine zeitgemäße stigmafreie Suchtprävention muss sich mit solchen Stigmatisierungseffekten auseinandersetzen. Hierfür hat die Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich eine Stigma-Checkliste (Berger 2012) entwickelt. Inwieweit diese in der präventiven Praxis in Deutschland Anwendung findet, wurde im Rahmen von leitfadengestützten Expert/inneninterviews ermittelt (Kostrzewa 2017). Der Fokus wurde dabei auf Ressourcenorientierung, Partizipation und Empowerment gelegt, weg von einer defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer resilienzfördernden Prävention. Die Expert/innen waren 14 Fachkräfte der Suchtprävention und -arbeit mit einem durchschnittlichen Arbeitszeitumfang von 71 Prozent für Suchtprävention und 21,2 Berufsjahren im Durchschnitt. In den Interviews wurden sie nach einer Bewertung der in der Zürcher Stigma-Checkliste vorgestellten Strategien mit „sinnvoll“, „umsetzbar“ und „bekannt“ gefragt. Insgesamt gaben 85,7 Prozent der Befragten an, sich schon mal mit dem Thema Stigma bei Suchtkranken auseinandergesetzt zu haben, jedoch nur zwei Fachkräfte gaben an, die Checkliste aus Zürich zu kennen. Folgende Ergebnisse hat die Befragung im Einzelnen erzielt:

    Die Strategie der offenen Fehlerkultur, durch die negative stigmatisierende Auswirkungen von Suchtpräventionsmaßnahmen benannt werden, um aus ihnen zu lernen, wurde von den Expert/innen zu 100 Prozent als sinnvoll, zu 85,7 Prozent als umsetzbar und zu 42,8 Prozent als schon bekannt bewertet. Es gab dabei große Unterschiede in den Aussagen von „… Fehleranalyse ist ein ganz wichtiger Punkt, muss man auch klar ansprechen …“ bis „… alles, was unter dem Aspekt Nachbereitung läuft, das spielt eigentlich keine große Rolle, da ist keine Zeit für …“.

    Inwieweit standardisierte Reflexionsfragen zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention etwas beitragen können, blieb unklar: 57,1 Prozent bewerteten diese Strategie als sinnvoll und 50 Prozent als umsetzbar, während sie aber nur 14,2 Prozent der Expert/innen bekannt war.

    Eine klare Position der Expert/innen zeichnete sich bei der Strategie Ressourcenorientierung beim Adressaten ab, mit der Partizipation und Empowerment gestärkt werden sollen. Diese Strategie bewerteten 100 Prozent als sinnvoll und 85,7 Prozent als umsetzbar, für 50 Prozent war es bereits eine bekannte Strategie. Eindeutige Aussagen wie „… ressourcenorientiert, das ist der einzige mir sinnvoll erscheinende Weg, das Stigma überhaupt zu reduzieren“ können als richtungsweisend bezeichnet werden.

    Die Offenlegung von Zielen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Adressat/innen wurde von 92,9 Prozent als sinnvoll bewertet, von 78,6 Prozent als umsetzbar und von 57,1 Prozent als bekannt. Es wurde deutlich, dass bei diesem Punkt abhängig von der Zielgruppe auch sprachliche Schwierigkeiten auftreten können.

    Die Strategie der Resilienzförderung zur Entwicklungsbegleitung wurde zu 100 Prozent als sinnvoll und zu 85,7 Prozent als umsetzbar bewertet und damit eindeutig positiv eingeordnet, während sie aber nur 35,7 Prozent der Expert/innen als Strategie in der Suchtprävention bekannt war. Aussagen wie „Ja, aber ich glaube, das ist noch so in den Anfängen …“ machen dies gut deutlich.

    Auf die Frage nach eigenen Strategien zur Entstigmatisierung in der Suchtprävention wurde der Kontakt, explizit das Reden mit den Betroffenen, als zentrales Element durch die Expert/innen bestätigt.

    Als Fazit der Expert/inneninterviews lässt sich herausstellen, dass eine Modernisierung der Suchtprävention in Richtung einer Verstärkung der Ressourcenorientierung und Resilienzförderung als vielversprechend für die Entstigmatisierung gesehen wird: „… es würde der Suchtprävention sicherlich gut tun, den Fokus auf Resilienzförderung zu verschieben.“

    Partizipative Theaterarbeit

    Eine weitere Methode zur Entstigmatisierung ist in der partizipativen Theaterarbeit zu sehen. Diese interaktive Theaterform ermöglicht im Spiel die Teilhabe und Interaktion von Betroffenen in der Gesellschaft (Abbildung 2). Durch die Aufnahme der Strategien des Protests, der Edukation und des Kontaktes lässt sich der stigmatisierende Alltag dekonstruieren. Integration und Offenheit im Alltag werden ermöglicht, um am Abbau des Vorurteils „Der Süchtige ist selbst schuld“ mitzuwirken und so den Teufelskreis von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung zu durchbrechen bzw. aufzulösen.

    Abbildung 2: Entstigmatisierung durch partizipative Theaterarbeit
    Kontakt:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa
    Gesundheitsakademie Nord e.V.
    Holstenstraße 68a
    24103 Kiel
    regina.kostrzewa@gesundheitsakademie-nord.de
    www.gesundheitsakademie-nord.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Regina Kostrzewa, Dipl.-Pädagogin, ist 1. Vorsitzende der Gesundheitsakademie Nord e.V. in Kiel. Seit Oktober 2015 ist sie als Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Medical School Hamburg tätig. Dort ist sie auch Studiengangsleiterin des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Zuvor war sie 25 Jahre in der Suchtarbeit in Schleswig-Holstein tätig und entwickelte eine Reihe innovativer suchtpräventiver Maßnahmen und Projekte, die auch über die Landesgrenzen hinaus im Bundesgebiet zum Einsatz kamen.

    Literatur:
    • Berger, C. (2017): Stigmatisierung trotz guter Absicht – Zum Umgang mit einem konstitutiven Dilemma in der Suchtprävention. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 49. Jg., Heft 2, Tübingen, 335 – 345.
    • Bottlender, R. & Möller, H.-J. (2005): Psychische Störungen und ihre sozialen Folgen. In: Gaebel, W., Möller, H.-J.& Rössler, W. (Hrsg.): Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart: Kohlhammer. S. 7-17.
    • Brooks, M./Kay-Lambkin, F./Bowman, J./Childs, S. (2012): Self-Compassion Amongst Clients with Problematic Alcohol Use. Springer Science Media, DOI 10.1007/s12671-012-0106-5.
    • Corrigan, P./Schomerus, G./Shuman, V./Kraus, D./Perlick, D./Hamish, A./Kulesza, M./Kane-Willis, K./Qin, S./Smelson, D. (2016): Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict.
    • Dishion, T. J. (1999): When Interventions harm. Peer Groups and Problem Behavior. In: American Psychologist, 54, 755-764.
    • Finzen, A. (2001): Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen. 2. korrigierte Auflage. Bonn: Psychiatrieverlag.
    • Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). In: Nervenarzt 85, 77 – 87.
    • Schomerus, G. (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? Psychiatrische Praxis, 38, 109 – 110.
    • Schomerus, G./Holzinger, A./Matschinger, H. et al. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiatrische Praxis. DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0029-1223438.
    • Schomerus, G. et al. (2010): Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy. In: Drug and Alcohol Dependence, 1 – 6.
    • Vogt, I. (2017): Nobody’s perfect: Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe zu psychisch Kranken. Ein Überblick über die Forschungsergebnisse. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 49 (2), 307 – 323.
    • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit BAG: Suchtforschung des BAG 1996 – 98, Band 2/4: Prävention, 2 – 13.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Suchtgefährdete alte Menschen

    Erica Metzner, Leiterin des Suchthilfezentrums (l.), und Beate Schwarz, Projektleiterin „Sucht im Alter“. Foto: Stadtmission Nürnberg

    Unter dem Titel „Gesundheit für Ältere gestalten – Lebensqualität fördern“ hatte der Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) zur Bewerbung um den vdek-Zukunftspreis 2017 aufgerufen. Das Projekt SAM (Suchtgefährdete Alte Menschen) der Stadtmission Nürnberg wurde mit dem zweiten Platz und einem Preisgeld von 3.500 Euro ausgezeichnet.

    Das Projekt SAM (Suchtgefährdete Alte Menschen) der Stadtmission Nürnberg unterstützt Pflegekräfte und
    Pflegeeinrichtungen dabei, Betreute mit problematischem Alkohol- oder Medikamentenkonsum besser zu versorgen. Dabei sollen gemeinsam mit den Betroffenen Wege des Umgangs mit der Suchterkrankung gefunden werden. Auch Angehörige erhalten bei SAM Beratung und Unterstützung.

    Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bei älteren Menschen ist ein Massenphänomen. Nach offiziellen Statistiken sind etwa 400.000 der über 60-Jährigen in Deutschland alkoholabhängig, und etwa zehn Prozent der Bewohner in Alten- und Pflegeheimen haben einen problematischen Alkoholkonsum. Eine Medikamentenabhängigkeit, insbesondere von Schlaf- und Schmerzmitteln, besteht nach Schätzungen gar bei 25 Prozent aller über 70-Jährigen. Eine große Herausforderung für die Einrichtungen – und ein Feld mit dringendem Handlungsbedarf. „Das sind jedoch absolute Tabuthemen“, sagt Sozialpädagogin Erica Metzner, Leiterin des Suchthilfezentrums der Stadtmission Nürnberg. „Zum einen herrscht eine gewisse Handlungsangst bei den Pflegekräften. Schließlich sollen die Persönlichkeitsrechte der Bewohner respektiert werden. Zum anderen sehen auch Angehörige bei auffälligem Verhalten oft weg und sagen sich, der Betroffene ist halt so, weil er alt ist.“

    Am Suchthilfezentrum stiegen die Anfragen von ambulanten und stationären Einrichtungen zum Umgang mit Suchterkrankten in den letzten Jahren immer weiter an. Das nahm Metzner zum Anlass, das Projekt SAM ins Leben zu rufen. SAM ist Ende 2016 mit einer Laufzeit von drei Jahren gestartet. Die Einrichtungen erhalten von der Stadtmission Coachings, um eine Leitlinie für ihr Haus zu entwickeln: Wie steht die Einrichtung als Ganzes zur Suchtproblematik? Wie können Risiken und Risikofälle wahrgenommen und dokumentiert werden? „Es geht um die Prozessgestaltung“, sagt Projektleiterin Beate Schwarz, ebenfalls ausgebildete Sozialpädagogin. „Die Einrichtung definiert für sich: So geht unser Dienst mit Suchtfällen um.“ Pflegekräfte werden im Anschluss an die Leitlinienarbeit zum konkreten Umgang mit den betreuten alten Menschen geschult: Wie verhalte ich mich? Wie kann ich den Konsum oder die Risiken ansprechen?

    Auch eine Angehörigengruppe wurde ins Leben gerufen. Die Teilnehmenden erhalten Entlastung und Unterstützung in ihrer schwierigen Rolle als engste Bezugspersonen – und oftmals einzige Sozialkontakte der Betroffenen. Ihnen wird auch vermittelt, wie sie Verhaltensweisen umsetzen können, die sie selbst stärken. Eine ehrenamtliche Helferin, die früher selbst suchtkrank war, bringt zudem ihre Erfahrungen in die Gruppe ein.

    Nicht über, sondern mit den Betroffenen zu entscheiden, müsse das Ziel sein, sagt Metzner. Sie sieht es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an, Sucht als Krankheit, als eine psychische Erkrankung zu sehen und davon wegzukommen, Betroffene mit Schuldzuschreibungen und Abwertung zu versehen. Denn mit einer Krankheit kann man umgehen, und sie ist behandelbar. „Es gibt allerdings keinen Umgang mit Sucht, ohne das Kind beim Namen zu nennen“, ergänzt Schwarz.
    Kontakt: beate.schwarz@stadtmission-nuernberg.de

    Text: Raffaele Nostitz
    Quelle: „ersatzkasse magazin. spezial“, Oktober 2017, hrsg. v. vdek

  • Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Gesundheitliche Folgen von Cannabiskonsum

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann

    In der gesellschaftlich kontroversen Diskussion um eine Legalisierung bzw. die Möglichkeit eines legalen Erwerbs von Cannabis sind die Hauptargumente der Befürworter einer Legalisierung, dass Cannabis geringere gesundheitliche Schäden verursacht als Alkohol, dass Cannabis trotz des Verbots eine hohe Verfügbarkeit aufweist und somit die Prohibition versagt hat, dass der Justizapparat durch cannabisassoziierte, opferfreie Vergehen ineffizient belastet wird und dass ein gesellschaftsschädigender illegaler Drogenmarkt aufrechterhalten wird. Somit argumentieren die Befürworter vor allen Dingen mit den negativen Folgen der Prohibition für die Gesellschaft. Die Gegner einer Legalisierung argumentieren, dass Cannabis zu relevanten Gesundheitsschäden führt, der Jugendschutz nicht gewährleistet sei und dass durch die Legalisierung mit einer Zunahme des Cannabiskonsums gerechnet werden müsse. Es wird die Gefahr gesehen, dass eine Legalisierung von der Bevölkerung und insbesondere Jugendlichen als Zeichen der Ungefährlichkeit von Cannabis interpretiert würde. Für die Gegner einer Legalisierung stehen also die negativen Folgen von Cannabis für die Gesundheit im Vordergrund. Somit erscheint es sinnvoll, aktuelle Forschungsergebnisse aus wissenschaftlichen Studien zu den gesundheitsschädlichen Folgen von Cannabis mit in die Argumentation einzubeziehen.

    Wie wirkt Cannabis im Gehirn?

    1964 wurde der psychotrop wirkende Inhaltsstoff von Cannabis entdeckt, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC). Als zweithäufigster Inhaltsstoff wurde das nicht-psychotrop wirkende, also nicht high machende, Cannabidiol identifiziert. 1988 wurde entdeckt, dass THC an den Cannabinoid-1-Rezeptor (CB1) bindet, der vor allem im Gehirn vorkommt. Fünf Jahre später wurde ein zweiter Rezeptor entdeckt (CB2), der vorrangig in blutbildenden Zellen und der Milz lokalisiert ist. 1992 wurde das erste körpereigene (Endo)-Cannabinoid entdeckt (Anandamid), das an CB1 und CB2 bindet, 1995 ein zweites (Arachidonylglycerol) und mittlerweile eine Reihe weiterer Endocannabinoide mit nachrangiger Bedeutung. Seit der Entdeckung des Endocannabinoidsystems wird intensiv daran geforscht, die Funktion dieses Systems zu charakterisieren.

    Denkvorgänge im Gehirn entsprechen einer Weiterleitung elektrischer Impulse von einer Nervenzelle zu einer anderen, hierbei werden Impulse ggf. gehemmt oder verstärkt. Die Nervenzellenübertragung erfolgt durch Synapsen. Von der Präsynapse werden Neurotransmitter (Botenstoffe) ausgeschüttet, die durch den synaptischen Spalt zur Postsynapse diffundieren und dort an Rezeptoren binden. Der häufigste erregende Neurotransmitter im Gehirn ist das Glutamat. Damit das Gehirn gut funktioniert, ist es notwendig, dass eine feinjustierte Konzentration Glutamat präsynaptisch ausgeschüttet wird. Eine zu hohe Konzentration von Glutamat führt zu einer Übererregung wie bei einem zu hoch gedrehten Motor. Zu viel Glutamat ist toxisch, schädigt die Nervenzellen und kann zum Untergang der Nervenzellen führen (Exitotoxizität).

    Endocannabinoide wirken retrograd (rückwärts). Sie werden von der Postsynapse ausgeschüttet, diffundieren zur Präsynapse und binden dort an CB1-Rezeptoren. In der Präsynapse, also dort, wo andere Neurotransmitter ausgeschüttet werden und die elektrische Weiterleitung beginnt, hemmen Endocannabinoide die Ausschüttung von allen anderen Neurotransmittern. Damit können z. B. zu hohe, toxische Konzentrationen von Glutamat reduziert werden. Dieser wünschenswerte Effekt der Endocannabinoide war die Grundlage dafür, intensiv nach neuro-protektiven Eigenschaften von Cannabis zu suchen, z. B. in der Forschung zu ischämischem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Traumata, Morbus Parkinson und Multipler Sklerose.

    Aus den bisher beschriebenen Funktionen des endocannabinoiden Systems lässt sich die Wirkung von Cannabis gut herleiten. Cannabis verlangsamt zentralnervöse Vorgänge, führt dadurch zu Müdigkeit, Antriebsminderung, Gleichgültigkeit, psychomotorischer Hemmung und Feinmotorikstörung. Vegetativ wird der Speichelfluss reduziert und durch eine direkte Erweiterung der Arterien der Blutdruck gesenkt mit reaktivem Anstieg des Pulses, was bei einer Überdosierung zu einem Kreislaufkollaps führen kann. Auch die neuronale Übertragung von Schmerzen wird gehemmt. Zusätzlich vermittelt das Cannabinoidsystem Hunger und die Induktion von Schlaf und hat eine wichtige Funktion beim Löschen von unangenehmen Erinnerungen. Gerade der letzte Punkt könnte hilfreich sein bei der Entwicklung neuer Therapien für psychiatrische Erkrankungen wie Depression oder psychische Traumata, die die Betroffenen häufig ein ganzes Leben lang verfolgen.

    Das zweithäufigste Cannabinoid Cannabidiol (CBD) macht nicht high, sondern begrenzt die gesundheitsschädliche Wirkung von THC und zeigt deutliche neuro-protektive Eigenschaften. Aktuell wird die Wirkung von CBD intensiv erforscht. THC führt zu einer Atrophie (Schrumpfung) des Gedächtniszentrums im Gehirn, des Hippocampus. Eine eigene Studie konnte zeigen, dass CBD vor dieser Schrumpfung schützt und dass die Schrumpfung nur auftritt, wenn Cannabissorten mit einem niedrigen CBD-Gehalt konsumiert wurden (Demirakca et. al 2011). Es gibt erste Anzeichen dafür, dass CBD in der Behandlung von Psychosen eingesetzt werden kann, gegen Angsterkrankung hilft und auch Depressionen lindert. CBD verhindert das Entstehen psychotischer Symptome durch THC.

    Gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen Cannabis und Psychose?

    Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Entwicklung einer Psychose untersucht. Mittlerweile wurden Studien mit großer Anzahl von Studienteilnehmern durchgeführt, teils mit langer Nachbeobachtungszeit, die eine hohe wissenschaftliche Aussagekraft aufweisen. Die Studienergebnisse zeigen eine gesicherte und valide Assoziation von Cannabiskonsum und Psychose. Das bedeutet: Personen, die Cannabis konsumieren, weisen eine zwei- bis dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass Cannabis die Psychose verursacht. Vielmehr haben Cannabiskonsum und Psychosen gemeinsame Risikofaktoren, d. h., Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Gewalterfahrung, psychischen Traumata in der Kindheit, Alkohol-, Tabak- oder anderem Drogenkonsum weisen ein höheres Risiko für beides auf, Psychose und Cannabiskonsum. Je nach politischer Grundhaltung kann also die Haltung vertreten werden, dass ungünstige Lebensumstände zur Psychose geführt haben (und Cannabiskonsum nur eine kleine Rolle spielt) oder dass Cannabis die Psychose verursacht hat und die ungünstigen Lebensumstände keine Rolle spielen. Damit weist gerade die Debatte um den Umgang mit Cannabis eine hohe Anfälligkeit für politische motivierte Verzerrungen auf. Kann Wissenschaft da zu einer objektiven und neutralen Beurteilung beitragen? Wenn wissenschaftliche Studien kritisch hinterfragt und Verzerrungen offengelegt werden: Ja.

    Für den Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychose müssen also sozioökonomische Faktoren in die Analyse miteinbezogen werden. Dann weisen Cannabiskonsumenten eine 41 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf, eine Psychose zu entwickeln (Moore et al. 2007). In die Analyse von Moore et al. wurden 35 Studien einbezogen und etwa 60 potentielle Einflussfaktoren berücksichtigt, so dass von einer hohen Validität ausgegangen werden kann.

    Zusätzlich zu sozioökonomischen Faktoren wurde in einer 2014 publizierten Studie gezeigt, dass auch biologische Faktoren zur Assoziation von Cannabis und Psychosen beitragen: Dieselben Gene, die das Risiko für eine Psychose erhöhen, erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, Cannabis zu konsumieren und vor allem größere Mengen Cannabis zu konsumieren (Power et al. 2014). Nicht nur ‚Cannabiskonsum führt zur Psychose‘, sondern auch ‚Disposition zur Psychose führt zu Cannabiskonsum‘. Personen, die ein starkes genetisches Risikoprofil für Psychosen aufweisen, scheinen die Wirkung von Cannabis gegenüber anderen Drogen oder Alkohol zu präferieren und konsumieren deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit Cannabis. Nicht nur die Substanzwirkung von Cannabis ist somit für das Auftreten einer Schizophrenie (die zu den Psychosen gehört) verantwortlich, vielmehr stellen Cannabiskonsumenten eine Selektion von Personen dar, die als Gruppe mehr Risiko-Gene für eine Schizophrenie aufweisen. Dieser genetische Zusammenhang kann auch erklären, warum in einer anderen Studie 46 Prozent der Patienten, die mit einer ersten cannabisinduzierten Psychose stationär behandelt wurden, eine Schizophrenie entwickelten, während nur 30 Prozent der Patienten mit einer amphetamininduzierten Psychose und fünf Prozent bei alkoholinduzierter Psychose eine Schizophrenie entwickelten. Über 18.000 Patienten mit cannabisinduzierten Psychosen waren zwischen 1987 und 2003 in Finnland in diese Studie eingeschlossen und acht Jahre lang nachverfolgt worden (Niemi-Pynttäri et al. 2013).

    Einige Studien zeigen, dass Cannabiskonsum insbesondere bei Jugendlichen das Risiko für die Entwicklung einer Psychose erhöht. Besonders gefährdet sind Jugendliche, die mit 15 Jahren (Arseneault et al. 2002) oder bereits vor dem 14. Lebensjahr (Schimmelmann et al. 2011) mit dem Cannabiskonsum begonnen haben.

    2005 wurde erstmals ein einzelnes Gen identifiziert, das das Risiko für Psychosen unter Cannabiseinfluss erhöht. Es handelte sich um eine genetische Variante im Dopaminabbau, die jedoch in drei späteren Studien mit knapp 5.000 Studienteilnehmern nicht verifiziert werden konnte. Stattdessen wurde ein anderes Gen (AKT1) identifiziert, das mit einem erhöhten Risiko für Psychose assoziiert ist; allerdings nur bei täglichem Cannabiskonsum und nicht, wenn Cannabis ausschließlich an Wochenenden oder seltener konsumiert wird.

    Um den Zusammenhang von Cannabis und Psychose besser quantifizieren zu können, wurde kalkuliert, wie viele Personen kein Cannabis konsumieren müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern (Hickman et al. 2009). Ergebnis war, dass im Altersbereich von 20 bis 24 Jahren 1.360 Männer bzw. 2.480 Frauen auf Cannabiskonsum verzichten müssten, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Im Alter von 35 bis 39 müssten 2.900 Männer oder 3.260 Frauen auf Cannabis verzichten.

    Neuropsychologische Defizite nur bei Konsumbeginn im Jugendalter

    Es ist bereits lange bekannt und ausreichend gut untersucht, dass während einer Intoxikation mit Cannabis Defizite im neuropsychologischen Bereich, z. B. Gedächtnis, Orientierung und Aufmerksamkeit, auftreten. Umstritten ist jedoch die Frage, ob diese Defizite auch nach Beendigung des Cannabiskonsums weiter bestehen bleiben, ob sie sich ganz oder nur teilweise zurückbilden und ob sie mit der Dauer und der Menge des konsumierten Cannabis in Zusammenhang stehen. Um diese Frage zu untersuchen, sind longitudinale Studien notwendig, die über einen langen Zeitraum an mehreren Messzeitpunkten neuropsychologische Leistungen und Cannabiskonsum erheben.

    In einer aussagekräftigen Studie wurden 1.037 Personen, die 1972/73 geboren wurden, einem Intelligenztest im Alter von 13 Jahren und 38 Jahren unterzogen (Meier et al. 2012). Der Cannabiskonsum wurde im Alter von 18, 21, 26, 32 und 38 Jahren erhoben. Diese Studie zeigte, dass fortgesetzter Cannabiskonsum mit einer Verminderung kognitiver Leistung verbunden war. Eine Verminderung des Intelligenzquotienten wurde nur bei den Personen beobachtet, die vor dem 18. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten. Diese Defizite verschlechterten sich bei weiterem Konsum zusätzlich und bildeten sich nach einer Cannabisabstinenz nicht vollständig zurück. Dieser Effekt wurde bei Beginn des Cannabiskonsums im jugendlichen Alter sowohl für regelmäßigen als auch für unregelmäßigen Konsum nachgewiesen (mindestens ein Mal wöchentlicher Konsum). Wurde mit dem Cannabiskonsum erst im Erwachsenenalter begonnen, zeigte sich keine Verminderung des Intelligenzquotienten. Somit hat diese sehr hochwertige Studie zwei wichtige Hauptaussagen: Wird mit dem Cannabiskonsum vor dem 18. Lebensjahr begonnen, führt dies zu einer Minderung der Intelligenz, die sich auch bei späterer Cannabisabstinenz nicht zurückbildet. Wird erst nach dem 18. Lebensjahr begonnen, entstehen keine bleibenden Intelligenzdefizite.

    Eine weitere aktuelle Studie bestätigte diese Ergebnisse indirekt (Silins et al. 2014). Hier wurde nachgewiesen, dass Personen, die vor dem 17. Lebensjahr mit dem Cannabiskonsum begonnen hatten, bei täglichem Cannabiskonsum ein um 64 Prozent erhöhtes Risiko für einen Schulabbruch aufwiesen, ein um den Faktor 18 erhöhtes Risiko für eine Cannabisabhängigkeit, ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko bezüglich einer Abhängigkeit für andere Drogen und ein um den Faktor 8 erhöhtes Risiko für Suizidversuche. Bei mindestens wöchentlichem Cannabiskonsum, aber seltener als täglich, waren die entsprechenden Risiken noch etwa halb so hoch wie bei täglichem Cannabiskonsum.

    Als biologischen Mechanismus für neuropsychologische Defizite wird eine Interaktion mit dem endogenen Cannabinoidsystem vermutet, da nachgewiesen wurde, dass Endocannabinoide die Bildung, Reifung und Wanderung neuer Nervenzellen im Gehirn steuern, das Wachstum von Axonen bestimmen (ein Axon ist der Fortsatz einer Nervenzelle, über den Signale weitergeleitet werden) sowie die Entwicklung von Gliazellen (Gliazellen transportieren Flüssigkeit und  Nährstoffe zu den Nervenzellen) und die Position von verschiedenen Nervenzellen festlegen (Berghuis et al. 2007). Wenn Cannabis konsumiert wird, stört dies diesen feingesteuerten Umbauprozess, der während der Pubertät stattfindet. Im Erwachsenenalter finden sehr viel weniger Umbauprozesse statt, so dass Cannabiskonsum keine großen Veränderungen mehr bewirken kann. Tierversuche mit Ratten, denen Cannabinoide während der Pubertät verabreicht wurden, bestätigen eindeutig, dass neuropsychologische Defizite vor allem bei Beginn des Cannabiskonsums in der Pubertät auftreten.

    Trends im Konsum von Cannabis

    Bereits seit einigen Jahren gibt es einen Trend zu höherem THC- und niedrigerem CBD-Gehalt. In den USA hat sich in den letzten 20 Jahren der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht, in den Niederlanden gab es einen ähnlichen Trend, der zu einer gesetzlichen Begrenzung des THC-Gehaltes auf 15 Prozent geführt hat. Auch aus Deutschland und Italien ist ein entsprechender Anstieg des THC-Gehaltes bekannt. Gleichzeitig enthalten neuere Cannabissorten nur noch wenig CBD, z. B. lag der CBD Gehalt in niederländischem Marihuana unter einem Prozent, während in die Niederlande importiertes Haschisch weiterhin einen CBD-Gehalt von  acht Prozent aufwies (Pijlmann et al. 2005).

    Ein weiterer Trend besteht im Aufkommen von Räuchermischungen, die synthetische Cannabinoide enthalten, erstmals mit dem Produkt „Spice“ 2008. Die Räuchermischungen werden regelmäßig durch die Aufnahme der Wirkstoffe ins Betäubungsmittelgesetz verboten, jedoch sind jeweils rasch neue Produkte mit anderen, nicht verbotenen synthetischen Cannabinoiden auf den Markt. Die in Räuchermischungen enthaltenen synthetischen Cannabinoide haben meist eine vier- bis achtfach stärkere Wirkung als Cannabis, einige Produkte haben aber sogar eine mehr als hundertfache Wirkstärke von THC. Diese Tatsache führt zu mehr Überdosierungen, die mit Kreislaufkollaps, Angst- und Panikattacken, psychotischen Symptomen, Verwirrtheitszuständen und epileptischen Anfällen einhergehen. Zusätzlich enthalten Räuchermischungen kein CBD und sind daher auch im Dauergebrauch potentiell schädlicher als die altbekannten Cannabissorten. Da es sich um chemisch andere Substanzen handelt als THC, sind synthetische Cannabinoide nicht durch übliche Drogentests im Urin nachweisbar.

    Hoher THC-Gehalt, niedriger CBD-Gehalt und synthetische Cannabinoide stellen einen Trend hin zu mehr gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten dar. In der Geschichte gibt es vergleichbare Beispiele aus der Prohibition von Alkohol, z. B. in den USA 1919 bis 1933. Dort kam es zu einem verstärkten Verkauf von hochprozentigen Alkoholika wie Whisky anstatt von Bier und Wein sowie von selbstgebrannten Alkoholika, die oft gesundheitsschädliche Mengen von Methanol enthielten. Entsprechend kann der Trend zu gesundheitsschädlichen Cannabisprodukten als direkte Folge des Verbots von Cannabis angesehen werden.

    Schlussfolgerungen für die Legalisierungsdebatte

    Bisher wurde davon ausgegangen, dass Cannabis als direkte Substanzwirkung pauschal bei jedem Menschen Psychosen verursachen kann. Aktuelle Studien zeigen hingegen, dass es genetisch bedingte Unterschiede im individuellen Risiko gibt, durch Cannabiskonsum eine Psychose zu entwickeln. Zusätzlich konsumieren Personen, die Risiko-Gene für Psychosen tragen, häufiger und mehr Cannabis. Diese Personen würden evtl. auch ohne Cannabiskonsum eine Psychose entwickeln. Kalkulationen zeigen, dass eine hohe Zahl von mehreren Tausend Cannabiskonsumenten auf Cannabis verzichten müsste, um einen Fall einer Psychose zu verhindern. Aktuelle Studien relativieren also das von Cannabis ausgehende Risiko.

    Trotz des bisher von Gegnern der Legalisierung propagierten Risikos, dass jeder Konsum von Cannabis unmittelbar bei jedem Konsumenten zu einer lebenslangen Psychose führt, ist Cannabis weit verbreitet. Dieses Argument hat seine abschreckende Wirkung verfehlt. Aktuelle Studien machen zudem deutlich, dass das Risiko für Psychosen auch vom Alter bei Beginn des Cannabiskonsums abhängt, weil die Entwicklung des Gehirns gestört wird. Neuropsychologische Defizite durch Cannabis entstehen nur, wenn der Cannabiskonsum im jugendlichen Alter begonnen wird, aber nicht bei Konsumbeginn im Erwachsenenalter. Dies steht im krassen Gegensatz zu dem jetzigen Image von Cannabis als Jugenddroge, das dringend verändert werden muss.

    Cannabis ist nicht harmlos. Cannabiskonsum sollte daher so gering gehalten werden wie möglich. Darüber besteht eine Einigkeit bei den Befürwortern und den Gegnern einer Legalisierung. Aktuelle Studien belegen deutlich, dass Cannabis definitiv als Jugenddroge nicht geeignet ist, sondern im Gegenteil für Jugendliche besonders riskant ist. Daher kommt dem Jugendschutz eine besondere Bedeutung zu.

    Empfehlungen der EMCDDA

    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (engl. European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, EMCDDA, www.emcdda.europa.eu) hat sich seit 2010 in einem von der EU-Kommission finanziell geförderten Projekt intensiv mit der Frage der Cannabispolitik auseinandergesetzt und Empfehlungen entwickelt (ALICE RAP, 2014). Diese Empfehlungen – „Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation“ – stellen einen Mittelweg dar zwischen einem Verbot von Cannabis mit strafrechtlicher Verfolgung und einem freien, legalen Verkauf von Cannabis. Kernpunkt der Empfehlung ist, dass Cannabis von staatlichen Einrichtungen legal verkauft wird, aber die Verkaufsbedingungen sehr strengen Regeln unterliegen und streng kontrolliert werden sollten. Insbesondere soll der Jugendschutz damit verbessert werden. Hintergrund dieser Empfehlung ist die Einsicht, dass die aktuelle Prohibition von Cannabis versagt hat. Die Prohibitionspolitik geht davon aus, dass durch das Verbot von Cannabis die Verfügbarkeit reduziert wird. In einer aktuellen Umfrage des Eurobarometers im Juni 2014 schätzten 55 Prozent der 15- bis 24-Jährigen die Verfügbarkeit von Cannabis als leicht oder sehr leicht ein. Bei anderen Drogen hingegen, z. B. Ecstacy oder Kokain, scheint die Prohibition zu wirken, hierfür wurde die Verfügbarkeit nur von 20 Prozent als leicht oder sehr leicht eingeschätzt.

    Wenn die Prohibition funktionieren würde, dann müsste eine Verschärfung der Cannabisgesetze die Häufigkeit des Konsums reduzieren, während eine Liberalisierung den Cannabiskonsum erhöhen müsste. In England, Griechenland und Finnland wurden die Strafen reduziert, seit diesem Zeitpunkt ging der Konsum von Cannabis aber zurück. In Italien stoppte auch eine Erhöhung der Strafe nicht den Anstieg des Cannabiskonsums, während in Dänemark nach einer Straferhöhung genauso häufig Cannabis konsumiert wurde wie zuvor. Die Prävalenz von Cannabiskonsum ist also unabhängig von dem angedrohten Strafmaß.

    Ein legaler Verkauf von Cannabisprodukten würde die Möglichkeit eröffnen, Regeln und Bedingungen an Public-Health-Aspekten zur orientieren und so auf einen möglichst wenig gesundheitsschädlichen Konsum von Cannabis hinzuwirken.

    Kontakt:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann
    Leitender Oberarzt
    Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
    J 5, 68159 Mannheim
    Derik.Hermann@zi-mannheim.de
    www.zi-mannheim.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. (apl.) Dr. Derik Hermann hat in Heidelberg und Mannheim Medizin studiert. Die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat er am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim absolviert. Nach Tätigkeiten als Oberarzt an der Charité Berlin Mitte 2007 und als Ärztlicher Direktor der suchtmedizinischen Klinik des Klinikum Stuttgart 2014 kehrte er jeweils wieder an die Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit zurück, wo er aktuell als Leitender Oberarzt tätig ist. Forschungsschwerpunkte sind  MRT- und PET-Untersuchungen zu Alkohol, Cannabis und Opiaten.

    Literatur:
    • ALICE RAP – Addiction and Lifestyles in Contemporary Europe Reframing Addictions Project. Policy paper 5. Cannabis: From prohibition to regulation, 2014. Online verfügbar unter: http://www.alicerap.eu/resources/documents/cat_view/1-alice-rap-project-documents/19-policy-paper-series.html
    • Arseneault et al. Cannabis use in adolescence and risk for adult psychosis: longitudinal prospective study. BMJ 2002; 325:1212-3.
    • Berghuis et al. Hardwiring the brain: endocannabinoids shape neuronal connectivity. Science 2007; 316:1212-6.
    • Demirakca et al. Diminished Gray Matter in the Hippocampus of Cannabis Users: Possible Protective Effects of Cannabidiol. Drug and Alcohol Dependence 2011; 114:242-5.
    • Hickman et al. If cannabis caused schizophrenia – how many cannabis users may need to be prevented in order to prevent one case of schizophrenia? England and Wales calculations. Addiction 2009; 104:1856-61.
    • Meier et al. Persistent cannabis users show neuropsychological decline from childhood to midlife. Proc Natl Acad Sci U S A. 2012;109:E2657-64.
    • Moore et al. Cannabis use and risk of psychotic or affective mental health outcomes: a systematic review. Lancet 2007; 370:319-28.
    • Niemi-Pynttäri et al. Substance-induced psychoses converting into schizophrenia: a register-based study of 18,478 Finnish inpatient cases. J Clin Psychiatry 2013; 74(1); e94-9.
    • Power et al. Genetic predisposition to schizophrenia associated with increased use of cannabis. Mol Psychiatry. 2014; 19:1201-4.
    • Schimmelmann et al. Cannabis use disorder and age at onset of psychosis-a study in first-episode patients. Schizophr Res. 2011; 129:52-6.
    • Silins et al. Young adult sequelae of adolescent cannabis use: an integrative analysis. The Lancet Psychiatry 2014; 1, 286–293.
  • TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    Frank Rihm
    Frank Rihm

    Suchtpatienten und Patienten in psychosomatischen Kliniken zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie in ihrem Leben zu selten die Erfahrung von Sicherheit und Vertrauen gemacht haben. Sie haben in der Regel nicht das Gefühl, dass sie im Leben und in der Gesellschaft einen Platz haben, dass der Boden unter den Füßen trägt und sie das eigene Leben in die Hand nehmen und gestalten können. Jahrelange therapeutische Erfahrung hat gezeigt, dass für Menschen, die das Grundgefühl des Nicht-Dazu-Gehörens in sich tragen, die so genannte TaKeTiNa-Rhythmustherapie sehr hilfreich sein kann und zur Genesung beiträgt.

    Die Grundidee: Sich vom Rhythmus tragen lassen

    TaKeTiNa ist der Name einer Methode, die es Menschen ermöglicht, Rhythmus mit dem Körper ganzheitlich zu erleben. Der Lehrer bedient sich dabei einer ausgefeilten Rhythmussprache bestehend aus Rhythmussilben. Er spricht dem Kursteilnehmer vor, was dieser auf dem Instrument spielen soll. Die Silben „ta“, „ke“, „ti“ und „na“ haben sich dazu als besonders geeignet erwiesen.

    Der TaKeTiNa-Prozess vermittelt Rhythmus so, wie ihn der Mensch von Natur aus am besten erfassen und lernen kann. Er führt den Teilnehmer direkt zur körperlichen Erfahrung rhythmischer Urbewegungen und damit zu jenen Grundbausteinen, aus denen sich die Rhythmik jeder Musik zusammensetzt. Der Körper selbst wird zum Musikinstrument, die Begegnung mit Rhythmus ist daher entsprechend direkt und intensiv. Mit Stimme, Klatschen und Schrittbewegungen werden gleichzeitig drei unterschiedliche Rhythmusebenen aufgebaut. Das damit verbundene „Aus dem Rhythmus fallen“ und wieder „In den Rhythmus zurückfinden“ ist das Prinzip, mit dem die Teilnehmer lernen, sich immer tiefer vom Rhythmus tragen zu lassen. Intention und Hingabe, Machen und Geschehen-Lassen, Aktiv- und Passivsein verbinden sich spielerisch miteinander, sodass die Teilnehmer immer mehr den Zustand im „Hier und Jetzt“ erleben können. Die Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen setzen TaKeTiNa als Rhythmustherapie seit 25 Jahren erfolgreich ein. „Die Erfahrung, von den Grundstrukturen des Rhythmus in der Gruppe getragen zu sein, sich zu verlieren, sich wiederzufinden und sich sicherer in sich selbst zu verankern, sind fundamentale und enorm bereichernde Komponenten im Rahmen einer psychosomatischen stationären Behandlung“, erklärt Dr. Joachim Galuska, leitender ärztlicher Direktor, Geschäftsführer und Mitbegründer der Heiligenfeld Kliniken.

    TaKeTiNa in der Psychotherapie

    Viele Patienten fühlen sich in Folge von Traumatisierung oder Bindungsstörungen immer wieder oder ständig bedroht. Wenn sie die Augen schließen, fühlen sie sich, als würden sie in eine dunkle, unendliche Tiefe fallen, ohne jeglichen Halt und ohne die Chance einer Stabilisierung. Häufig leiden diese Patienten unter Depersonalisation oder Derealisation und nehmen sich selbst, ihre Umwelt und andere Menschen als unwirklich wahr. Für diese Patienten kann der TaKeTiNa-Prozess sehr hilfreich sein, indem er zu einer verbesserten Körperwahrnehmung führt und zwanghaft kreisende Gedanken unterbricht. Viele Patienten fühlen sich durch die körperliche Erfahrung des Rhythmus seit langer Zeit zum ersten Mal wieder sicher und geborgen, und die sonst so belastende Trennung zwischen ihnen und ihrer Umwelt weicht für Momente dem Gefühl der Verbundenheit. TaKeTiNa arbeitet mit der elementarsten Kraft des Lebens – mit Rhythmus. Dieser ist in TaKeTiNa Spiegel und zugleich die Kraft, mit der behindernde Verhaltensweisen aufgelöst und Qualitäten entwickelt werden können, die die Essenz menschlichen Lebens ausmachen: Intuition und Kreativität, innere Stille und mentale Stärke, Angstlosigkeit und das Vertrauen, in komplexen Situationen die Übersicht zu behalten.

    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern
    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern

    TaKeTiNa wurde von dem Wiener Musiker, Komponist, Autor und weltweit agierenden Seminarleiter Reinhard Flatischler begründet und gilt als einer der effektivsten Lernprozesse unserer Zeit. In den Heiligenfeld Kliniken wurde TaKeTiNa so modifiziert, dass auch Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder mit neurotischen Problemen das Verfahren sehr erfolgreich nutzen können. TaKeTiNa wird ganz besonders dazu genutzt, Menschen, die schwerwiegende und durch verbale Interventionen nur bedingt erreichbare Probleme haben, in eine positive Entwicklung zu bringen. Die Patienten verstehen das Verfahren intuitiv sehr schnell und nehmen das Angebot deshalb auch sehr gerne wahr. Sie erfahren, dass TaKeTiNa ein effektiver Weg sein kann, ihnen tiefe Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu ermöglichen. Ein Weg, der sie einerseits mit Episoden aus ihrer Vergangenheit in Berührung bringt, der sie andererseits aber auch in die Gegenwart und zu einer besseren Selbsteinschätzung führt. Sie können die im Rhythmus innewohnende Kraft und das Zusammenspiel in der Gruppe nutzen, um vermisste Qualitäten und Fähigkeiten nachreifen zu lassen. Gleichzeitig konfrontiert sie die Arbeit mit dem Rhythmus mit den ihr Leben behindernden Mustern und Verhaltensweisen. Mit TaKeTiNa erfahren die Patienten, wie sie inmitten von persönlichen Krisen wieder Lebensfreude, Humor, Hoffnung und Lust am Leben verspüren.

    Wissenschaftliche Evaluation

    Ein Team von Ärzten und Wissenschaftlern untersucht und bestätigt diese positiven klinischen Resultate seit mehr als zehn Jahren. Herzratenvariabilitätsmessungen belegen beispielsweise, dass TaKeTiNa vorhersehbar und wiederholbar ideale Bedingungen für die Regeneration des Nervensystems herstellt und daher die Grundlage dafür schafft, die Gesundheit auf psychischer Ebene zu fördern. Im Forschungsrahmen gemachte EEG-Messungen zeigen, dass die regelmäßige Anwendung von TaKeTiNa das Gehirn effektiver arbeiten lässt. Laut Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, wirke TaKeTiNa heilend, gerade bei chronisch kranken Menschen. Im Göppinger Projekt mit Hochschmerzpatienten sei TaKeTiNa für die Patienten eine essentielle Hilfe gewesen, die ihnen ermöglichte, ihre Medikation zu reduzieren und den Umgang mit Schmerz zu verbessern. Derzeit läuft in den Heiligenfeld Kliniken eine Untersuchung zur Therapie mit komplex-traumatisierten Patienten. Die ersten Ergebnisse dieser gerade angelaufenen Untersuchung sind vielversprechend und zeigen schon jetzt, dass diese Patienten ihre Heilungserfolge während der stationären Therapie besonders auch auf die in der Rhythmustherapie gemachten Erfahrungen zurückführen.

    Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten

    Heiligenfeld Kliniken TaKeTiNa wird mittlerweile als begleitende Maßnahme in unterschiedlichen Therapiebereichen in Kliniken und Praxen erfolgreich eingesetzt. Die Arbeit, die in den Heiligenfeld Kliniken mit der TaKeTiNa-Rhythmustherapie seit mehr als zwei Jahrzehnten geleistet wird, zählt zu den langjährigsten Projekten. Die psychotherapeutischen Resultate sind so überzeugend, dass über die Akademie Heiligenfeld nun erstmals eine eigenständige Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten angeboten wird. Diese soll die Teilnehmer dazu befähigen, Rhythmus im therapeutischen Kontext kompetent und effektiv einzusetzen. Geleitet wird diese Ausbildung von Frank Rihm (leitender Kreativtherapeut der Fachklinik Heiligenfeld), Reinhard Flatischler (Begründer von TaKeTiNa) und Bettina Berger (HAKOMI-Lehrtherapeutin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Die Dozenten verfügen über große praktische Erfahrung in der Integration von Rhythmus in die Psychotherapie und werden den Teilnehmern zeigen, wie effektiv dieser Weg sein kann. Voraussetzung zur Teilnahme ist die Ausübung eines Grundberufes, der dazu berechtigt und befähigt, mit Menschen heilend bzw. therapeutisch zu arbeiten.

    Ein Einführungsworkshop mit Reinhard Flatischler und Frank Rihm findet vom 24. bis 26. April 2015 in Bad Kissingen statt. Weitere Informationen und eine Anmeldemöglichkeit finden Sie im Internet unter www.akademie-heiligenfeld.de.

    Kontakt und Informationen:

    Akademie Heiligenfeld
    Altenbergweg 6
    97688 Bad Kissingen
    Tel. 0971/84-4600
    www.akademie-heiligenfeld.de
    info@akademie-heiligenfeld.de

    Angaben zum Autor:

    Frank Rihm ist leitender Kreativtherapeut in der Fachklinik Heiligenfeld. Der Dipl.-Musiktherapeut, TaKeTiNa-Rhythmuspädagoge (Advanced Level) und Gestalttherapeut hat darüber hinaus Weiterbildungen in Somatic Experiencing (Traumatherapie nach Peter Levine) und verschiedenen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie absolviert.