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  • Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.

    Dr. Volker Weissinger

    1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland

    Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.

    2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen

    Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.

    Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.

    Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“

    Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“

    Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).

    Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).

    Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.

    Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)

    Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.

    Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.

    3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs

    Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:

    • Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
    • Qualifizierter Entzug
    • Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
    • Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
    • Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Betrieblicher Bereich
    • Routinedaten der Leistungsträger
    • Jobcenter/Agenturen für Arbeit
    • Fallmanagement und Fallbegleitung
    • Nutzung moderner Informationstechnologien

    Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.

    Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

    Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:

    Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.

    „Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)

    Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).

    Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.

    Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.

    Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.

    Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).

    Qualifizierter Entzug

    Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.

    In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:

    • Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
    • Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
    • Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
    • Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
    • Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX

    Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.

    Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung

    Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.

    Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.

    Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.

    Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).

    Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.

    Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung

    Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.

    Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):

    • Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
    • Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
    • Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
    • Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
    • Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.

    Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.

    Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.

    Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.

    Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt

    Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.

    Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).

    Betrieblicher Bereich

    In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.

    Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.

    Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.

    Routinedaten der Leistungsträger

    Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.

    Routinedaten der Krankenversicherung
    Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:

    • „Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
    • Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“

    Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.

    Routinedaten der Rentenversicherung
    Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).

    Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.

    Jobcenter/Agenturen für Arbeit

    Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).

    Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.

    Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.

    Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).

    Fallmanagement und Fallbegleitung

    In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).

    Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.

    Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.

    Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.

    Nutzung moderner Informationstechnologien

    Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.

    Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).

    Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.

    Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.

    4. Schlussbemerkungen und Ausblick

    Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.

    Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).

    Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:

    • niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
    • zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
    • Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.

    Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.

    Kontakt:

    Dr. Volker Weissinger
    Geschäftsführer
    Fachverband Sucht e.V.
    Walramstraße 3
    53175 Bonn
    Tel. 02 28/26 15 55
    sucht@sucht.de

     

     

    Angaben zum Autor:

    Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.

    Literatur:

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    • Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
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    • Trautmann, S., Pieper, L., Kuitunen-Paul, S., Manthey, J., Wittchen, H.-U., Bühringer, G., Rehm, J. (2016): Prävalenz und Behandlungsraten von Störungen durch Alkoholkonsum in der primärärztlichen Versorgung in Deutschland, Sucht (2016), 62 (4), 233-243
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  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • „Die Zukunft hat begonnen“

    „Die Zukunft hat begonnen“

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Seit geraumer Zeit stößt man in den Medien auf den Begriff Industrie 4.0. Er beschreibt die schon eingeläutete nächste Stufe der industriellen Revolution, auf der sich die physikalische und die virtuelle Welt noch stärker verbinden. Im „Internet der Dinge“ (IoT – Internet of Things) kommunizieren Menschen, Maschinen, Gegenstände und Softwaresysteme miteinander. Das IoT trägt sowohl den Ansprüchen von Kunden Rechnung, die Produkte verlangen, die immer mehr ihren eigenen individuellen Vorstellungen entsprechen, als auch den Anforderungen an Unternehmen, kostengünstig zu produzieren (vgl. http://industrie-wegweiser.de/industrie-4-0/).

    Weil im Rahmen von Industrie 4.0 zunehmend Maschinen Arbeiten verrichten, die vorher von Menschen durchgeführt wurden – bei gleichbleibender oder sogar gesteigerter Produktivität – werden bereits Forderungen nach einer ‚Robotersteuer‘ laut. Auch wenn die Idee, die Wertschöpfung von Robotern zu besteuern und im Gegenzug die Besteuerung von Arbeit zu verringern, sehr kontrovers diskutiert wird, zeigt es, dass die anstehenden Entwicklungen grundlegende Änderungen für die bisherigen Arbeits- und auch Angebotsstrukturen bedeuten (vgl. Balser, 2016).

    Veränderungen durch die Digitalisierung

    Ganze Branchen, die derzeit aus dem Alltag nicht wegzudenken sind, werden sich auflösen oder sich grundlegend wandeln, und das nicht nur im produzierenden Gewerbe. Die Veränderungen, die durch die Digitalisierung möglich werden, betreffen alle Lebensbereiche, wie die folgenden Beispiele zeigen:

    • Die gesamte Struktur des Einzelhandels ändert sich, wenn Güter und Lebensmittel im Internet geordert und innerhalb weniger Stunden per Drohnen ins Haus geliefert werden.
    • Start-up-Unternehmen, so genannte FinTechs (Financial Tech), beginnen derzeit, die etablierte Banken- und Versicherungsbranche durcheinanderzuwirbeln, indem sie Finanzdienstleistungen mit einem Minimum an Personal und unter gänzlichem Verzicht auf repräsentative Immobilien per Internet preiswert anbieten. Im Deutsche Bank Research „Fintech – Die digitale (R)evolution im Finanzsektor“ (Teil 1, 2014, S. 5) heißt es: „So gerät der Finanzsektor in diesen Bereichen also nicht durch eigene, der Branche zugehörige Finanzdienstleister in Bedrängnis, sondern zunehmend durch technologiegetriebene Unternehmen, die sich digital und mit großer Dynamik in den Markt für leicht zu standardisierende Finanzprodukte und -dienste drängen, um Kunden und Marktanteile zu gewinnen.“
    • Die Autoindustrie muss ihr Geschäftsmodell, immer mehr Autos zu produzieren, umstellen, wenn durch die Verbreitung der „Sharing Economy“ via Internet nicht mehr der persönliche Besitz eines Fahrzeugs wichtig ist, sondern nur der Wunsch, schnell, unkompliziert und jederzeit von A nach B zu kommen. Längst haben deshalb Autohersteller wie beispielsweise BMW mit „DriveNow“ und Daimler mit „car2go“ eigene Mobilitätsdienste aufgebaut oder sind daran beteiligt wie z. B. Volkswagen an „Greenwheels“. Auch andere Autohersteller denken bereits darüber nach, in Zukunft eigenes Carsharing anzubieten (vgl. http://www.carsharing-news.de/).
    • Meist unbemerkt ist der 3D-Druck heute schon im Alltag von Millionen Menschen angekommen. So stammen Hörgeräte und Zahnersatz inzwischen sehr oft aus 3D-Druckern. Beim 3D-Druck werden die Werkstücke computergesteuert aus einem oder mehreren flüssigen oder festen Werkstoffen nach vorgegebenen Maßen und Formen gefertigt. Die Bauteile oder Ersatzteile können auch in kleinen Margen „just in time“ selbst hergestellt werden. Zulieferer und Lagerkapazitäten werden hierbei nicht mehr gebraucht. Ein Grund, weshalb diese Technik auch in Gasturbinen und Flugzeugtriebwerken Anwendung findet.
    • Die Taxibranche wird weltweit durch Unternehmen wie Uber in ihrer Existenz bedroht, denn mit den Möglichkeiten des Internts kann jeder Autofahrer zum Taxifahrer werden.
    • Vom Urlaub aus die eigene Wohnung überwachen, vom Büro aus die Heizung zu Hause regulieren, ein Kühlschrank, der meldet, wenn Lebensmittel nachgekauft werden müssen: Im Bereich Smart Home macht das Internet der Dinge via App all dies heute schon möglich.
    • Die Überalterung der Gesellschaft und die steigende Lebenserwartung bei gleichzeitiger Ausdünnung der Infrastruktur im ländlichen Bereich sowie der Wunsch von immer mehr Menschen, ihren Gesundheitsstatus permanent selbstständig überwachen zu können, führen zu einer immensen Dynamik im Bereich E-Health. Immer neue Anwendungen kommen auf den Markt, bei denen der Kontakt zwischen Behandler/in und Patient/in per App über das Internet hergestellt wird.
    • Fachkräftemangel im Pflegebereich und der Wunsch vieler Menschen, möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, bieten einen enormen Markt für internetgestützte Assistenzsysteme.
    • Im Bereich E-Mental-Healthcare (Gesundheitsversorgung per Internet für Menschen mit psychischen Erkrankungen) gibt es erste Untersuchungen, die das positive Potenzial internetbasierter Nachsorge nach einer stationären Therapie belegen (vgl. https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/index.php?id=137792). Therapieangebote per Internet z. B. bei Depressionen oder Angststörungen werden in der Literatur als wirksam und nachhaltig bewertet (Knaevelsrud, Wagner & Böttche, 2016).

    Die oben genannten Beispiele sind schon jetzt Realität, und es ist unrealistisch anzunehmen, die Bereiche der Suchthilfe und Suchtprävention wären von solchen tiefgreifenden Veränderungen, die zum Verschwinden ganzer Branchen und Strukturen führen, komplett ausgenommen. Suchthilfe und Suchtprävention bestehen zu weiten Teilen aus Kommunikation. Und wenn die Kommunikation zwischen Menschen bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen ebenso wie die Rezeption von Informationen immer stärker per Internet geschieht, müssen Suchthilfe- und Suchtpräventionsangebote diesem Verhalten und den damit verbundenen Erwartungen Rechnung tragen. Die Suchthilfe ist deshalb gefordert, Konzepte für eine nachfragegerechte Gestaltung der derzeitigen Angebote und Dienstleistungen zu entwickeln.

    Anforderungen an die Suchthilfe

    Voraussichtlich werden auch im Bereich der Suchthilfe mithilfe der Digitalisierung sehr schnell Geschäftsmodelle möglich, die Kundeninteressen oder Kostenträgerinteressen befriedigen und dafür die aktuellen Strukturen, Einrichtungen und Mitarbeitenden nicht mehr in dem Umfang benötigen, wie es zurzeit noch der Fall ist. Die Einführung der Smartphones, deren Existenz heute nicht mehr wegzudenken ist und mit denen viele der digitalen Möglichkeiten ‚in der Hosentasche‘ transportiert werden können, liegt erst neun Jahre zurück. Ein Indiz, das zeigt, wie rasant die aktuellen Entwicklungen vorangehen.

    Deshalb ist es eine dringende Aufgabe für die Suchthilfeverbände, sich an zentraler Stelle mit dem aktuellen Stand der digitalen Transformation und speziell mit den Entwicklungen und Möglichkeiten im Bereich E-Mental-Healthcare auseinanderzusetzen. In einem ersten Schritt sollten die bereits existierenden Angebote im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention (Online-Beratung per E-Mail oder Chat, Foren, interaktive Homepages, internetgestützte Selbstkontrollprogramme, Apps etc.) strukturiert erfasst und die gemachten Erfahrungen ausgewertet werden. Neben Angeboten aus Deutschland sollten aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit entsprechenden Angeboten auch solche aus der Schweiz und den Niederlanden einbezogen werden. Problemstellungen im Bereich des Datenschutzes müssen mitdiskutiert und praktikable Lösungen gefunden werden.

    Anschließend sollten Modelle konzipiert werden, wie bereits heute Elemente der digitalen Kommunikation im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention den Einrichtungen vor Ort zur Verfügung gestellt werden können, beispielsweise die Online-Buchung von verfügbaren Terminen, die die Klient/innen selbst vornehmen können. Das Team der Beratungsstelle braucht so weniger Zeit für Telefonate, und durch kurzfristige Absagen frei gewordene Termine können durch die Internetbuchung schnell wieder belegt werden. Entsprechende Programme sind verfügbar und werden in Arztpraxen bereits vielfach verwendet.

    Bei dem einzuleitenden Prozess sollte das Hauptaugenmerk immer darauf gerichtet sein, wie die digitalen Interventionsmöglichkeiten mit den Face-to-Face-Kontakten kombiniert werden können, um die Versorgung von Betroffenen sinnvoll zu ergänzen bzw. junge Zielgruppen mit suchtpräventiven Botschaften besser zu erreichen.

    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Hessische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS)
    Zimmerweg 10
    60325 Frankfurt a. M.
    Tel. 069/71 37 67 77
    wsr@hls-online.org
    www.hls-online.org

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Erziehungswissenschaftler und Suchttherapeut. Seit 1998 ist er Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS).

    Literatur und Links:
  • Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Ausgangssituation

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Kooperation, Kommunikation und Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen bilden im Prozess der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ganz wesentliche Grundlagen der Leistungserbringung und sind ein Garant für die Qualität der Behandlungsangebote für abhängigkeitskranke Menschen. Kein Indikationsbereich in der medizinischen Rehabilitation weist so viele unterschiedliche Behandlungsformen auf wie die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Das bietet die Möglichkeit, für die Klient/innen möglichst bedarfsgerechte und passgenaue Behandlungsangebote vorzuhalten. Die damit verbundene Differenzierung und Komplexität in den Behandlungsangeboten und -modulen bedarf jedoch der intensiven und aufwändigen Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen. Da nach dem personenzentrierten Ansatz prinzipiell die Rehabilitand/innen im Mittelpunkt zu sehen sind, beinhaltet die Optimierung von Kooperations- und Kommunikationsprozessen immer auch die Frage, wann und in welcher Form die Rehabilitand/innen in die Abstimmungsgespräche (besser) einzubeziehen sind.

    Die Palette an ambulanten, ganztägig ambulanten, stationären und kombinierten Leistungsformen ist in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der ambulanten Weiterbehandlung ausgebaut worden. Mit der Differenzierung im Behandlungsangebot der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind zwangsläufig auch die Anforderungen an Kooperationsleistungen und Absprachen gestiegen. Einen Meilenstein stellte die Einführung der Kombinationsbehandlung dar. Durch die damit verbundene Netzwerkorientierung wurden Aktivitäten an den Schnittstellen und damit auch der Kommunikationsprozess zwischen ambulanter und stationärer Suchthilfe befördert.

    In ihrer „Arbeitshilfe für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen“ geht die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) grundsätzlich auf die Gestaltung der Schnittstellen und Übergänge zwischen den einzelnen Behandlungsangeboten in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ein. Dabei weist sie auf die erforderlichen flexiblen Übergänge zwischen den Leistungen hin und hebt die Bedeutung eines Fallmanagements hervor, das die möglichst nahtlosen Übergänge begleitet (BAR 2006, S. 51 ff.). Längst ist es zu einem Standard im Qualitätsmanagement geworden, dass die Suchthilfeeinrichtungen die Beziehungen zu Rehabilitand/innen, Angehörigen und Bezugspersonen, zu Behandler/innen, Leistungsträgern und der Suchtselbsthilfe im Rahmen des Rehabilitationsprozesses durch Informationsvermittlung, Abstimmungen und Schnittstellenmanagement bewusst gestalten (vgl. hierzu BAR 2009, S. 14). Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies in ausreichendem Maße geschieht bzw. wie verbindlich die Zusammenarbeit in der Praxis tatsächlich gehandhabt wird.

    Die intensive und verbindlich organisierte Kooperation und damit auch die Kommunikation und das Schnittstellenmanagement zwischen der ambulanten Suchthilfe (Beratungsstelle) und der stationären Suchthilfe (Fachklinik) sind heute aus mehreren Gründen so bedeutsam:

    • Die praktische Umsetzung kombinierter Behandlungsformen wie auch der neuen ambulanten Weiterbehandlungsformen und der BORA-Empfehlungen (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) in der Behandlung Abhängigkeitskranker kann nur auf der Basis einer intensiven Kooperation der Beteiligten erfolgreich gelingen. Die Vielschichtigkeit des gesamten Behandlungsangebots wie auch die Komplexität der genannten neuen Leistungsformen selbst zwingen alle Beteiligten zu mehr Transparenz und Verbindlichkeit in der gegenseitigen Information und Kommunikation.
    • Um den Zugang in die medizinische Rehabilitation nahtloser und ggf. auch frühzeitiger zu gestalten, ist eine gute Kooperation entscheidend. Sie kann auch dazu beitragen, die Nichtantrittsquote zu senken und die Qualität der Vermittlung zu verbessern, z. B. durch Erreichen einer stärkeren Compliance und Behandlungsmotivation. Darüber hinaus nutzen den Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsangebote nur dann bzw. kann das Ziel einer optimierten Versorgung nur dann erreicht werden, wenn die Leistungsformen sinnvoll kombiniert und auch individuell eingesetzt werden. Auch dies setzt eine gute Kommunikation und eine gelebte Kooperation zwischen den Beteiligten voraus.
    • Nicht zuletzt sind eine gute Kooperation, eine intensive Kommunikation und ein gelingendes Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auch eine Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe. Die Anträge für Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sind seit einigen Jahren rückläufig. Sicherlich geht diese Entwicklung auf unterschiedliche Ursachen zurück. Belastbare Begründungen liegen derzeit nur bedingt vor. Fakt ist aber, dass die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trotz ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit und auch entgegen der prognostizierten demografischen Entwicklung rückläufig ist. Fakt ist auch, dass es für suchtkranke Menschen durchaus Alternativen zur (scheinbar hochschwelligen) Reha-Behandlung gibt, wie medikamenten- und substitutionsgestützte Behandlungsformen, Behandlungsangebote im Bereich der Sozialpsychiatrie, Betreuungsangebote in der Eingliederungshilfe und auch Therapieangebote über niedergelassene Therapeut/innen. Möglich sind auch Spontanremissionen. Eine standardisierte und verbindliche Kooperation sowie eine transparente Kommunikation zwischen den an einer Rehabilitationsmaßnahme beteiligten Einrichtungen wirken vertrauensbildend auf die Klient/innen und auf externe Kooperationspartner. Das kann die Bereitschaft der betroffenen Abhängigkeitskranken erhöhen, eine Therapiemaßnahme zu beantragen und sie auch tatsächlich anzutreten.

    Neue Behandlungsformen und BORA

    2015 wurden für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker die so genannten neuen Behandlungsformen „Wechsel in eine ambulante Rehabilitationsform“ (ohne Verkürzung der stationären Phase) und „Wechsel in die ambulante Entlassform“ (Verkürzung der stationären Phase) von den Leistungsträgern verabschiedet. Diese können seither als neue Leistungsformen beantragt werden. Ebenfalls 2015 ist das von der DRV und GKV verabschiedete Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung in Kraft getreten, das nach einer stationären oder ganztägig ambulanten Behandlung die Fortsetzung der Behandlung im ambulanten Setting vorsieht. 2014 wurden die BORA-Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker von einer gemeinsamen Expertengruppe aus Vertreter/innen der Leistungsträger und der Verbände entwickelt.

    Neu an den ambulanten Weiterbehandlungsformen ist insbesondere, dass sie aus dem stationären Setting, also aus der bereits laufenden Rehabilitationsmaßnahme heraus beantragt werden müssen. Speziell sind auch die formalen Rahmenbedingungen und Indikationskriterien, die bei der Beantragung berücksichtigt werden müssen. Vereinfacht ausgedrückt gleichen sie einem Produkt‚ ‚das noch beim Kunden reifen muss‘. Damit ist gemeint, dass das Verständnis dieser neuen Leistungsformen und Instrumente wie auch das ihrer Stellung innerhalb der gesamten Angebotslandschaft auf der Ebene der Leistungserbringer wachsen und entwickelt werden muss. Damit verbunden ist auch die passende Beratung und Vermittlung unserer Klientel im Sinne einer Kundenorientierung und als Serviceleistung.

    Das wird auch in der Zielsetzung deutlich, die die DRV mit der Weiterentwicklung der Leistungsformen verbindet: Durch die Erweiterung der Angebotslandschaft soll die Behandlung flexibler und individueller sowie bedarfsgerechter ausgestattet sein. Die Differenzierung in den Behandlungsformen soll zur weiteren Abgrenzung und Profilierung der einzelnen Angebote beitragen. Letztlich strebt die DRV damit auch ein einheitliches Vorgehen aller Rentenversicherungsträger in ihren Behandlungsangeboten an, um die Übersichtlichkeit im Leistungsangebot für die Betroffenen zu gewährleisten.

    Für die Anwendung in der Praxis sind die neuen Behandlungsformen und BORA jedoch keine Selbstläufer. Um sie erfolgreich umzusetzen – d. h., um die Instrumente für die Klienten/innen bedarfsorientiert anzuwenden, die Wiedereingliederung in Arbeit zu verbessern und von den Vorteilen für ambulante und stationäre Einrichtungen zu profitieren –, braucht es eine Verbesserung der Kooperation zwischen den beteiligten ambulanten und stationären Einrichtungen. Dabei wird es weniger wichtig sein, neue Formen zu erfinden, als bewährte Formen der Kooperation zu modifizieren und verbindlich zu gestalten.

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Was bedeutet nun ‚gute‘ Kooperation und Kommunikation oder funktionierendes Schnittstellenmanagement im Gesamtrehabilitationsprozess? Um sich dem anzunähern, soll kurz skizziert werden, was mit Schnittstelle bzw. Schnittstellenmanagement gemeint ist (wobei hier immer auch das Entlassmanagement mitzudenken ist als eine spezielle Form des Schnittstellenmanagements).

    Der Begriff „Schnittstelle“ oder „Interface“ entstammt ursprünglich der Naturwissenschaft und bezeichnet vereinfacht einen „Berührungspunkt zwischen zwei verschiedenen Sachverhalten oder Objekten“ (Gabler Wirtschaftslexikon online). Für unsere Zusammenhänge treffender ist eine Definition aus dem Bereich des Gesundheitswesens, speziell der Integrierten Versorgung. Nach Greiling und Dudek (2009, S. 68) meint eine Schnittstelle „eine Übergangs- bzw. Verbindungsstelle zwischen im Prozess verbundenen organisatorischen Einheiten, Abteilungen bzw. Mitarbeitern, die unterschiedlichen Aufgaben-, Kompetenz- oder Verantwortungsbereichen unterliegen und durch die Wertschöpfungskette verbunden sind. Die Schnittstelle überträgt Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen.“ Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang der Begriff der Wertschöpfungskette, der deutlich macht, dass ‚das Ganze‘ über die Teilleistung einzelner Bereiche hinausgeht und erst durch das sinnvolle Zusammenwirken der Beteiligten entsteht. Im Gesamtrehabilitationsprozess besteht die Wertschöpfungskette daraus, die erforderlichen Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und zu teilen, damit für die Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsformen möglich und die angestrebten Behandlungsziele, bis hin zur Förderung der Integration in Arbeit, erreicht werden.

    Als wesentliche Grundlage einer gelungenen Kooperation und Kommunikation, im Sinne der eben beschriebenen Wertschöpfungskette, nannte Dr. Elke Sylvester, medizinische Leiterin der Fachklinik Nettetal, bei einer Veranstaltung der Caritas Suchthilfe (CaSu) zum Thema „Neue Behandlungsformen“ im April 2016 die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“. Dazu gehört, dass sich die Mitarbeiter/innen der Fachklinik und der Beratungsstelle gegenseitig als fachlich kompetent wahrnehmen und akzeptieren. Dies setzt voraus, dass man sich persönlich kennt und über die spezifische Arbeitssituation des anderen Bescheid weiß. Häufige und wiederkehrende Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Fachkliniken und Beratungsstellen tauchen nach Dr. Sylvester dann auf, „wenn sich die beteiligten Institutionen nicht gut genug kennen und somit keine Idee von der jeweils anderen Arbeitsweise haben“. Vielleicht scheint es vermessen anzunehmen, man könne mit allen Kooperationspartnern eine derart personalisierte Beziehung pflegen. Dennoch stellt dies für eine regelmäßige und dauerhafte Zusammenarbeit eine Grundvoraussetzung dar. Sehr hilfreich im Bereich regelmäßiger Kooperationen wie auch im Rahmen von Verbünden ist es z. B., gegenseitig Hospitationen durchzuführen. Dies erweitert den Blickwinkel auf die Arbeitsweise der beteiligten Partner und hilft, Vorurteile und Barrieren abzubauen.

    In der Anwendung der neuen Leistungsformen bedeutet „Wissen“ aber nicht nur Kenntnisse der beteiligten Partner übereinander, sondern insbesondere auch Wissen darüber, dass es diese neuen Instrumente gibt und wie sie angewendet werden können. Eine Übersicht haben die Suchtverbände zusammengestellt.

    Vorschläge aus der Praxis für eine bessere Zusammenarbeit

    Gerade die Fachkliniken werden in der Umsetzung der ambulanten Weiterbehandlungsformen vor neue Herausforderungen gestellt, da die Fortsetzung der  ambulanten Behandlung aus dem stationären Setting heraus beantragt werden muss und sich die Frage stellt, warum die Behandlung nicht im stationären Setting verbleiben kann. Insofern kann der Schritt, eine ambulante Weiterbehandlung zu beantragen, von Mitarbeiter/innen stationärer Einrichtungen auch als eine Verletzung des fachlichen Selbstverständnisses empfunden werden. Es können auch Befürchtungen bestehen, dass ein Antrag auf ambulante Weiterbehandlung als Eingeständnis der Begrenzung eigener therapeutischer Möglichkeiten verstanden wird oder gar zu einer schlechteren Position der Klinik im Ranking der Häuser führen kann. Abhilfe schaffen hier wieder eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung und das Wissen darum, dass die kooperierende Einrichtung über die passende fachliche Kompetenz verfügt, um die Behandlung zum Wohle der betroffenen Klientin bzw. des betroffenen Klienten weiterzuführen.

    Zusammenfassend aus unterschiedlichen Fachveranstaltungen der Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), u. a. dem oben erwähnten Fachtag zum Thema „Neue Behandlungsformen“, können einige ergänzende Vorschläge zur Verbesserung und Intensivierung der Kooperation benannt werden.

    • Die gegenseitige Informationsvermittlung steht an erster Stelle. Diese beginnt bei einem aussagekräftigen Internetauftritt der stationären Einrichtung, der unterschiedliche Informationen für die Klientel, Angehörige wie auch Berater/innen, möglichst klar strukturiert, bereithält. Hierbei können auch Chat-Foren für Interessierte sehr hilfreich sein. Ergänzend zu den bereits genannten gegenseitigen Hospitationen zum Kennenlernen der jeweils anderen Aufgabengebiete können auch regelmäßige Informationsgruppen bis hin zu gemeinsamen regionalen Fachtagen sinnvoll sein. Solche Treffen ermöglichen es, Praxiserfahrungen auszutauschen, sie unterstützen den gemeinsamen Wissenstransfer und können dazu genutzt werden, auf Neuerungen im Behandlungsangebot einer Einrichtung hinzuweisen. Gemeinsame Teamsitzungen der beteiligten Mitarbeiter/innen in einem Behandlungsverbund ergänzen bzw. vertiefen den Austausch und gegenseitigen Wissensstand.
    • Darüber hinaus bieten manche stationäre Einrichtungen regelmäßig offene Informationsveranstaltungen oder Fachtagungen an. Dabei können sich Betroffene, Interessierte und Angehörige über die therapeutischen Leistungen und ihre Voraussetzungen informieren. Wichtig ist, dass diese Termine auch unter den ambulanten Kooperationspartnern bekannt sind und sie ihrerseits hierauf verweisen können.
    • Gerade im Bereich der kombinierten Behandlungsformen empfiehlt sich die Optimierung der Abläufe im Rehabilitationsprozess. Neben den im Rahmenkonzept Kombinationsbehandlung benannten Kooperations- und Koordinationsformen, wie z. B. Übergabekonferenzen, Berichterstattung, Fallbesprechungen, Qualitätszirkel etc., bieten sich weitergehende Maßnahmen wie der Einsatz eines Fallmanagers bzw. Therapielotsen oder der Einsatz von Checklisten zum Ablaufcontrolling an. Letztere sollten von den ambulanten und stationären Kooperationspartnern gemeinsam entwickelt und abgestimmt werden. Aus ihnen sollte ersichtlich werden, an welchen Schnittpunkten welche Informationen von wem an wen erforderlich werden.
    • Im Rehabilitationsprozess werden regelmäßige Abstimmungsgespräche zwischen den Rehabilitand/innen und den Bezugstherapeut/innen ambulant und stationär erforderlich. Erfahrungen aus der Praxis machen zusätzlich deutlich, dass die Übergangsgespräche im Kontext ambulant und stationär mit klaren Aufträgen und Maßnahmen versehen sein müssen.

    Kombinierte Behandlungsformen und ambulante Weiterbehandlungsformen machen deutlich, dass die Belebung der Schnittstellen zwischen den stationären und ambulanten Akteuren im Gesamtrehabilitationsprozess weit über die Optimierung von Terminen und Abläufen hinausgeht. Es werden inhaltlich-therapeutische Abstimmungen erforderlich, die das bereits erwähnte gegenseitige fachliche Vertrauen voraussetzen und den Charakter von fachlichen Konsultationen haben.

    Kooperationen für die Umsetzung von BORA

    Die erwerbsbezogene Orientierung ist im Rahmen der stationären Behandlung bereits länger bekannt und therapeutischer Alltag. Die Umsetzung von BORA stellt für ambulante Einrichtungen deshalb die größere Herausforderung dar. Erst wenige Beratungsstellen haben ein anerkanntes Konzept für arbeitsbezogene Interventionen in der ambulanten Rehabilitation und Nachsorge.

    Für die erfolgreiche Umsetzung von BORA hat die Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen eine hohe Relevanz. Der Kooperation und Vernetzung ist im BORA-Konzept ein eigenes Kapitel gewidmet. Neben Kooperationen mit einer Vielzahl von externen Akteuren, auf die im Bemühen um die berufliche (Re-)Integration abhängigkeitskranker Menschen eingegangen wird, wird dort auch auf die möglichst frühzeitige Kooperation zwischen Fachkliniken und Suchtberatungsstellen sowie zwischen Kliniken und der Suchtselbsthilfe hingewiesen (BORA 2014, S. 22 ff.).

    Im Kontext von BORA können sich unterschiedliche erwerbsbezogene Bereiche für die Kooperation ambulanter und stationärer Einrichtungen anbieten wie z. B. die berufsbezogene Diagnostik, die Berufs- und Sozialberatung oder das Arbeitsplatztraining. Für ambulante Einrichtungen stellt sich in der Umsetzung von BORA ohnehin die Frage, welche erwerbsbezogenen Instrumente und Angebote sie selbst vorhalten können und müssen und an welcher Stelle sie mit wem zusammenarbeiten könnten bzw. sollten. Für den Einsatz erwerbsbezogener Instrumente bietet es sich an, mit entsprechenden Akteuren im beruflichen Feld vor Ort zu kooperieren, z. B. Jobcenter, Arbeitgeber, Reha-Fachberater etc. Es empfiehlt sich aber auch, zu überprüfen, inwieweit die ambulanten Einrichtungen hierbei mit den Suchtfachkliniken in ihrer Region, ihres Verbundsystems oder mit kooperierenden Fachkliniken zusammenarbeiten könnten.

    Die Umsetzung von BORA im Rahmen kombinierter Behandlungsangebote und die damit verbundene Therapieplanung und Therapiesteuerung stellen besondere Anforderungen an die Qualität der Kooperation zwischen den beteiligten Einrichtungen. Um die unterschiedlichen therapeutischen und erwerbsbezogenen Leistungen der Kooperationspartner im Rahmen des Rehabilitationsprozesses sinnvoll miteinander zu verzahnen, empfiehlt sich der Einsatz der bereits erwähnten Checklisten zur Ablauforganisation.

    Zusammenfassung und Fazit

    Im Therapieprozess gilt kooperatives und vernetztes Arbeiten zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen grundsätzlich als Standard. Durch die zunehmende Komplexität im Behandlungsangebot und das damit verbundene Ziel einer optimierten Versorgung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist es erforderlich, die Kooperation verbindlicher, die Kommunikation regelmäßiger und transparenter und das Schnittstellenmanagement effektiver zu gestalten. Um die Begegnungen und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter/innen in den ambulanten und stationären Einrichtungen auf Augenhöhe und somit zielführend zu gestalten, spielt eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung eine wichtige Rolle. Die nicht immer einfachen Prozesse der Kooperation und Kommunikation bedürfen der regelmäßigen Pflege und müssen von den Beteiligten mit Leben gefüllt werden. Dies lohnt sich: im Sinne der effektiven Weiterentwicklung des Behandlungsangebots, als grundsätzliche Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe, für die Mitarbeiter/innen selbst im Hinblick auf Arbeitsklima und Arbeitszufriedenheit und ganz besonders im Sinne einer bedarfsorientierten und passgenauen Versorgung unserer Klient/innen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
  • Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Dr. Joachim Köhler
    Dr. Joachim Köhler

    Problematischer Suchtmittelkonsum (riskanter Konsum, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit) macht vor somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen nicht Halt. Er fällt dort aber eher selten auf, und es bestehen Unsicherheiten, wie damit umgegangen werden soll. Dabei bietet die Rehabilitation gute Voraussetzungen für die Diagnostik möglicher Suchtprobleme sowie für Beratung und ggf. Vorbereitung einer weiterführenden Behandlung. Konkrete Empfehlungen für das Vorgehen in der Praxis liegen nun in Form der Broschüre „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ vor. Sie beschreiben einen mehrstufigen Prozess für Screening und Diagnostik, der gut in die Klinikabläufe integriert werden kann, und zielen auch auf die Sensibilisierung der Mitarbeiter/innen ab.

    Entstehung der Praxisempfehlungen

    Die Praxisempfehlungen für komorbide Suchtprobleme sind als Folgeprojekt nach ersten Praxisempfehlungen für psychologische Interventionen in der Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen und koronarer Herzerkrankung entstanden. Die DRV Bund verbindet mit der Förderung dieses Projekts den Wunsch, die im Zusammenhang mit Suchterkrankungen in somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen bestehenden Unsicherheiten und Schwierigkeiten zu thematisieren. Es werden einfache Maßnahmen aufgezeigt, die den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen als evidenzbasierte Entscheidungshilfe bei Screening, Diagnostik, Intervention und Dokumentation dienen. Sie sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine hohe Zufriedenheit bei Patient/innen und Mitarbeiter/innen zu erreichen.

    Entwickelt wurden die Empfehlungen von einer multiprofessionellen Expertengruppe im Rahmen des Projektes „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ am Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS) des Universitätsklinikums Freiburg. Das Projekt wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund von 2014 bis 2016 gefördert und ist nun mit der Vorlage der Ergebnisse abgeschlossen. Die Praxisempfehlungen liegen als Kurz- und Langfassung vor und werden durch einen Materialband ergänzt. Alle Dokumente stehen als PDF-Dateien auf der Homepage des AQMS www.severa-fr.de > Praxisempfehlungen zum Download zur Verfügung.

    Inhalt und Aufbau

    Die Praxisempfehlungen richten sich an alle Mitarbeiter/innen in somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen für Erwachsene, die nicht auf Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert sind, und sollen dazu beitragen, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Dies steht auch im Einklang mit der aktuellen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, die eine systematische Erhöhung des Problembewusstseins in allen Versorgungsbereichen, den Ausbau von Konsil- und Liaisondiensten sowie die Intensivierung von Maßnahmen zur Früherkennung fordert.

    Die Praxisempfehlungen beziehen sich auf alle stoffgebundenen Suchtprobleme (Alkohol, Medikamente und illegale Drogen) mit Ausnahme von Tabak. Sie wurden in mehreren Schritten entwickelt. Neben einer umfassenden, systematischen Recherche nach relevanten Übersichtsarbeiten und Leitlinien wurden bundesweit stationäre Reha-Einrichtungen aller Indikationsbereiche (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen) zur gegenwärtigen Praxis ihres Umgangs mit dem Thema befragt. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde im Rahmen eines Expertenworkshops eine Konsultationsfassung der Praxisempfehlungen formuliert, die schließlich mit der Bitte um Kommentierung an die ärztlichen Leitungen von stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen und reinen Kinder- und Jugendlichen-Einrichtungen) verschickt wurde. Außerdem wurde im Rahmen von Fokusgruppen mit Rehabilitand/innen über zentrale Aspekte der Praxisempfehlungen diskutiert. Die Anmerkungen und Kommentare wurden ausgewertet und bei der abschließenden Konsentierung der Praxisempfehlungen durch die Experten berücksichtigt.

    Die Praxisempfehlungen gliedern sich in drei Teile A, B und C:

    • Teil A umfasst allgemeine Vorbemerkungen.
    • Teil B enthält allgemeine Informationen zu diagnostischen Kriterien, Definitionen zu risikoarmem und riskantem Konsum, Informationen zu den verschiedenen Suchtstoffen und dem Suchthilfesystem.
    • Teil C ist der eigentliche Empfehlungsteil. Er enthält Empfehlungen zu Einrichtungsstandards, zu Screening und Diagnostik, möglichen Interventionen und zur Dokumentation sowie Empfehlungen zu Sondersituationen. Grundtenor der Empfehlungen zu möglichen Interventionen ist, dass hier realistische Ziele gesetzt werden sollten. Ziel ist nicht die eigenständige Behandlung der Suchtproblematik in nicht-spezialisierten Einrichtungen. Im Rahmen der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation geht es vielmehr um die Bewusstmachung der Problematik bei den betroffenen Rehabilitand/innen, die Vermittlung von Informationen über Risiken und die Motivierung für weiterführende Maßnahmen. In Einrichtungen der psychosomatischen Rehabilitation kann bei entsprechender personeller Ausstattung auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik erfolgen. Dabei ist eine Fortführung der psychosomatischen Rehabilitation bei gesicherter Diagnose einer substanzbezogenen Störung denkbar. Wenn Rehabilitationsfähigkeit besteht und die Rehabilitationsziele zumindest teilweise erreichbar sind, kann die Rehabilitationsmaßnahme – ggf. unter Auflagen – fortgeführt und die Zeit für eine weitere Motivierung der Rehabilitand/innen, ihre Suchtproblematik behandeln zu lassen, genutzt werden.

    Ausblick

    cover_r-broschuere-komorbide-suchtproblemeEs ist zu hoffen, dass somatische und psychosomatische Rehabilitand/innen mit komorbiden Suchtproblemen zukünftig eher auf ihre Suchtproblematik angesprochen werden und weitere diagnostische und therapeutische Schritte eingeleitet werden können. Dies kann auch die konkrete Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstellen und ambulanten und stationären Entwöhnungseinrichtungen verbessern und den Zugang in die Suchtrehabilitation erleichtern. Entwöhnungseinrichtungen können die Broschüre aktiv nutzen, um die Kooperation mit somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen zu verbessern.

    Am 26.09.2016 fand eine Einführungsveranstaltung für somatische und psychosomatische Kliniken in Berlin statt. Mehr Informationen hierzu unter: www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozialmedizin_forschung/01_sozialmedizin/06_publikationen_veranstaltungen/2016_09_26_praxisempfehlungen.html

    Die Langfassung der Praxisempfehlungen steht auch als Broschüre der DRV Bund zur Verfügung und kann bei Bedarf zugeschickt werden bzw. unter dem oben angegebenen Link heruntergeladen werden.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. med. Joachim Köhler
    Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
    Sozialmedizin, Magister Public Health
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Referat 0441 Grundsatzaufgaben der Sozialmedizin
    R 6207
    Ruhrstr. 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-35751
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  • BORA kompakt

    BORA kompakt

    Denis Schinner
    Denis Schinner
    Dr. Andreas Koch

    In diesem Beitrag werden alle wesentlichen Aspekte der BORA-Empfehlungen zusammengefasst. Dazu gehören Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung. Die Autoren Dr. Andreas Koch und Denis Schinner waren selbst Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA und haben die Empfehlungen mitentwickelt.

    Zielgruppen

    Um die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der Suchtrehabilitation“ praxisnah strukturieren zu können, wurde eine Unterscheidung von Zielgruppen vorgenommen, an der sich die weiteren Ausführungen zur Diagnostik und insbesondere zur Therapie orientieren. Grundsätzlich werden dabei Rehabilitanden mit Arbeit von arbeitslosen Rehabilitanden unterschieden. Bei den Erstgenannten geht es im Rahmen der Behandlung um den Erhalt des Arbeitsplatzes und die konkrete berufliche Wiedereingliederung. Bei der zweitgenannten Gruppe stehen eher die Entwicklung einer allgemeinen erwerbsbezogenen Perspektive sowie das Training der entsprechenden Kompetenzen im Vordergrund. Ein weiteres Kriterium zu Differenzierung der Zielgruppen ist das Vorhandensein von besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen, die durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren gekennzeichnet sind:

    • lange oder häufige Fehlzeiten
    • eine negative subjektive Prognose hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft
    • drohender Arbeitsplatzverlust
    • Arbeitslosigkeit
    • eine sozialmedizinische Notwendigkeit für berufliche Veränderungen

    Auf dieser Grundlage wurden fünf Zielgruppen definiert:

    • BORA-Zielgruppe 1 = Rehabilitanden mit Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 2 = Rehabilitanden mit Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 3 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III (ALG I). Dieser Zielgruppe werden auch Erwerbstätige zugeordnet, die während einer Krankschreibung arbeitslos geworden sind, und Erwerbstätige, die langzeitarbeitsunfähig sind und nach 18 Monaten von der Krankenkasse ausgesteuert werden (Arbeitsplatz noch vorhanden, Bezug von ALG I oder II).
    • BORA-Zielgruppe 4 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II (ALG II)
    • BORA-Zielgruppe 5 = Nicht-Erwerbstätige

    Diagnostik

    Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges. Die BORA-Empfehlungen bieten den Praktikern in den Rehabilitationseinrichtungen einen umfangreichen Baukasten für Screening-, Diagnostik- und Assessmentverfahren sowie die Therapie- und Teilhabeplanung bezogen auf die oben genannten BORA-Zielgruppen.

    Vorliegende oder neu erhobene Erkenntnisse können und müssen mittels einer ergänzenden Diagnostik untermauert werden. Der diagnostische Fokus richtet sich u. a. auf die Aspekte Gedächtnisleistung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planungs- und Problemlösefunktionen, Impulskontrolle, Persönlichkeitsfaktoren sowie komorbide Störungen.

    In den Empfehlungen wird angeregt, dass das zu Beginn der Rehabilitation erfolgende Screening und die daraus resultierende Zuordnung zu den BORA-Zielgruppen durch die Leistungserbringer erfolgen. Dies soll einer einseitigen Zuweisungspraxis durch die Leistungsträger entgegenwirken. Dabei steht außer Frage, dass es bereits heute Einrichtungen mit einer vorherrschenden Gruppe von Rehabilitanden (spezifischer Zielgruppenmix) und damit einhergehenden besonderen Anforderungen und Leistungsangeboten gibt.

    Werden durch das Screening Risiken hinsichtlich der Entwicklung von arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen entdeckt, sollen diese durch eine anschließende ausführlichere Diagnostik spezifiziert werden. Ausführliche Informationen zu den meisten Diagnostikinstrumenten sind auf der Internetseite www.medizinisch-berufliche-orientierung.de zu finden. An Screening-Instrumenten können die folgenden zum Einsatz kommen: Das Würzburger Screening ist ein Fragebogen für den Einsatz in Rehabilitationseinrichtungen mit neun Fragen zu den Themenbereichen „Subjektive Erwerbsprognose“, „Berufliche Belastung“ und „Interesse an berufsbezogenen Therapieangeboten“. SIBAR (Screening-Instrument für Beruf und Arbeit) ist ein kurzer Fragebogen mit elf Items. SIMBO-C (Screening-Instrument zur Erkennung des Bedarfs an Medizinisch-beruflich orientierter Rehabilitation) berücksichtigt sieben Indikatoren beeinträchtigter beruflicher Teilhabe

    Es können weitere Instrumente und Verfahren zur Analyse der Ausgangsbedingungen in Frage kommen und genutzt werden. Hierzu gehören Assessmentverfahren wie die FCE-Systeme (functional capacity evaluation). Diese messen die individuelle Fähigkeit (capacity) eines Rehabilitanden, Anforderungen einer bestimmten Arbeitstätigkeit zu erfüllen, und beinhalten standardisierte körperlich orientierte Testaufgaben. Zu den FCE-Systemen gehört z. B. EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit). WorkPark-Therapiegeräte können ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden.

    Weiterführend können neben MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) auch IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und/oder Ida (Instrumentarium zur Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten) zum Einsatz kommen.

    Nicht alle diese Verfahren sollen in allen Rehabilitationseinrichtungen eingesetzt werden, es können auch andere Instrumente genutzt werden. Bei konzeptionellen Veränderungen sollen sich die Einrichtungen jedoch der in den BORA-Empfehlungen vorgestellten Instrumente bedienen.

    Therapieplanung

    Wenn die Ergebnisse der Analyse der beruflichen Ausgangsbedingungen und der Eingangsdiagnostik vorliegen, erfolgt die an dem individuellen Integrationspotential und Rehabilitationsbedarf ausgerichtete Entwicklung von Therapiezielen (unter Berücksichtigung der ICF). Die Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Rehabilitanden und interdisziplinär in Abstimmung mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im therapeutischen Team festgelegt werden. Bei Bedarf werden sie im Laufe der Behandlung angepasst. Primäres Ziel einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Ergänzt wird dies um die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Seiten der Rehabilitandin/des Rehabilitanden.

    In der klinikinternen Prozesssteuerung der beruflichen Orientierung sind alle therapeutischen Leistungen als Rehabilitationsmodule untereinander zu vernetzen. So ist bei der Psychotherapie die berufliche Teilhabeplanung stets als fester Bestandteil zu integrieren. Zudem werden in diesem Kontext entsprechende Erfahrungen aus anderen Therapiebereichen (z. B. Arbeits-, Ergo- und Sporttherapie) reflektiert und gegebenenfalls vertieft. Alle im Rahmen der Rehabilitation angebotenen Therapiebausteine müssen einen Beitrag zur Teilhabe und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leisten. Weiterführend ist die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker nicht mehr nur Psychotherapeut/-in, sondern auch Koordinator/-in der Gesamtrehabilitation und der beruflichen Teilhabeplanung.

    Mit der Arbeits- und Ergotherapie, der klinischen Sozialarbeit und weiteren Interventionen zur beruflichen Wiedereingliederung besteht in den Einrichtungen ein oft seit Jahrzehnten etabliertes Therapieangebot, das eine Verknüpfung zum Arbeitsleben herstellt. In den Einrichtungen werden medizinisch-arbeitsorientierte Leistungen unter Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Einschränkungen gezielt eingesetzt. Hierbei kann es auch um das Training von Grundarbeitsfähigkeiten in individuell bestimmten teilhabebezogenen Handlungsfeldern gehen. Die teilhabeorientierten Handlungsfelder werden in drei Bereiche unterteilt:

    • Grundarbeitsfähigkeiten: Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Flexibilität, Arbeitstempo, Konzentration und Merkfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten: Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit, Umgang mit Autoritäten, Umgang in der Gruppe
    • Selbstbild: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Selbsteinschätzung, Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit

    Grundsätzlich dürfen die erwerbsbezogenen Behandlungsanteile in allen Phasen der medizinischen Rehabilitation nicht mehr nachrangig sein, sondern sind – wie die medizinische und psychotherapeutische Behandlung – von zentraler Bedeutung. Die Teilnahme an entsprechenden Angeboten muss verbindlichen Charakter haben. Die Inhalte, Auffälligkeiten, Schwierigkeiten und Ergebnisse dieses Bereichs müssen in die Gesamtrehabilitation einfließen und vom gesamten therapeutischen Team professionsübergreifend berücksichtigt werden.

    Therapieleistungen

    Folgende Therapieleistungen, ausgehend von der KTL 2015, sind grundsätzlich sinnvoll und sollten in den Einrichtungen angeboten werden: Problembewältigung am Arbeitsplatz, Motivierung zur Wiederaufnahme einer Arbeit, Umgang mit Ängsten, Gespräche mit Vertretern des Arbeitgebers sowie dem Reha-Fachberater, interne und externe Belastungserprobung (auch am bisherigen Arbeitsplatz), PC-Schulungskurse, Bewerbungstraining und Sozialberatung. Weiterhin gehören die Arbeitstherapie, die Ergotherapie und die Einleitung weiterführender Maßnahmen zu den im Einrichtungskonzept zu beschreibenden relevanten therapeutischen Leistungen. Die BORA-Empfehlungen enthalten außerdem eine ausführliche Darstellung, welche therapeutischen Leistungen für welche Zielgruppen besonders sinnvoll sein können.

    Bei jungen Rehabilitanden erschwert häufig ein fehlender Schulabschluss die weitere berufliche Integration. Parallel zur Rehabilitation durchgeführte Beschulungsprojekte oder Maßnahmen mit dem Ziel, einen schulischen Abschluss zu erlangen, ob integriert oder in Kooperation, sind grundsätzlich sinnvoll.

    Bezüglich der so genannten klinikinternen Dienstleistungen konnte mit BORA Klarheit geschaffen werden: Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden. Zu beachten ist dabei aber stets, dass dieser Einsatz sich am primären Ziel der medizinischen Rehabilitation orientieren muss. Dazu bedarf es einer gezielten Indikation, einer therapeutischen Zielsetzung und Begleitung. Zudem ist eine zeitliche Begrenzung zu beachten.

    Bei der personellen und räumlich-apparativen Ausstattung der medizinischen Rehabilitationseinrichtungen gelten die Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung. Darin sind Zielgrößen für einzelne Berufsgruppen beziehungsweise Funktionsgruppen beschrieben, die konzeptionell begründet auch nach oben und unten abweichen können. Sie stellen somit kein Dogma dar, sondern lassen Raum für regionale Besonderheiten und konzeptionelle Einrichtungsschwerpunkte. In konzeptionelle Weiterentwicklungen durch die Einrichtungen und Einrichtungsträger sollen die Leistungsträger aktiv einbezogen werden. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich und auch durch Abbildung in den Pflegesätzen zu unterstützen.

    Spezielle Leistungsformen

    BORA muss in allen Leistungsformen Anwendung finden, nicht nur in der stationären Entwöhnung. Für die ambulante Rehabilitation gilt dies genauso wie für die adaptive Behandlung oder die Nachsorge.

    Bereits das gemeinsame Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 3. Dezember 2008 bezeichnet die ambulante Rehabilitation als ein Instrument zum Erhalt bzw. zur Erreichung der Eingliederung in Arbeit und Beruf. Für die Zielgruppen BORA 1 bis 4 kommt ein unterschiedlich umfangreiches Leistungsspektrum in Betracht. Die Leistungen umfassen beispielsweise sozialrechtliche Beratung, Berufsklärung unter Einbeziehung geeigneter Screening-Instrumente, soziale Gruppenarbeit (insbesondere Umgang mit beruflichen Themen), Training sozialer Kompetenzen und Belastungserprobung.

    Eine Adaptionsbehandlung als Spezifikum in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten kann die letzte Phase der stationären Rehabilitation bilden. In den Adaptionseinrichtungen wird seit jeher der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und einem zu erreichenden Erwerbsbezug eine besondere Bedeutung beigemessen. Viele Leistungen und Erfahrungen aus den adaptiven Behandlungen finden heute Einzug in die Konzepte der Entwöhnungen. Man kann also vereinfacht formulieren: Adaption ist BORA. Adaptionsbehandlungen werden v. a. von Rehabilitanden der BORA-Zielgruppe 4 (vereinzelt auch 2, 3 und 5) in Anspruch genommen. Die Leistungen umfassen u. a. die Fortsetzung der medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung, die externe Arbeits- und Belastungserprobung, die Festigung der Abstinenz sowie die persönliche Stabilisierung bei auftretenden Krisen im privaten und beruflichen Alltag. All diese Leistungen zielen insgesamt auf die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration ab. Die Adaptionseinrichtungen erbringen den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Praxis und berücksichtigen den Lebensalltag der Rehabilitanden.

    Auch in den Nachsorgeangeboten müssen und werden im Zuge der Implementierung der BORA-Empfehlungen die erwerbsbezogenen Interventionen einen wachsenden Anteil an den Beratungs- und Unterstützungsprozessen ausmachen. Auch bei geringer Kontaktfrequenz zu den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden muss der (Re-)Integration in das Erwerbsleben bzw. dem Erhalt erwerbsbezogener Strukturen eine größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.

    Kooperationen

    Eine frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der medizinischen Reha ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitanden, die arbeitsbezogenen Ressourcen, die individuellen Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten. Im Verlauf der Rehabilitation können diese Kontakte dafür genutzt werden, dass die Rehabilitanden praktische Erprobungen oder berufliche Orientierungsmaßnahmen absolvieren. Möglichst frühzeitig sollte ein zeitnaher Übergang zu weiteren Leistungen sichergestellt werden – z. B. in eine Adaption, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, in eine berufliche Wiedereingliederung – oder zumindest die erforderlichen Vermittlungsbemühungen. Abhängig vom Einzelfall kommen u. a. folgende Kooperationspartner in Betracht:

    • Arbeitgeber, Werks- und Betriebsärzte, betriebliche Sozial- und Mitarbeiterberatung
    • Arbeitsagenturen, Jobcenter
    • behandelnde Ärzte, Hausärzte, Psychotherapeuten
    • berufliche Rehabilitationseinrichtungen, Bildungsträger, Betriebe
    • gemeinsame Servicestellen der Rehabilitationsträger
    • Integrationsämter, Integrationsfachdienste
    • Reha-Fachberater der Rentenversicherungsträger
    • sozialmedizinischer Dienst der Rentenversicherungsträger
    • Suchtberatungsstellen, Fachstellen, (Sucht-)Selbsthilfegruppen

    Konkrete Kooperationsvereinbarungen sollen neben einer Zielformulierung möglichst auch feste Ansprechpartner enthalten. Rahmenbedingungen der Kooperation sollen so konkret wie möglich benannt werden, z. B. wie der Austausch zwischen den Partnern erfolgt und ob es Evaluations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt. Nur wenn Kooperationen gepflegt werden, können sie erfolgreich sein.

    Zukünftig werden Steuerungsmodelle im Sinne eines Case Management gefragt sein, die Leistungen aus unterschiedlichen Segmenten koordinieren. Erste Pilotprojekte gibt es dazu. Ziel muss sein, dass alle Bemühungen – von der Erstberatung über die Vermittlung in ambulante und stationäre Hilfen und nachsorgende Angebote – vernetzt und zielführend gestaltet werden. Eine Anamnese muss nicht viermal erhoben werden, aber berufliche Erprobungen können mehrfach durchgeführt werden und so die Rehabilitanden in ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen stärken.

    Dokumentation und Qualitätssicherung

    Daten zum Bereich Arbeit, Beruf und Erwerbstätigkeit werden in verschiedenen Systemen dokumentiert:

    • In der Basisdokumentation werden zu Beginn der Behandlung verschiedene Informationen erfasst und am Ende der Behandlung erste Ergebnisindikatoren festgehalten.
    • Die dokumentierten Ergebnisse der Eingangs- und Abschlussdiagnostik stellen eine Grundlage für die Therapieplanung und die Veränderungsmessung dar.
    • In der Patientenakte werden alle wesentlichen Informationen zum Behandlungsverlauf dokumentiert.
    • Die einrichtungsinterne Leistungserfassung erfolgt mit der KTL, deren neue Version 2015 durchaus verbesserte Möglichkeiten zur Dokumentation der arbeits- und berufsbezogenen therapeutischen Leistungen bietet.
    • Im Reha-Entlassungsbericht (neuer Leitfaden der DRV vom September 2014) werden alle wesentlichen Informationen zum Verlauf und zum Ergebnis der Reha zusammengefasst. Von zentraler Bedeutung ist hier die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, die im freien Text (Blatt 2) möglichst gut begründet werden soll.

    Die in der medizinischen Rehabilitation etablierten Systeme für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beinhalten verschiedene Vorgaben für die Leistungsgestaltung und die Struktur von Ergebnisindikatoren. Die externe Qualitätssicherung erfolgt im Rahmen des Reha QS-Programms der Deutschen Rentenversicherung und umfasst folgende Instrumente:

    • Rehabilitandenbefragung mit einzelnen Fragen zur Arbeits- und Berufsorientierung (insbesondere zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit)
    • Peer Review-Verfahren (Checkliste und Manual in neuer Version vom Dezember 2014) zur Überprüfung der inhaltlichen Qualität der Reha-Entlassungsberichte mit dem Fokus Reha-Prozess und Reha-Ergebnis
    • Therapeutische Versorgung (KTL) mit Kennzahlen zu Häufigkeit, Dauer und Differenziertheit der dokumentierten Leistungsdaten (Leistungsverteilung, Leistungsmenge, Leistungsdauer) und einer gesonderte Auswertung der therapeutischen Leistungen im Bereich Arbeits- und Berufsorientierung
    • Reha-Therapiestandards (RTS) mit Anforderungen in einzelnen ETMs (Evidenzbasierte Therapiemodule) mit speziellen therapeutischen Anforderungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit
    • Visitationen nach einer einheitlichen Checkliste, die auch die Aspekte „arbeitsbezogene Leistungen“, „Sozialmedizin“ und „Sozialdienst“ umfasst
    • Rehabilitandenstruktur mit soziodemografischen (z. B. Alter, Bildungsniveau, Erwerbsstatus) und krankheitsbezogenen Merkmalen (z. B. Diagnosen, Leistungsfähigkeit)
    • Sozialmedizinischer Verlauf zum Verbleib der Rehabilitanden im Erwerbsleben mit Bezug zur Beitragszahlung an die gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur aus Erwerbstätigkeit resultieren kann (Ab 2011 haben sich die gesetzlichen Grundlagen für Hartz-IV-Empfänger geändert, d. h., es werden für diese Personengruppe keine RV-Beiträge mehr gezahlt, was aufgrund der hohen Langzeitarbeitslosigkeit im Indikationsbereich Sucht zu einer deutlichen Verschlechterung dieser Kennzahlen führen kann.)

    Zu den genannten Instrumenten und Indikatoren werden regelmäßig einrichtungsspezifische QS-Berichte erstellt, die Grundlage für einen Qualitätsvergleich der Einrichtungen und deren Qualitätsentwicklung sein sollen.

    Im Bereich der internen Qualitätssicherung werden von den Reha-Einrichtungen verschiedene Instrumente zur Analyse von Indikatoren und Kennzahlen im Zeitverlauf und zum Einrichtungsvergleich eingesetzt. Dazu zählen insbesondere:

    • Patientenbefragungen zur Erhebung der Zufriedenheit am Behandlungsende oder am Stichtag, u. a. mit Fragen zu den Leistungen im Bereich Arbeits- und Ergotherapie
    • Basisdokumentation mit Erhebung des Erwerbsstatus vor und nach der Rehabilitation. Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen und in der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS).
    • Katamnesen nach dem Standard des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) nach einem Jahr zum Behandlungserfolg (insbesondere Abstinenz, Erwerbstätigkeit und Kontextfaktoren). Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen.

    Zum internen Qualitätsmanagement besteht für alle stationären Reha-Einrichtungen eine Zertifizierungspflicht nach § 20 Abs. 2a SGB IX (BAR-Vereinbarung von 2009). Der entsprechende Anforderungskatalog umfasst auch Qualitätskriterien, die die Struktur- und Prozessqualität im Bereich arbeits- und berufsbezogene Leistungen betreffen. Für die relevanten Kernprozesse ist ein Prozessmanagement zu etablieren, die Teilnahme an einem Verfahren der externen QS ist vorgeschrieben, und es müssen Verfahren für die interne Messung und Analyse von Ergebnissen eingesetzt werden.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den bestehenden QM- und QS-Systemen bislang nur wenige oder eher globale Indikatoren zur Analyse der Arbeits- und Berufsorientierung enthalten sind. Verschiedene Weiterentwicklungen im QS-Programm der DRV wären denkbar: Im Rahmen der Rehabilitandenbefragung könnten die Leistungen in der Einrichtung, die sich auf Beruf und Arbeit beziehen, differenzierter abgefragt werden. Bei der Analyse der Rehabilitandenstruktur könnten die BORA-Zielgruppen explizit dargestellt werden. Und bei der im Jahr 2015 laufenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards könnten die ETMs, die die Arbeits- und Berufsorientierung betreffen, zusammengefasst und stärker an den BORA-Empfehlungen ausgerichtet werden.

    Aktuell wird auch die Erhebung einer ‚Integrationsquote‘ diskutiert, die den Anteil der konkret in Erwerbstätigkeit gebrachten Rehabilitanden (für jede Reha-Einrichtung) messen soll. Auch wenn das auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, ist Vorsicht geboten, denn der Auftrag der Reha-Einrichtungen bezieht sich primär auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Bei der Integration in eine Erwerbstätigkeit spielen viele Einflussfaktoren und Leistungen außerhalb bzw. vor und nach der medizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Zudem kann eine einzelne Einrichtung weder für ihr regionales Umfeld und die entsprechende Arbeitsmarktsituation verantwortlich gemacht werden noch alle Schwierigkeiten ausgleichen, die aufgrund der konzeptionell bedingten Rehabilitandenstruktur (Zielgruppenmix) bestehen.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Denis Schinner
    Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption
    Merschstraße 49
    59387 Ascheberg-Herbern
    dschinner@netzwerk-suchthilfe.org
    www.netzwerk-suchthilfe.org
    www.facebook.com/fachklinik.release

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Denis Schinner ist Verwaltungsleiter der Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption, Ascheberg-Herbern.

  • Wo stehen die Beratungsstellen?

    Wo stehen die Beratungsstellen?

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Eine gesellschaftspolitisch bewegte Zeit, wie wir sie derzeit erleben, ist stark geprägt von Fragen zur gesellschaftlichen Solidarität und von Erschütterungen des gesellschaftlichen Konsenses – wer hat wie viel an wen zu leisten, wer hat Anspruch auf welche Leistungen und zu welchen Bedingungen? Dabei geht es manchen politischen Kräften und gesellschaftlichen Akteuren seit der so genannten Agenda 2010 um nicht weniger als den Umbau des Sozialstaates. Es geht um Fragen, wie viel Sozialstaat erforderlich und nötig ist und wer welche Steuerungsfunktion darin übernimmt, beispielsweise beim Arbeitslosengeld II im SGB II oder im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rolle und Stellung der ambulanten regionalen Suchthilfe, die in unterschiedliche Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke auf kommunaler wie überregionaler, auf nationaler wie internationaler Ebene eingebunden ist, deren Handeln sich auf regionaler Ebene aber zunehmend an unterschiedlichen Lösungen orientiert.

    Der folgende Blick auf die ambulante Suchthilfe versteht sich als Diskussionsbeitrag zu ihrem besonderen Stellenwert, den sie für die soziale Gemeinschaft oder vielleicht treffender für die Zivilgesellschaft einnimmt bzw. einnehmen kann. Einige Thesen zu Beginn sollen die weiteren Ausführungen thematisch umreißen und strukturieren:

    • Die ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit im umfassenden und besten Sinne.
    • Ihr Leistungsspektrum für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und auch für die soziale Gemeinschaft ist umfassender und dessen Wirksamkeit höher, als üblich nach außen ersichtlich wird.
    • Die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung haben sich auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies zukünftig noch mehr tun.
    • Die ambulante Suchthilfe erbringt Leistungen, die andere in dieser Form nicht erbringen können – weder niedergelassene Therapeuten noch private Anbieter.
    • Wenn die ambulante Suchthilfe ihr Leistungsspektrum für suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und die soziale Gemeinschaft auch weiterhin erhalten will, muss sie sich in der Form ihrer Leistungserbringung „bewegen“ und ihr Profil schärfen.

    Sozialrechtlicher Rahmen und Auftragsgestaltung

    Um die Rolle und Aufgaben der ambulanten regionalen Suchthilfe im Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, zunächst ihren sozialrechtlichen Rahmen und die Auftragsgestaltung zu skizzieren. Dieser Rahmen ist für die ambulante regionale Suchthilfe wesentlich durch fünf Bereiche geprägt:

    1. Sozialstaatsprinzip und kommunale Daseinsvorsorge

    Die Grundlage der Finanzierung in der ambulanten Suchthilfe, von einzelnen Teilleistungen wie der ambulanten Rehabilitation Sucht abgesehen, fußt auf der kommunalen Daseinsvorsorge, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verankert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert ist. Im heutigen Verständnis ist sie zu einem Synonym für die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur geworden, die für ihre Einwohner die erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereitstellt. Die kommunale Daseinsvorsorge ist eine weitgehend freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Aktuell steht sie unter Liberalisierungsdruck, bedingt durch das Europäische Wettbewerbsrecht und daraus folgender Überlegungen zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben.

    2. Subsidiaritätsprinzip

    Eng verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip und der Daseinsvorsorge sowie den damit verbundenen staatlichen Fürsorgeleistungen ist das Prinzip der Subsidiarität. Damit ist vereinfacht die Idee gemeint, dass gesellschaftliche Eigenverantwortung und Autonomie Vorrang vor staatlichem Handeln haben. In Bezug auf die Erbringung von Fürsorgeleistungen bedeutet dies, dass (staatliche) Aufgaben soweit als möglich von unteren Ebenen (z. B. Länder, Städte, Kommunen) bzw. kleineren Einheiten ausgeführt werden. Diesem Prinzip unterliegt auch das Verhältnis zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Gemeinden) und den freien Trägern (freie Wohlfahrtspflege) von Fürsorgeleistungen. Dies bedeutet zwar einen Vorrang für die freie Wohlfahrtspflege bzw. einen Nachrang öffentlicher Träger und Einrichtungen, aber es gab und gibt immer wieder Richtungsstreitigkeiten um die damit verbundene Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung und den Erhalt der sozialpolitischen Position der freien, vor allem der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Wir erleben heute eine Diskussion um die so genannte „neue Subsidiarität“, die weit über die einfache Formel von Vor- und Nachrang hinausgeht. Sie bewegt sich mehr im Spannungsfeld von Steuerungsmechanismen, einer relativen Autonomie der handelnden Akteure und den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten in den entsprechenden Hilfefeldern. Das leitet automatisch zur Frage der kommunalen Steuerung über.

    3. Kommunale Steuerung

    Die kommunale Steuerung erhält durch Einsparmaßnahmen bei sozialen Leistungen der öffentlichen Hand, durch die damit verbundenen neuen Verteilungsszenarien und durch den Prozess der Kommunalisierung eine neue Qualität. Diese „neue“ Zuweisung von Gestaltungsverantwortung stellt viele Kommunen vor ungewohnte fachspezifische Herausforderungen. Darin steckt gleichermaßen Chance und Verpflichtung für die ambulante Suchthilfe. Dadurch nämlich, dass sie sich als unverzichtbarer Partner in der Gestaltung der sozialen Gegebenheiten vor Ort und somit der sozialen Gemeinschaft vor Ort versteht.

    4. Soziale Leistungsgesetze

    Die Rahmenbedingungen ambulanter Leistungen der Suchthilfe werden komplettiert durch die sozialen Leistungsgesetze. Die Krankheit Sucht als ein sehr komplexes Geschehen berührt vor dem Hintergrund ihres biopsychosozialen Erklärungsmodells eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuches. Im Einzelfall ist es erforderlich, die unterschiedlichen Leistungen bedarfsgerecht zu kombinieren, was nicht immer möglich bzw. häufig problematisch ist. Als Beispiel seien hier Maßnahmen für Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Suchthilfe oder die Betreuung substituierter schwangerer Frauen genannt.

    5. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe

    Eine wesentliche Grundlage bzw. auch ein Auftrag für die Gestaltung der ambulanten Suchthilfe im Gemeinwesen ergibt sich über das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „Teilhabe“ zu einem „Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells“ (Bartelheimer, 2007) entwickelt. Teilhabemodelle gehen davon aus, dass materielle Ressourcen und Rechtsansprüche unverzichtbare Voraussetzungen für die Menschen sind, um sich angemessen innerhalb ihrer Gesellschaft zu bewegen. Dies zu realisieren, also Verwirklichungschancen wahrzunehmen, verlangt zum einen persönliche Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen wie Normen oder Infrastruktur. Das Ziel sozialstaatlicher Handlungen besteht demnach darin, die Ungleichheiten bei den Verwirklichungschancen zu reduzieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. In der ambulanten Suchthilfe wäre dann zu prüfen, was sie dazu beitragen kann, dass mehr betroffene Menschen oder bestimmte Gruppierungen die Chance zur Teilhabe am „Gut“ der ambulanten Suchthilfe erhalten.

    Ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit

    Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.300 ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, die jährlich ca. 500.000 suchtkranke oder von Sucht betroffene Menschen erreichen (Jahrbuch Sucht 2013). Die Zahl der Hilfesuchenden hat in der ambulanten Suchthilfe in den letzten Jahren um ca. acht Prozent zugenommen (Deutsche Suchthilfestatistik 2008 bis 2012). Nach Einschätzungen der Beratungsstellen haben die Personalressourcen jedoch in Relation zu den gestiegenen Leistungsanforderungen eher abgenommen.

    Rolle und Selbstverständnis der ambulanten Suchthilfe

    Für Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen sowie deren Angehörige sind die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die zentralen Fachstellen in einem regionalen Hilfesystem und innerhalb eines regionalen Suchthilfeverbundes. Sie stellen für die Hilfesuchenden wie für die Kommune die Umsetzung der Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Kernleistungen einer regionalen Grundversorgung sicher. Damit ist auch der weitere Zugang zu sozialrechtlich normierten Leistungen wie Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verbunden.

    Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe

    Vergegenwärtigen wir uns das Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe – von spezifischer Präventionsarbeit, Risikominimierung und aufsuchenden Hilfen über Beratung, Begleitung und Betreuung, Behandlung und Rehabilitation bis zu Integrationshilfen, Selbsthilfeunterstützung und Netzwerkarbeit in versorgungsübergreifenden Kooperationsstrukturen – so wird deutlich: Die komplexe Leistungserbringung der ambulanten Suchthilfe ist psychosoziale Suchthilfe und in weiten Bereichen Soziale Arbeit. Im Zusammenspiel sozialer Fragestellungen und sozialer Hilfeleistungen mit Kenntnissen in Beratungsmethoden und psychotherapeutischer Einzel- und Gruppenarbeit, die zusätzlich Ansätze des Empowerments, suchtspezifisches Case Management sowie Ansätze der Lebens- bzw. Sozialraumorientierung und Quartiersarbeit integriert, findet Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe gelebte Wirklichkeit.

    Wie und wo sollten Menschen, die in die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe kommen, sonst eine umfassende und bedarfsgerechte Hilfe erhalten? Menschen, die Suchtprobleme haben, aber gleichzeitig arbeitslos und verschuldet sind, deren Partnerbeziehung auf der Kippe steht, deren Gesundheit angeschlagen ist, die sich in einer Sinnkrise befinden und sich insgesamt ohne Perspektive fühlen. Der psychosoziale Hilfeansatz der ambulanten Suchthilfe will Menschen „dort abholen“, wo sie stehen. Dazu hält die ambulante Suchthilfe Einiges bereit:

    • ein Verständnis von Empowerment, das die Selbsthilfekräfte und Selbstbestimmung der Betroffenen fördert,
    • einzelfallbezogene Hilfen zur Beratung, zur psychosozialen Begleitung bei Substitution wie auch zur existentiellen materiellen Absicherung,
    • fallbezogenes Case Management zur optimalen Kombination unterschiedlicher Hilfen und Hilfebereiche, z. B. der Suchthilfe mit der Schuldnerberatung, mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit der regionalen Hilfeplanung,
    • das Einbeziehen gemeinwesenorientierter Ansätze, die sich heute unter Begriffen wie Lebens- bzw. Sozialraumorientierung oder auch Quartiersarbeit finden und zum Ziel haben, Menschen in ihrem persönlichen Lebensumfeld zu erreichen und ggf. auch Einfluss auf dieses Lebensumfeld zu nehmen,
    • die Integration neuer Konzepte wie Motivierende Gesprächsführung oder Community Reinforcement Approach (CRA).

    Dies sind Interventionen und Hilfestrategien, die letztlich alle darauf abzielen, immer mehr Menschen mit riskantem oder abhängigem Suchtmittelkonsum frühzeitig und bedarfsgerecht zu helfen.

    Ambulante Suchthilfe und soziale Gemeinschaft (Zivilgesellschaft)

    Über die bloße Tatsache hinaus, dass die ambulante Suchthilfe Anlaufstelle für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Problemen ist, besitzt sie einen (Mehr-)Wert für die soziale Gemeinschaft. Ambulante Suchthilfe versteht sich als Teil der regionalen Gesundheitsvorsorge. In diesem Rahmen bemisst sich ihr Wert aus der Summe ihres unmittelbaren Nutzens für betroffene Menschen und deren Angehörige und ihres mittelbaren Nutzens für die soziale Gemeinschaft. Diesen mittelbaren Nutzen erreicht sie auf vielfältige Weise:

    • Öffentlichkeitsfunktion: Als Anwältin der Betroffenen weist sie auf die Lebensbedingungen suchtkranker Menschen öffentlich hin. Diese öffentliche Thematisierung verhindert, dass die besonderen Problem- und Lebenslagen der betroffenen Menschen einseitig individuell begründet und damit stigmatisiert und tabuisiert werden. Dagegen werden sie als zwar persönlich, aber auch gesellschaftlich und sozial bedingte Prozesse dargestellt. Die ambulante Suchthilfe schafft damit eine wesentliche Grundlage für die Integration suchtkranker Menschen. Denn Integration oder Inklusion erfolgt nicht über die professionellen Helfer, sondern über die Mitmenschen, die Mitbürger, die lernen, Suchterkrankungen zu verstehen und die Betroffenen nicht (mehr) auszugrenzen.
    • Signalfunktion: Die ambulante Suchthilfe ist ein Seismograph für soziale Entwicklungen. Aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit suchtkranken Menschen in deren spezifischen Lebensbezügen nimmt sie soziale Entwicklungen frühzeitig wahr. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur auf die Lebensbedingungen der ihr anvertrauten Menschen hinzuweisen, sondern z. B. auch auf Auswirkungen und Konsequenzen, die bestimmte Gesetzesvorhaben und Gesetzeslagen hätten oder haben. Indem sie auf bestimmte Verhältnisse und Entwicklungen aufmerksam macht und sich so in die politische und gesellschaftliche Debatte einmischt, besitzt sie wichtige Signalfunktion bezogen auf die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen.
    • Gesellschaftliche und soziale Teilhabe: Ambulante Suchthilfe leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe. Suchtprobleme, die nicht frühzeitig erkannt werden oder die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können, führen zur Exklusion, zur gesellschaftlichen wie sozialen Ausgrenzung. Gerade der umfassende Ansatz der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist Garant dafür, dass neben der unmittelbaren Behandlung der Erkrankung auf medizinischer und psychotherapeutischer Basis auch die Lösung anderer damit verbundener Problemlagen in den Blick kommt, egal ob es sich dabei um materielle Hilfen, die Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt oder die Verwirklichung von Rechtsansprüchen handelt.
    • Gesellschaftliche Solidarität: Soziale Arbeit trägt maßgeblich zur gesellschaftlichen Solidarität, also zum Zusammenhalt einer Gesellschaft und deren positiver Weiterentwicklung bei. Der Umgang mit Suchtmitteln, der nicht reglementiert ist, Wirkungen und Konsequenzen von Suchtmitteln, über die nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt wird, ein fehlendes oder unzulängliches Hilfe- und Versorgungssystem sind eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. Ambulante regionale Suchthilfe wirkt dem entgegen, indem sie sich vorbeugend mit dem adäquaten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln und mit der Behandlung akuter Suchtprobleme befasst. Dadurch besitzt sie einen hohen kollektiven Nutzen.
    • Soziale Sicherung und soziale Befriedung: Letztlich leistet die ambulante Suchthilfe einen Beitrag zur sozialen Sicherung und zur sozialen Befriedung in der Kommune, indem sie für regionale und spezifische Probleme Lösungsansätze mit entwickelt. Dies kann auf ordnungspolitischer Ebene in Zusammenarbeit mit der Politik und den Sicherungsorganen vor Ort erfolgen, beispielweise zur Entschärfung negativer Konsequenzen lokaler Drogenszenen. Die Suchthilfe kann aber auch zum sozialverträglichen Umgang mit Alkohol in der Öffentlichkeit beitragen, beispielsweise über Angebote zu einer Fest- und Feierkultur, die den Genuss legaler Suchtmittel nicht ausschließen, aber Formen finden, die Konsum- und Gewaltexzesse vermeiden.

     Aktuelle Herausforderungen

    Die oben beschriebene Rolle der ambulanten Suchthilfe und ihr Selbstverständnis werfen aber auch Fragen auf: Hat die ambulante Suchtberatung weiterhin den Willen und die Ressourcen, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen? Sieht sie sich zunehmend in „Konkurrenz“ zu den psychiatrischen Versorgungsstrukturen und zu niedergelassenen Therapeuten/-innen, oder gelingt es ihr, darin Kooperations-Chancen zu entdecken und diese im Sinne einer Optimierung der Versorgungslandschaft für die Hilfesuchenden zu nutzen?

    Wie zuvor beschrieben, haben sich die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung für ambulante Hilfen auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies auch weiterhin tun. Die ambulante Suchthilfe stellt Leistungen für Menschen in einem Gemeinwesen zur Verfügung und steht deswegen unter der permanenten Prämisse, sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess den gesellschaftlichen Entwicklungen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie veränderten Erwartungen von Seiten der Politik, der Leistungsträger und der Hilfesuchenden anzupassen. Daraus ergeben sich zentrale aktuelle Herausforderungen:

    Unter der Prämisse der Ökonomisierung ambulanter Hilfen, aber auch aufgrund veränderter Bedarfe der Hilfesuchenden und neuer fachlicher Kenntnisse, haben sich das Leistungsangebot wie auch die Leistungserbringung stark gewandelt. Die Modularisierung der Hilfen und Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, d. h. es werden zunehmend bedarfsorientierte und passgenaue Hilfen, Interventionen und Maßnahmen für spezifizierte Klientengruppen angeboten. Hierdurch können die Hilfen effektiver und effizienter angeboten werden. Aufsuchende Hilfen, z. B. in Haftanstalten, Betrieben oder Krankenhäusern, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Über Maßnahmen der Früherkennung und Frühintervention werden Klienten/-innen früher erreicht, und es werden auch andere Klientengruppen erreicht. Ansätze der Lebenslagen- bzw. Sozialraumorientierung kommen vermehrt in den Blick.

    Das alles wirkt sich auch auf das erforderliche Handlungswissen der Berater/innen aus. Sie werden immer stärker von Spezialisten zu Generalisten. Die Mitarbeiter/-innen ambulanter Beratungsstellen verstehen sich heute als multidisziplinäre Teams in Netzwerkarbeit und mit Case-Management-Orientierung. Gleichzeitig bestehen hohe Ansprüche an Effektivität und Effizienz vor dem Hintergrund einer hohen Qualitätsorientierung.

    Die skizzierte (positive) Entwicklung darf aber nicht von der Kehrseite der Medaille ablenken. Eine bedarfsorientierte Leistungserbringung, die ökonomisch sinnvoll und qualitativ hochwertig ist, erhöht den administrativen Aufwand und bringt zwangläufig fachlich und personell anspruchsvolle Leitungs- und Steuerungsaufgaben mit sich. Durch die stärkere Differenzierung und Ökonomisierung der ambulanten Hilfen nimmt in den Beratungsstellen die unmittelbare Beratungs- und Betreuungszeit für den einzelnen Klienten ab, und die Verdichtungen in den Arbeitsbezügen nehmen deutlich zu. Das für die ambulanten Hilfen zentrale Moment der Beziehungsgestaltung und der Bindungsarbeit verändert sich. Berater/-innen weisen deutlich darauf hin, dass die Gesprächs- und Betreuungszeiten für ihre Klientel spürbar abgenommen haben. Bei gleichbleibenden personellen Ressourcen stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob und wie der hohe Anspruch an das Qualitätsniveau ambulanter Leistungen aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt signalisieren Beratungsstellen, dass das Qualitätsniveau in den einzelnen Angeboten variiert. Durch passgenaue und zielführende Angebote kann das Leistungsniveau für bestimmte Klientengruppen erhöht werden, während es an anderer Stelle, bedingt durch die nicht gleichzeitig angepassten Ressourcen, wiederum abnimmt. Auf einen Nenner gebracht, befürchten Berater/-innen einen Rückgang der Nachhaltigkeit der Leistungen, was sich beispielweise in den Halte- und Rückfallquoten niederschlägt.

    Die ambulante Suchthilfe ist überwiegend pauschal finanziert auf den Säulen von Eigenmitteln, staatlichen Zuschüssen, Refinanzierungen/Erwirtschaftungen und Projektfinanzierungen. Die kostendeckende Finanzierung der Leistungen und Angebote der ambulanten Suchthilfe ist in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. Öffentliche Mittel sind rückläufig und stehen unter Einsparvorbehalt. Die Leistungsvergütung hat sich für die Leistungserbringer tendenziell verschlechtert. Gleichzeitig nimmt der Druck in den Einrichtungen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu. Tendenziell nimmt der pauschal finanzierte Anteil im Budget der Beratungsstellen ab. Ziel einer auskömmlichen Finanzierung ist eine grundsätzliche Kostendeckung, es ist aber auch zu vermeiden, dass die pauschale Finanzierung der Grundversorgung in den Kommunen mit spezifischen Leistungsangeboten konkurriert bzw. verrechnet wird.

    Perspektiven der ambulanten Suchthilfe

    Hat die ambulante Suchthilfe auch weiterhin das Ziel, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit in einer Region oder Kommune zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen, dann sind – verbunden mit den eben skizzierten Herausforderungen – folgende Aspekte für eine Perspektive wesentlich:

    Suchtberatung ist allen zugänglich und hilft frühzeitig, sie ist teilhabe- und sozialraumorientiert

    Wie im Sinne einer Präambel muss im Grundverständnis der Daseinsvorsorge der Kommunen verankert sein, dass Suchtberatung allen Bürgern/-innen voraussetzungslos zugänglich sein muss. Niemand wird wegen seiner Herkunft, seiner Lebensumstände oder mangelnder Kaufkraft ausgeschlossen. Professor Matthias Möhring-Hesse von der Hochschule Vechta geht so weit, bei der Sozialen Arbeit von einem „öffentlichen Gut“ zu sprechen, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen sein darf. Ein Angebot nach diesem Verständnis muss per se niedrigschwellig sein. Mit dem Ziel erhöhter Erfolgschancen wie auch im Sinne von Ressourcenschutz hat die Suchtberatung den Anspruch, möglichst frühzeitige Hilfe zu leisten. Das gilt auch für eher „schwer erreichbare“ Zielgruppen, bei denen die ambulante Suchthilfe mit einem rein nachfrageorientierten Verständnis im Sinne der „Komm-Struktur“ an ihre Grenzen stößt. Das erfordert ein Umdenken im methodischen Zugang der ambulanten Suchthilfe. Ansätze aufsuchender Hilfen werden ausgeweitet. Angebote und Maßnahmen werden zunehmend im Verständnis von Sozialraumorientierung entwickelt und erbracht.

    Die Schärfung des eigenen Profils beginnt bei der Diagnostik

    Die Bedarfe der Hilfesuchenden werden immer vielschichtiger. Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an die Diagnostik und Psychodiagnostik in der ambulanten Suchthilfe, die diese Vielschichtigkeit der Lebenslagen erkennen und erfassen muss. Daraufhin ergeben sich Anforderungen an ein modulbezogenes und bedarfsgerechtes Hilfeangebot und insbesondere an ein gestuftes Hilfeangebot, das im Sinne von stepped care und Ressourcenorientierung angemessene und aufeinander aufbauende Maßnahmen der Beratung, Begleitung und Behandlung bereithält. Das handlungsleitende Prinzip dabei ist: „So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“ – statt „Viel für wenige“ eher „Etwas für viele“. Eine solche Differenzierung des Leistungsprofils unterscheidet Kernleistungen (Grundversorgung), spezifische Leistungen für die jeweilige Kommune (Pflicht) und von der ambulanten Suchthilfe zusätzlich angebotene Leistungen (Kür). Die ambulante Suchthilfe benötigt zukünftig mehr fachliche und personelle Ressourcen für managementorientierte Aufgaben. Nicht zu Lasten der Beratung und Betreuung, aber ergänzend, damit die Verschiebung in der Arbeit zu Koordinierung, Vernetzung, Wirkungsorientierung und Ökonomie besser gelingt.

    Verbünde haben Konjunktur – gemeinsam sind wir besser

    Aufgrund der steigenden fachlichen und versorgungsorientierten Anforderungen werden strategische Überlegungen zur Verbundorientierung an Bedeutung gewinnen – je nach den jeweiligen regionalen und kommunalen Erfordernissen. In eine kommunale oder regionale Suchthilfeplanung, die sich eine bedarfsorientierte Grundversorgung im Sinne einer öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Ziel gesetzt hat, müssen die vielfältigen Netzwerke eingebunden sein. An dieser Stelle kann und muss die ambulante Suchthilfe eine zentrale koordinierende und flankierende Rolle spielen.

    Auf den Schnittstellen liegt das Augenmerk der Zukunft

    Komplexe Problemlagen benötigen in der Regel komplexe Lösungen. Das ist eine Binsenweisheit. Viele Problemlagen, mit denen die Suchthilfe konfrontiert ist, lassen sich alleine aus der Suchthilfe heraus nicht lösen, sondern nur in sinnvoller Kooperation mit anderen Akteuren innerhalb einer integrierenden Versorgungslandschaft. Die eigentliche Weiterentwicklung im Sinne verbesserter Hilfen und Angebote für betroffene Menschen liegt in einer optimierten und intensivierten Schnittstellenarbeit. Das bindet fachliche wie personelle Ressourcen und kann nicht mal schnell nebenher erledigt werden. Erforderlich ist: Voraussetzungen zu schaffen, um diese eigenständige Fachlichkeit des Schnittstellenmanagements erbringen zu können.

    Wirkungsorientierung ist der Boden, auf dem wir stehen

    Die konsequente Darstellung von Wirkzusammenhängen wird an Bedeutung gewinnen. Dies ist erforderlich für die fachliche Weiterentwicklung, für die Transparenz der Arbeit, für den gezielten Einsatz von Ressourcen und damit für die Rechtfertigung des Handelns in der ambulanten Suchthilfe – letztlich auch in einem fast moralisch zu verstehenden Sinn: Hilfesuchende Menschen in der ambulanten Suchthilfe haben ein Recht auf wirkungsvolle Hilfen. Das deutlich zu machen, konsequenter und intensiver darzustellen – gegenüber den Geldgebern aus der öffentlichen Hand und der Sozialversicherung, der Politik wie auch in die Öffentlichkeit hinein – ist eine vordringliche Aufgabe der ambulanten Suchthilfe.

    Der Blick auf die Ökonomie macht ehrlicher

    Ähnliches gilt für den unmittelbaren Zusammenhang von Kosten und Nutzen. Dabei darf der Blick auf die Ökonomie nicht alles sein, darf nicht zum vorherrschenden Maßstab des Handelns werden. Aber der Blick auf Ökonomie macht ehrlicher. Eine langfristige ökonomische Sicht ist abzugrenzen von kurzfristigen Kosteneinsparansätzen, bei denen es nur darum geht, monetär festzustellen, wer welche Leistung am billigsten anbieten kann. Ökonomie langfristig verstanden bedeutet, öffentlich darzustellen, dass wirtschaftliche Erfordernisse nicht zu trennen sind von Wirkungszusammenhängen, von der Nachhaltigkeit in der Leistungserbringung, vom unmittelbaren Nutzen der Leistungen für die Betroffenen und vom mittelbaren Nutzen für die soziale Gemeinschaft. Ökonomie so verstanden ist ein deutliches Argument gegen die allein subjektbezogene Finanzierung auf der Grundlage von Einzelverträgen und Leistungsvereinbarungen und für eine langfristige ökonomische Gestaltung der Hilfen. Und sie ist ein gewichtiges Argument für den Aufbau einer langfristigen Sozialpartnerschaft zwischen Kommune und Leistungsanbietern vor Ort.

    Qualitätsmanagement sichert den Erfolg

    Der gleichermaßen konsequente wie umsichtige Umgang mit Qualitätsmanagement schafft die Grundlagen dafür, in den Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die vielschichtigen fachlichen und leistungsrechtlichen Anforderungen und damit verbundene Maßnahmen so zu ordnen und aufeinander zu beziehen, dass deren Wirkungen auch dort ankommen, wo sie hinzielen, also bei den Menschen mit Suchtproblemen.

    Fazit

    Das Paradigma aus Wirksamkeit (Effektivität), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Nachhaltigkeit (Qualität) darf nicht der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung von Maßnahmen der ambulanten Suchthilfe sein. Nicht alles lässt sich in dieses Schema einordnen, nicht alle Problemlagen und Lösungsansätze lassen sich in messbare Schablonen pressen. Das geht auf Kosten der Vielfältigkeit und vor allem der Kreativität der Lösungen. Die Lebenswirklichkeit der hilfesuchenden Menschen ist vielschichtiger, lebendiger. Und die Antwort der ambulanten Suchthilfe in ihrer Orientierung an der psychosozialen Arbeit ist vielschichtiger, kreativer.

    Aber die ambulante Suchthilfe muss sich dem beschriebenen Optimierungsprozess stellen, managementorientierte Handlungsprogramme mit Augenmaß einsetzen und mit den lebendigen und kreativen Möglichkeiten psychosozialer Arbeit verknüpfen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Geschäftsführer
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas-Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
    • Hans Joachim Abstein, AGJ Freiburg, Projekt „Zukunftsfähigkeit der PSB der LSS Baden-Württemberg“, Freiburg 2010
    • Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe (AKS), Sucht(-hilfe) kostet Geld – Suchthilfe spart Geld! – eine Argumentationshilfe für die Praxis, Freiburg 2003
    • Peter Bartelheimer, Politik der Teilhabe, Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2007
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Leistungsbeschreibung für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe, DHS, Hamm 1999
    • Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V., Grundversorgung in der ambulanten Such- und Drogenhilfe, Köln 2009
    • Zukunftsforum Politik. Sozialer Bundesstaat 66. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2005
      FOGS-Studie DCV, Integrierte Versorgungsstrukturen – Kooperation und Vernetzung in der Suchthilfe der Caritas, Köln 2008
    • Institut für Therapieforschung (IFT), Suchthilfe in Deutschland, Jahresberichte der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) 2008 bis 2012, München
    • Matthias Möhring-Hesse, Hochschule Vechta, Die Zukunft der sozialen Arbeit im Sozialstaat, Frankfurt 2005
    • Hans-Uwe Otto, Universität Bielefeld, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion, Berlin 2007
    • Petzold, H., Steffan A. Gesundheit, Krankheit, Diagnose- und Therapieverständnis in der Integrativen Therapie, in: Integrative Therapie 2001
    • Wolfgang Scheiblich, Zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie – Die Anforderungen an die Suchtkrankenhilfe, Sozialdienst Katholischer Männer e.V., Köln 2004
    • Renate Walter-Hamann, Suchtberatung ist keine Restkategorie, in: neue caritas 18/2007, Deutscher Caritasverband, Freiburg 2007
  • Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation

    Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation

    Helga Meeßen-Hühne
    Helga Meeßen-Hühne

    Helga Meeßen-Hühne ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Sie beschreibt, welche Funktion die ambulante Suchthilfe auf Landesebene erfüllt und welche Strategien nötig und möglich sind, um ihre Finanzierung zu sichern. Der Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin im September 2014 auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des buss in Kassel gehalten hat.

    1. Wer ist eigentlich die ambulante Suchthilfe?

    „Die“ ambulante Suchthilfe gibt es nicht

    Griffiger Titel – komplexe Gemengelage: Wer handelt in wessen Auftrag mit welchem Ziel in Kooperation mit wem? Verschiedenste gesetzliche Regelungen formulieren für den Suchtbereich jeweils unterschiedliche Anspruchsberechtigte, Erbringer und Ziele der Leistung: das SGB II über die Grundsicherung für Arbeitsuchende, das SGB V über die gesetzliche Krankenversicherung, das SGB VI über die gesetzliche Rentenversicherung und das SGB XII über die Sozialhilfe sowie die jeweiligen Landesgesetze über den Öffentlichen Gesundheitsdienst und über die Hilfen für psychisch Kranke. Nicht unerwähnt bleiben sollen Hilfen für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige nach dem SGB VIII. Alle genannten Gesetze und einige weitere Vorschriften haben Relevanz auch für die „ambulante Suchthilfe“ (Ministerium für Arbeit und Soziales 2011).

    logo_ls_suchtfragen_verkeinertSuchtkranke und suchtgefährdete Menschen heißen – je nach Zuständigkeit – Kundinnen und Kunden, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, Klientinnen und Klienten oder seelisch Behinderte in Folge von Sucht. Im Wirkungsbereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind junge Menschen mit Suchtproblemen „von seelischer Behinderung in Folge von Sucht bedroht“ (§ 35a SGB VIII). Je nach Zuständigkeit geht es den Leistungsträgern z. B. um die Teilhabe am Arbeitsleben, die Sicherung und Wiederherstellung von Erwerbsfähigkeit oder die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.

    Dass 80 Prozent aller Suchtkranken mindestens einmal pro Jahr ihren Hausarzt aufsuchen, ist zumindest in der (Sucht-)Fachwelt bekannt. Die wenigsten der niedergelassenen Ärzte zählen sich aber selbst zur „ambulanten Suchthilfe“. Einige Ärzte, die Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigen durchführen, zählen sich zur „ambulanten Suchthilfe“. Manchmal ordnen sich Tageskliniken von psychiatrischen Fachkrankenhäusern oder von Fachkliniken gem. SGB VI der ambulanten Suchthilfe zu.

    Suchtberatungsstellen – Kern der ambulanten Suchthilfe

    Die Suchtberatungs- und -behandlungsstelle mit ihren regional sehr unterschiedlich ausgestalteten Grund- und Spezialangeboten bildet sicherlich den Kern der ambulanten Suchthilfe. Sie ist der einzige Dienst, der wirklich allen von Sucht Betroffenen offensteht: Angehörigen, Kindern, Betriebsangehörigen, Lehrkräften, Betroffenen in allen Stadien einer Sucht – und dies zuverlässig und wohnortnah: vom ersten (möglicherweise angeordneten) Besuch bis zur Krisenintervention, unter Umständen Jahre nach dem Erreichen einer zufriedenen Abstinenz.

    Bei allen weiteren notwendigen Hilfen steht der ratsuchende Mensch im Mittelpunkt. Qualität und Umfang der Kooperation mit Diensten in anderweitiger Zuständigkeit (z. B. mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst, der Arbeitsverwaltung, der Krankenversorgung, der Rehabilitation, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Schule) hängen allerdings von den jeweiligen Möglichkeiten der Suchtberatungsstelle und von den sehr unterschiedlich ausgeprägten kommunalen Vorgaben ab. Was dann vor Ort unter ambulanter Suchthilfe verstanden wird, unterscheidet sich entsprechend.

    Suchtberatungsstellen tragen zu Förderung und Sicherung des Arbeitskräftepotentials vor Ort bei. Sie sind Kristallisationsorte für spezialisierte und innovative Hilfen und DAS Kompetenzzentrum für Abhängigkeitsfragen vor Ort. Sie haben hinsichtlich sich verändernder Suchtverhaltensweisen und Konsummuster eine Frühwarnfunktion (Beispiel: Methamphetaminkonsum „Crystal Meth“). Darüber hinaus helfen sie mit ihrer Kenntnis der regionalen und überregionalen Hilfen und Zuständigkeiten jedem Betroffenen und Mit-Betroffenen, die jeweils passende Hilfestellung zu finden. Damit haben sie für alle Beteiligten im Hilfeprozess Lotsenfunktion – nicht nur für die Betroffenen, auch für Angehörige, Kollegen, behandelnde Ärzte usw.

    In der Regel kooperieren Suchtberatungsstellen mit Suchtselbsthilfegruppen. Nicht selten waren sie diesen in der Anfangsphase behilflich, waren vielleicht sogar an der Gründung beteiligt. Vielfach unterstützen Suchtberatungsstellen „ihre“ Suchtselbsthilfegruppen: mit Räumlichkeiten, bei der Beantragung finanzieller Unterstützung oder in Krisensituationen. Abstinent lebende Suchtkranke aus Suchtselbsthilfegruppen wiederum unterstützten Suchtberatungsstellen häufig bei Veranstaltungen. So fördern Suchtberatungsstellen Selbsthilfepotential und Ehrenamt.

    Suchtprävention und die möglichst frühe Intervention gehören ebenfalls zu den Aufgaben: Neben schulischer Suchtprävention bieten viele Suchtberatungsstellen beispielsweise für Menschen mit hohem Alkoholkonsum manualgestützte krankenkassengeförderte Kurse zur Trinkreduktion an. Präventions- und Interventionsprojekte zum jugendlichen Rauschtrinken, aber auch Tabakentwöhnung gehören vielerorts zum Repertoire.

    Suchtberatungsstellen kooperieren in lokalen und regionalen Gremien nicht nur mit Diensten und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, sondern auch mit Schule sowie mit der polizeilichen Kriminalprävention. Selbstverständlich sind sie auch mit regionalen Netzwerken zur Kindeswohlsicherung in Kontakt und haben längst nicht mehr „nur“ den suchtkranken Hilfesuchenden, sondern auch dessen familiäre Situation und damit die mitbetroffenen Kinder im Blick.

    Insgesamt sind Suchtberatungsstellen Teil des gemeindenahen pluralen, öffentlichen Hilfeangebotes und tragen als „weicher Standortfaktor“ zur Verbesserung des sozialen Klimas vor Ort bei.

    Sozialleistungsrechtliche Einordnung und Finanzierung

    Die Aufgaben der Suchtberatung und -prävention gehören zu den kommunalen Pflichtaufgaben im eigenen Wirkungskreis, die in der Regel im jeweiligen Gesetz über das Öffentliche Gesundheitswesen fixiert sind. Allerdings sind diese Aufgaben in keinem Bundesland hinsichtlich der vorzuhaltenden Quantität und Qualität belastbar formuliert. Das SGB II zur Teilhabe am Arbeitsleben formuliert seit Januar 2005 erstmals einen Anspruch der „Kundinnen und Kunden“ auf Hilfen zur Überwindung von psychosozialen Vermittlungshemmnissen, darunter auch jene in Folge von Sucht. Allerdings lassen sich auch hieraus kaum planerische Größen qualitativer oder quantitativer Natur ableiten. Angesichts des zunehmenden Legitimationsdrucks der Ausgaben vieler öffentlicher Haushalte befinden sich Suchtberatungsstellen zunehmend in Konkurrenz um die Förderung zu anderen wenig normierten psychosozialen kommunalen Leistungen wie z. B. Ehe-, Familie- und Lebensberatung.

    Weitere Normierungen u. a. für kommunale Aufgaben finden sich in den jeweiligen Landesgesetzen über die Hilfen und den Schutz für psychisch kranke Menschen (häufig PsychKG abgekürzt), zu denen auch Menschen mit Suchterkrankung zählen.

    In allen Bundesländern gehören Suchtberatung und -prävention zu den Aufgaben, die an freie Träger delegiert werden können: Die weitaus überwiegende Anzahl der Suchtberatungsstellen befindet sich in Trägerschaft der Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die für das Angebot dieser kommunalen Dienstleistung auch Eigenmittel einbringen. Eigenmittel speisen sich v. a. aus Spenden und Kirchensteuern, zu einem Teil auch aus Leistungsentgelten wie z. B. ambulanter Rehabilitation. Die Art und Weise der Einbringung von Eigenmitteln divergiert von Kommune zu Kommune – je nach Verhandlungsstand.

    In der Regel unterliegen Suchtberatungsstellen der Fehlbedarfsfinanzierung. Damit schmälern unter Umständen Einkünfte, die im laufenden Jahr höher als gedacht ausfallen, die kommunale und – je nachdem – auch die Landeszuwendung. Damit kann also in der Regel nicht das Leistungsvolumen der Suchtberatungsstelle im laufenden Haushaltsjahr vergrößert werden. Werden eigene Einnahmen höher angesetzt und fallen niedriger aus, so liegt das Gesamtfinanzierungsrisiko beim Träger.

    Die Eigenmittel der Träger gehen tendenziell eher zurück. In den neuen Bundesländern stehen aufgrund der niedrigen Kirchenmitgliederquoten immer nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Die Anzahl der Bundesländer, die über Landesförderinstrumentarien Qualitätsdimensionen für regionale Suchtberatung definieren, nimmt ab. Unter wachsendem Spardruck muss die jeweilige Landesförderung zunehmend politisch erstritten werden – unter Umständen für jeden Haushaltszeitraum neu –, sofern die Landesförderung noch nicht in den kommunalen Finanzausgleich eingestellt worden ist. Dabei wissen die Länder in der Regel um ihr eigenes Interesse an der Arbeit von kommunalen Suchtberatungsstellen, beispielsweise weil sie vermeidbaren Bedarfen in der Eingliederungshilfe vorbeugt, weil sie Frühberentung vermeiden hilft oder weil sie zur Sicherung des Kindeswohls beiträgt. Dieses Interesse aus Sicht der Länder bildet die Legitimation für die freiwillige Förderung einer kommunalen Leistung.

    Koordination und Kooperation vor Ort – Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften (PSAG)

    In den Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften kann für die jeweilige Kommune definiert werden, was unter „ambulanter Suchthilfe“ zu verstehen ist. Häufig geht von den PSAGen der Impuls zur Abstimmung von Informationen über die Hilfeangebote für Bürgerinnen und Bürger aus. PSAGen arbeiten in der Regel unter der Leitung eines/-r Psychiatriekoordinators/-in. Einige Bundesländer schreiben in ihrem PsychKG einen solchen Koordinator in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt vor. Je nach politischem Willen und Situation vor Ort findet in den entsprechenden Arbeitskreisen „Sucht“ mehr oder weniger verbindliche und lebendige Kooperationsplanung von Diensten und Einrichtungen statt. Dabei hat die Psychiatriekoordination hier weniger Steuerungs- als Moderationsfunktion: Echte Steuerung ist an Mitteleinsatz gebunden. Das Spektrum der inhaltlichen Arbeit in den PSAG-Arbeitskreisen reicht von der Planung klientzentrierter Kooperation bis zur Beobachtung der Konkurrenzsituation.

    2. Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation legitimieren die ambulante Suchthilfe

    Wappen Sachsen-Anhalt
    Wappen Sachsen-Anhalt

    Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)

    Wie können Suchtberatungsstellen ihren Wert für das regionale Hilfesystem darstellen und damit ihre weitere Finanzierung sichern? Hilfreich ist die Kooperation mit einer Bündelungsorganisation wie den Landesstellen für Suchtfragen. Diese gibt es in fast allen Bundesländern (Bundesarbeitsgemeinschaft 2010).

    Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) fungiert als Landesfachstelle Sucht für die Landesregierung mit abgestimmter Aufgaben- und Jahresplanung. Die LS-LSA bündelt die Erkenntnisse und Anforderungen aus den Praxisfeldern der Suchtkrankenhilfe und Suchtprävention. Die sich daraus ergebenden Bestandsaufnahmen und Weiterentwicklungsbedarfe sind die Basis für die vielfältigen Aktivitäten der LS-LSA. Mitglieder der LS-LSA sind neben den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege alle landesweit tätigen Fachverbände in den Themenfeldern Suchtselbsthilfe, Suchtkrankenhilfe und Prävention. Rechtlich ist die LS-LSA ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA). Damit hat sie einen direkten Zugang zu allen Themenfeldern der psychosozialen Arbeit der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Da Sucht und Suchtvorbeugung Querschnittsthemen mit Relevanz für nahezu alle psychosozialen Versorgungsfelder darstellen, ist diese Einbindung wertvoll.

    Aufgrund der überdurchschnittlichen Problembelastung im Bereich der legalen Suchtmittel (vgl. Abb. 1) hat sich Sachsen-Anhalt unter anderen das Gesundheitsziel „Senkung des Anteils an Rauchern in der Bevölkerung und der alkoholbedingten Gesundheitsschäden auf Bundesdurchschnitt“ gesetzt. Die Arbeitsgruppe zu diesem Gesundheitsziel, in der Schlüsselinstitutionen der medizinischen Versorgung sowie Suchtfachkliniken mit Vertretern/-innen der GKV zusammenarbeiten, wird von der LS-LSA gemeinsam mit einem Vertreter der AOK Sachsen-Anhalt geleitet. Hieraus ergibt sich insgesamt eine gute Vernetzung der Themen, Aufgabenfelder und Akteure der Suchtkrankenhilfe und -prävention. Auch für die Deutsche Rentenversicherung in Mitteldeutschland übernimmt die LS-LSA Koordinierungsaufgaben, für die sie ebenfalls gefördert wird.

    Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt
    Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt

    Daten zum Suchtgeschehen auf Landesebene in Sachsen-Anhalt

    In der Diskussion über die Notwendigkeit von Suchtberatung und -prävention, die dann auch die Förderung legitimiert, werden in Sachsen-Anhalt vor allem folgende Datenquellen genutzt:

    • die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Landes und des Bundes, v. a. Daten der Krankenhausberichterstattung: Diese Daten waren und sind wesentlich für die Formulierung der Gesundheitsziele des Landes.
    • die Daten der Deutschen Rentenversicherung: Hier sind v. a. die Informationen über den Zugang zur Rehabilitation, aber auch die Erwerbsunfähigkeitsquoten im Länder- und Bundesvergleich interessant.
      die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik: Diese werden v. a. im Hinblick auf die Anzahl von Straftaten unter Einfluss von Alkohol bzw. Betäubungsmitteln genutzt.
    • länderspezifische Erhebungen wie MODRUS – Moderne Drogen- und Suchtprävention; leider war 2008 das letzte Erhebungsjahr.
    • die Deutsche Suchthilfestatistik – Auswertung Sachsen-Anhalt (DSHS LSA): Die Datensammlung erfolgt seit 2001 als Vollerhebung mit dem System Ebis der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung München (GSDA) an den 32 Suchtberatungsstellen in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, koordiniert durch die LS-LSA. Die DSHS LSA liefert Informationen zum Ausmaß der Hilfeinanspruchnahme sowie soziodemografische Informationen und spiegelt seismografisch das Suchtgeschehen im Zeitverlauf.

    Die LS-LSA führt die Daten anlassbezogen thematisch prägnant zusammen.

    Daten zum Suchtgeschehen auf regionaler Ebene: der standardisierte Sachbericht der Suchtberatungsstellen

    Den standardisierten Sachbericht für Sachsen-Anhalt (http://www.ls-suchtfragen-lsa.de/data/mediapool/vorlage_2014.pdf) als Auszug aus den umfangreichen Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes generiert jede Suchtberatungsstelle aus dem Datenerfassungs- und Auswertungsprogramm. Abgebildet werden die personelle Situation und wesentliche klientbezogene Daten, aber auch Aktivitäten der Suchtberatungsstelle. Dieser Datenüberblick bildet ein übersichtliches und prägnantes Instrument für die eigene fachpolitische Arbeit vor Ort. Da alle Suchtberatungsstellen mit dem standardisierten Sachbericht arbeiten, können beispielsweise Daten in Kooperation mit den anderen Suchtberatungsstellen in der Region regional zusammengeführt, aber auch in Bezug zu Landesdaten gesetzt werden.

    3. Beispiele für die Datennutzung

    Die LS-LSA verzichtet auf die Herausgabe von umfangreichen Berichten. Die Erfahrung zeigt, dass Politik und Verwaltung Informationen gern zur Kenntnis nehmen (und bestenfalls in politisches Handeln einbeziehen), wenn sie themenbezogen, belastbar und knapp aufbereitet sind. Am besten ist, wenn Politik und Verwaltung selbst Informationen nachfragen. Die themenbezogenen Arbeiten der LS-LSA werden bei Bedarf von den Suchtberatungsstellen in den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten auf die Region bezogen beschrieben. Die Daten hierfür liegen ja allen Suchtberatungsstellen vor.

    2005: SGB II – Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit

    Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen hat die LS-LSA 2005 für die neu eingeführten Fallmanager der ARGEn (heute: Jobcenter) mit der Veranstaltung „Basiswissen Suchtfragen – Versorgungsstrukturen und Behandlungskonzepte in Sachsen-Anhalt“ den Grundstein für die gute Kooperation der Suchtberatungsstellen (und auch der stationären Suchthilfe) mit den Jobcentern gelegt. Da die Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes damals noch keine genauen Auskünfte zur Dauer der Arbeitslosigkeit lieferten, konnte in Spezialerhebungen und mit Unterstützung der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung (GSDA) der Erfahrungshorizont der Suchtberatungsstellen in der Arbeit mit längerfristig arbeitslosen Menschen gezeigt werden. Dies trug zur Akzeptanz der Suchtberatungsstellen durch die ARGEn bei. In der Folge organisierten Suchtberatungsstellen Weiterbildung zu Suchtfragen für „ihre“ ARGE und verhandelten Kooperationsvereinbarungen fachlich auf Augenhöhe.

    2009: Handlungsempfehlung: Beitrag zur Kindeswohlsicherung durch Suchtberatungsstellen

    Nach Inkrafttreten des § 8a Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG) im Jahr 2005 stellte sich auch für Suchtberatungsstellen die Frage, wie die Kinder der bei ihnen Rat Suchenden systematisch in den Blick genommen werden können. Die Daten aus der DSHS LSA machten unmittelbar den Handlungsbedarf deutlich: „Im Jahr 2007 wurden durch die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt rund 6.000 Menschen mit Alkoholproblemen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 4.000 eigene Kinder. Etwa 1.700 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen. Bei Suchtproblemen mit den illegalen Drogen Opiate, Cannabis, Kokain und Stimulanzien wurden insgesamt rund 2.000 Menschen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 800 eigene Kinder. Etwa 600 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen.“ (LIGA et al. 2009)

    Die mit allen relevanten Partnern abgestimmte Handlungsempfehlung gibt den Suchtberatungsstellen eine Orientierung für stringentes klientzentriertes Handeln in diesem heiklen Themenfeld. Mit der Veröffentlichung der Handlungsempfehlung wurden die Suchtberatungsstellen in die regionalen Initiativen zur Kindeswohlsicherung verstärkt einbezogen. Unter dem Aspekt, dass die Arbeit an der eigenen Problematik der erwachsenen Ratsuchenden immer auch den Kindern zu Gute kommt, erfuhr die Nützlichkeit von Suchtberatungsstellen verstärkte Aufmerksamkeit.

    2009 bis 2011: Neustrukturierung der Beratungslandschaft in Sachsen-Anhalt

    Im Auftrag des Landtags erarbeitete eine Gruppe unter Federführung des Ministeriums für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt eine umfangreiche Bestandsaufnahme zu den landesgeförderten Beratungsstellen und den Landesstellen. Ziel war u. a. die Überprüfung des Landesinteresses. Für die Suchtberatungsstellen konnte die LS-LSA anhand der DSHS LSA und anhand eigener Erhebungen belastbare Informationen zu Personalentwicklung und Versorgungsquote, zu den Beratungsbedarfen und Betreuungen, aber auch zu „neuen“ Problemfeldern wie der problematischen Mediennutzung beisteuern. Im Resultat wurde das Landesinteresse bestätigt, sowohl an den Suchtberatungsstellen als auch an der LS-LSA.

    Seit 2010: ICD-10 F15 und Crystal

    Nach den Problemanzeigen zunächst einzelner Suchtberatungsstellen hat die LS-LSA die Crystal-Thematik landesweit im Facharbeitskreis der Suchtberatungsstellen und im Facharbeitskreis Suchtprävention mit einem Dezernenten des Landeskriminalamtes diskutiert. Der Anstieg der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 – Stimulanzien zeichnet sich in der DSHS LSA seit dem Jahr 2007 deutlich ab (Meeßen-Hühne 2014).

    Ob es sich hier tatsächlich um Betreuungen von Klienten/-innen mit der Hauptdiagnose Methamphetaminkonsum handelt, wurde mit einer Zusatzabfrage erhoben. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2011 38 Prozent, das entspricht etwa 241 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 276 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2012 bereits 54 Prozent, das entspricht etwa 549 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 734 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im ersten Trimester 2013 etwa 82 Prozent und steigerte sich im Jahresverlauf auf nahezu 100 Prozent. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 1.177 Crystal-Klienten betreut.

    Eine Zunahme der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose Stimulanzienkonsum zeigt sich in allen Altersgruppen. 2012 waren erstmals unter 14-Jährige, aber auch über 50-Jährige wegen Problemen mit Crystal in Beratung. Der Anteil weiblicher Ratsuchender mit Stimulanzienproblematik lag über die Jahre konstant bei etwa einem Drittel.

    Um sicherzugehen, dass die Betreuungsfälle nicht nur das Geschick der Suchtberatungsstellen, sondern echte Konsumtrends abbilden, wurden die Daten der Suchtberatungsstellen denen der Krankenhausberichterstattung gegenübergestellt. Darüber hinaus wurden die Betreuungsfälle landkreisbezogen dargestellt.

    Mit den Daten der DSHS lässt sich auch die Entwicklung der Betreuungszahlen in den anderen Hauptdiagnosen zeigen, auch in Bezug zur Bevölkerungsentwicklung. Damit wird zweierlei klar: 1. Trotz sinkender Einwohnerzahlen geht der Bedarf an Suchtberatung nicht zurück. 2. Bei gleichbleibender Personalausstattung kann es in den Anteilen der Betreuungen im legalen (v. a. Alkohol) und illegalen Hilfebereich nur Verschiebungen geben.

    2013 war die LS-LSA Kooperationspartner der Fachhochschule Polizei bei Organisation und Durchführung der Fachtagung „Neue Drogentrends“. Auf der Tagung wurden das Datenmaterial der LS-LSA zur Crystal-Problematik und die besonderen Herausforderungen für die Suchtprävention im Bereich der illegalen Drogen vorgestellt, und auch die FH Polizei forderte in der Presseinformation zur Veranstaltung die bedarfsentsprechende Ausstattung von Suchtberatung und -Prävention.

    Im Rahmen einer Zuarbeit zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage aus dem Landtag Sachsen-Anhalt wurden die aktualisierten Daten weiterverwendet. Auch der Psychiatrieausschuss des Landes verwertete diese Informationen in seinem 21. Bericht an den Landtag und an das Ministerium für Arbeit und Soziales und forderte eine angemessene Personalausstattung der Suchtberatungsstellen (Psychiatrieausschuss Sachsen-Anhalt 2014).

    Mit der belastbaren Aufbereitung der Daten zur Betreuungssituation und der Problemsicht in den Suchtberatungsstellen trägt die LS-LSA wesentlich zur Gesamtschau der Crystal-Problematik vor allem aus der Perspektive der ambulanten Suchthilfe bei, und diese Expertise wird durch Politik und Verwaltung angefragt.

    „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“

    Angesichts der Finanzlage des Landes insgesamt standen die landesseitig „freiwilligen Leistungen“ in jeder Haushaltsverhandlung neu zur Disposition. Mit dem „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“ vom 13.08.2014 scheint die Sicherung der Landesförderung für Suchtberatungsstellen und für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen gelungen zu sein.

    Zugleich bietet das Gesetz die Chance auf Weiterentwicklung der Hilfequalität: Mit Beantragung der einwohnerbezogenen Landesförderung müssen die Landkreise und kreisfreien Städte erstmalig zum Oktober 2015 eine „Sozial- und Jugendhilfeplanung“ vorlegen, die mit Trägern und Regionalpolitik abgestimmt sein muss. Die Versorgung von „Multi-Problem-Familien“ soll mit ressortübergreifender integrierter Beratung verbessert werden. Neben Suchtberatungsstellen und Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen sind auch die Insolvenz-, Schuldner- und die Schwangeren- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen beteiligt. An der Umsetzung dieser Idee der LIGA arbeiten die Träger der freien Wohlfahrtspflege in den Gebietskörperschaften schon seit geraumer Zeit. Die ersten Kooperationsvereinbarungen stehen vor dem Abschluss, Diagnose- und Dokumentationsinstrumente für die Abbildung von Multi-Problem-Familien und Beratungsverläufen werden entwickelt (LIGA 2012).

    4. Fazit

    Der Nutzen von Suchtberatungsstellen konnte in den letzten Jahren anhand einzelner Themen auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder verdeutlicht werden. Insgesamt hat sich dadurch die allgemeine Zustimmung zu dieser Leistungsform verbessert. In einigen Bereichen wurde die knappe Personalsituation stabilisiert, in einer Kommune wurde eine weitere Suchtberatungsstelle eingerichtet. Für die Weiterentwicklung im Rahmen der integrierten Beratung sind die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt gut gerüstet.

    Suchterkrankungen führen zu Störungen in vielen Lebensdimensionen. „40 Prozent aller Erkrankungen und vorzeitigen Todesfälle lassen sich auf nur drei vermeidbare Risikofaktoren zurückführen: Rauchen, Alkoholmissbrauch und Verkehrsunfälle, die selbst oft durch Alkohol verursacht werden.“ (WHO 2011 zit. n. DHS 2014) Nach unserer Erfahrung wird die ambulante Suchthilfe weiter Bestand haben, wenn sie weiterhin ihren Nutzen für alle Finanzierungsebenen belegen kann, wenn alle relevanten Partner sie weiter nützlich finden und ihrerseits Lobby-Funktion ausüben.

    Kontakt:

    Helga Meeßen-Hühne
    Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)
    Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e.V.
    Halberstädter Str. 98
    39112 Magdeburg
    Tel. 0391/543 38 18
    info@ls-suchtfragen-lsa.de
    www.ls-suchtfragen-lsa.de

    Angaben zur Autorin:

    Helga Meeßen-Hühne, Dipl.-Sozialpädagogin und Suchttherapeutin, ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Die LS-LSA ist ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA FW), dem Zusammenschluss der im Land tätigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Wesentliche Aufgaben der LS-LSA sind Förderung und Koordination von Suchtprävention und Suchtkrankenhilfe.

    Literatur:

     

  • Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

    Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

    Rita Hansjürgens
    Rita Hansjürgens

    Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist seit den Anfängen der Versorgung Suchtkranker ein Teil des Hilfesystems. Obwohl regional oft akzeptiert und geschätzt, scheint bis heute im Fachdiskurs unklar zu sein, was genau Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist und wie sie ihre Aufgaben insbesondere im Umgang mit Konsumenten von legalen Suchtmitteln wahrnimmt. Im Rahmen einer qualitativen Arbeitsfeldanalyse wurden diese Tätigkeiten rekonstruiert. Sichtbar wurde, dass die Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe komplexe Tätigkeiten sowohl auf der Ebene des individuellen Kontakts (Mikroebene) als auch auf der Ebene der Vernetzung von Institutionen (Mesoebene) wahrnimmt, die deutlich über einfache Suchtanamnese und formale Vermittlungstätigkeit hinausgehen. Deutlich wurde aber auch, dass der formale Rahmen diese Tätigkeiten nicht abbildet und hier nur wenig Orientierung und Sicherheit gibt. Fachkräfte der Sozialen Arbeit brauchen ein deutlicheres Bewusstsein ihrer eigenen Expertise, und Konzepte der Sozialen Arbeit müssen expliziter in Organisationsstrukturen und Qualitätshandbücher Eingang finden, um Hilfepotentiale der Sozialen Arbeit dauerhaft für KlientInnen zu sichern.

    Ausgangslage

    Die ambulante Suchthilfe im Allgemeinen hat sich hervorgehend aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit primär fürsorgerischer Intention professionalisiert. Heute umfasst sie ein weit differenziertes Angebot für Menschen mit Suchtverhalten oder seinen Vorstufen. Dies Angebot richtet sich an die Betroffenen selbst sowie an ihr soziales Umfeld, unabhängig von der Art und Weise der konsumierten Substanz oder der Verhaltensauffälligkeit, die im Zusammenhang mit Sucht steht. Das Angebot reicht von der ersten Kontaktaufnahme über Beratungsangebote, die Vermittlung in weitere suchtspezifische (Therapie-)Angebote und Nachsorge nach erfolgter Therapie bis hin zu Langzeitprozessen, die mit Unterbrechungen Jahre dauern können.

    Seit ihrem Entstehen Anfang des 20. Jahrhunderts war die ambulante Suchthilfe ein multiprofessionell geprägtes Feld, zunächst durch die Berufsgruppen von Theologen und Diakonen, aber auch zum Teil durch Ärzte geprägt. Aber „seit der Nachkriegszeit strömten immer mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in das Feld der Suchthilfe. Sie wurden zu wesentlichen Trägern der Professionalisierung.“ (Helas 1997)

    Heute hat sich die ehemals ehrenamtlich geprägte ambulante Suchthilfe zu einer professionellen Hilfeleistung entwickelt. Ambulante Suchthilfe besteht heute zu 98 Prozent aus ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen. Der multiprofessionelle Charakter dieses Arbeitsfeldes hat sich gehalten. Aktuell sind dort ÄrztInnen (zwei Prozent) genauso tätig wie PsychologInnen (elf Prozent) oder PädagogInnen, SozialwisssenschaftlerInnen und SoziologInnen (insges. acht Prozent). Aber bis heute stellen SozialarbeiterInnen mit 69 Prozent die größte akademisch ausgebildete Berufsgruppe in der ambulanten Suchthilfe dar (Pfeiffer-Gerschel et al. 2012). Dies bedeutet, dass die ambulante Suchthilfe bis heute ein klassisches Feld der Sozialen Arbeit ist und deshalb vornehmlich durch einen eher sozialarbeiterischen Habitus bzw. sozialarbeiterische Methoden geprägt sein müsste. Umso erstaunlicher ist, dass speziell für das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe eine Analyse in Bezug auf ihre Tätigkeiten und Handlungsweisen nur begrenzt vorliegt und eher einen groben Überblick liefert oder sich vornehmlich auf die Arbeit mit KonsumentInnen von illegalen Suchtmitteln bezieht (Loviscach, Lutz 1996; Preuß-Ruf 2012; Stöver 2012). Dieser Befund war der Auslöser für den Versuch, Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe näher beschreiben zu wollen mit besonderem Fokus auf die Inhalte, auf methodisches Handeln und Professionalität.

    Forschungsdesign

    Fragestellung

    Anhand von Selbstbeschreibungen der Fachkräfte sollte versucht werden zu klären, welche Aufgaben SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe wahrnehmen und wie sie diese bearbeiten. Konkret sollte versucht werden herauszufinden, ob sich Handeln und Selbstwahrnehmung in ausgewählte Theorien und Konzepte der Profession Soziale Arbeit einordnen lassen und zu einer Arbeitsfeldbeschreibung verdichtet werden können.

    Rechtliche Rahmenbedingungen und theoretische Grundlagen

    Von Fachverbänden formulierte Standards und gesetzliche Rahmenvorgaben beschreiben, welche Aufgaben Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe wahrnehmen sollen. Als entsprechende Quellen wurden herangezogen:

    • „Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe“ des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel fdr (2005)
    • „Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen“, herausgegeben von der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren DHS (1999)
    • „Suchthilfe im regionalen Behandlungsverbund“, ebenfalls von der DHS herausgegeben (1999)
    • Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW), insbesondere § 16 Abs. 2 (Hilfen der unteren Gesundheitsbehörde für Abhängigkeitskranke)
    • Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG)
    • SGB VI § 13 Anl. 9 (= Anl. 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“)
    • SGB VI § 13 Anl. 6

    In den letzten Jahren wurden weitere Standards einer professionellen Sozialen Arbeit entwickelt und festgelegt. Zu nennen sind folgende theoretische Grundlagen:

    • Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011)
    • Zuständigkeit und Ziele sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie, welche sich konkret auf die „Schaffung von sozialen Erfahrungsräumen, Erfahrung von Sinn, Schaffung von Sicherheit und Selbstwirksamkeitserfahrungen“ beziehen (Sommerfeld et al. 2011)
    • „Multiperspektivisches Fallverstehen“ als Kernkompetenz „Sozialpädagogischen Könnens“ (Müller 2012)
    • Beschreibung eines Professionsideals Sozialer Arbeit mit den Dimensionen „Spezifisches Berufsethos, Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses, Fähigkeit zum theoriegeleiteten Fallverstehen“ (Becker-Lenz, Müller 2009)

    Forschungsgegenstand und Auswahl der GesprächspartnerInnen

    Gegenstand dieser Forschungsarbeit waren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in der ambulanten Suchtkrankenhilfe arbeiten. Da sich Beschreibungen Sozialer Arbeit in der Suchthilfe vor allem auf den Bereich der Arbeit mit Abhängigen von illegalen Suchtmitteln beziehen, sollte in dieser Forschungsarbeit der Schwerpunkt auf der Sozialen Arbeit im Kontext mit Abhängigen von legalen Suchtmitteln liegen (vornehmlich Alkohol und Medikamente). Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden GesprächspartnerInnen aus dem eher ländlichen Raum mit einem Einzugsgebiet von ca. 150.000 bis 250.000 Einwohnern gesucht. Die Arbeitsstellen liegen teilweise in einem Flächenkreis und sind daher dezentral organisiert. Alle Beratungsstellen liegen in NRW, um von einer einheitlichen Rechtslage in Bezug auf die Finanzierung ausgehen zu können. Zustande kamen fünf Interviews mit drei weiblichen und zwei männlichen InterviewpartnerInnen im Alter von 36 bis 59 Jahren. Es handelt sich um festangestellte MitarbeiterInnen mit zehn bis 30 Jahren Berufserfahrung im Feld der Suchthilfe, davon vier bis 30 Jahre im untersuchten Einsatzgebiet. Die Interviewpersonen sind primär im Aufgabengebiet der allgemeinen Versorgung eingesetzt und nicht in einem Spezialfeld (z. B. Betreutes Wohnen, Prävention, ambulante Therapie), wobei berufliche Vorerfahrungen in diesen Feldern teilweise vorliegen.

    Der explorative Charakter dieser Untersuchung legt eine quantitative Überprüfung der Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt nahe, welche aktuell in Vorbereitung ist.

    Erhebung der Daten

    Es sollte ein qualitatives Design angewandt werden, das dazu geeignet ist, aus einer Beschreibung des konkreten Tuns verifizierbare Kategorien zu extrahieren. Daher wurde als Erhebungsmethode ein leitfadengestütztes Experteninterview mit festangestellten SozialarbeiterInnen der operativen Ebene in Anlehnung an Helfferich (2011) und Bogner (2009) gewählt. Als theoretischen Hintergrund für den Interviewleitfaden wurden die Theorieskizze Sozialer Arbeit mit Zuständigkeiten und Zielen Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie (Sommerfeld et al. 2011) sowie die Beschreibung eines Professionsideals von Sozialer Arbeit auf der Basis eines professionellen Habitus (Becker-Lenz, Müller 2009) herangezogen.

    Auswertung der Daten

    Die Interviews wiesen aufgrund der Unterschiede in Alter, Berufserfahrung im Feld, Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Geschlecht der Befragten maximal kontrastierende Merkmale auf. Sie wurden in Anlehnung an Bohnsack (2003) transkribiert und in Anlehnung an das sequentielle Verfahren der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1980) ausgewertet. In einer sich anschließenden vergleichenden Analyse wurden die gefundenen Fallstrukturen noch einmal verdichtet und in Bezug auf die Beantwortung der Forschungsfrage – welche Aufgaben übernehmen SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe und wie nehmen sie dies wahr? – reformuliert. Dabei dienten die oben genannten theoretischen Grundlagen als „Folie“, um zu überprüfen, ob und wenn ja welche Elemente der aus der Theorie bekannten professionellen Weiterentwicklungen der Sozialen Arbeit in der Praxis der ambulanten Suchtkrankenhilfe auftreten und möglicherweise auch benannt werden.

    Ergebnis der Untersuchung

    Die Forschungsfrage setzte sich aus zwei Teilfragen zusammen. Für jede werden die Ergebnisse im Folgenden einzeln vorgestellt.

    Welche Aufgaben übernehmen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe?

    Als wichtigste Aufgabe wird auf der Ebene der direkten Arbeit mit den KlientInnen (Mikroebene) ein multiperspektivisches Fallverstehen gesehen, welches einen großen Raum einnimmt in der konkreten Arbeit. Diese diagnostische Herangehensweise ist die Grundlage für alle weiteren Tätigkeiten der Fachkräfte sowie auch für die Gestaltung eines Arbeitsbündnisses. Über das Fallverstehen und die Konstituierung des Arbeitsbündnisses, explizit auch in und mit Zwangskontexten (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle), wird die in der Regel vorhandene Ambivalenz der KlientInnen bearbeitet (sog. Motivationsarbeit). Die Auflösung der Ambivalenz führt dann in der Interventionsphase entweder zu einer Vermittlung in weiterführende Hilfen, zu einer problemzentrierten Beratung innerhalb der Einrichtung oder zu einer (vorläufigen) Beendigung des Kontaktes.

    Im Rahmen der Vermittlung übernimmt die ambulante Suchthilfe meist Lotsenfunktion für die KlientInnen im (Sucht-)Hilfesystem und leistet individuelle Hilfe und Unterstützung bei der Antragstellung. Diese direkte Vermittlung bezieht sich auf suchtbezogene Hilfen nach den SGB V und VI (Entgiftung und Therapie) oder die Vermittlung in Selbsthilfe oder andere nicht suchtspezifische Hilfen. Die Tätigkeit der Vermittlung wird von den Fachkräften weniger als „technischer oder administrativer Akt“ verstanden, sondern zum einen als aktive Biographiearbeit und erste Erarbeitung subjektiver weitergehender Therapieziele und zum anderen als Teil der Gestaltung eines Prozessbogens, der mit dem Fallverstehen beginnt und mit der vollzogenen Vermittlung nicht zwangsläufig enden muss. Der Bogen kann sich auf der Basis des sog. Arbeitsbündnisses in Zeiten des Übergangs fortsetzen (z. B. zwischen Therapie und Nachsorge oder bei Nicht-Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen), und die Beratungsstelle kann abermals als Schnittstelle zu einer weiter versorgenden Stelle fungieren.

    Die durch die problemzentrierte Beratung und individuelle Hilfeplanung gewonnen Erkenntnisse in Bezug auf Notwendigkeiten der Hilfe für die Suchtkranken (z. B. bei neuen Trends des Substanzkonsums oder Veränderung der Lebensbedingungen der KlientInnen) führen zu einem vertieften Fallverstehen und fließen in die Vorschläge für eine Optimierung bzw. Anpassung der regionalen Versorgungssituation ein. Abbildung 1 stellt eine Visualisierung der gefunden Tätigkeiten dar.

    Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)
    Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)

    Auf der Mesoebene (Strukturebene) sind als Aufgaben in erster Linie die Kooperation und Vernetzung – teilweise auch die aktive Initiierung und Pflege eines regionalen Suchthilfenetzes – auf der professionellen Ebene zu nennen. Diese Vernetzung erfolgt in Richtung der Hilfen nach SGB V und VI, aber auch in Richtung der Selbsthilfe und der nicht primär suchtbezogenen Hilfen. Als konkrete Elemente der Netzwerkarbeit konnten zum einen die Moderation von und Mitarbeit in Arbeitskreisen gefunden werden und zum anderen Kooperation und Konfliktmanagement mit zunächst eher losen Kontakten. Aus dieser Zusammenarbeit ergibt sich dann ebenfalls (wie auf der Mikroebene) ein Arbeitsbündnis, nun aber zwischen konkreten Organisationen. Über dieses Arbeitsbündnis werden dann feste Kooperationen, teilweise mit Festschreibung in Kooperationsverträgen, und Fortbildungen, z. B. für Einrichtungen der Jugendhilfe, Betriebe oder Einrichtungen der Arbeitsvermittlung, vereinbart (s. Abb. 2).

    Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)
    Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)

    Mit Blick auf das Finanzierungssystem und die vorhandenen Standards kann festgestellt werden, dass die rechtsverbindlichen Vorgaben der gesetzlichen Grundlagen (ÖGDG und PsychKG) sich inhaltlich und fachlich vieldeutig gestalten und eine direkte Ableitung von Aufgaben nicht erlauben. Währenddessen haben die Fachstandards und Richtlinien der Leistungsträger der ambulanten Rehabilitation für diejenigen Einrichtungen, die eine solche im Haus anbieten, einen quasi Rechtsstatus, an dem sich die ganze Organisationsstruktur der Einrichtung orientiert, obwohl die Leistungen im Vorfeld einer ambulanten Therapie ausdrücklich nicht von der DRV und der GKV refinanziert werden. Die für die Umsetzung nötigen Ressourcen speisen sich aus den Leistungsverträgen, die mit den Kommunen auf der Basis des ÖGDG bzw. PsychKG ausgehandelt werden und letztlich eine freiwillige Leistung darstellen. Die eigentliche Versorgungsverpflichtung der unteren Gesundheitsbehörden bezieht sich auf die Vorhaltung eines Sozialpsychiatrischen Dienstes (§ 16, Abs. 2 ÖGDG, § 5 Abs. 1 S. 1 Psych KG).

    Wie nehmen Fachkräfte der sozialen Arbeit ihre Aufgaben wahr?

    Ein Vergleich der von den Fachkräften beschriebenen Tätigkeiten mit den oben genannten theoretischen Grundlagen professionellen sozialarbeiterischen Handelns ergab, dass die Tätigkeiten diesen im Wesentlichen entsprechen:

    • Die wahrgenommen Aufgaben mit ihrem vornehmlich beraterischen, therapienahen Schwerpunkt entsprechen einer Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011).
    • Es kann davon ausgegangen werden, dass die Klärung der Ambivalenz der KlientInnen verbunden mit einer aktiven Unterstützung (nicht Übernahme!) bei der administrativen Beantragung weiterführender Leistungen dazu beiträgt, für die KlientInnen Sicherheit zu schaffen und sie in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, wie dies als Zuständigkeit und Ziel der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie beschrieben wird (Sommerfeld et al. 2011). Um dieses zu verifizieren, müsste eine Untersuchung aus der KlientInnenperspektive erfolgen.
    • Die Art des Fallverstehens zeigt deutliche inhaltliche und methodische Nähe zum multiperspektivischen Fallverstehen (Müller 2012) mit den Dimensionen „Fall von“ (fachlich-sachliche Bestandsaufnahme), „Fall für“ (konsiliarische Beteiligung anderer professioneller Hilfesysteme, teilweise auch mit Initiierung einer Akutversorgung) und „Fall mit“ (systematische Exploration der Sichtweise des Klienten/der Klientin selbst). Die Fachkräfte brachten eine Haltung zum Ausdruck, die die Autonomie der KlientInnen und eine Orientierung an deren biopsychosozialer Integrität betont.
    • Des Weiteren wurde, wie auch schon in den Ergebnissen zu den wahrgenommen Aufgaben dargestellt, ein Arbeitsbündnis geschlossen und gestaltet. Das von den Fachkräften dargelegte Wissen zeigt ein biopsychisches Verständnis von Sucht, das auf den Einzelfall bezogen, durch „Erfahrung“ ergänzt und in das Fallverstehen integriert wird. Dies bedeutet, dass hier alle Elemente eines Professionsideals (Becker-Lenz, Müller 2009) rekonstruiert werden konnten.

    Professionstheoretisch bemerkenswert allerdings war der Befund, dass die Anwendung der beschriebenen Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit in keinem der untersuchten Fälle den Fachkräften bewusst war und als solche beschrieben werden konnte, weiter noch, dass die Fachkräfte die sozialarbeiterischen Konzepte gar nicht kannten. Die Erklärung liegt darin, dass alle Konzepte erst in jüngerer Zeit entwickelt wurden und damit noch nicht Teil der Ausbildung der Befragten waren. Dass die Fachkräfte dennoch danach handelten, ergibt sich daraus, dass sie ihr Tun in der Reflexion der Bedürfnisse und Wünsche der KlientInnen und der Möglichkeiten der organisationalen Rahmenbedingungen entwickelt haben und immer weiterentwickeln. Kristallisationspunkt des dargelegten Wissens ist ein in erster Linie biopsychisches Verständnis von Sucht. Das Wissen um die soziale Dimension wird durch die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionswissen in Fachteams und Supervision ergänzt. Dies bedeutet, sozialarbeiterisches Wissen wurde und wird in Fallbesprechungen, Intervision und Supervision entwickelt und fließt dann in Handlung und Organisationsstrukturen. Dieses speziell sozialarbeiterische Wissen ist aufgrund seiner fallbezogenen Entwicklung als so genanntes implizites Wissen zu kategorisieren. Somit entstehen die sozialarbeiterischen Interventionen und Organisationssturen auf Basis des in Beziehung Setzens von theoretischem (biopsychischem) Wissen, bereits erworbenem Professionswissen (Erfahrungswissen) und den Erfordernissen des konkreten Falls.

    Diskussion

    Im Rahmen der Untersuchung wurde deutlich, dass ambulante Suchtberatungsstellen strukturell eine vermittelnde Rolle einnehmen zwischen Maßnahmen zur Versorgung Hilfebedürftiger, welche in Leistungsverträgen zwischen den Ländern, Kommunen und einzelnen Beratungsstellen festgelegt werden, und Leistungen nach den SGB V und VI. Konkreter handelt es sich hierbei um eine exklusive Scharnierfunktion zu den Hilfen des Sozialgesetzbuches. Ziel ist die Klärung mit den KlientInnen, ob und wenn ja welche konkreten Maßnahmen in welchem Rahmen wann für den konkreten Einzelfall in Frage kommen. Die Bedeutung dieser Funktion für das Suchthilfesystem liegt darin, dass eine zeitlich und inhaltlich passgenaue Vermittlung in weiterführende Hilfen erfolgen kann. Dadurch werden diese Hilfen gewinnbringender und damit für das System ressourcenschonender von den KlientInnen genutzt, weil ihre Veränderungsmotivation ungleich höher zu sein scheint als die von KlientInnen, die diese Hilfen direkt aufsuchen oder ohne ausführliche Vorbereitung „technisch-admininstrativ“ vermittelt werden.

    Dieser Effekt kann entstehen, so die Vermutung, weil es den Fachkräften gelingt, eine funktionale Arbeitsbeziehung – teilweise unter den Bedingungen eines Zwangskontextes (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle) – zu den KlientInnen aufzubauen. Diese Arbeitsbeziehung ermöglicht die Auflösung der Ambivalenzen der KlientInnen bezüglich ihrer Veränderungsmotivation und die Gestaltung eines langfristigen Prozessbogens über den Rahmen einer aktuellen Behandlung hinaus. Dies erleichtert ein erneutes Hilfesuchverhalten bei Rückfällen. Aber auch wenn ein Hilfeprozess ohne weiterführende Maßnahmen abgebrochen wurde, besteht doch die Möglichkeit, dass die KlientInnen erneut Kontakt aufnehmen, da die Beendigung im Rahmen eines Arbeitsbündnisses und nicht im Rahmen eines Konfliktes erfolgte.

    Diese Funktion der ambulanten Suchthilfe im Gesamtsystem der Suchthilfe hat sich historisch entwickelt, ist aber bis heute gesetzlich nicht normiert. Zwar ist die ambulante Suchthilfe aktuell noch mit Ressourcen ausgestattet, aber diese werden auf freiwilliger Basis von Kommunen und teilweise durch Länder, Projekte und Träger gegenfinanziert. Abgesehen von der Unsicherheit, die diese Situation für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit und die Träger ihrer Organisation bedeutet, könnte diese Situation auch ein Risiko für die Versorgung Suchtkranker bzw. für die Effektivität von weiterführenden Maßnahmen insbesondere des SGB V und VI bedeuten, z. B. von Rehabilitationen oder Akutmaßnahmen wie Entgiftungen. Um möglichen Entwicklung in dieser Richtung vorzubeugen, ist es wichtig, dass die Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich ihrer Bedeutung im Gesamtsystem der Suchthilfe bewusst werden und die von ihnen wahrgenommen Aufgaben formulieren und nach außen vertreten. Nur so können notwendige Ressourcen für diese Arbeit, die das Scharnier zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung bildet, dauerhaft legitimiert und damit gesichert werden. Insbesondere die gesetzliche Legitimierung unter expliziter Einbeziehung sozialarbeiterischer Expertise über eine kommunale Kann-Leistung hinaus ist entscheidend, um einheitliche Standards, Ausstattungen und Aufträge für Suchtberatungsstellen formulieren und mit Blick auf integrierte Versorgung weiterentwickeln zu können.

    Implikationen für die Praxis

    Soziale Arbeit liefert einen komplexen Beitrag zur Versorgung Suchtkranker und ihrer Angehörigen im ambulanten Kontext. Schwerpunkt dieser Arbeit ist, eine bezogen auf den jeweiligen Einzelfall und auf regionale Versorgungsstrukturen optimale Verbindung zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung und anderen Hilfsangeboten herzustellen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sollten sich ihrer speziellen Expertise insbesondere in Bezug auf das multiperspektivische Fallverstehen, den Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses und die Gestaltung eines regionalen Hilfenetzes zur Optimierung der Versorgungsstrukturen bewusst werden. Konzepte der Sozialen Arbeit sollten explizit in Organisationskonzepte und Qualitätshandbücher als Standards mit aufgenommen werden, um die Ressourcen, die zu ihrer Umsetzung notwendig sind, dauerhaft zu sichern bzw. deren Evaluation und Weiterentwicklungen zu ermöglichen.

    Interessenkonflikte: Die Autorin gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

    Kontakt:

    Rita Hansjürgens
    Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Leostraße 19
    33098 Paderborn
    r.hansjuergens@katho-nrw.de
    www.katho-nrw.de/paderborn

    Angaben zur Autorin:

    Rita Hansjürgens, M.A., Dipl- Sozialarbeiterin, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn.

    Literatur:
    • Becker-Lenz, Roland; Müller, Silke (2009): Der professionelle Habitus in der sozialen Arbeit. Grundlagen eines Professionsideals. Bern: P. Lang.
    • Bogner, Alexander (2009): Experteninterviews. Theorien, Methoden, Anwendungsfelder. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
    • Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Aufl. Opladen: Leske + Budrich (UTB, 8242).
    • Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) (1999): Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe. Institut für Therapieforschung (IFT). Online verfügbar unter http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Beratungsstellen/leistungsbeschreibung_1999.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2013.
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