Schlagwort: Krankenversicherung

  • Krankenkassen trocknen medizinische Reha aus

    Die Arbeitsgemeinschaft Medizinische Rehabilitation SGB IX (AG MedReha) hat ein Gutachten über den Vergütungsbedarf von Rehabilitationsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegt. Das Ergebnis: Das aktuelle Vergütungsniveau liegt deutlich unter dem, was zur Erfüllung der Strukturanforderungen der Krankenkassen notwendig ist. Die in der AG MedReha vertretenen Leistungserbringerverbände beklagen deshalb ein Austrocknen der medizinischen Reha und fordern die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zur Änderung ihrer Vergütungspraxis auf.

    Das aktuelle Gutachten „Was kostet die Rehabilitationsleistung? Kostenberechnung auf Basis struktureller Anforderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung“ der aktiva Beratung im Gesundheitswesen GmbH im Auftrag der AG MedReha geht von den Strukturanforderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) aus, die die Verbände der Krankenkassen mit anderen Rehabilitationsträgern gemeinsam beschlossen haben und die etwa für die Personalausstattung in den Reha-Einrichtungen maßgeblich sind. Auf dieser Basis berechnen die Gutachter die notwendigen Tagessätze exemplarisch für die medizinische Rehabilitation orthopädischer, kardiologischer und geriatrischer Patienten. Für die stationäre orthopädische Rehabilitation kalkulieren die Gutachter einen Vergütungssatz von 164 Euro pro Belegungstag. Der kalkulierte Vergütungssatz für die kardiologische Rehabilitation beträgt 157 Euro und für die stationäre geriatrische Rehabilitation 265 Euro pro Belegungstag. Die Gutachter bewerten die Ergebnisse auch für andere, im Rahmen der Studie nicht untersuchte Indikationen, als richtungsweisend.

    Die heute im Markt realisierbaren Vergütungssätze im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung liegen aber bis zu 30 Prozent unter den im Gutachten ermittelten Werten. Damit wird deutlich, dass sich die Rehabilitationseinrichtungen in einer chronischen Unterfinanzierung befinden. Rehabilitationseinrichtungen müssen im Gegensatz zu Krankenhäusern sämtliche Kosten aus dem Vergütungssatz refinanzieren. Nur wenn die Leistungserlöse die tatsächlichen Personal-, Sach- und Investitionskosten abdecken, können die Rehabilitationskliniken langfristig ihre Aufgaben erfüllen und so den Rechtsanspruch der Versicherten auf medizinische Rehabilitation flächendeckend sichern.

    Die AG MedReha fordert daher zum Erhalt der notwendigen Reha-Struktur eine zügige Anpassung der Vergütungssätze in der Rehabilitation, um die notwendige Versorgungsstruktur langfristig und in der geforderten Qualität zu sichern. Durch ihre bisherige Vergütungspolitik trocknen die Krankenkassen die Reha stattdessen aus und riskieren den Abbau notwendiger Angebotsstrukturen. Aktuell zehren die Kliniken ihre Substanz immer weiter auf oder sind gezwungen, die Leistungen zu subventionieren. Erste Klinikschließungen sind bereits erfolgt bzw. Anbieter reduzieren ihre Anzahl an Rehabilitationsplätzen. Die medizinische Rehabilitation wird im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zukünftig deutlich an Bedeutung gewinnen. Hier spielt vor allem die demografische Entwicklung und die wachsende Anzahl älterer Menschen eine entscheidende Rolle, beispielsweise im Bereich „Reha vor Pflege“ bzw. bei der sachgerechten Anschlussversorgung bei immer kürzeren Krankenhausverweildauern.

    Das Gutachten steht auf der Homepage der AG MedReha zum Download bereit:
    www.agmedreha.de > Themen > Gutachten zur Kostenstruktur

    Pressestelle der AG MEdReha, 23.05.2018

  • Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit

    Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit

    Unter den Flüchtlingen, die in den zurückliegenden Jahren Deutschland erreicht haben, findet sich eine nennenswerte Gruppe von Menschen mit riskantem, schädlichem oder abhängigem Konsummuster von psychoaktiven Substanzen. Dies betrifft nach unserer Beobachtung sämtliche gebräuchliche legale wie illegale Substanzen. Für die Suchthilfe ergeben sich hierdurch neue Herausforderungen. Zusätzlich bestehen etliche Hürden, die eine angemessene Behandlung dieser Patienten erschweren. In besonderem Maße gilt dies für Flüchtlinge mit einer Opioidabhängigkeit.

    Hintergrund

    Flüchtlinge aus Vorder- und Mittelasien, die seit 2014 nach Deutschland kommen, stammen vielfach aus Herkunftsländern, in denen der Opioidgebrauch endemisch (= örtlich begrenzt gehäuft auftretend, Anm. d. Red.), kulturell akzeptiert oder toleriert ist. Wir sehen Flüchtlinge aus Afghanistan, die bereits im Säuglings- oder Kleinkindalter mit Opium in Berührung kamen, da es gegen Durchfall und Husten in weiten Teilen des Landes sonst keine wirksamen Medikamente gibt. In Iran wird traditionell bei Schmerzen oder als Einschlafhilfe Opium konsumiert oder aus hedonistischen Gründen. Afghanistan und Iran zählen weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Konsum von Opium und Heroin. Die spärlichen Quellen aus Irak und Berichte irakischer Patienten hierzulande weisen auf eine steigende Anzahl von Opioidkonsumenten (Opium/Theriak) hin. Syrien weist wie andere arabische und nordafrikanische Länder eine zunehmende Prävalenz für das synthetische Opioid und Schmerzmittel Tramadol auf. Auch Stimulanziengebrauch wird in diesen Regionen beobachtet.

    (Bürger-)Krieg, Vertreibung, Flucht und (Opioid-)Abhängigkeit

    Seit 1979 herrschen in Afghanistan Krieg, Vertreibung und Flucht, Iraner fliehen seit den 1960er Jahren nach Europa, und auch Flüchtlinge aus Irak und Syrien bringen seit einigen Jahren nicht selten eine manifeste Opioidabhängigkeit mit. Hintergrund sind häufig Traumata infolge der kriegerischen und/oder tyrannischen Verhältnisse in ihren Heimatländern, unzureichend behandelte Schmerzen nach (Kriegs- )Verletzungen und/oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Gewalterlebnisse, Entwurzelung und Migration sind generell Risikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung, so dass wir auch Patienten aus den aktuellen und anderen Herkunftsländern kennen, die erst hierzulande eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt haben.

    Behandlungsmöglichkeiten in den Herkunftsländern und auf der Flucht

    Afghanistan bietet lediglich in der Hauptstadt Kabul eine substitutionsgestützte Behandlung an. In Iran existiert ein entwickeltes Drogenhilfesystem mit Prävention, Entzugs- und Behandlungsmöglichkeiten, es werden mehr als 100.000 Patienten substituiert, u. a. in Gefängnissen. In Irak (mit irakisch Kurdistan) gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten außer ‚kalten‘ Entzügen. Das syrische Gesundheitswesen ist nahezu völlig zerstört. Auf den Fluchtrouten nach Europa ist in Iran die Behandlung mit Methadon und Buprenorphin erlaubt, in Libanon und in der Türkei lediglich die Substitution mit Buprenorphin (für Flüchtlinge nicht zugänglich); in Griechenland ist die Zahl der Substitutionsplätze schon für einheimische Abhängige sehr begrenzt, das gilt auch für die nach Norden liegenden Balkanländer. Erst in Wien gibt es niedrigschwellige Zugänge zur Substitutionsbehandlung. Andere Hilfen wie niedrigschwellige Kontakt- und Informationsangebote, frühintervenierende und schadensmindernde Maßnahmen u. a. fehlen auf den Fluchtrouten fast vollständig.

    Die aktuelle Lage

    Aus den metropolitanen Regionen München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin melden niedrigschwellige Kontaktstellen, Drogenberatungsstellen, klinische Entzugsabteilungen und Substitutionspraxen/-ambulanzen spätestens seit der Jahreswende 2015/16 und deutlich früher als erwartet eine merkliche Zunahme von Anfragen zur Beratung und Behandlung von Flüchtlingen mit Substanzstörungen unterschiedlicher Art und Ausprägung:

    • Heroinabhängigkeit von Menschen aus Afghanistan, Iran und Irak
    • Problematischer Gebrauch von Alkohol unter Flüchtlingen, die aus kulturellen und/oder religiösen Gründen den Umgang mit dieser Substanz nicht gelernt haben und mit dem leichten Zugang zum Alkohol nicht umgehen können
    • Problematischer Gebrauch von Schmerzmitteln und Stimulanzien bei Flüchtlingen aus arabischen Ländern
    • Überwiegend inhalativer Konsum von Opioiden und (Meth-)Amphetamin von jungen Geflüchteten aus Syrien, die teilweise erst in Europa mit dem Konsum begonnen haben
    • Konsum von Amphetaminen und anderen Stimulanzien unter Flüchtlingen, die diese Substanzen als aufputschende Kriegsdrogen in regulären oder irregulären militärischen Verbänden kennengelernt haben
    • Problematischer Gebrauch von Cannabis unter jugendlichen Einwanderern aus dem Maghreb
    • Spielsucht bei Einwanderern der ersten und zweiten Generation mit islamischem Hintergrund

    Exakte Zahlen liegen nicht vor. Aus Flüchtlingscamps entlang der Fluchtrouten sind Vorfälle bekannt, bei denen es unter dem Einfluss von Alkohol zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen ethnischen Gruppen kommt. Die eingangs geschilderte Prävalenz der Opioidabhängigkeit in den Herkunftsländern lässt erwarten, dass diese Entwicklung in den kommenden Monaten und Jahren zunehmen wird. Entwurzelung und erschwerte Integration von jungen männlichen Einwanderern bzw. Flüchtlingen sind erfahrungsgemäß der Nährboden für die Entwicklung von kriminellen Strukturen. Aus Flüchtlingslagern und Konsumräumen wurden erste Anhaltspunkte für ethnisch geprägte Konsumentengruppen und Händlerstrukturen berichtet.

    Hürden zur Behandlung

    • Bei Geflüchteten, insbesondere denjenigen, die erst während oder nach der Flucht eine Substanzstörung bzw. eine Sucht entwickelt haben, ist zu berücksichtigen, dass viele kein Verständnis von ihrer Erkrankung haben und eine Entzugssymptomatik nicht kennen oder nicht als solche deuten. Die meisten geflüchteten Süchtigen haben keine Vorstellung von den sozialen und medizinischen Hilfemöglichkeiten jenseits von staatlicher Repression. Generell wird Sucht eher nicht als Krankheit, sondern als moralische Verfehlung oder als unglücklicher Schicksalsschlag angesehen.
    • Für viele Flüchtlinge (und Migranten der vorherigen Jahre) stehen die hierzulande etablierten Behandlungsmöglichkeiten bestenfalls eingeschränkt zur Verfügung:
    • Der „Notfallschein“ (24-Stunden-Kostenübernahmeschein) berechtigt allenfalls zur Entzugsbehandlung bei Abhängigkeit von Opioiden, Alkohol, Benzodiazepinen und anderen Substanzen. Dies führt überdies zu der paradoxen Situation, dass Patienten nach der Entlassung nicht ambulant abstinenzorientiert weiterbehandelt werden können.
    • Erst mit der Ausstellung einer Gesundheitskarte für Asylbewerber (in NRW, Bremen, Hamburg und seit kurzem auch in Berlin) ist eine ambulante abstinenzorientierte Therapie bzw. bei Opioidabhängigkeit eine Substitution möglich.
    • Abstinenzorientierte stationäre Langzeitbehandlungen stehen generell nicht zur Verfügung, tagesstrukturierende, alltagsorientierte und stabilisierende abstinenzbasierte Hilfen ebenfalls nicht.
    • Eine weitere Hürde besteht darin, dass für Anamnese, Untersuchungen und Folgegespräche keine Sprachmittler/Dolmetscher zur Verfügung stehen oder diese nicht von den Kostenträgern bezahlt werden. Benötigt werden nicht nur Sprachmittler mit notwendigen (sub)kultur- und fluchtsensiblen Kenntnissen für den Arztkontakt, sondern auch zur vorbereitenden und begleitenden Motivationsarbeit, damit eine Intervention nicht schon vor oder mit dem Beginn scheitert.
    • Es fehlt eine Plattform, auf der bisherige Veröffentlichungen zum Thema, Seminarberichte, Ankündigungen von Veranstaltungen und Fortbildungen, muttersprachliche Materialien u. ä. zur Verfügung stehen.
    • Ebenfalls ungeklärt und unvorbereitet ist die psycho-soziale Begleitung hinsichtlich Finanzierung, Kulturkompetenz und sprachlicher Verständigung. Zu klären ist, wie „erforderliche psychiatrische, psychotherapeutische oder psycho-soziale Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen“ erbracht werden können, wie die BtMVV (= Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, Anm. d. Red.) formuliert. Die KVen (= Krankenversicherungen, Anm. d. Red.) sehen das regional durchaus unterschiedlich.
    • Es stehen keine Informationsmaterialien in den Sprachen der hauptsächlich betroffenen Konsumentengruppen zur Erkrankung selbst, zu den unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten, zur Schadensminderung/safer use, zu Begleiterkrankungen u. a. zur Verfügung. Bei einem nennenswerten Anteil der Geflüchteten handelt es sich um Analphabeten, so dass auch Bilder und gesprochene Informationen (Audiodateien) zur Verfügung gestellt werden müssen.
    • Beschaffungskriminalität im Zusammenhang mit der Opioidabhängigkeit und praktisch der Konsum selbst können ein Abschiebegrund sein. Dies hindert Konsumenten am Zugang zur Beratung und Therapie.
    • Viele Flüchtlinge sind in ländlichen Regionen untergebracht. Es ist damit zu rechnen, dass substanzabhängige Flüchtlinge auf der Suche nach suchtmedizinischer Hilfe vom Land in die Städte kommen werden und sich dabei ihre rechtliche, soziale und gesundheitliche Lage zusätzlich destabilisiert.
    • Es steht zu befürchten, dass Opioidkonsumenten von Tabletten oder inhalativem Heroinkonsum auf das Spritzen von Heroin umsteigen mit den bekannten Risiken für Infektionskrankheiten.
    • Wir beobachten, dass nicht nur einzelne Geflüchtete in die Beratung und Behandlung kommen, sondern diese zu mehreren erscheinen. Teilweise leben sie in einem Zimmer in der Unterkunft zusammen, hausen in einer Notunterkunft oder haben sich zu sozialen Zweckbündnissen zusammengeschlossen. Hier ist zu überlegen, wie mit solchen sozialen Netzwerken und deren hoher Bindungskraft (im Guten wie im Schlechten) umzugehen ist.
    • Den sozialarbeiterischen und medizinischen Teams in den Aufnahmestellen ist die Symptomatik einer Opioidabhängigkeit und anderer Abhängigkeitserkrankungen in der Regel nicht bekannt. Deshalb kann dort auch keine gezielte Beratung und Vermittlung stattfinden.

    Schlussfolgerungen

    Abhängigkeitserkrankungen sind unter Flüchtlingen und Einwanderern kein seltenes, vor allem aber ein jeweils komplexes Phänomen. Drogenpolitik und Suchthilfe haben darauf bisher unzureichend reagiert. Zu entwickeln ist ein Konzept, das alle Formen der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen einschließt. Die Entwicklung der Opioidabhängigkeit in der Gruppe der jüngst nach Deutschland geflüchteten Menschen kann sich zu einem besonderen Problem ausweiten – aus dem Blickwinkel von Public Health wie aus Sicht der Inneren Sicherheit. Die Drogenpolitik in Bund und Ländern, Polizeibehörden, Fachverbände, Drogenhilfeträger sowie die Kostenträger sollten sich deshalb gemeinsam mit diesem Thema beschäftigen und ein aktuelles Lagebild erstellen. Die Hürden zur Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen, vordringlich bei Opioidabhängigkeit, müssen aus den vorgenannten Gründen beseitigt werden. Schnelles, abgestimmtes und kompetentes Handeln kann viel Leid für die Betroffenen und ihre Familien abwenden und Schaden für die Gesellschaft verhindern.

    Dieser Text entstand nach dem Fachaustausch zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – eine Herausforderung auch für die Sucht- und Drogenpolitik?“ am 25. Mai 2016, zu dem die Drogenbeauftragte der Bundesregierung eingeladen hatte.

    Kontakt:

    Hans-Günter Meyer-Thompson
    meyerthompson@gmail.com

    Angaben zu den Autoren:

    Dieter Ameskamp: Sozialpädagoge bei Asklepios Hamburg Nord Ochsenzoll, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Ambulanz Altona
    Dr. med. Thomas Kuhlmann: Chefarzt und Ärztlicher Leiter, Psychosomatische Klinik Bergisch Gladbach
    Astrid Leicht: Diplom-Pädagogin, Geschäftsführung Fixpunkt Berlin
    Hans-Günter Meyer-Thompson: Arzt bei Asklepios Hamburg Nord Ochsenzoll, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Ambulanz Altona
    Dr. med. Sibylle Quellhorst: FÄ für Allgemeinmedizin, Koordination der medizinischen Versorgung Flüchtlinge, Gesundheitsamt Hamburg-Altona
    Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter: Bayerische Akademie für Suchtfragen in Forschung und Praxis BAS e. V., 2. Vorsitzender
    Dr. Theo Wessel: Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) Fachverband der Diakonie Deutschland, Geschäftsführer