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  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.