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  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Im dritten Teil des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ stehen die Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sowie Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt. In Teil I und Teil II (erschienen am 26.08. und 09.09.2020) wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang, Fachkräftemangel, Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte behandelt.

    e) Modularisierung

    In den Jahren 2011 bis 2015 erfolgte eine zunehmende Modularisierung des Leistungsangebotes in der Suchtrehabilitation. Es wurden verschiedene neue bzw. ergänzende Behandlungsformen entwickelt und durch entsprechende Rahmenkonzepte der Leistungsträger definiert.

    Mit dem Rahmenkonzept zur ganztägig ambulanten Suchtreha wurden 2011 die Anforderungen für eine noch relativ neue Behandlungsform festgelegt, für die auch die Bezeichnungen Tagesreha oder teilstationäre Reha verwendet werden. Zahlreiche Einrichtungen wurden seither neu eröffnet, viele davon sind aber nicht ausgelastet, und einige wurden auch schon wieder geschlossen, weil diese sehr kleinen Einrichtungen (häufig nur zwölf Plätze) kaum wirtschaftlich zu führen sind. Besonders nachgefragt wird die sog. ganztägig ambulante Entlassungsform. Das bedeutet, dass sich an eine (häufig verkürzte) stationäre Phase eine in der Regel vierwöchige Phase im ganztägig ambulanten Behandlungssetting anschließt. Seit 2007 haben sich Einrichtungen der ganztägig ambulanten Suchtreha über ein jährliches Bundestreffen vernetzt und arbeiten gemeinsam an der Lösung spezifischer Probleme wie bspw. der passenden Indikationsstellung in Abgrenzung zur ambulanten und stationären Reha, der Etablierung von 6-Tages-Konzepten mit Angeboten am Wochenende, dem Vergütungsausfall durch Krankheitstage der Rehabilitanden, den notwendigen Suchtmittelkontrollen beim täglichen Übergang zum Alltag und der Eignung dieser Behandlungsform für Drogenabhängige.

    Das Rahmenkonzept zur Nachsorge im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trat 2012 in Kraft. Damit wird eine deutliche Trennung der (sozialtherapeutischen) Reha-Nachsorge von der (suchttherapeutischen) ambulanten poststationären Reha-Behandlung definiert, mit erheblichen Folgen für die Angebotsstruktur in diesem Bereich. Therapiegruppen in der ambulanten Nachsorge und in der ambulanten Reha müssen nun getrennt durchgeführt werden, was zu immer kleineren Gruppen und einer abnehmenden Wirtschaftlichkeit für die Anbieter führt. Insbesondere im ländlichen Raum droht eine deutliche Reduzierung dieses Leistungsangebotes. Es folgten im Jahr 2015 weitere Rahmenkonzepte zur ambulanten bzw. ganztägig ambulanten Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen (stationären) Phase. Damit wurden wieder mehr Optionen für eine suchttherapeutische ambulante poststationäre Behandlung geschaffen.

    Mit dem Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung wurde im Jahr 2014 eine sehr weitgehende Möglichkeit für die kombinierte Durchführung verschiedener Behandlungsmodule bzw. Behandlungsphasen im Rahmen einer Kostenzusage geschaffen. Die einzelnen Phasen können in stationärer, ganztägig ambulanter oder ambulanter Form durchgeführt werden. In der Regel erfolgt im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation eine Fortführung im ambulanten Setting. Für die Durchführung ist ein gemeinsames Konzept der beteiligten Leistungsanbieter erforderlich. Die Fallzahlen für diese Behandlungsform sind bundesweit eher gering. Allerdings konnte mit dem Konzept „Kombi-Nord“ der drei norddeutschen Regionalträger der DRV eine noch flexiblere Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher Module geschaffen werden, bei der ein zeitlicher Rahmen für die Gesamtbehandlung definiert, Übergabegespräche beim Phasenwechsel festgelegt und eine Fallsteuerung ergänzt werden.

    Besonders im Fokus steht derzeit die Ambulante Reha Sucht (ARS), für die seit 2008 ein Rahmenkonzept der Leistungsträger existiert. Diese Leistungsform wurde vor rund 25 Jahren als ergänzendes Angebot in Fach- und Beratungsstellen entwickelt. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass dieses Angebot bei einem bundesweit einheitlich vorgegebenen Kostensatz und definierten Personal- und Strukturanforderungen der Leistungsträger kaum noch kostendeckend realisiert werden kann. Seit 2017 finden intensive Verhandlungen zwischen den Suchtverbänden und den Leistungsträgern statt, und es konnten einige organisatorische und finanzielle Verbesserungen vereinbart werden, bspw. wurde die Federführung für die Leistungsanbieter dem jeweiligen Regionalträger der DRV zugeordnet, und der Kostensatz wurde deutlich angehoben. Ob damit die langfristige Überlebensfähigkeit dieses wichtigen Leistungsangebotes sichergestellt werden kann, bleibt abzuwarten.

    Eine weitere besondere Leistungsform in der Suchtreha ist die Adaptionsbehandlung als zweite bzw. letzte Phase der stationären medizinischen Rehabilitation. Sie ist stärker als die vorangehende Entwöhnungsbehandlung auf die Aspekte Wohnung und Arbeit fokussiert. Mit der Verfahrensabsprache zur Adaptionsbehandlung haben sich die Leistungsträger 1994 erstmalig auf gemeinsame Rahmenbedingungen für die Behandlungsform verständigt. Seit 2007 gab es sozialrechtliche Auseinandersetzungen mit Teilen der Gesetzlichen Krankenversicherung, die den medizinischen Charakter und die Zuständigkeit für die Kostenübernahme betrafen. Mit einem Urteil des LSG Baden-Württemberg von 2017 wurde diese Frage aber letztlich so entschieden, dass die Adaption eindeutig der medizinischen (und nicht der sozialen) Reha zuzuordnen ist. Zu dem Ergebnis, dass die GKV die Kosten für die Adaptionsbehandlung übernehmen muss, kommt auch ein ganz aktueller Beschluss des Sozialgerichtes Oldenburg (17.07.2020). Die Deutsche Rentenversicherung hat 2017 eine Erhebung unter den Einrichtungen zur Bestandsaufnahme durchgeführt, da die konzeptionelle Entwicklung in den letzten 20 Jahren zu regionalen Unterschieden geführt hat. 2019 wurde ein Rahmenkonzept veröffentlicht, das eine inhaltliche Einordnung der Adaption in das Leistungsspektrum der Suchtrehabilitation bieten sowie einheitliche strukturelle und personelle Anforderungen beschreiben soll.

    Die folgende Übersicht (Tabelle 1), die 2016 von den Suchtverbänden als Hilfestellung für Träger und Einrichtungen erstellt wurde, zeigt die unterschiedlichen Leistungsformen im Gesamtzusammenhang:

    Tab. 1: Kombinationsmöglichkeiten von Behandlungsformen in der Suchtrehabilitation

    Vor dem Hintergrund dieser Modularisierung der Leistungsangebote können in der Suchtrehabilitation inzwischen sehr individuelle Behandlungsverläufe gestaltet werden, die allerdings erhebliche Anforderungen an das modul- bzw. phasenübergreifende Fallmanagement stellen. Das wirft für die Zukunft verstärkt die Fragen auf, wer dieses Fallmanagement leistet und wie diese zusätzliche Leistung vergütet werden soll. Eine mögliche weiterführende Perspektive könnte auch die Kombination mit Angeboten außerhalb der medizinischen Rehabilitation im Rahmen einer integrierten Versorgung sein. Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass eine solche Vernetzung möglich ist und erhebliche Vorteile für die Leistungsberechtigten, die Leistungserbringer und die Leistungsträger bringt, ist das Modell „Alkohol 2020“, das in Wien erprobt wurde und mittlerweile in der Regelversorgung umgesetzt wird (vgl. Reuvers 2017: „Alkohol 2020“. Eine integrierte Versorgung von alkoholkranken Menschen in Wien).

    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung

    Seit 2009 existiert in der medizinischen Reha eine gesetzliche Verpflichtung zur Zertifizierung der Systeme für das interne Qualitätsmanagement. Es gab es schon um das Jahr 2000 herum erste Überlegungen, wie die eher industriell geprägten Ansätze zur Umsetzung von Qualitätsmanagement für das Gesundheitswesen und die Sozialwirtschaft angepasst und praxisgerecht umgesetzt werden können. Ein Beispiel dafür ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQus), die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert (www.dequs.de). Mittlerweile ist Qualitätsmanagement aus der Suchtrehabilitation nicht mehr wegzudenken und ein selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltages geworden: Prozess- und Dokumentenmanagement helfen bei der Strukturierung der Arbeit, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen werden als wichtige Rückmeldungen und Impulse für die Weiterentwicklung der Einrichtung gesehen, und in der Management-Bewertung werden jährlich Kennzahlen und andere wichtige Informationen zur Lage der Einrichtung bewertet. In den letzten Jahren haben der Umfang und die Komplexität der normativen Anforderungen, die nachweisbar zu erfüllten sind (Arbeitssicherheit, Brandschutz, Hygiene, Datenschutz, Risikomanagement etc.), deutlich zugenommen. Die Umsetzung wird in der Regel in das vorhandene QM-System integriert. Diese Anforderungen belasten die kleinen und mittelgroßen Einrichtungen in der Suchtrehabilitation deutlich mehr als größere Krankenhäuser, weil der Umsetzungsaufwand unabhängig von der Einrichtungsgröße ähnlich hoch ist: Die Personalausstattung ist jedoch sehr begrenzt, und für diese Sonderaufgaben sind in der Regel keine zusätzlichen Ressourcen im refinanzierten Stellenplan vorgesehen.

    In den Jahren 2014 bis 2016 erfolge eine umfassende Weiterentwicklung im Bereich der Verfahren für die externe Qualitätssicherung, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Suchtrehabilitation haben. Die unterschiedlichen Instrumente im Reha-QS-Programm der Deutschen Rentenversicherung wurden an aktuelle fachliche und organisatorische Anforderungen angepasst: Anforderungen zur Strukturqualität (2014), einheitliches Visitationskonzept (2014), grundlegende Überarbeitung der Klassifikation Therapeutischer Leistungen (2015), Auswertungen zur KTL-Statistik (2015), neue Checkliste für die Bewertung im Peer-Review-Verfahren (2016) und Aktualisierung der Reha-Therapiestandards (2016). Darüber hinaus werden mit der Rehabilitanden-Befragung Daten zur Rehabilitanden-Zufriedenheit und zum subjektiven Behandlungserfolg erhoben. Zusammen mit der Laufzeit der Entlassungsberichte und der Beschwerdequote steht somit ein sehr umfangreiches Bewertungssystem für die Qualität von Reha-Einrichtungen zur Verfügung. Die meisten Kennzahlen werden in ein 100-Punkte-System umgerechnet, so dass die Kennzahlen verschiedener Einrichtungen unmittelbar verglichen werden können. Zusätzlich wurde 2017 das Verfahren des „Strukturierten Qualitätsdialoges“ eingeführt, bei dem Einrichtungen zu Stellungnahmen aufgefordert werden, falls absolute oder relative Schwellenwerte unterschritten werden.

    Die Ergebnisse der externen Qualitätssicherung sollen zukünftig immer stärker in die Belegungssteuerung und die Vergütungsverhandlungen einbezogen werden. Dabei sind allerdings einige Probleme zu bedenken:

    • Die QS-Daten bilden nur einen Teil der tatsächlichen Qualität der Einrichtungen ab, bspw. werden Behandlungsergebnisse kaum berücksichtigt.
    • Für kleine Einrichtungen liegen wegen der geringen Fallzahlen tw. nur unvollständige QS-Daten vor.
    • Die Auswertungen zu den QS-Daten enthalten immer wieder Fehler, die bei der Übertragung oder Aggregation der Daten entstehen und nur mit großen Aufwand zu identifizieren sind.
    • Die QS-Daten sind nicht immer aktuell, weil bspw. nach einer Visitation Mängel, die zu einer geringen Punktzahl geführt haben, unmittelbar abgestellt werden, aber keine Neubewertung erfolgt.

    Die Suchtrehabilitation hat außerdem eine lange Tradition im Bereich Dokumentation und Statistik, weil der Nutzen der Auswertung von Behandlungsdaten früh erkannt wurde. 1974 erfolgte die erste gemeinsame, einrichtungsübergreifende Dokumentation in der ambulanten Suchthilfe mit dem System EBIS. Der Deutsche Kerndatensatz (KDS) für eine einheitliche Dokumentation in psychosozialen Beratungsstellen und stationären Einrichtungen der Suchthilfe wurde 1998 eingeführt. Damit wurde die Grundlage für eine bundesweit einheitliche Datenerfassung und statistische Analyse geschaffen (Deutsche Suchthilfestatistik www.suchthilfestatistik.de). Für den ab 2017 gültigen KDS 3.0 wurden vom Fachausschuss Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) umfangreiche Überarbeitungen des KDS vorgenommen. Der neue KDS berücksichtigt nun die nationalen, kommunalen, regionalen und einrichtungsseitigen Anforderungen umfassender und integriert auch die Spezifikationen, die sich aus den europäischen Vorgaben ergeben. Die Dokumentation ist insgesamt aufwändiger geworden, weil versucht wurde, die zunehmende Komplexität der Hilfen und Angebote in der Suchthilfe besser abzubilden. Das hat zunächst dazu geführt, dass die Vollständigkeit und Qualität der in den Einrichtungen erhobenen und in der Suchthilfestatistik zusammengeführten Daten leider nicht besser geworden ist.

    Während die Suchthilfestatistik vor allem die Basisdaten abbildet, d. h. es werden Informationen zu Beginn und am Ende der Behandlung abgefragt, führen viele Einrichtungen zusätzlich katamnestische Befragungen ein Jahr nach Behandlungsende durch. Damit liegen wichtige und umfangreiche Daten zur Ergebnisqualität und zur Wirksamkeit der Suchtbehandlung vor. Die ergänzenden Analysen und Statistiken zu diesen Katamnesedaten sind auf den Internetseiten der Suchtverbände (buss/Basis- und Katamnesedaten, FVS/Wirksamkeitsstudien, FVS/Basisdokumentation) zu finden. Ein zentrales Problem bei katamnestischen Befragungen ist der häufig geringe Rücklauf und die Einschätzung der Situation (bspw. Abstinenz, soziale und berufliche Integration) bei den sog. Non-Respondern. Dazu wurde in den vergangenen Jahren ein aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördertes Forschungsprojekt am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité durchgeführt, das wichtige Erkenntnisse und wertvolle Hinweise für die zukünftige Durchführung der Katamnese-Befragungen gebracht hat.

    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    In den letzten Jahren wurde u. a. vom Bundesrechnungshof und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Leistungsgeschehen im Bereich der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung analysiert und in diesem Zusammenhang eine fehlende Transparenz im „Reha-Markt“ kritisiert. Dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob die Beschaffung von Rehabilitationsleistungen durch die Deutsche Rentenversicherung nicht dem öffentlichen Vergaberecht unterliegt und möglicherweise im Rahmen von Ausschreibungen erfolgen muss. Auf der Grundlage der „verbindlichen Entscheidung zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ wurde daher 2017 ein zweistufiger Prozess mit folgenden Regelungen definiert:

    • Offenes Zulassungsverfahren – Jeder geeignete Anbieter erhält nach einer Qualitätsprüfung einen Belegungsvertrag und wird von einem federführenden Träger der DRV betreut. Mit dem Belegungsvertrag ist allerdings keine Belegungsgarantie verbunden.
    • Transparentes Belegungsverfahren – Die Einrichtungsauswahl für einen konkreten Fall nach Bewilligung eines Rehaantrages folgt einem definierten Algorithmus (u. a. medizinische Indikation, Komorbidität, Sonderanforderungen, Wunsch- und Wahlrecht, Setting) und wird nachvollziehbar dokumentiert. Stehen mehrere Einrichtungen zur Verfügung, erfolgt die Zuweisungsentscheidung nach einem Bewertungssystem mit den Kriterien Qualität, Preis, Wartezeit und Entfernung zum Wohnort.

    Aus Sicht der Leistungserbringer muss dieser Prozess allerdings um eine weitere, dritte Stufe ergänzt werden, die die Vereinbarung einer angemessenen und leistungsbezogenen Vergütung regelt und dabei auch die Kostenstrukturen im Einrichtungsvergleich berücksichtigt. Bislang wurden von den Leistungsträgern nur Rahmenbedingungen für eine jährliche relative Anpassung der Vergütungssätze (Orientierung an einem „Reha-Index“ und an einer „Marktpreisbandbreite“) festgelegt.

    Mit dem 2018 erschienenen Gutachten „Angemessene Vergütung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Zuständigkeitsbereich der Deutschen Rentenversicherung“ wurde ein Vorschlag zur Festlegung einer angemessenen Vergütung vorgelegt. Da aus Sicht der Gutachter wegen der Marktmacht der Rentenversicherungsträger das vom Gesetzgeber gewollte Wettbewerbskonzept versagt, ist die Vergütung der Rehabilitationsleistungen nach Maßgabe eines zweistufigen Verfahrens aus Kostenprüfung und Vergütungsvergleich zu ermitteln, welches das Bundessozialgericht für andere nicht wettbewerblich strukturierte Leistungserbringermärkte entwickelt hat.

    Das BMAS hat im Dezember 2019 den Referentenentwurf für ein Gesetz zur Regelung der Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Weiterentwicklung des Übergangsgeldanspruchs – Medizinisches Rehabilitationsleistungen-Beschaffungsgesetz (MedRehaBeschG) vorgelegt. In der Einführung zu dem Entwurf wird hervorgehoben, dass das bislang praktizierte offene Zulassungsverfahren die im Europäischen Vergaberecht eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten bereits genutzt hat, nun aber eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll. Diese bezieht sich insbesondere auf

    • die Zulassung und die konkrete Inanspruchnahme (Belegung) von Rehabilitationseinrichtungen nach objektiv festgelegten Anforderungen,
    • die Regelung des „Federführungsprinzips“ sowie
    • die Entwicklung eines verbindlichen, transparenten, nachvollziehbaren und diskriminierungsfreien Vergütungssystems zur Ermittlung, Bemessung und Gewichtung der an die Rehabilitationseinrichtungen zu zahlenden Vergütungen (bis Ende 2025).

    Am 26. August 2020 wurde der „Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht)“ innerhalb der Bundesregierung beschlossen, in dem auch die o. g. Regelungen zur Beschaffung von medizinischen Rehabilitationsleistungen enthalten sind. Darin ist festgelegt, dass die DRV Bund bis 30. Juni 2023 verbindliche Entscheidungen zu folgenden Regelungen vorlegen muss:

    • Anforderungen für die Zulassung von Reha-Einrichtungen
    • Ausgestaltung des Vergütungssystems
    • Kriterien für die Inanspruchnahme von Reha-Einrichtungen
    • Daten der externen QS und deren Veröffentlichung

    Die Entwicklung des Vergütungssystems soll zusätzlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Dabei sind folgende Kriterien zu beachten, wobei die Bewertungsrelation gegenüber dem Referentenentwurf neu hinzugekommen ist:

    • die Indikation,
    • die Form der Leistungserbringung,
    • spezifische konzeptuelle Aspekte und besondere medizinische Bedarfe,
    • ein geeignetes Konzept der Bewertungsrelationen zur Gewichtung der Rehabilitationsleistungen und
    • eine geeignete Datengrundlage für die Kalkulation der Bewertungsrelationen.

    Es wird außerdem festgelegt, dass bei der Vereinbarung der Vergütung zwischen dem Federführer und der Reha-Einrichtung folgende Aspekte zu berücksichtigen sind (neu ist in dem Regierungsentwurf der regionale Faktor):

    • leistungsspezifische Besonderheiten, Innovationen, neue Konzepte, Methoden,
    • der regionale Faktor und
    • tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen.

    Bei den Verfahren für die Zulassung und die Belegung sind keine wesentlichen Änderungen zum bisherigen Vorgehen der DRV erkennbar. Von besonderem Interesse für die Leistungserbringer wird allerdings die Ausgestaltung des Vergütungssystems sein, denn neben der Belegung ist die Vergütung der zweite wesentliche Faktor für die Wirtschaftlichkeit einer Reha-Einrichtung.

    Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind für die Träger und Einrichtungen in der Suchtrehabilitation in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Auf der einen Seite werden von den Leistungsträgern hohe Qualitätsanforderungen in den Bereichen Struktur, Personal und Konzept formuliert, deren Erfüllung teilweise unter Androhung von Sanktionen eingefordert wird. Auf der anderen Seite existieren durch die „Macht-Asymmetrie“ im Reha-Markt nur begrenzte Möglichkeiten zur Verhandlung von kostendeckenden Vergütungen. Damit bleibt den Betreibern von Einrichtung nur ein geringer ökonomischer Handlungsspielraum.

    Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Suchtrehabilitation (traditionell) viele kleine Einrichtungen gibt, mit einer deutlich geringeren Platzzahl als üblicherweise in der somatischen oder psychosomatischen Rehabilitation. Wenn man als „klein“ eine Einrichtung mit bis zu 50 Betten bzw. Plätzen definiert, dann macht das bei den Fachkliniken ca. 100 von 180 Einrichtungen (60 Prozent) und ca. 4.000 von 13.000 Plätzen (30 Prozent) aus. Tagesreha- und Adaptionseinrichtungen sind mit durchschnittlich zwölf Plätzen noch kleinere Organisationseinheiten. Diese Einrichtungen genießen eine hohe Wertschätzung bei Leistungsträgern, Zuweisern und Rehabilitanden, weil sie ein „familiäres“ Therapiesetting bieten, bei dem viele positive Effekte einer „therapeutischen Gemeinschaft“ ihre Wirkung entfalten können. Sie sind häufig auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet und können ein deutliches konzeptionelles Profil zeigen. Und für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Arbeit in einem übersichtlichen Team sehr attraktiv. Allerdings gibt es auch einige erhebliche Nachteile, die letztlich auch zu wirtschaftlichen Problemen führen und zu der Frage, ob diese Einrichtungen noch eine Zukunft haben:

    • hoher Anteil an Fixkosten (bspw. für Nachtdienste oder Qualitätsmanagement), die sich in größeren Einrichtungen besser verteilen lassen,
    • minimale und deshalb nicht attraktive und kaum zu besetzende Stellenanteile bei einigen sehr spezialisierten Berufsgruppen,
    • geringe personelle Redundanz und somit Vertretungsprobleme insbesondere bei längeren ungeplanten Abwesenheiten,
    • hohe Anfälligkeit für Belegungsschwankungen, weil ein einzelnes Aufnahme- oder Entlassungsereignis relativ gesehen stärker ins Gewicht fällt.

    In den vergangenen Jahren konnte neben der Schließung von Einrichtungen vor allem auch vermehrt die Zusammenlegung von Einrichtungen, die Übernahmen von Einrichtungen durch größere Träger oder auch die Fusion von Trägern beobachtet werden. Wichtig ist dabei zum einen, dass es sich bei den Schließungen nicht um eine „Marktbereinigung“ handelt, denn die Nachfrage folgt bei Abhängigkeitserkrankungen nicht den üblichen Marktgesetzen. Es sind bereits dort regionale Versorgungslücken entstanden, wo ambulante und stationäre Angebote unabhängig vom Bedarf bzw. der Nachfrage eingestellt werden mussten. Zum anderen führen Fusionen nicht automatisch zu einer besseren Wirtschaftlichkeit von Trägern und Einrichtungen, Größe allein ist kein Erfolgsfaktor. Das Profil einer Einrichtung, die speziellen therapeutischen Angebote und eine klare Definition der Zielgruppen sind wichtige Faktoren für die Zusammenarbeit mit Zuweisern. Erfolgreich sind in der Regel die Träger, die eine Diversifizierung der Angebote betreiben, die verschiedene Leistungsbereiche integrieren und die in der Lage sind, selbst oder in Kooperation mit anderen Träger funktionierende Behandlungsketten zu etablieren.

    Wie könnte es weitergehen?

    Die vorstehende Beschreibung von aktuellen Trends und Themen, die die Arbeit in der Suchtrehabilitation aktuell und zukünftig beeinflussen, ist lang und komplex, aber vermutlich nicht umfassend. Für die Führungskräfte, die in den Trägern und Einrichtungen Verantwortung für viele Menschen und Arbeitsplätze tragen, ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

    Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass die Suchthilfe im Allgemeinen und die Suchtreha im Besonderen einen traditionell hohen Organisationsgrad haben, d. h., es existieren zahlreiche Kooperationen, Netzwerke, Verbände und Fachgesellschaften. Dadurch wird eine besondere Kooperationskultur geprägt, die ein altes Prinzip der Suchtselbsthilfe aufgreift und auf die Ebene von Einrichtungen überträgt: Im kollegialen Austausch lassen sich viele Probleme deutlich besser lösen, und durch ein gemeinsames Auftreten lässt sich die Vertretung der eigenen Interessen „schlagkräftiger“ organisieren. Daher kann es hilfreich sein, bei der Bearbeitung der angesprochenen Zukunftsthemen und Herausforderungen eine individuelle Ebene (Einrichtung, Träger) und eine gemeinschaftliche Ebene (Netzwerke, Verbände) zu unterscheiden und die anstehenden Aufgaben entsprechend zu verteilen (vgl. Tabelle 2).

    Tab. 2: Individuelle und gemeinschaftliche Handlungsebenen in der Suchtreha

    Natürlich muss jede verantwortliche Führungskraft die eigenen „Hausaufgaben“ machen. Aber es ist eine gute Tradition in der Suchthilfe, sich Rat von anderen „Peers“ zu holen, und manche Probleme werden allein schon durch die Erkenntnis kleiner, dass andere auch keine bessere Lösung haben.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Leistungserbringung im ethisch-ökonomischen Spannungsfeld

    Grundannahmen – Standortbestimmung zur Annäherung an das Thema

    Stefan Bürkle

    Die deutsche Philosophin Annemarie Piper, Verfasserin des Standardwerkes „Einführung in die Ethik“, formulierte 2014 in einem Vortrag zu Ethik und Ökonomie den Satz: „Wir kennen von allem den Preis, aber nicht den Wert.“ Entsprechend könnte die Leitfrage für die folgenden Überlegungen lauten: „Wie würde sich der Blick auf die Leistungserbringung in der Suchtrehabilitation verändern, wäre dieser maßgeblich vom Wert und nicht so sehr vom Preis einer Leistung bestimmt?“ In diesen Ausführungen soll ein fachlich-ethischer Zugang zu den Grundlagen des Handelns als Leistungserbringer in der Suchtrehabilitation entwickelt werden. Dabei sind folgende Fragen maßgeblich:

    • Von welchen Anforderungen und Werten gehen wir bei der Leistungserbringung aus?
    • Welche Vorgaben bestimmen und rahmen unser Handeln?
    • Orientieren wir uns mehr am „Preis“ oder am „Wert“?

    Gemeinsam mit der Aussage von Annemarie Piper zum Verhältnis von Preis und Wert bildet der ethische Anspruch vom „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ das gedankliche Konzept dieser Ausführungen. Der Historiker Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen geht in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 der Frage nach, ob das von dem Philosophen Hans Jonas beschriebene „Prinzip Verantwortung“ (1979) auch heute noch Gültigkeit hat. Er kommt zu dem Fazit: Ja, denn die Zukunftsorientierung im ethischen Konzept von Jonas ist eine fortwährende. Sie macht es erforderlich, dass Menschen und Gesellschaften immer wieder Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen geben. Aktuelle Themen wie die mediale und digitalisierte Welt, Antidemokratiebewegungen, die Suche nach neuen Formen einer Aufrichtigkeitskultur (Fake News) bzw. neuartige Kriege und die Gefahr terroristischer Anschläge unterstreichen die gerade heutzutage existenzielle Bedeutung des Prinzips Verantwortung.

    Das Prinzip Verantwortung, das auf eine Verantwortung für die zukünftige Geschichte verweist, besitzt nicht nur für wissenschaftliche Überlegungen fundamentale Bedeutung. Jonas baut auch eine hilfreiche Brücke zum praktischen Geltungsbereich seiner Verantwortungsethik. Danach bedeutet Verantwortung, „den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. (…) Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierende Handlung tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen.“ (Nielsen-Sikora, 2015, S. 11) Bedeutsam erscheinen hierbei die Aspekte „prüfen“ und „entscheiden“.

    Nach dem „Handwörterbuch Philosophie“ „bezeichnet Verantwortung die Zuschreibung des Denkens, Verhaltens und Handelns eines Menschen an dessen freie Willensentscheidung, für die er genau deshalb rechenschaftspflichtig ist und für die er mit allen Konsequenzen einstehen muss. Verantwortung gründet demnach in der Freiheit des Menschen. Denn nur wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sein Denken, Verhalten und Handeln selbst zu bestimmen, kann er dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Rehfus, 2003, S. 736) Ergänzend hierzu und als praktische Konsequenz führt der Journalist Sven Precht in seinem Essay „Sind wir in unseren Entscheidungen frei?“ aus, dass Verantwortung zu übernehmen, mindestens drei Dinge voraussetzt, nämlich:

    • eine Handlung zu tätigen, wobei auch ein bewusstes Nichthandeln bzw. eine Enthaltung eine Handlung darstellen können,
    • die Folgen einer Handlung einigermaßen absehen zu können, was aber immer nur bedingt möglich ist, und
    • eine Entscheidung aus freiem Willen treffen zu können, ansonsten kann von „meiner“ Entscheidung nicht die Rede sein.

    Das oben skizzierte Grundverständnis von Verantwortung, an dem sich das Handeln orientiert und das daran auch messbar wird, findet sich wieder in den Werten, Leitmodellen oder Leitbildern von Organisationen.

    Ansprüche an die Leistungserbringer und Rahmenbedingungen der Leistungserbringung

    Die Ethik, die bei der Leistungserbringung zum Tragen kommt, steht in einem engen Verhältnis und in Wechselwirkung zum Rahmen der Leistungserbringung und zu deren jeweiligen Besonderheiten. Die Leistungserbringung besteht aus Aktivitäten bzw. Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen. Dieses Handeln bzw. die mit der Umsetzung von Aufträgen verbundenen Handlungen sind vielschichtig und berühren unterschiedliche Vorgaben, Rahmenbedingungen und Erwartungen. Aufgrund der unterschiedlichen Handlungsebenen und der vielfältigen Rollen, die der Leistungserbringer im Rahmen seines Auftrags einnimmt, können die handelnden Personen in ethische Konflikte kommen. Die handlungsleitenden Fragen dabei können sein:

    • Wem gegenüber sind wir in der Leistungserbringung verantwortlich?
    • Auf wen bezieht sich das „richtige Handeln in verantwortlicher Praxis“?
    • Welchen ethischen Ansprüchen müssen unsere Entscheidungen und unsere Handlungen genügen?

    Welche Ansprüche und Erwartungen werden nun an die Leistungserbringung oder an Leistungserbringer gestellt? Manche dieser Ansprüche liegen in den Organisationen und deren Selbstverständnis begründet, andere sind externer Natur.

    Intern begründete Ansprüche – Organisationsebene

    • Auf Organisationsebene prägen ganz entscheidend fachlich-qualitative Ansprüche die Leistungserbringung.
    • Organisationen stehen in der Verantwortung, ökonomisch zu planen, zu entscheiden und zu handeln.
    • Organisationen stehen in der Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiter/innen. Diese beinhaltet u. a., Arbeit zur Verfügung zu stellen, qualifizierte Leistungen der Mitarbeiter/innen einzufordern und angemessen zu vergüten sowie Maßnahmen der Personalentwicklung anzubieten. Damit ist auch der Anspruch verbunden, für annehmbare Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und bei der Arbeit zu sorgen, bspw. dauerhafte Arbeitsverdichtungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können, zu vermeiden.
    • Organisationen sind ihren spezifischen Werten und Leitbildern verpflichtet, in denen im Wesentlichen die Grundlagen und die Ausrichtung ihres Handelns, ihre Kultur, ihre Umgangsformen etc. niedergelegt sind.

    Externe Ansprüche

    • Auf externer Ebene bringen die gesellschafts- und fachpolitischen Rahmenbedingungen, in die die Leistungserbringung in der Suchthilfe eingebettet ist, eine Reihe von Ansprüchen mit sich. Diese konkretisieren sich u. a. im Sozialstaatsprinzip und der kommunalen Daseinsvorsorge, im Subsidiaritätsprinzip oder in der Umsetzung von wissenschaftlichen und politischen Leitkonzepten wie der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe oder Modellen der Resozialisierung und Rehabilitation.
    • Der gesetzliche Rahmen für die Leistungen der Suchthilfe ist sehr vielschichtig und bezieht sich u. a. auf unterschiedliche Sozialleistungsgesetze, das Betäubungsmittelgesetz sowie auf auf eine Vielzahl von Verordnungen wie z. B. die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung usw.
    • Der fachlich-wissenschaftliche Diskurs in Form von Debatten oder Konsensbildung schafft Orientierung, setzt aber auch Vorgaben (Stichwort: Evidenzbasierung, Leitlinien etc.).
    • Die Leistungserbringer sind entscheidend mit den Ansprüchen und Vorgaben der Leistungsträger konfrontiert. Dies zeigt sich im Rahmen der gesetzlich bzw. vertraglich vereinbarten Auftragserfüllung: durch Verträge, Rahmenvereinbarungen, Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Strukturvorgaben, Vorgaben der Qualitätssicherung etc.
    • Last not least sind die (nicht weniger vielschichtigen) Ansprüche und Erwartungen der Klient/innen bzw. Patient/innen an die Hilfeleistung oder Behandlung zu nennen. Neben bestmöglichen und zeitnah erbrachten Leistungen bestehen berechtige Ansprüche der Hilfesuchenden in einer konsequenten Umsetzung der Grundhaltungen von Achtsamkeit, Partizipation, Emanzipation und Empathie durch Berater/innen und Therapeuten/innen.

    Werte und ethisches Verständnis bei einem christlich orientierten Wohlfahrtsverband

    Neben dem Anspruchs- und Erwartungsrahmen bildet der Werterahmen ein grundlegendes Fundament der Leistungserbringung. Das spezifische Werte-Fundament für die Leistungserbringung des Deutschen Caritasverbandes als christlich-religiös orientiertem Wohlfahrtsverband ist die katholische Soziallehre. Daraus entsteht letztlich auch das Spannungsfeld für die christlich orientierte Wohlfahrtspflege: Sie steht zwischen der Anforderung, sich im Wettbewerb zu behaupten, und einem christlich-ethischen Anspruch der Soziallehre. Im Wesentlichen ersichtlich wird der Spagat für die Leistungserbringung anhand der Doppelrolle, sowohl Anwalt wie auch Dienstleister für Hilfesuchende zu sein. Gleichzeitig fühlt sich die Wohlfahrtspflege dem Anspruch des Wunsch- und Wahlrechtes sowie der Pluralität im Angebot verpflichtet. Die dahinterstehende Haltung ist im Kern die Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun kann?“

    Die Basis ethischen Handelns in einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas bildet die soziale Verantwortung auf der Grundlage der katholischen Soziallehre. Die katholische Soziallehre beinhaltet Ideen für eine mögliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Grundkonzept sozialer Gerechtigkeit. Vereinfacht skizziert geht das Konzept der katholischen Soziallehre auf gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Europa zurück. Prägend war die Industrialisierung, verbunden mit einer Arbeiterschaft, die oft in ungeschützten und teilweise elenden Verhältnissen leben musste. Die katholische Soziallehre umfasst vier klassische und eine Reihe weiterer grundlegender Prinzipien, die die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee vom gerechten sozialen Zusammenleben verkörpern und mit Leben füllen. Auf die klassischen Prinzipien der Personalität, der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohlprinzips sowie auf das relativ neue Prinzip der Nachhaltigkeit soll hier kurz eingegangen werden.

    • Personenprinzip oder Prinzip der Personalität: Das Personenprinzip betont die Einmaligkeit des Individuums und geht von der Grundprämisse aus, dass gesellschaftliche Ordnungen dem Wohl des Einzelmenschen dienen müssen. „Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muss der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein.“ (Johannes P.P. XXIII, 1961, n219) Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung wäre u. a. die Personen- oder Klientenorientierung, aber auch die freie Entscheidung in Verantwortung.
    • Solidaritätsprinzip: Das Solidaritätsprinzip geht von dem Verständnis aus, dass gemeinsame Ziele nur über die Bündelung der Fähigkeiten und Interessen der Menschen verwirklicht werden können. Damit ist die Entschlossenheit verbunden, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und auch die Entschlossenheit, Einfluss und Mittel (Güter und Dienstleistungen), wo sie vorhanden sind, für diejenigen einzusetzen, denen sie fehlen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringer ist das Mandat der Anwaltschaft für die Interessen und Belange der Klientel (Stichwort: Rechtsdurchsetzung).
    • Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip (oder das Prinzip der Nachrangigkeit) verkörpert die Hilfe zur Selbsthilfe, auf individueller, gesellschaftlicher oder Organisationsebene. Es ist mit dem urdemokratischen Prinzip verbunden, Zuständigkeiten und Verantwortungen zu verteilen. Die Entsprechung auf Ebene der Leistungserbringung ist auch hier wiederum die Personenorientierung. Das Subsidiaritätsprinzip steht für Werte und fachliche Grundstandards wie die Förderung von Autonomie, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.
    • Gemeinwohlprinzip: Im Gemeinwohlprinzip ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterlegt. Es ist mit der Verantwortung für die Gemeinschaft verbunden. Die Entsprechungen auf Leistungserbringerebene zeigen sich heute ganz maßgeblich in Bemühungen, zur Beteiligungsgerechtigkeit beizutragen, Zugänge zu eröffnen und letztlich gesellschaftliche (soziale und berufliche) Teilhabe zu fördern und zu ermöglichen.
    • Prinzip der Nachhaltigkeit: Neuerdings wird das Prinzip der Nachhaltigkeit auch zu den Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre gerechnet. Damit soll eine nachhaltige, dauerhafte und zukunftsfähige Entwicklung ausgedrückt werden. Es ist aktuell das maßgeblichste Prinzip, wenn es in der Leistungserbringung um die Frage der Wirkungsorientierung, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Effizienz von Maßnahmen und Hilfen und letztlich der Wertschöpfung geht. Hier kommt das „Prinzip Verantwortung“ im Verständnis von Hans Jonas am stärksten zum Ausdruck. Hier wird die Schnittstelle von Ökonomie und Leistungsrahmen besonders eindrucksvoll.

    Nach den Vorüberlegungen zum Begriff der Verantwortung, der Beschreibung des Erwartungs- und Anspruchsrahmens für die Leistungserbringung sowie der maßgeblichen Werte für christlich orientierte Leistungserbringer folgen nun Beispiele für mögliche ethische Konflikte auf der konkreten Handlungsebene der Leistungserbringung.

    Beispiele für ethische Konflikte auf Handlungs- und Bezugsebene

    Wo kann die Leistungserbringung nun ganz praktisch in ethische Konflikte kommen? Oder: Wie viel Raum bleibt Leistungserbringern für ethisches Denken? Wo wäre z. B. eine bestimmte Form, ein bestimmter Umfang der Leistungserbringung ethisch geboten, lässt sich aber aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen nicht durchsetzen? Anhand von zwei praktischen Beispielen sollen mögliche Konfliktlinien und die Bewegung der Leistungserbringung im ethischen Raum aufgezeigt werden.

    Indikationsgeleitete Vermittlung in eine Rehabilitationsfachklinik

    Am „richtigen Handeln in verantwortbarer Praxis“ bei der indikationsgeleiteten Vermittlung von Klient/innen bzw. Patient/innen in eine Rehabilitationsfachklinik – unter Konkurrenzbedingungen und bei steigendem Kostendruck – bilden sich die vielfachen fachlichen und ethischen Dimensionen ab. Sie betreffen die folgenden Aspekte:

    • Berücksichtigung der Patientenorientierung, des Wunsch- und Wahlrechts
    • Sicherstellung der fachlich-indikationsgeleiteten Beratung und Entscheidung
    • Kostendruck und wirtschaftliche Absicherung der Einrichtung
    • Druck zur Arbeitsplatzsicherung
    • Umsetzung organisationsinterner Vorgaben bzw. Anweisungen
    • Gefahr der Vorteilsnahme (Geld- und Sachspenden, Absprachen)
    • Einhaltung bzw. Umsetzung der Fürsorgeverpflichtung als ethischer Konflikt für leitungsverantwortliche Mitarbeiter

    Eine Reihe möglicher ethischer Konfliktlinien kann sich aus der Dynamik des Zusammenspiels dieser Bereiche ergeben – wobei der Umgang mit Konflikten, das Austarieren von unterschiedlichen Interessen der Beteiligten, das Abwägen bei Entscheidungen sowie das Ausbalancieren von Erfordernissen und Notwendigkeiten in Beratungs- und Behandlungsprozessen zum alltäglichen und professionellen Job der Mitarbeiter/innen in der Suchthilfe gehört – egal, auf welcher Ebene.

    Im Beratungsprozess treffen fachliche, rechtliche und ethische Aspekte aufeinander. Grundsätzlich ist die patientenorientierte Ausrichtung wie insbesondere die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts auf rechtlicher Ebene und über Vereinbarungen geregelt sowie auf der Basis fachlicher Standards vorgegeben (Quelle SGB IX etc.). Aber wie die Patientenorientierung im Rahmen der Leistungserbringung, in Beratung und Therapie und im Entscheidungsprozess zur Vermittlung in eine geeignete Behandlungsform bzw. Einrichtung tatsächlich realisiert wird, ist auch eine Haltungsfrage der handelnden Akteure. Besteht ausreichend Zeit und Raum im Beratungsprozess, damit eine patientenorientierte Haltung konsequent zur Entfaltung kommen kann? Bleibt die Patientenorientierung eine Floskel oder gar Farce im beruflichen Alltag? Wie ernst werden Klient/innen in ihren Entscheidungen für eine bestimmte Behandlungsform oder eine bestimmte Behandlungseinrichtung genommen? Bestehen echte oder auch nur gefühlte Vorgaben seitens des Dienstgebers, ausschließlich oder in erster Linie in Häuser des eigenen Trägers oder des eigenen Verbundes zu vermitteln? Wirken sich der finanzielle Druck zur Refinanzierung, der Wunsch nach wirtschaftlicher Absicherung der Einrichtung oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen unmittelbar auf den fachlich-therapeutischen Prozess aus?

    Leitsätze für ein „richtiges Handeln in verantwortbarer Praxis“ in Bezug auf eine indikationsgeleitete Vermittlung können hilfreich und zielführend sein. Die folgenden Leitsätze orientieren sich am „Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern“ des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009).

    • Eine konsequent fachlich und indikationsgeleitete Beratung und Entscheidung durch Mitarbeitende erfolgt auf der Grundlage der Freiheit und Unabhängigkeit der Beratung, die auch durch den jeweiligen Dienstgeber berücksichtigt wird.
    • Beratung wie Entscheidung respektieren das Wunsch- und Wahlrecht der Klient/innen bzw. Patient/innen und folgen grundsätzlich einer patientenorientierten Haltung im Beratungsprozess.
    • Die Indikation für die Zuweisung in eine Behandlungseinrichtung orientiert sich in erster Linie an der rehabilitativen Zielsetzung (Indikationen/Spezialindikationen, Diagnosestellungen, Erwerbsfähigkeit, Wohnort- und Arbeitsplatznähe, Beziehungsebene etc.) und erfolgt nach allgemein anerkannten Regeln (Konsens der Fachgesellschaften, Leitlinien, therapeutische Standards).
    • Ein Ermessensspielraum kann bestehen: Die Priorisierung eigener Häuser kann bei einem indikationsbezogenen Alleinstellungsmerkmal des vorgeschlagenen Hauses (Klient wünscht ausdrücklich ein Haus der Caritas) oder bei gleicher fachlicher Eignung mehrerer möglicher Häuser unterschiedlicher Anbieter erfolgen. Nicht zu vergessen ist aber, dass die Zuweisung nicht autonom durch Klienten und Leistungserbringer erfolgt, sondern letztlich immer vom zuständigen Leistungsträger, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, entschieden wird.
    • Die fachlichen Entscheidungen (therapeutisch, ärztlich) sind unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu treffen. Die therapeutische Haltung und der Behandlungsnutzen sind für die Entscheidung maßgeblich.
    • Wirtschaftliche Belange sind in frei-gemeinnützigen Einrichtungen ethischen und sozialen Maßstäben unterzuordnen. Eine entsprechende Regelung soll im Leitbild verankert werden.

    Ambulante Rehabilitation Sucht

    Die aktuelle Situation der ambulanten Rehabilitation Sucht (ARS) stellt ein etwas anderes Beispiel dar, lässt aber durchaus mögliche ethische Konfliktlinien in der Leistungserbringung ersichtlich werden. Die Behandlungsform der ambulanten Rehabilitation Sucht steht derzeit massiv unter wirtschaftlichem, aber auch unter fachlichem Druck. Insbesondere die Einführung des Rahmenkonzeptes Nachsorge und die klare Abgrenzung zwischen therapeutischen und nachsorgeorientierten Leistungen hat die Sachlage für die Leistungserbringer weiter problematisiert. Nicht wenige Träger verabschieden sich aus der Leistungserbringung aufgrund einer zu geringen wirtschaftlichen Perspektive. Zu einer ganzen Reihe an fachbezogenen Themen und Details sind die Suchtverbände derzeit mit der Leistungsträgerseite im Gespräch. Dazu gehören:

    • Finanzierung/Wirtschaftliche Ebene: Die Leistungsanbieter haben den Anspruch, kostendeckend zu arbeiten. Eine Vollkostenrechnung der Leistungsform ist seit der Konzipierungs- und Erprobungsphase vor 25 Jahren nicht erfolgt. Mit bestehendem Kostensatz ist eine Kostendeckung vielfach nicht gegeben und nur über die Einbindung der Leistungsanbieter in das Gesamtangebot der kommunalen ambulanten Grundversorgung, ggf. unter Einbringung finanzieller Eigenleistungen, möglich.
    • Fachliche Bewertung des Rahmenkonzeptes: Im Rahmen der Leistungserbringung stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit das Rahmenkonzept noch den aktuellen fachlichen Anforderungen und Möglichkeiten entspricht. Beispielsweise müsste darüber nachgedacht werden, die für die Bewältigung der ärztlichen Tätigkeiten notwendige Personalbemessung von der Anzahl der Gruppen zu entkoppeln. Entsprechendes gilt für die Frage, wie die erforderliche Diagnostik zukünftig effektiver sichergestellt werden kann. Und auch die Frage nach den Kriterien zur Zulassung von Psychologischen Psychotherapeut/innen in Ausbildung müsste überdachte werden.
    • Personaleinsatz/Personalgewinnung: Der Fachkräftemangel hat sich für alle in der ARS maßgeblich tätigen Berufsgruppen (Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie) akut verschärft. Dies gilt insbesondere für den generell unterversorgten ländlichen Raum. Nötig wäre eine realistische Bemessung der fachlichen Erfordernisse auf allen Ebenen, um die professionellen Standards der ambulanten medizinischen Rehabilitation weiter angemessen umzusetzen und gleichzeitig den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden.

    Ethische Konfliktlinien zeigen sich vor diesem Hintergrund insbesondere im folgenden Spannungsfeld: Es besteht der Anspruch, ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen in der gebotenen fachlichen Qualität anzubieten und den Klient/innen die bestmögliche und bedarfsorientierte Behandlung zukommen zu lassen. Hierzu ist es erforderlich, entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten und die Leistungen unter adäquaten Rahmen- und Arbeitsbedingungen erbringen zu können.

    Gemessen an den oben formulierten ethischen Leitsätzen kann der finanzielle Druck zur Refinanzierung der Leistung zu erheblichem ethischen Druck führen. Für die Berater/innen und Therapeuten/innen entsteht er mit den beiden Fragen, inwieweit sie Leistungen qualifiziert genug erbringen können und inwieweit die fachlichen und an den Rehabilitationszielen orientierten Indikationsstellungen möglichst unbeeinflusst von ökonomischen Faktoren erfolgen können. Für die Organisationen der Leistungserbringerseite kann die stetige Arbeitsverdichtung zu einer fortwährenden Verletzung der Fürsorgeverpflichtung gegenüber den Mitarbeitenden führen sowie zu einem unangemessenen und ggf. auch zweckentfremdeten Einsatz von finanziellen Eigenmitteln.

    Was kann im beschriebenen Beispiel helfen? Hier wird deutlich, wie sich fachliche und ethische Ansprüche gegenseitig bedingen können. Gute und adäquate fachliche Lösungen können dazu beitragen, ethisches Konfliktpotenzial zu entschärfen. Komplexe Probleme erfordern komplexe und konzertierte Lösungen. Deshalb schlagen die in der DHS organisierten Verbände zum Thema ARS ein gemeinsames Vorgehen der Leistungserbringer und Leistungsträger vor. Zielsetzung – neben dem Erreichen einer auskömmlichen Finanzierung – ist dabei, das Rahmenkonzept ARS von 2008 im Rahmen einer Arbeitsgruppe aus DRV/GKV und Suchtverbänden zu prüfen und ggf. den fachlich erforderlichen und realistisch umsetzbaren Anforderungen anzupassen.

    Schlussgedanke

    Eine ethische (Grund-)Spannung bleibt in der Leistungserbringung immer erhalten. Das Ringen um das „richtige Handeln in verantwortbarer Praxis“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der beteiligten Akteure – ein Prozess auf Ebene der Leistungserbringer wie der Leistungsträger. Grundindikatoren für ein Gelingen dieses Prozesses sind der Ausbau des fachlichen (Qualitäts-)Dialogs, Transparenz in Entscheidung und Ausführung, Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe. Die Aussage „Wir kennen von allem dem Preis, aber nicht den Wert“ sollten wir uns immer mal wieder ins Gedächtnis rufen und in Verhandlungen und vor Entscheidungen bewusst machen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor beim 30. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. am 22. Juni 2017 gehalten hat.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband, Freiburg.

    Literatur:
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss, 2009): Verhaltenskodex für die Zusammenarbeit zwischen Suchtkliniken und Zuweisern (nicht veröffentlicht)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2016): Ambulante Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Gemeinsames Rahmenkonzept DRV und GVV, vom 03.12.2008. Vorschlag der DHS zur Überarbeitung
    • Johannes P.P. XXIII (1961): Mater et Magistra
    • Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
    • Jürgen Nielsen-Sikora (2015): Ist das ‚Prinzip Verantwortung‘ noch aktuell? Working Papier, Forschungskolleg Siegen, Universität Siegen
    • Sven Precht: Sind wir in unseren Entscheidungen frei?, in: Netzwerk Ethik Heute, https://ethik-heute.org/sind-wir-in-unseren-entscheidungen-frei/ (letzter Zugriff 21.11.2017)
    • Wulff D. Rehfus (Hrsg., 2003): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Frank Schulte-Derne
    Rita Hansjürgens
    Ulrike Dickenhorst
    Conrad Tönsing

     

    Einleitung

    Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).

    Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.

    Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)

    Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.

    Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.

    Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.

    Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.

    Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.

    Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.

    Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).

    Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.

    Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).

    Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie

    Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.

    Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.

    Angaben zu den Autoren:

    Frank Schulte-Derne
    Dipl.-Sozialpädagoge
    Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
    Vorsitzender der DG-SAS
    Frank.Schulte-Derne@lwl.org

    Rita Hansjürgens
    M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
    Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Ulrike Dickenhorst
    Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
    Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Conrad Tönsing
    Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
    Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.

    Literatur:
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2013): Vereinbarungen im Suchtbereich. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
    • Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
    • Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
    • Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
    • Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
    • Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • „Alkohol 2020“

    „Alkohol 2020“

    Lenea Reuvers

    Prävalenz

    Alkoholerkrankungen sind in Österreich ein weit verbreitetes Problem: Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Geburtstag sind alkoholabhängig (betroffen sind 7,5 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen), weitere zwölf Prozent weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf und sind gefährdet, abhängig zu werden (Uhl et al. 2009). In Wien gelten bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,7 Millionen Menschen zwischen 35.000 und 75.000 Personen als alkoholabhängig, bei weiteren 135.000 bis 175.000 besteht ein Alkoholmissbrauch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Prävalenz der Alkoholerkrankung in Österreich über dem europäischen Durchschnitt und ist fast 70 Prozent höher als in Deutschland (WHO 2014). Zur Verbildlichung: Fast jeder dritte Mann im Alter zwischen 50 und 54 Jahren ist in Österreich von einer Alkoholerkrankung betroffen (Czypionka et al. 2013, S. 28).

    Ausgangssituation

    Das Behandlungsangebot für alkoholkranke Menschen wurde in Wien traditionell von einzelnen stationären Suchthilfeeinrichtungen geprägt, die als separate ‚Insellösungen‘ nebeneinander bestanden und nur geringfügig ambulante Leistungen zur Vor- und Nachbereitung eines stationären Aufenthaltes erbrachten (Uhl et al. 2009, S. 343 ff.). Diese Einrichtungen waren sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen Gesundheits- und Sozialsystem kaum vernetzt; eine entsprechende Koordination der Suchthilfeeinrichtungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Angebote aufeinander abzustimmen und Nahtstellen zu schaffen, fehlte.

    Langfristige poststationäre ambulante Betreuungen oder rein ambulante Angebote für Menschen, die eine stationäre Betreuung nicht in Anspruch nehmen konnten, waren nicht vorhanden. Durch das Fehlen ambulanter Angebote gab es keine begleitenden Betreuungsmöglichkeiten, um die Therapieinhalte nachhaltig im Alltag umzusetzen und die Teilhabe der Patient/innen am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Die Folge waren hohe Rückfallraten und so genannte Drehtür-Effekte in den Einrichtungen und damit verbunden großes persönliches Leid auf Seite der Betroffenen sowie hohe volkswirtschaftliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem. Allein im Jahr 2011 entstand in Österreich laut einer Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Höhere Studien netto ein volkswirtschaftlicher Schaden von 737,9 Millionen Euro, der auf die Alkoholerkrankung zurückzuführen war (Czypionka et al. 2013).

    Das Projekt „Alkohol 2020“

    Vor diesem Hintergrund wird seit Oktober 2014 in Wien unter dem Titel „Alkohol 2020“ im Rahmen eines Pilotprojekts ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen umgesetzt, das einen frühzeitigen und niederschwelligen Zugang zu spezialisierten und qualifizierten Betreuungsangeboten sowie ein enges Nahtstellenmanagement und ein konstruktives Zusammenwirken der verschiedenen Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ermöglicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam von der Pensionsversicherungsanstalt, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien ins Leben gerufen und stellt in Österreich eine historisch erstmalige Kooperation dieser Kostenträger dar. Erstmals treten sie als gemeinsame Partner in der Konzeption, Umsetzung und Finanzierung der Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen auf.

    In Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF 2015) sieht das integrierte Versorgungssystem eine umfassende langfristig geplante multiprofessionelle Betreuung, ein begleitendes Case Management sowie integrierte Nahtstellen mit dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem vor. Ziel ist es, in einem guten Versorgungssystem durch frühzeitige Diagnose und Intervention eine erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation alkoholkranker Menschen zu ermöglichen und eine nachhaltige soziale wie berufliche Reintegration dieser Menschen zu erreichen. Im Rahmen der integrierten Betreuung von „Alkohol 2020“ wird daher angestrebt, dass der niedergelassene Bereich, der klinische Bereich, die spezialisierte Suchtkrankenhilfe und das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem ihre Angebote aufeinander abstimmen, sich gegenseitig ergänzen und nahtlos miteinander kooperieren.

    Versorgung von alkoholkranken Menschen

    Dem spezialisierten Bereich der Suchtkrankenhilfe mit den Einrichtungen des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerks (SDHN) kommt in der Betreuung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung die Schlüsselrolle zu. Die suchtspezifische Behandlung und Rehabilitation von alkoholkranken Menschen soll im Regelfall sowohl ambulant als auch stationär im spezialisierten Bereich des SDHN erfolgen. Der niedergelassene Bereich als häufig erste Anlaufstelle für Patient/innen mit gesundheitlichen Problemen übernimmt eine wesentliche Rolle in der Früherkennung, Frühintervention und Nachbetreuung. Die Versorgung im klinischen Bereich konzentriert sich auf Akut- und Schwerstfälle.

    Um keine Parallelstrukturen zu schaffen, sondern alkoholkranke Menschen in allen Bereichen in die Gesellschaft zu integrieren, werden darüber hinaus Einrichtungen aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem durch einen eigenen Liaisondienst für die spezifischen Bedürfnisse alkoholkranker Menschen sensibilisiert und befähigt, ihre bestehenden Angebote auch für diese Zielgruppe zu öffnen. So können die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem die spezialisierte Suchtkrankenhilfe bestmöglich ergänzen.

    Im Mittelpunkt des integrierten Versorgungssystems stehen so genannte regionale Kompetenzzentren, die zum einen als erste Anlaufstelle für Menschen mit einer Alkoholerkrankung dienen und zum anderen das einrichtungsübergreifende Case Management verantworten und den niedergelassenen Bereich, den klinischen Bereich, den spezialisierten Bereich und die Angebote aus dem allgemeinen Gesundheits- und Sozialsystem miteinander vernetzen. Über die regionalen Kompetenzzentren ist ein niederschwelliger Zugang in das Betreuungssystem möglich. Alkoholkranke Menschen können sich direkt an ein regionales Kompetenzzentrum wenden oder aus dem Gesundheits- und Sozialsystem an ein Kompetenzzentrum vermittelt werden. In vielen Fällen wird diese Vermittlung durch Liaisondienste unterstützt.

    Abbildung 1: Das integrierte Versorgungssystem „Alkohol 2020“ (PV = Pensionsversicherung, KV = Krankenversicherung)

    Im regionalen Kompetenzzentrum wird von einem multiprofessionellen Team aus Ärzten/Ärztinnen (Allgemeinmedizin und Psychiatrie), Psycholog/innen und Sozialarbeiter/innen mittels umfassender multidimensionaler Diagnostik die bio-psycho-soziale Ausgangslage der Patient/innen erhoben und gemeinsam mit den Patient/innen ein individueller, an ihrem Bedarf orientierter Maßnahmenplan für die weitere Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation erarbeitet. Faktoren wie Arbeitsleben, Wohnsituation und familiäres Umfeld werden dabei von Anfang an mitbetrachtet.

    Die erstellten Maßnahmenpläne decken jeweils den kompletten Betreuungsbedarf (somatisch/psychisch/sozial) sowohl in Hinblick auf die akute Krankenversorgung als auch auf die medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation der jeweiligen Patient/innen ab und werden aus stationären und ambulanten Modulen zusammengesetzt, die sich in Dauer und Betreuungsintensität voneinander unterscheiden. Maßnahmenpläne können rein ambulant sein; kommt es zu einem stationären Aufenthalt, erfolgt immer eine ambulante Weiterbetreuung.

    Solange definierte Mindeststandards eingehalten werden, können Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe auf Basis wissenschaftlicher Betreuungskonzepte ein vielfältiges Betreuungsangebot bereitstellen. Auch das Therapieziel muss den Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Patient/innen entsprechen und kann durch Abstinenz, kontrolliertes Trinken, Trinkmengenreduktion oder sonstige Angebote erreicht werden.

    Im regionalen Kompetenzzentrum, das die Angebote der verschiedenen Einrichtungen im Detail kennt, wird bei der Erstellung des Maßnahmenplans unter den vielfältigen Angeboten jeweils die Einrichtung gewählt, die über das für den individuellen Bedarf der jeweiligen Patient/innen am besten geeignete Therapiekonzept und Angebot verfügt. Gegenüber dem jetzigen System, in dem sich Patient/innen eigenständig über die bestehenden Angebote informieren und bei den Einrichtungen bzw. den Kostenträgern um einen Therapieplatz ansuchen müssen, bedeutet diese Unterstützung eine wichtige Verbesserung für die Patient/innen.

    Gemeinsamer Bewilligungsprozess

    Das regionale Kompetenzzentrum beantragt anschließend die Bewilligung des Maßnahmenplans beim Institut für Suchtdiagnostik (ISD) der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Die zeitnahe Bewilligung erfolgt im Rahmen einer einmaligen persönlichen Begutachtung direkt in den Räumlichkeiten des regionalen Kompetenzzentrums durch ein multiprofessionelles Team des ISD.

    Im Sinne eines integrierten Versorgungssystems gibt es im Projekt „Alkohol 2020“ einen kostenträgerübergreifenden gemeinsamen Bewilligungsprozess: Mit der Bewilligung des Maßnahmenplans durch das Institut für Suchtdiagnostik liegt gleichzeitig auch die Finanzierungszusage aller Kostenträger für die im Maßnahmenplan festgelegten Module vor. Die Kostenträger (Krankenversicherung, Pensionsversicherung und die Stadt Wien) verzichten damit im Interesse der Patient/innen auf die bisher üblichen eigenen, voneinander getrennten Bewilligungsprozesse. Durch den gemeinsamen Bewilligungsprozess kann die Betreuung inklusive Behandlung und Rehabilitation vorab langfristig sichergestellt werden, und Unterbrechungen im Betreuungsverlauf werden vermieden.

    Infolge der Bewilligung informiert das regionale Kompetenzzentrum die Suchthilfeeinrichtungen über die bevorstehende Betreuung und vermittelt die Patient/innen an die erste betreuende Einrichtung im Maßnahmenplan. Eine Änderung des Maßnahmenplans ist während des Betreuungsverlaufs jederzeit nach entsprechender Bewilligung möglich. Während der gesamten Betreuungsphase übernimmt das regionale Kompetenzzentrum das einrichtungsübergreifende Case Management und bleibt zentraler Ansprechpartner für die Patient/innen sowie für alle betreuenden Einrichtungen. Durch die individuelle, bedarfsorientierte und langfristige Betreuung im Rahmen der Maßnahmenpläne können Patient/innen nachgehend betreut und ‚Drehtür-Effekte‘ deutlich reduziert werden.

    Finanzierung

    Im Vordergrund des integrierten Versorgungssystems „Alkohol 2020“ steht die Bereitstellung eines patientenorientierten Systems, in dem Patient/innen eine zentrale Anlaufstelle haben und die komplexe Art der Finanzierung im Hintergrund abläuft. Im Gegensatz zu Deutschland ist daher im suchtspezifischen Bereich keine Trennung der Leistungen und Zuständigkeiten in Form einer durch die Krankenkasse finanzierten Akutbehandlung („Entzugsbehandlung“) und einer von der Rentenversicherung bezahlten Rehabilitation („Entwöhnungsbehandlung“) vorgesehen. Stattdessen werden alle Leistungen zentral geplant, bewilligt und gemeinsam von der Krankenkasse, der Rentenversicherung und dem Land über einen variablen Finanzierungsschlüssel finanziert, der die in den Leistungen enthaltenen kurativen und rehabilitativen Anteile berücksichtigt. Dadurch kann ein gemeinsames, einheitliches administratives wie inhaltliches Prozessmanagement gewährleistet werden. Diese Art der Finanzierung bezieht sich nur auf den Bereich der spezialisierten Suchthilfe. Die Finanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems inklusive des niedergelassenen Bereichs, der Krankenhäuser und der sonstigen Rehabilitationseinrichtungen bleibt davon unangetastet.

    Die Steuerung wird ermöglicht durch die strukturelle Trennung zwischen den regionalen Kompetenzzentren (als zentrale Anlaufstelle für die Planung der Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen), der unabhängigen gemeinsamen Bewilligungsstelle und den für die Umsetzung der Maßnahmen zuständigen ambulanten und stationären Suchthilfeeinrichtungen. Um ein ökonomisches Eigeninteresse auszuschließen, dürfen die Träger der regionalen Kompetenzzentren und des Instituts für Suchtdiagnostik keine eigenen ambulanten und stationären Leistungen anbieten. Darüber hinaus ist durch ein flächendeckendes gemeinsames Dokumentationssystem im Suchthilfebereich für die Kostenträger eine transparente wirkungsorientierte Steuerung des Versorgungssystems möglich.

    Pilotprojekt Phase 1

    Dieses neue integrierte Versorgungssystem, das von der Pensionsversicherung, der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien gemeinsam entwickelt wurde, wird seit Oktober 2014 in Wien im Rahmen des Pilotprojekts „Alkohol 2020“ umgesetzt.

    In der ersten Pilotphase von Oktober 2014 bis März 2016 (18 Monate) wurden in Kooperation mit spezialisierten Einrichtungen aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk in Wien Kapazitäten geschaffen, um bis zu 500 Personen in das Pilotprojekt aufzunehmen und im Rahmen des neuen integrierten Versorgungssystems zu betreuen. Voraussetzung für eine Teilnahme am Pilotprojekt war für Patient/innen das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung sowohl bei der Stadt Wien, der Wiener Gebietskrankenkasse als auch der Pensionsversicherungsanstalt, zusätzlich gab es eine Altersgrenze von maximal 55 Jahren bei Eintritt ins Pilotprojekt. Über diese formellen Kriterien hinaus gab es keine inhaltliche Einschränkung der Zielgruppe.

    Insgesamt suchten während der ersten Pilotphase 843 Personen das regionale Kompetenzzentrum auf. Der Großteil dieser Personen meldete sich ohne Vermittlung aus dem Gesundheits- und Sozialsystem eigenständig beim regionalen Kompetenzzentrum (46 Prozent). Knapp ein Drittel wurde von einer teilnehmenden Einrichtung aus dem Sucht- und Drogenhilfenetzwerk an das regionale Kompetenzzentrum vermittelt. Zehn Prozent wurden jeweils über die Liaisondienste aus den Wiener Krankenanstalten und über die Case Manager der Wiener Gebietskrankenkasse und der Pensionsversicherungsanstalt vermittelt. Ein geringer Anteil kam über eine Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich zum regionalen Kompetenzzentrum. Der Frauenanteil betrug konstant ein Drittel, zwei Drittel der Personen waren Männer. Dies entspricht den Prävalenzzahlen in Wien.

    Etwa ein Viertel der Personen, die sich in der ersten Pilotphase beim regionalen Kompetenzzentrum meldeten, war nicht anspruchsberechtigt, wies keine relevante Indikationsstellung auf oder wurde akut in eine Notaufnahme gebracht.

    Abbildung 2: Personen im regionalen Kompetenzzentrum

    In der ersten Pilotphase wurde in Folge für insgesamt 524 Personen ein Maßnahmenplan erstellt. Mehr als zwei Drittel dieser Maßnahmenpläne bestanden aus rein ambulanten Modulen, nur ein Drittel beinhaltete stationäre Maßnahmen. Dies zeigt deutlich, dass die neu geschaffenen ambulanten Angebote einen bestehenden Bedarf erfüllen, der bisher nicht ausreichend abgedeckt wurde. Bis Ende März 2016 wurden 465 Personen vom Institut für Suchtdiagnostik begutachtet, für 461 Personen wurden die jeweiligen Maßnahmenpläne (zum Teil nach Änderung durch das Institut für Suchtdiagnostik) bewilligt, fünf Personen wurden indikationsentsprechend in andere Behandlungsangebote vermittelt (Regionalpsychiatrie/Drogeneinrichtungen). 58 Personen sind nicht zur Bewilligung erschienen bzw. der Bewilligungsprozess war mit Ende der Pilotphase 1 noch nicht abgeschlossen.

    Abbildung 3: Erstellte Maßnahmenpläne

    Die Patient/innen, die in der ersten Pilotphase im neuen Versorgungssystem betreut wurden, waren im Schnitt 43 Jahre alt, wobei Frauen (43,7 Jahre) geringfügig älter waren als Männer (43,3 Jahre). Fast die Hälfte der Personen war zwischen 40 und 50 Jahre alt, knapp zehn Prozent der Personen waren 30 Jahre alt oder jünger, und 20 Prozent waren älter als 50 Jahre. 15 Prozent der Patient/innen waren obdachlos oder in einer betreuten Wohnform untergebracht. Die Hälfte der Patient/innen lebt allein, etwa 30 Prozent leben in einer Beziehung (davon zwölf Prozent in einer gemeinsamen Wohnung mit Kindern), sechs Prozent sind alleinerziehend.

    Die meisten der Patient/innen hatten einen guten Bildungsabschluss: 43 Prozent verfügen über eine abgeschlossenen Lehre, 25 Prozent haben Abitur oder studiert. Nur ein Prozent verfügt über keinen Abschluss. Während der Betreuung in der Pilotphase waren 60 Prozent der Patient/innen arbeitslos, 25 Prozent hatten einen Arbeitsplatz, und 15 Prozent waren nicht erwerbstätig.

    Insgesamt wurde das Pilotprojekt von den Patient/innen sehr gut angenommen. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv und begrüßen, dass das neue integrierte Versorgungssystem eine Erleichterung und eine verbesserte Betreuung für Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien bewirkt. Die Angebote des Pilotprojektes werden sehr positiv angenommen, was sich auch in einer sehr geringen Abbruchsquote widerspiegelt: Nur drei Prozent der Personen, die einen Maßnahmenplan erhalten haben, haben diesen nicht angetreten, nur 19 Prozent der Patient/innen haben bisher den Maßnahmenplan vor dem geplanten Ende der Betreuung abgebrochen.

    Abbildung 4: Nicht-Antritts-Quote und Abbruchquote (MNP = Maßnahmenplan)

    Die Kosten für diese erste Pilotphase beliefen sich auf weniger als drei Millionen Euro und lagen damit um 13 Prozent unter den prognostizierten Kosten von 3,5 Millionen Euro. Dieser Betrag beinhaltet alle ambulanten und stationären Leistungen in den betreuenden Einrichtungen (Leistungsmodule) sowie die Leistungen des regionalen Kompetenzzentrums, die Kosten für den Bewilligungsprozess durch das Institut für Suchtdiagnostik, für das Nahtstellenmanagement durch die Liaisondienste sowie für das Dokumentationssystem und für eine umfassende externe Evaluierung (Rahmenmodule).

    Trotz der deutlich umfassenderen Leistungen und einer Betreuungsdauer von mehr als einem Jahr entsprechen die Betreuungskosten im integrierten Versorgungssystem „Alkohol 2020“ während der Pilotphase 1 damit pro Person den bisherigen Betreuungskosten im rein stationären Versorgungssystem bei einer Aufnahmedauer von durchschnittlich nur knapp zwei Monaten.

    Fallbeispiele aus der Pilotphase 1

    Herr. W ist 53 Jahre alt und wies in den vergangenen 30 Jahren immer wieder problembehaftete Alkoholkonsummuster auf. Nach der Scheidung von seiner Partnerin und insbesondere nach einer Krebsdiagnose im Jahr 2010 stieg sein Konsum sehr stark an. Herr W. hatte in der Vergangenheit bereits einen stationären Aufenthalt sowie eine ambulante Behandlung seiner Alkoholkrankheit in Anspruch genommen, empfand diese Maßnahmen aber als wenig hilfreich.
    Von seinem Sohn erfuhr er vom Projekt „Alkohol 2020“ und wandte sich an das regionale Kompetenzzentrum. Dort wurde mit dem Klienten eine ambulante Therapie beim Verein p.a.S.S. vereinbart. Die medizinischen und psychotherapeutischen Angebote nahm Herr W. sehr gut an, es konnte damit begonnen werden, die Gewalterfahrungen, die Herr W. im Kindesalter gemacht hat, aufzuarbeiten.
    Durch den guten Therapieverlauf konnte Herr W. im Herbst 2016 seinen Beruf als Altenpfleger, den er seit 2010 nicht mehr ausüben konnte, wieder aufnehmen.

    ***

    Frau Y. ist 41 Jahre alt und begann bereits mit elf Jahren, Alkohol zu konsumieren. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hatte Frau Y. einen episodisch stark auftretenden Konsum (bis zu elf Gläser Wein). Bei Frau Y. wurden bereits zuvor mehrere psychische Störungen diagnostiziert. Sie gilt als zu 50 Prozent behindert und bezieht Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Frau Y. besitzt keinen Schulabschluss und hatte bisher meist nur kurze Beschäftigungsverhältnisse. Ihre Tagesstruktur besteht hauptsächlich aus Computerspielen – laut eigenen Angaben, um ihren Problemen zu entfliehen. Sie wurde im Rahmen eines Krankenhausaufenthalts auf das Projekt „Alkohol 2020“ hingewiesen.
    Aufgrund der sehr komplexen Multiproblemlage wurde im regionalen Kompetenzzentrum gemeinsam mit Frau Y. vereinbart, dass eine längere Betreuung im Ausmaß von zwölf Monaten sinnvoll wäre. Ebenso wurde eine Beschäftigungsmaßnahme organisiert, um die Fähigkeiten von Frau Y. zu stärken, ihr langfristig eine Perspektive am Arbeitsmarkt zu eröffnen und eine sinnvolle Tagesstruktur zu ermöglichen.
    Frau Y. begann ihre ambulante Therapie beim Verein Grüner Kreis. Sie kann das Erarbeitete im Alltagsleben gut umsetzen und macht eindeutige Fortschritte. Sie ist seit einigen Monaten auch rückfallfrei. Des Weiteren konnte Frau Y. in den zweiten Arbeitsmarkt integriert werden. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Teilzeitbeschäftigte in einem sozialökonomischen Betrieb in Wien.

    Ausblick: Pilotprojekt Phase 2

    Seit April 2016 wird das Projekt „Alkohol 2020“ in Wien im Rahmen einer zweiten Pilotphase fortgeführt. In dieser Pilotphase beteiligen sich zusätzlich die vier bundesweit zuständigen Sonderversicherungsträger (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft/SVA, Sozialversicherungsanstalt der Bauern/SVB, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau/VAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter/BVA) sowie örtlich ansässige Krankenversicherungsträger (Krankenfürsorgeanstalt der Bediensteten der Stadt Wien/KFA, Betriebskrankenkassen) an der Finanzierung des Projekts. Pro Monat können bis zu 100 alkoholkranke Menschen, die bei einem der teilnehmenden Kostenträger krankenversichert sind, neu in das Projekt aufgenommen und im Rahmen von „Alkohol 2020“ versorgt werden.

    Das integrierte Versorgungskonzept wird kontinuierlich weiterentwickelt und adaptiert. Unter anderem wird das Leistungsangebot durch Kooperationen mit weiteren Einrichtungen laufend ausgebaut, um die Patient/innen bedarfsgerecht zu versorgen. Auch das Case Management des regionalen Kompetenzzentrums wurde seit Beginn der Pilotphase 2 intensiviert. Nach Ende des Maßnahmenplans erfolgt nun ein Abschlussgespräch mit den Patient/innen im regionalen Kompetenzzentrum, in dem unter anderem rückblickend die Betreuung im Maßnahmenplan sowie zukünftige Möglichkeiten zur Rückfallbewältigung thematisiert werden und eine gute Anbindung an das allgemeine Gesundheits- und Sozialsystem sichergestellt wird.

    Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 ein integriertes Versorgungssystem aufzubauen, das bewirkt, dass alkoholkranke Menschen nachhaltig subjektiv und objektiv gesünder und in das gesellschaftliche Leben integriert sind.

    Kontakt:

    Lenea Reuvers, M.A.
    Leiterin Projekt „Alkohol 2020“
    Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH
    Modecenterstraße 14/Block B/2.OG
    1030 Wien
    Österreich
    lenea.reuvers@sd-wien.at
    Projekt „Alkohol 2020“

    Angaben zur Autorin:

    Lenea Reuvers studierte Internationale Beziehungen und Ökonomie an der University of Warwick (UK) und der SAIS Johns Hopkins University (Bologna/USA). Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Außen- und Entwicklungspolitik, bevor sie zur Sucht- und Drogenkoordination Wien wechselte. Dort leitet sie seit August 2013 das Projekt „Alkohol 2020“ mit dem Ziel, ein integriertes Versorgungssystem für alkoholkranke Menschen aufzubauen, in dem erstmals die verschiedenen Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems wie auch verschiedene Kostenträger miteinander kooperieren.

    Literatur:
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (Hrsg.) (2015). S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”. AWMF-Register Nr. 076-001. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html (letzter Zugriff am 01.02.2017).
    • Czypionka, T., Pock, M., Röhrling, G., Sigl, C. (2013). Volkswirtschaftliche Effekte der Alkoholkrankheit. Eine ökonomische Analyse für Österreich. Wien: Institut für höhere Studien.
    • PVA/SDW/WGKK (2014). Alkohol 2020 – Gesamtkonzept für eine integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung in Wien, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH.
    • Reuvers, L. (2015). Alkohol 2020 – Integrierte Versorgung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung: Das Wiener Modell, Wien: Sucht- und Drogenkoordination Wien gGmbH. Online verfügbar unter: https://sdw.wien/wp-content/uploads/Alkohol-2020_Konzept-Wiener-Modell-Phase-I.pdf (letzter Zugriff am 07.03.2017)
    • Uhl, A., Bachmayer, S., Kobrna, U., Puhm, A., Kopf, N., Beiglböck, W., Eisenbach-Stangl, I., Preinsberger, W., Musalek, M. (2009). Handbuch Alkohol – Österreich. Zahlen, Daten, Fakten, Trends. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Wien: Bundesministerium für Gesundheit.
    • World Health Organization (WHO) (2014). Global status report on alcohol and health 2014. Geneva: WHO.
    • World Health Organization (WHO) (2015). The European health report 2015 / Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. Copenhagen: WHO.
  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.

  • Aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Mit dem vorliegenden Beitrag werden die aktuellen Entwicklungen der Anträge und Bewilligungen sowie die Änderungen in der Statistik im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung dargestellt. Zunächst wird der Verlauf der Antrags- und Bewilligungszahlen für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker in den letzten zehn Jahren betrachtet. Diese Daten für den Bereich der gesamten Rentenversicherung stammen aus der Antrags- und Erledigungsstatistik gemäß § 3 RSVwV (Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Statistik in der Rentenversicherung).

    Entwicklungen von 2005 bis 2014

    Die Statistik zeigt, dass die Antragszahlen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker für den Bereich der gesamten Rentenversicherung bis zum Jahr 2007 gestiegen sind und seitdem kontinuierlich zurückgehen. Ausgenommen hiervon ist das Jahr 2009 (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Diese Situation spiegelt sich vergleichbar bei den Bewilligungen wider. Hier ist eine Steigerung der Bewilligungen bis zum Jahr 2009 zu sehen und seitdem ein kontinuierlicher Rückgang bis zum Jahr 2013 zu verzeichnen. Im Jahr 2014 steigen die Bewilligungen wieder leicht an (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2
    Abbildung 2

    Die möglichen Gründe für den seit Jahren zu verzeichnenden Antragsrückgang sind ausführlich in Gesprächen zwischen der Rentenversicherung und den Suchtfachverbänden sowie in der aus Suchtfachverbänden und Vertretern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Deutschen Rentenversicherung (DRV) gebildeten gemeinsamen Unterarbeitsgruppe „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“ erörtert worden. Im Ergebnis wird angenommen, dass nicht ein Grund allein, sondern eine Reihe von Gründen zusammen den Rückgang der Antragszahlen bewirkt. Einen Grund für den Rückgang der Antragszahlen im Bereich der Rentenversicherung stellt beispielsweise die zum 1. Januar 2011 erfolgte Aufhebung der Versicherungspflicht für Arbeitslosengeld-II-Bezieher in der Rentenversicherung dar.

    Wie sehen die aktuellen Zahlen aus?

    Gehen die Anträge seit 2014 weiter zurück? Die Beantwortung dieser Fragen ist durch statistische Änderungen erschwert. Zum 1. Januar 2015 ist die Statistik von Rehabilitationsanträgen dahingehend geändert worden, dass nur noch Hauptleistungen dargestellt werden. Nachsorgeleistungen und Adaptionen werden nur nachrichtlich ausgewiesen. Das bedeutet, dass die Darstellung in separaten Tabellen erfolgt, da es sich bei Adaptionen und Nachsorgeleistungen um Folgeleistungen zu einer Hauptleistung handelt. Ebenso sind Kombinationsbehandlungen und andere Mischfälle (ambulante Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen Phase oder ganztägig ambulante Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit Verkürzung der vorherigen stationären Phase) betroffen. Für die Antragsstatistik zählt damit künftig nur noch der Antrag für die erste Phase der Kombinationsbehandlung bzw. des Mischfalles.

    Die Vorteile der statistischen Änderungen sind u. a., dass konsequent zwischen Haupt- und Folgeleistungen unterschieden wird und die statistische Behandlung aller Folgeleistungen einheitlich erfolgt.

    Gleichwohl ergibt sich ein Bruch in der Zeitreihenkontinuität der Auswertungsergebnisse der Reha-Antragsstatistik der DRV. Die Mengengerüste der Hauptleistungen der Entwöhnungsbehandlungen vor und nach der Umstellung sind systematisch deshalb nicht vergleichbar. Dies soll zunächst anhand der Daten zu den Bewilligungen für die Jahre 2014 und 2015 verdeutlicht werden.

    Im Jahr 2014 wurden unter Berücksichtigung von Suchtnachsorgeleistungen und Adaptionen in der gesamten Rentenversicherung 81.710 Anträge in der Indikation der Abhängigkeitserkrankungen bewilligt. Für das Jahr 2015 werden ohne die Berücksichtigung von Folge- bzw. Teilleistungen 59.057 bewilligte Anträge ausgewiesen. Adaptionsleistungen wurden im Jahr 2015 im Umfang von 4.917 Leistungen bewilligt, Suchtnachsorgeleistungen im Umfang von 15.816. Unter Berücksichtigung von Suchtnachsorgeleistungen und Adaptionen würde sich somit eine Gesamtanzahl von Bewilligungen in Höhe von 79.790 ergeben. Hieraus berechnet sich ein Rückgang bei den Bewilligungen von rund einem Prozent. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass nunmehr die einzelnen Phasen von Kombinationsleistungen nicht mehr statistisch zählen. Das bedeutet, dass sich der Rückgang der Bewilligungen weiter abschwächen würde. Da die Anzahl aller Kombinationsphasen, die bisher mehrfach gezählt wurden, nicht erfasst werden kann, lässt sich eine genauere Aussage zum Rückgang der Bewilligungen in 2015 leider nicht treffen.

    Letztlich führen die statistischen Änderungen zu einer besseren Vergleichbarkeit und Transparenz der Daten in der Rentenversicherung. Gleichwohl muss in Kauf genommen werden, dass ein Vergleich der Daten aus 2014 (vor der Änderung) mit Daten aus 2015 (nach der Änderung) nicht, beziehungsweise nur eingeschränkt möglich ist.

    Vergleichbar miteinander sind jedoch wieder die Jahre 2015 und 2016. In Tabelle 1 wird jeweils das erste Halbjahr dargestellt.

    Tabelle 1
    Tabelle 1

    Die Daten zeigen, dass sich der Antragsrückgang leider weiter fortsetzt. Dagegen ist bei den Bewilligungszahlen der Rückgang geringer ausgeprägt. Es bleibt uns allen zu wünschen, dass die Ergebnisse der gemeinsamen Unterarbeitsgruppe in den nächsten Jahren Wirkung zeigen und auch dazu führen werden, den Abwärtstrend bei den Anträgen zu stoppen.

    Abschließend der Hinweis, dass für Daten aus der Rentenversicherung ein neues Portal eingerichtet wurde. Jeder kann Zahlen unter https://statistik-rente.de erhalten. Für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind Daten zu den abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen seit 2010 enthalten. Schauen Sie doch mal rein!

    Hinweis zur Bedienung des Statistikportals:

    https://statistik-rente.de > Rehabilitation > Medizinische Rehabilitation > Entwöhnungsbehandlungen für Erwachsene > Link zum interaktiven Bericht. Klicken Sie im interaktiven Bericht mit der rechten Maustaste auf den Datenbereich der Tabelle. Im DropDown-Menü können Sie dann eine Aktion auswählen (z. B. Filtern nach Berichtsjahr).

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Barbara Müller-Simon
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Rehabilitationsrecht (0450)
    im Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Ruhrstraße 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-39362
    barbara.mueller-simon@drv-bund.de

    Thomas Bütefisch
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    GB 0700 – Finanzen und Statistik
    Bereich 0760 – Statistische Analysen
    Ruhrstraße 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-89555
    thomas.buetefisch@drv-bund.de
    http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de

  • Wo stehen die Beratungsstellen?

    Wo stehen die Beratungsstellen?

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Eine gesellschaftspolitisch bewegte Zeit, wie wir sie derzeit erleben, ist stark geprägt von Fragen zur gesellschaftlichen Solidarität und von Erschütterungen des gesellschaftlichen Konsenses – wer hat wie viel an wen zu leisten, wer hat Anspruch auf welche Leistungen und zu welchen Bedingungen? Dabei geht es manchen politischen Kräften und gesellschaftlichen Akteuren seit der so genannten Agenda 2010 um nicht weniger als den Umbau des Sozialstaates. Es geht um Fragen, wie viel Sozialstaat erforderlich und nötig ist und wer welche Steuerungsfunktion darin übernimmt, beispielsweise beim Arbeitslosengeld II im SGB II oder im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rolle und Stellung der ambulanten regionalen Suchthilfe, die in unterschiedliche Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke auf kommunaler wie überregionaler, auf nationaler wie internationaler Ebene eingebunden ist, deren Handeln sich auf regionaler Ebene aber zunehmend an unterschiedlichen Lösungen orientiert.

    Der folgende Blick auf die ambulante Suchthilfe versteht sich als Diskussionsbeitrag zu ihrem besonderen Stellenwert, den sie für die soziale Gemeinschaft oder vielleicht treffender für die Zivilgesellschaft einnimmt bzw. einnehmen kann. Einige Thesen zu Beginn sollen die weiteren Ausführungen thematisch umreißen und strukturieren:

    • Die ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit im umfassenden und besten Sinne.
    • Ihr Leistungsspektrum für Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und auch für die soziale Gemeinschaft ist umfassender und dessen Wirksamkeit höher, als üblich nach außen ersichtlich wird.
    • Die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung haben sich auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies zukünftig noch mehr tun.
    • Die ambulante Suchthilfe erbringt Leistungen, die andere in dieser Form nicht erbringen können – weder niedergelassene Therapeuten noch private Anbieter.
    • Wenn die ambulante Suchthilfe ihr Leistungsspektrum für suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und die soziale Gemeinschaft auch weiterhin erhalten will, muss sie sich in der Form ihrer Leistungserbringung „bewegen“ und ihr Profil schärfen.

    Sozialrechtlicher Rahmen und Auftragsgestaltung

    Um die Rolle und Aufgaben der ambulanten regionalen Suchthilfe im Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, zunächst ihren sozialrechtlichen Rahmen und die Auftragsgestaltung zu skizzieren. Dieser Rahmen ist für die ambulante regionale Suchthilfe wesentlich durch fünf Bereiche geprägt:

    1. Sozialstaatsprinzip und kommunale Daseinsvorsorge

    Die Grundlage der Finanzierung in der ambulanten Suchthilfe, von einzelnen Teilleistungen wie der ambulanten Rehabilitation Sucht abgesehen, fußt auf der kommunalen Daseinsvorsorge, die verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verankert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert ist. Im heutigen Verständnis ist sie zu einem Synonym für die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur geworden, die für ihre Einwohner die erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereitstellt. Die kommunale Daseinsvorsorge ist eine weitgehend freiwillige, nicht einklagbare Leistung. Aktuell steht sie unter Liberalisierungsdruck, bedingt durch das Europäische Wettbewerbsrecht und daraus folgender Überlegungen zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben.

    2. Subsidiaritätsprinzip

    Eng verknüpft mit dem Sozialstaatsprinzip und der Daseinsvorsorge sowie den damit verbundenen staatlichen Fürsorgeleistungen ist das Prinzip der Subsidiarität. Damit ist vereinfacht die Idee gemeint, dass gesellschaftliche Eigenverantwortung und Autonomie Vorrang vor staatlichem Handeln haben. In Bezug auf die Erbringung von Fürsorgeleistungen bedeutet dies, dass (staatliche) Aufgaben soweit als möglich von unteren Ebenen (z. B. Länder, Städte, Kommunen) bzw. kleineren Einheiten ausgeführt werden. Diesem Prinzip unterliegt auch das Verhältnis zwischen den öffentlichen Trägern (Bund, Länder, Gemeinden) und den freien Trägern (freie Wohlfahrtspflege) von Fürsorgeleistungen. Dies bedeutet zwar einen Vorrang für die freie Wohlfahrtspflege bzw. einen Nachrang öffentlicher Träger und Einrichtungen, aber es gab und gibt immer wieder Richtungsstreitigkeiten um die damit verbundene Einschränkung kommunaler Selbstverwaltung und den Erhalt der sozialpolitischen Position der freien, vor allem der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Wir erleben heute eine Diskussion um die so genannte „neue Subsidiarität“, die weit über die einfache Formel von Vor- und Nachrang hinausgeht. Sie bewegt sich mehr im Spannungsfeld von Steuerungsmechanismen, einer relativen Autonomie der handelnden Akteure und den jeweiligen Eigengesetzlichkeiten in den entsprechenden Hilfefeldern. Das leitet automatisch zur Frage der kommunalen Steuerung über.

    3. Kommunale Steuerung

    Die kommunale Steuerung erhält durch Einsparmaßnahmen bei sozialen Leistungen der öffentlichen Hand, durch die damit verbundenen neuen Verteilungsszenarien und durch den Prozess der Kommunalisierung eine neue Qualität. Diese „neue“ Zuweisung von Gestaltungsverantwortung stellt viele Kommunen vor ungewohnte fachspezifische Herausforderungen. Darin steckt gleichermaßen Chance und Verpflichtung für die ambulante Suchthilfe. Dadurch nämlich, dass sie sich als unverzichtbarer Partner in der Gestaltung der sozialen Gegebenheiten vor Ort und somit der sozialen Gemeinschaft vor Ort versteht.

    4. Soziale Leistungsgesetze

    Die Rahmenbedingungen ambulanter Leistungen der Suchthilfe werden komplettiert durch die sozialen Leistungsgesetze. Die Krankheit Sucht als ein sehr komplexes Geschehen berührt vor dem Hintergrund ihres biopsychosozialen Erklärungsmodells eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuches. Im Einzelfall ist es erforderlich, die unterschiedlichen Leistungen bedarfsgerecht zu kombinieren, was nicht immer möglich bzw. häufig problematisch ist. Als Beispiel seien hier Maßnahmen für Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Suchthilfe oder die Betreuung substituierter schwangerer Frauen genannt.

    5. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe

    Eine wesentliche Grundlage bzw. auch ein Auftrag für die Gestaltung der ambulanten Suchthilfe im Gemeinwesen ergibt sich über das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „Teilhabe“ zu einem „Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells“ (Bartelheimer, 2007) entwickelt. Teilhabemodelle gehen davon aus, dass materielle Ressourcen und Rechtsansprüche unverzichtbare Voraussetzungen für die Menschen sind, um sich angemessen innerhalb ihrer Gesellschaft zu bewegen. Dies zu realisieren, also Verwirklichungschancen wahrzunehmen, verlangt zum einen persönliche Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen wie Normen oder Infrastruktur. Das Ziel sozialstaatlicher Handlungen besteht demnach darin, die Ungleichheiten bei den Verwirklichungschancen zu reduzieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. In der ambulanten Suchthilfe wäre dann zu prüfen, was sie dazu beitragen kann, dass mehr betroffene Menschen oder bestimmte Gruppierungen die Chance zur Teilhabe am „Gut“ der ambulanten Suchthilfe erhalten.

    Ambulante Suchthilfe ist psychosoziale Arbeit

    Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.300 ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, die jährlich ca. 500.000 suchtkranke oder von Sucht betroffene Menschen erreichen (Jahrbuch Sucht 2013). Die Zahl der Hilfesuchenden hat in der ambulanten Suchthilfe in den letzten Jahren um ca. acht Prozent zugenommen (Deutsche Suchthilfestatistik 2008 bis 2012). Nach Einschätzungen der Beratungsstellen haben die Personalressourcen jedoch in Relation zu den gestiegenen Leistungsanforderungen eher abgenommen.

    Rolle und Selbstverständnis der ambulanten Suchthilfe

    Für Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen sowie deren Angehörige sind die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die zentralen Fachstellen in einem regionalen Hilfesystem und innerhalb eines regionalen Suchthilfeverbundes. Sie stellen für die Hilfesuchenden wie für die Kommune die Umsetzung der Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Kernleistungen einer regionalen Grundversorgung sicher. Damit ist auch der weitere Zugang zu sozialrechtlich normierten Leistungen wie Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verbunden.

    Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe

    Vergegenwärtigen wir uns das Leistungsspektrum der ambulanten Suchthilfe – von spezifischer Präventionsarbeit, Risikominimierung und aufsuchenden Hilfen über Beratung, Begleitung und Betreuung, Behandlung und Rehabilitation bis zu Integrationshilfen, Selbsthilfeunterstützung und Netzwerkarbeit in versorgungsübergreifenden Kooperationsstrukturen – so wird deutlich: Die komplexe Leistungserbringung der ambulanten Suchthilfe ist psychosoziale Suchthilfe und in weiten Bereichen Soziale Arbeit. Im Zusammenspiel sozialer Fragestellungen und sozialer Hilfeleistungen mit Kenntnissen in Beratungsmethoden und psychotherapeutischer Einzel- und Gruppenarbeit, die zusätzlich Ansätze des Empowerments, suchtspezifisches Case Management sowie Ansätze der Lebens- bzw. Sozialraumorientierung und Quartiersarbeit integriert, findet Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe gelebte Wirklichkeit.

    Wie und wo sollten Menschen, die in die Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe kommen, sonst eine umfassende und bedarfsgerechte Hilfe erhalten? Menschen, die Suchtprobleme haben, aber gleichzeitig arbeitslos und verschuldet sind, deren Partnerbeziehung auf der Kippe steht, deren Gesundheit angeschlagen ist, die sich in einer Sinnkrise befinden und sich insgesamt ohne Perspektive fühlen. Der psychosoziale Hilfeansatz der ambulanten Suchthilfe will Menschen „dort abholen“, wo sie stehen. Dazu hält die ambulante Suchthilfe Einiges bereit:

    • ein Verständnis von Empowerment, das die Selbsthilfekräfte und Selbstbestimmung der Betroffenen fördert,
    • einzelfallbezogene Hilfen zur Beratung, zur psychosozialen Begleitung bei Substitution wie auch zur existentiellen materiellen Absicherung,
    • fallbezogenes Case Management zur optimalen Kombination unterschiedlicher Hilfen und Hilfebereiche, z. B. der Suchthilfe mit der Schuldnerberatung, mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit der regionalen Hilfeplanung,
    • das Einbeziehen gemeinwesenorientierter Ansätze, die sich heute unter Begriffen wie Lebens- bzw. Sozialraumorientierung oder auch Quartiersarbeit finden und zum Ziel haben, Menschen in ihrem persönlichen Lebensumfeld zu erreichen und ggf. auch Einfluss auf dieses Lebensumfeld zu nehmen,
    • die Integration neuer Konzepte wie Motivierende Gesprächsführung oder Community Reinforcement Approach (CRA).

    Dies sind Interventionen und Hilfestrategien, die letztlich alle darauf abzielen, immer mehr Menschen mit riskantem oder abhängigem Suchtmittelkonsum frühzeitig und bedarfsgerecht zu helfen.

    Ambulante Suchthilfe und soziale Gemeinschaft (Zivilgesellschaft)

    Über die bloße Tatsache hinaus, dass die ambulante Suchthilfe Anlaufstelle für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit spezifischen Problemen ist, besitzt sie einen (Mehr-)Wert für die soziale Gemeinschaft. Ambulante Suchthilfe versteht sich als Teil der regionalen Gesundheitsvorsorge. In diesem Rahmen bemisst sich ihr Wert aus der Summe ihres unmittelbaren Nutzens für betroffene Menschen und deren Angehörige und ihres mittelbaren Nutzens für die soziale Gemeinschaft. Diesen mittelbaren Nutzen erreicht sie auf vielfältige Weise:

    • Öffentlichkeitsfunktion: Als Anwältin der Betroffenen weist sie auf die Lebensbedingungen suchtkranker Menschen öffentlich hin. Diese öffentliche Thematisierung verhindert, dass die besonderen Problem- und Lebenslagen der betroffenen Menschen einseitig individuell begründet und damit stigmatisiert und tabuisiert werden. Dagegen werden sie als zwar persönlich, aber auch gesellschaftlich und sozial bedingte Prozesse dargestellt. Die ambulante Suchthilfe schafft damit eine wesentliche Grundlage für die Integration suchtkranker Menschen. Denn Integration oder Inklusion erfolgt nicht über die professionellen Helfer, sondern über die Mitmenschen, die Mitbürger, die lernen, Suchterkrankungen zu verstehen und die Betroffenen nicht (mehr) auszugrenzen.
    • Signalfunktion: Die ambulante Suchthilfe ist ein Seismograph für soziale Entwicklungen. Aufgrund ihrer täglichen Arbeit mit suchtkranken Menschen in deren spezifischen Lebensbezügen nimmt sie soziale Entwicklungen frühzeitig wahr. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur auf die Lebensbedingungen der ihr anvertrauten Menschen hinzuweisen, sondern z. B. auch auf Auswirkungen und Konsequenzen, die bestimmte Gesetzesvorhaben und Gesetzeslagen hätten oder haben. Indem sie auf bestimmte Verhältnisse und Entwicklungen aufmerksam macht und sich so in die politische und gesellschaftliche Debatte einmischt, besitzt sie wichtige Signalfunktion bezogen auf die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen.
    • Gesellschaftliche und soziale Teilhabe: Ambulante Suchthilfe leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen und sozialen Teilhabe. Suchtprobleme, die nicht frühzeitig erkannt werden oder die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können, führen zur Exklusion, zur gesellschaftlichen wie sozialen Ausgrenzung. Gerade der umfassende Ansatz der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist Garant dafür, dass neben der unmittelbaren Behandlung der Erkrankung auf medizinischer und psychotherapeutischer Basis auch die Lösung anderer damit verbundener Problemlagen in den Blick kommt, egal ob es sich dabei um materielle Hilfen, die Förderung tragfähiger sozialer Netzwerke, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt oder die Verwirklichung von Rechtsansprüchen handelt.
    • Gesellschaftliche Solidarität: Soziale Arbeit trägt maßgeblich zur gesellschaftlichen Solidarität, also zum Zusammenhalt einer Gesellschaft und deren positiver Weiterentwicklung bei. Der Umgang mit Suchtmitteln, der nicht reglementiert ist, Wirkungen und Konsequenzen von Suchtmitteln, über die nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt wird, ein fehlendes oder unzulängliches Hilfe- und Versorgungssystem sind eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft. Ambulante regionale Suchthilfe wirkt dem entgegen, indem sie sich vorbeugend mit dem adäquaten Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln und mit der Behandlung akuter Suchtprobleme befasst. Dadurch besitzt sie einen hohen kollektiven Nutzen.
    • Soziale Sicherung und soziale Befriedung: Letztlich leistet die ambulante Suchthilfe einen Beitrag zur sozialen Sicherung und zur sozialen Befriedung in der Kommune, indem sie für regionale und spezifische Probleme Lösungsansätze mit entwickelt. Dies kann auf ordnungspolitischer Ebene in Zusammenarbeit mit der Politik und den Sicherungsorganen vor Ort erfolgen, beispielweise zur Entschärfung negativer Konsequenzen lokaler Drogenszenen. Die Suchthilfe kann aber auch zum sozialverträglichen Umgang mit Alkohol in der Öffentlichkeit beitragen, beispielsweise über Angebote zu einer Fest- und Feierkultur, die den Genuss legaler Suchtmittel nicht ausschließen, aber Formen finden, die Konsum- und Gewaltexzesse vermeiden.

     Aktuelle Herausforderungen

    Die oben beschriebene Rolle der ambulanten Suchthilfe und ihr Selbstverständnis werfen aber auch Fragen auf: Hat die ambulante Suchtberatung weiterhin den Willen und die Ressourcen, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen? Sieht sie sich zunehmend in „Konkurrenz“ zu den psychiatrischen Versorgungsstrukturen und zu niedergelassenen Therapeuten/-innen, oder gelingt es ihr, darin Kooperations-Chancen zu entdecken und diese im Sinne einer Optimierung der Versorgungslandschaft für die Hilfesuchenden zu nutzen?

    Wie zuvor beschrieben, haben sich die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung für ambulante Hilfen auf regionaler und kommunaler Ebene stark verändert und werden dies auch weiterhin tun. Die ambulante Suchthilfe stellt Leistungen für Menschen in einem Gemeinwesen zur Verfügung und steht deswegen unter der permanenten Prämisse, sich in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess den gesellschaftlichen Entwicklungen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie veränderten Erwartungen von Seiten der Politik, der Leistungsträger und der Hilfesuchenden anzupassen. Daraus ergeben sich zentrale aktuelle Herausforderungen:

    Unter der Prämisse der Ökonomisierung ambulanter Hilfen, aber auch aufgrund veränderter Bedarfe der Hilfesuchenden und neuer fachlicher Kenntnisse, haben sich das Leistungsangebot wie auch die Leistungserbringung stark gewandelt. Die Modularisierung der Hilfen und Angebote hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, d. h. es werden zunehmend bedarfsorientierte und passgenaue Hilfen, Interventionen und Maßnahmen für spezifizierte Klientengruppen angeboten. Hierdurch können die Hilfen effektiver und effizienter angeboten werden. Aufsuchende Hilfen, z. B. in Haftanstalten, Betrieben oder Krankenhäusern, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Über Maßnahmen der Früherkennung und Frühintervention werden Klienten/-innen früher erreicht, und es werden auch andere Klientengruppen erreicht. Ansätze der Lebenslagen- bzw. Sozialraumorientierung kommen vermehrt in den Blick.

    Das alles wirkt sich auch auf das erforderliche Handlungswissen der Berater/innen aus. Sie werden immer stärker von Spezialisten zu Generalisten. Die Mitarbeiter/-innen ambulanter Beratungsstellen verstehen sich heute als multidisziplinäre Teams in Netzwerkarbeit und mit Case-Management-Orientierung. Gleichzeitig bestehen hohe Ansprüche an Effektivität und Effizienz vor dem Hintergrund einer hohen Qualitätsorientierung.

    Die skizzierte (positive) Entwicklung darf aber nicht von der Kehrseite der Medaille ablenken. Eine bedarfsorientierte Leistungserbringung, die ökonomisch sinnvoll und qualitativ hochwertig ist, erhöht den administrativen Aufwand und bringt zwangläufig fachlich und personell anspruchsvolle Leitungs- und Steuerungsaufgaben mit sich. Durch die stärkere Differenzierung und Ökonomisierung der ambulanten Hilfen nimmt in den Beratungsstellen die unmittelbare Beratungs- und Betreuungszeit für den einzelnen Klienten ab, und die Verdichtungen in den Arbeitsbezügen nehmen deutlich zu. Das für die ambulanten Hilfen zentrale Moment der Beziehungsgestaltung und der Bindungsarbeit verändert sich. Berater/-innen weisen deutlich darauf hin, dass die Gesprächs- und Betreuungszeiten für ihre Klientel spürbar abgenommen haben. Bei gleichbleibenden personellen Ressourcen stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob und wie der hohe Anspruch an das Qualitätsniveau ambulanter Leistungen aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt signalisieren Beratungsstellen, dass das Qualitätsniveau in den einzelnen Angeboten variiert. Durch passgenaue und zielführende Angebote kann das Leistungsniveau für bestimmte Klientengruppen erhöht werden, während es an anderer Stelle, bedingt durch die nicht gleichzeitig angepassten Ressourcen, wiederum abnimmt. Auf einen Nenner gebracht, befürchten Berater/-innen einen Rückgang der Nachhaltigkeit der Leistungen, was sich beispielweise in den Halte- und Rückfallquoten niederschlägt.

    Die ambulante Suchthilfe ist überwiegend pauschal finanziert auf den Säulen von Eigenmitteln, staatlichen Zuschüssen, Refinanzierungen/Erwirtschaftungen und Projektfinanzierungen. Die kostendeckende Finanzierung der Leistungen und Angebote der ambulanten Suchthilfe ist in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. Öffentliche Mittel sind rückläufig und stehen unter Einsparvorbehalt. Die Leistungsvergütung hat sich für die Leistungserbringer tendenziell verschlechtert. Gleichzeitig nimmt der Druck in den Einrichtungen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu. Tendenziell nimmt der pauschal finanzierte Anteil im Budget der Beratungsstellen ab. Ziel einer auskömmlichen Finanzierung ist eine grundsätzliche Kostendeckung, es ist aber auch zu vermeiden, dass die pauschale Finanzierung der Grundversorgung in den Kommunen mit spezifischen Leistungsangeboten konkurriert bzw. verrechnet wird.

    Perspektiven der ambulanten Suchthilfe

    Hat die ambulante Suchthilfe auch weiterhin das Ziel, erste Anlaufstelle für alle Fragen, Personen und Institutionen im Zusammenhang mit Abhängigkeit in einer Region oder Kommune zu sein und Lotsenfunktion zu übernehmen, dann sind – verbunden mit den eben skizzierten Herausforderungen – folgende Aspekte für eine Perspektive wesentlich:

    Suchtberatung ist allen zugänglich und hilft frühzeitig, sie ist teilhabe- und sozialraumorientiert

    Wie im Sinne einer Präambel muss im Grundverständnis der Daseinsvorsorge der Kommunen verankert sein, dass Suchtberatung allen Bürgern/-innen voraussetzungslos zugänglich sein muss. Niemand wird wegen seiner Herkunft, seiner Lebensumstände oder mangelnder Kaufkraft ausgeschlossen. Professor Matthias Möhring-Hesse von der Hochschule Vechta geht so weit, bei der Sozialen Arbeit von einem „öffentlichen Gut“ zu sprechen, von dessen Nutzung niemand ausgeschlossen sein darf. Ein Angebot nach diesem Verständnis muss per se niedrigschwellig sein. Mit dem Ziel erhöhter Erfolgschancen wie auch im Sinne von Ressourcenschutz hat die Suchtberatung den Anspruch, möglichst frühzeitige Hilfe zu leisten. Das gilt auch für eher „schwer erreichbare“ Zielgruppen, bei denen die ambulante Suchthilfe mit einem rein nachfrageorientierten Verständnis im Sinne der „Komm-Struktur“ an ihre Grenzen stößt. Das erfordert ein Umdenken im methodischen Zugang der ambulanten Suchthilfe. Ansätze aufsuchender Hilfen werden ausgeweitet. Angebote und Maßnahmen werden zunehmend im Verständnis von Sozialraumorientierung entwickelt und erbracht.

    Die Schärfung des eigenen Profils beginnt bei der Diagnostik

    Die Bedarfe der Hilfesuchenden werden immer vielschichtiger. Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an die Diagnostik und Psychodiagnostik in der ambulanten Suchthilfe, die diese Vielschichtigkeit der Lebenslagen erkennen und erfassen muss. Daraufhin ergeben sich Anforderungen an ein modulbezogenes und bedarfsgerechtes Hilfeangebot und insbesondere an ein gestuftes Hilfeangebot, das im Sinne von stepped care und Ressourcenorientierung angemessene und aufeinander aufbauende Maßnahmen der Beratung, Begleitung und Behandlung bereithält. Das handlungsleitende Prinzip dabei ist: „So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich“ – statt „Viel für wenige“ eher „Etwas für viele“. Eine solche Differenzierung des Leistungsprofils unterscheidet Kernleistungen (Grundversorgung), spezifische Leistungen für die jeweilige Kommune (Pflicht) und von der ambulanten Suchthilfe zusätzlich angebotene Leistungen (Kür). Die ambulante Suchthilfe benötigt zukünftig mehr fachliche und personelle Ressourcen für managementorientierte Aufgaben. Nicht zu Lasten der Beratung und Betreuung, aber ergänzend, damit die Verschiebung in der Arbeit zu Koordinierung, Vernetzung, Wirkungsorientierung und Ökonomie besser gelingt.

    Verbünde haben Konjunktur – gemeinsam sind wir besser

    Aufgrund der steigenden fachlichen und versorgungsorientierten Anforderungen werden strategische Überlegungen zur Verbundorientierung an Bedeutung gewinnen – je nach den jeweiligen regionalen und kommunalen Erfordernissen. In eine kommunale oder regionale Suchthilfeplanung, die sich eine bedarfsorientierte Grundversorgung im Sinne einer öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Ziel gesetzt hat, müssen die vielfältigen Netzwerke eingebunden sein. An dieser Stelle kann und muss die ambulante Suchthilfe eine zentrale koordinierende und flankierende Rolle spielen.

    Auf den Schnittstellen liegt das Augenmerk der Zukunft

    Komplexe Problemlagen benötigen in der Regel komplexe Lösungen. Das ist eine Binsenweisheit. Viele Problemlagen, mit denen die Suchthilfe konfrontiert ist, lassen sich alleine aus der Suchthilfe heraus nicht lösen, sondern nur in sinnvoller Kooperation mit anderen Akteuren innerhalb einer integrierenden Versorgungslandschaft. Die eigentliche Weiterentwicklung im Sinne verbesserter Hilfen und Angebote für betroffene Menschen liegt in einer optimierten und intensivierten Schnittstellenarbeit. Das bindet fachliche wie personelle Ressourcen und kann nicht mal schnell nebenher erledigt werden. Erforderlich ist: Voraussetzungen zu schaffen, um diese eigenständige Fachlichkeit des Schnittstellenmanagements erbringen zu können.

    Wirkungsorientierung ist der Boden, auf dem wir stehen

    Die konsequente Darstellung von Wirkzusammenhängen wird an Bedeutung gewinnen. Dies ist erforderlich für die fachliche Weiterentwicklung, für die Transparenz der Arbeit, für den gezielten Einsatz von Ressourcen und damit für die Rechtfertigung des Handelns in der ambulanten Suchthilfe – letztlich auch in einem fast moralisch zu verstehenden Sinn: Hilfesuchende Menschen in der ambulanten Suchthilfe haben ein Recht auf wirkungsvolle Hilfen. Das deutlich zu machen, konsequenter und intensiver darzustellen – gegenüber den Geldgebern aus der öffentlichen Hand und der Sozialversicherung, der Politik wie auch in die Öffentlichkeit hinein – ist eine vordringliche Aufgabe der ambulanten Suchthilfe.

    Der Blick auf die Ökonomie macht ehrlicher

    Ähnliches gilt für den unmittelbaren Zusammenhang von Kosten und Nutzen. Dabei darf der Blick auf die Ökonomie nicht alles sein, darf nicht zum vorherrschenden Maßstab des Handelns werden. Aber der Blick auf Ökonomie macht ehrlicher. Eine langfristige ökonomische Sicht ist abzugrenzen von kurzfristigen Kosteneinsparansätzen, bei denen es nur darum geht, monetär festzustellen, wer welche Leistung am billigsten anbieten kann. Ökonomie langfristig verstanden bedeutet, öffentlich darzustellen, dass wirtschaftliche Erfordernisse nicht zu trennen sind von Wirkungszusammenhängen, von der Nachhaltigkeit in der Leistungserbringung, vom unmittelbaren Nutzen der Leistungen für die Betroffenen und vom mittelbaren Nutzen für die soziale Gemeinschaft. Ökonomie so verstanden ist ein deutliches Argument gegen die allein subjektbezogene Finanzierung auf der Grundlage von Einzelverträgen und Leistungsvereinbarungen und für eine langfristige ökonomische Gestaltung der Hilfen. Und sie ist ein gewichtiges Argument für den Aufbau einer langfristigen Sozialpartnerschaft zwischen Kommune und Leistungsanbietern vor Ort.

    Qualitätsmanagement sichert den Erfolg

    Der gleichermaßen konsequente wie umsichtige Umgang mit Qualitätsmanagement schafft die Grundlagen dafür, in den Einrichtungen der ambulanten Suchthilfe die vielschichtigen fachlichen und leistungsrechtlichen Anforderungen und damit verbundene Maßnahmen so zu ordnen und aufeinander zu beziehen, dass deren Wirkungen auch dort ankommen, wo sie hinzielen, also bei den Menschen mit Suchtproblemen.

    Fazit

    Das Paradigma aus Wirksamkeit (Effektivität), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Nachhaltigkeit (Qualität) darf nicht der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung von Maßnahmen der ambulanten Suchthilfe sein. Nicht alles lässt sich in dieses Schema einordnen, nicht alle Problemlagen und Lösungsansätze lassen sich in messbare Schablonen pressen. Das geht auf Kosten der Vielfältigkeit und vor allem der Kreativität der Lösungen. Die Lebenswirklichkeit der hilfesuchenden Menschen ist vielschichtiger, lebendiger. Und die Antwort der ambulanten Suchthilfe in ihrer Orientierung an der psychosozialen Arbeit ist vielschichtiger, kreativer.

    Aber die ambulante Suchthilfe muss sich dem beschriebenen Optimierungsprozess stellen, managementorientierte Handlungsprogramme mit Augenmaß einsetzen und mit den lebendigen und kreativen Möglichkeiten psychosozialer Arbeit verknüpfen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Geschäftsführer
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas-Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
    • Hans Joachim Abstein, AGJ Freiburg, Projekt „Zukunftsfähigkeit der PSB der LSS Baden-Württemberg“, Freiburg 2010
    • Arbeitsgemeinschaft Katholische Suchtkrankenhilfe (AKS), Sucht(-hilfe) kostet Geld – Suchthilfe spart Geld! – eine Argumentationshilfe für die Praxis, Freiburg 2003
    • Peter Bartelheimer, Politik der Teilhabe, Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin 2007
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Leistungsbeschreibung für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe, DHS, Hamm 1999
    • Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V., Grundversorgung in der ambulanten Such- und Drogenhilfe, Köln 2009
    • Zukunftsforum Politik. Sozialer Bundesstaat 66. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2005
      FOGS-Studie DCV, Integrierte Versorgungsstrukturen – Kooperation und Vernetzung in der Suchthilfe der Caritas, Köln 2008
    • Institut für Therapieforschung (IFT), Suchthilfe in Deutschland, Jahresberichte der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) 2008 bis 2012, München
    • Matthias Möhring-Hesse, Hochschule Vechta, Die Zukunft der sozialen Arbeit im Sozialstaat, Frankfurt 2005
    • Hans-Uwe Otto, Universität Bielefeld, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und Wirkungen im Feld der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion, Berlin 2007
    • Petzold, H., Steffan A. Gesundheit, Krankheit, Diagnose- und Therapieverständnis in der Integrativen Therapie, in: Integrative Therapie 2001
    • Wolfgang Scheiblich, Zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie – Die Anforderungen an die Suchtkrankenhilfe, Sozialdienst Katholischer Männer e.V., Köln 2004
    • Renate Walter-Hamann, Suchtberatung ist keine Restkategorie, in: neue caritas 18/2007, Deutscher Caritasverband, Freiburg 2007
  • Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

    Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

    Rita Hansjürgens
    Rita Hansjürgens

    Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist seit den Anfängen der Versorgung Suchtkranker ein Teil des Hilfesystems. Obwohl regional oft akzeptiert und geschätzt, scheint bis heute im Fachdiskurs unklar zu sein, was genau Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist und wie sie ihre Aufgaben insbesondere im Umgang mit Konsumenten von legalen Suchtmitteln wahrnimmt. Im Rahmen einer qualitativen Arbeitsfeldanalyse wurden diese Tätigkeiten rekonstruiert. Sichtbar wurde, dass die Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe komplexe Tätigkeiten sowohl auf der Ebene des individuellen Kontakts (Mikroebene) als auch auf der Ebene der Vernetzung von Institutionen (Mesoebene) wahrnimmt, die deutlich über einfache Suchtanamnese und formale Vermittlungstätigkeit hinausgehen. Deutlich wurde aber auch, dass der formale Rahmen diese Tätigkeiten nicht abbildet und hier nur wenig Orientierung und Sicherheit gibt. Fachkräfte der Sozialen Arbeit brauchen ein deutlicheres Bewusstsein ihrer eigenen Expertise, und Konzepte der Sozialen Arbeit müssen expliziter in Organisationsstrukturen und Qualitätshandbücher Eingang finden, um Hilfepotentiale der Sozialen Arbeit dauerhaft für KlientInnen zu sichern.

    Ausgangslage

    Die ambulante Suchthilfe im Allgemeinen hat sich hervorgehend aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit primär fürsorgerischer Intention professionalisiert. Heute umfasst sie ein weit differenziertes Angebot für Menschen mit Suchtverhalten oder seinen Vorstufen. Dies Angebot richtet sich an die Betroffenen selbst sowie an ihr soziales Umfeld, unabhängig von der Art und Weise der konsumierten Substanz oder der Verhaltensauffälligkeit, die im Zusammenhang mit Sucht steht. Das Angebot reicht von der ersten Kontaktaufnahme über Beratungsangebote, die Vermittlung in weitere suchtspezifische (Therapie-)Angebote und Nachsorge nach erfolgter Therapie bis hin zu Langzeitprozessen, die mit Unterbrechungen Jahre dauern können.

    Seit ihrem Entstehen Anfang des 20. Jahrhunderts war die ambulante Suchthilfe ein multiprofessionell geprägtes Feld, zunächst durch die Berufsgruppen von Theologen und Diakonen, aber auch zum Teil durch Ärzte geprägt. Aber „seit der Nachkriegszeit strömten immer mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in das Feld der Suchthilfe. Sie wurden zu wesentlichen Trägern der Professionalisierung.“ (Helas 1997)

    Heute hat sich die ehemals ehrenamtlich geprägte ambulante Suchthilfe zu einer professionellen Hilfeleistung entwickelt. Ambulante Suchthilfe besteht heute zu 98 Prozent aus ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen. Der multiprofessionelle Charakter dieses Arbeitsfeldes hat sich gehalten. Aktuell sind dort ÄrztInnen (zwei Prozent) genauso tätig wie PsychologInnen (elf Prozent) oder PädagogInnen, SozialwisssenschaftlerInnen und SoziologInnen (insges. acht Prozent). Aber bis heute stellen SozialarbeiterInnen mit 69 Prozent die größte akademisch ausgebildete Berufsgruppe in der ambulanten Suchthilfe dar (Pfeiffer-Gerschel et al. 2012). Dies bedeutet, dass die ambulante Suchthilfe bis heute ein klassisches Feld der Sozialen Arbeit ist und deshalb vornehmlich durch einen eher sozialarbeiterischen Habitus bzw. sozialarbeiterische Methoden geprägt sein müsste. Umso erstaunlicher ist, dass speziell für das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe eine Analyse in Bezug auf ihre Tätigkeiten und Handlungsweisen nur begrenzt vorliegt und eher einen groben Überblick liefert oder sich vornehmlich auf die Arbeit mit KonsumentInnen von illegalen Suchtmitteln bezieht (Loviscach, Lutz 1996; Preuß-Ruf 2012; Stöver 2012). Dieser Befund war der Auslöser für den Versuch, Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe näher beschreiben zu wollen mit besonderem Fokus auf die Inhalte, auf methodisches Handeln und Professionalität.

    Forschungsdesign

    Fragestellung

    Anhand von Selbstbeschreibungen der Fachkräfte sollte versucht werden zu klären, welche Aufgaben SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe wahrnehmen und wie sie diese bearbeiten. Konkret sollte versucht werden herauszufinden, ob sich Handeln und Selbstwahrnehmung in ausgewählte Theorien und Konzepte der Profession Soziale Arbeit einordnen lassen und zu einer Arbeitsfeldbeschreibung verdichtet werden können.

    Rechtliche Rahmenbedingungen und theoretische Grundlagen

    Von Fachverbänden formulierte Standards und gesetzliche Rahmenvorgaben beschreiben, welche Aufgaben Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe wahrnehmen sollen. Als entsprechende Quellen wurden herangezogen:

    • „Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe“ des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel fdr (2005)
    • „Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen“, herausgegeben von der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren DHS (1999)
    • „Suchthilfe im regionalen Behandlungsverbund“, ebenfalls von der DHS herausgegeben (1999)
    • Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW), insbesondere § 16 Abs. 2 (Hilfen der unteren Gesundheitsbehörde für Abhängigkeitskranke)
    • Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG)
    • SGB VI § 13 Anl. 9 (= Anl. 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“)
    • SGB VI § 13 Anl. 6

    In den letzten Jahren wurden weitere Standards einer professionellen Sozialen Arbeit entwickelt und festgelegt. Zu nennen sind folgende theoretische Grundlagen:

    • Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011)
    • Zuständigkeit und Ziele sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie, welche sich konkret auf die „Schaffung von sozialen Erfahrungsräumen, Erfahrung von Sinn, Schaffung von Sicherheit und Selbstwirksamkeitserfahrungen“ beziehen (Sommerfeld et al. 2011)
    • „Multiperspektivisches Fallverstehen“ als Kernkompetenz „Sozialpädagogischen Könnens“ (Müller 2012)
    • Beschreibung eines Professionsideals Sozialer Arbeit mit den Dimensionen „Spezifisches Berufsethos, Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses, Fähigkeit zum theoriegeleiteten Fallverstehen“ (Becker-Lenz, Müller 2009)

    Forschungsgegenstand und Auswahl der GesprächspartnerInnen

    Gegenstand dieser Forschungsarbeit waren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in der ambulanten Suchtkrankenhilfe arbeiten. Da sich Beschreibungen Sozialer Arbeit in der Suchthilfe vor allem auf den Bereich der Arbeit mit Abhängigen von illegalen Suchtmitteln beziehen, sollte in dieser Forschungsarbeit der Schwerpunkt auf der Sozialen Arbeit im Kontext mit Abhängigen von legalen Suchtmitteln liegen (vornehmlich Alkohol und Medikamente). Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden GesprächspartnerInnen aus dem eher ländlichen Raum mit einem Einzugsgebiet von ca. 150.000 bis 250.000 Einwohnern gesucht. Die Arbeitsstellen liegen teilweise in einem Flächenkreis und sind daher dezentral organisiert. Alle Beratungsstellen liegen in NRW, um von einer einheitlichen Rechtslage in Bezug auf die Finanzierung ausgehen zu können. Zustande kamen fünf Interviews mit drei weiblichen und zwei männlichen InterviewpartnerInnen im Alter von 36 bis 59 Jahren. Es handelt sich um festangestellte MitarbeiterInnen mit zehn bis 30 Jahren Berufserfahrung im Feld der Suchthilfe, davon vier bis 30 Jahre im untersuchten Einsatzgebiet. Die Interviewpersonen sind primär im Aufgabengebiet der allgemeinen Versorgung eingesetzt und nicht in einem Spezialfeld (z. B. Betreutes Wohnen, Prävention, ambulante Therapie), wobei berufliche Vorerfahrungen in diesen Feldern teilweise vorliegen.

    Der explorative Charakter dieser Untersuchung legt eine quantitative Überprüfung der Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt nahe, welche aktuell in Vorbereitung ist.

    Erhebung der Daten

    Es sollte ein qualitatives Design angewandt werden, das dazu geeignet ist, aus einer Beschreibung des konkreten Tuns verifizierbare Kategorien zu extrahieren. Daher wurde als Erhebungsmethode ein leitfadengestütztes Experteninterview mit festangestellten SozialarbeiterInnen der operativen Ebene in Anlehnung an Helfferich (2011) und Bogner (2009) gewählt. Als theoretischen Hintergrund für den Interviewleitfaden wurden die Theorieskizze Sozialer Arbeit mit Zuständigkeiten und Zielen Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie (Sommerfeld et al. 2011) sowie die Beschreibung eines Professionsideals von Sozialer Arbeit auf der Basis eines professionellen Habitus (Becker-Lenz, Müller 2009) herangezogen.

    Auswertung der Daten

    Die Interviews wiesen aufgrund der Unterschiede in Alter, Berufserfahrung im Feld, Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Geschlecht der Befragten maximal kontrastierende Merkmale auf. Sie wurden in Anlehnung an Bohnsack (2003) transkribiert und in Anlehnung an das sequentielle Verfahren der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1980) ausgewertet. In einer sich anschließenden vergleichenden Analyse wurden die gefundenen Fallstrukturen noch einmal verdichtet und in Bezug auf die Beantwortung der Forschungsfrage – welche Aufgaben übernehmen SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe und wie nehmen sie dies wahr? – reformuliert. Dabei dienten die oben genannten theoretischen Grundlagen als „Folie“, um zu überprüfen, ob und wenn ja welche Elemente der aus der Theorie bekannten professionellen Weiterentwicklungen der Sozialen Arbeit in der Praxis der ambulanten Suchtkrankenhilfe auftreten und möglicherweise auch benannt werden.

    Ergebnis der Untersuchung

    Die Forschungsfrage setzte sich aus zwei Teilfragen zusammen. Für jede werden die Ergebnisse im Folgenden einzeln vorgestellt.

    Welche Aufgaben übernehmen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe?

    Als wichtigste Aufgabe wird auf der Ebene der direkten Arbeit mit den KlientInnen (Mikroebene) ein multiperspektivisches Fallverstehen gesehen, welches einen großen Raum einnimmt in der konkreten Arbeit. Diese diagnostische Herangehensweise ist die Grundlage für alle weiteren Tätigkeiten der Fachkräfte sowie auch für die Gestaltung eines Arbeitsbündnisses. Über das Fallverstehen und die Konstituierung des Arbeitsbündnisses, explizit auch in und mit Zwangskontexten (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle), wird die in der Regel vorhandene Ambivalenz der KlientInnen bearbeitet (sog. Motivationsarbeit). Die Auflösung der Ambivalenz führt dann in der Interventionsphase entweder zu einer Vermittlung in weiterführende Hilfen, zu einer problemzentrierten Beratung innerhalb der Einrichtung oder zu einer (vorläufigen) Beendigung des Kontaktes.

    Im Rahmen der Vermittlung übernimmt die ambulante Suchthilfe meist Lotsenfunktion für die KlientInnen im (Sucht-)Hilfesystem und leistet individuelle Hilfe und Unterstützung bei der Antragstellung. Diese direkte Vermittlung bezieht sich auf suchtbezogene Hilfen nach den SGB V und VI (Entgiftung und Therapie) oder die Vermittlung in Selbsthilfe oder andere nicht suchtspezifische Hilfen. Die Tätigkeit der Vermittlung wird von den Fachkräften weniger als „technischer oder administrativer Akt“ verstanden, sondern zum einen als aktive Biographiearbeit und erste Erarbeitung subjektiver weitergehender Therapieziele und zum anderen als Teil der Gestaltung eines Prozessbogens, der mit dem Fallverstehen beginnt und mit der vollzogenen Vermittlung nicht zwangsläufig enden muss. Der Bogen kann sich auf der Basis des sog. Arbeitsbündnisses in Zeiten des Übergangs fortsetzen (z. B. zwischen Therapie und Nachsorge oder bei Nicht-Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen), und die Beratungsstelle kann abermals als Schnittstelle zu einer weiter versorgenden Stelle fungieren.

    Die durch die problemzentrierte Beratung und individuelle Hilfeplanung gewonnen Erkenntnisse in Bezug auf Notwendigkeiten der Hilfe für die Suchtkranken (z. B. bei neuen Trends des Substanzkonsums oder Veränderung der Lebensbedingungen der KlientInnen) führen zu einem vertieften Fallverstehen und fließen in die Vorschläge für eine Optimierung bzw. Anpassung der regionalen Versorgungssituation ein. Abbildung 1 stellt eine Visualisierung der gefunden Tätigkeiten dar.

    Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)
    Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)

    Auf der Mesoebene (Strukturebene) sind als Aufgaben in erster Linie die Kooperation und Vernetzung – teilweise auch die aktive Initiierung und Pflege eines regionalen Suchthilfenetzes – auf der professionellen Ebene zu nennen. Diese Vernetzung erfolgt in Richtung der Hilfen nach SGB V und VI, aber auch in Richtung der Selbsthilfe und der nicht primär suchtbezogenen Hilfen. Als konkrete Elemente der Netzwerkarbeit konnten zum einen die Moderation von und Mitarbeit in Arbeitskreisen gefunden werden und zum anderen Kooperation und Konfliktmanagement mit zunächst eher losen Kontakten. Aus dieser Zusammenarbeit ergibt sich dann ebenfalls (wie auf der Mikroebene) ein Arbeitsbündnis, nun aber zwischen konkreten Organisationen. Über dieses Arbeitsbündnis werden dann feste Kooperationen, teilweise mit Festschreibung in Kooperationsverträgen, und Fortbildungen, z. B. für Einrichtungen der Jugendhilfe, Betriebe oder Einrichtungen der Arbeitsvermittlung, vereinbart (s. Abb. 2).

    Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)
    Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)

    Mit Blick auf das Finanzierungssystem und die vorhandenen Standards kann festgestellt werden, dass die rechtsverbindlichen Vorgaben der gesetzlichen Grundlagen (ÖGDG und PsychKG) sich inhaltlich und fachlich vieldeutig gestalten und eine direkte Ableitung von Aufgaben nicht erlauben. Währenddessen haben die Fachstandards und Richtlinien der Leistungsträger der ambulanten Rehabilitation für diejenigen Einrichtungen, die eine solche im Haus anbieten, einen quasi Rechtsstatus, an dem sich die ganze Organisationsstruktur der Einrichtung orientiert, obwohl die Leistungen im Vorfeld einer ambulanten Therapie ausdrücklich nicht von der DRV und der GKV refinanziert werden. Die für die Umsetzung nötigen Ressourcen speisen sich aus den Leistungsverträgen, die mit den Kommunen auf der Basis des ÖGDG bzw. PsychKG ausgehandelt werden und letztlich eine freiwillige Leistung darstellen. Die eigentliche Versorgungsverpflichtung der unteren Gesundheitsbehörden bezieht sich auf die Vorhaltung eines Sozialpsychiatrischen Dienstes (§ 16, Abs. 2 ÖGDG, § 5 Abs. 1 S. 1 Psych KG).

    Wie nehmen Fachkräfte der sozialen Arbeit ihre Aufgaben wahr?

    Ein Vergleich der von den Fachkräften beschriebenen Tätigkeiten mit den oben genannten theoretischen Grundlagen professionellen sozialarbeiterischen Handelns ergab, dass die Tätigkeiten diesen im Wesentlichen entsprechen:

    • Die wahrgenommen Aufgaben mit ihrem vornehmlich beraterischen, therapienahen Schwerpunkt entsprechen einer Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011).
    • Es kann davon ausgegangen werden, dass die Klärung der Ambivalenz der KlientInnen verbunden mit einer aktiven Unterstützung (nicht Übernahme!) bei der administrativen Beantragung weiterführender Leistungen dazu beiträgt, für die KlientInnen Sicherheit zu schaffen und sie in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, wie dies als Zuständigkeit und Ziel der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie beschrieben wird (Sommerfeld et al. 2011). Um dieses zu verifizieren, müsste eine Untersuchung aus der KlientInnenperspektive erfolgen.
    • Die Art des Fallverstehens zeigt deutliche inhaltliche und methodische Nähe zum multiperspektivischen Fallverstehen (Müller 2012) mit den Dimensionen „Fall von“ (fachlich-sachliche Bestandsaufnahme), „Fall für“ (konsiliarische Beteiligung anderer professioneller Hilfesysteme, teilweise auch mit Initiierung einer Akutversorgung) und „Fall mit“ (systematische Exploration der Sichtweise des Klienten/der Klientin selbst). Die Fachkräfte brachten eine Haltung zum Ausdruck, die die Autonomie der KlientInnen und eine Orientierung an deren biopsychosozialer Integrität betont.
    • Des Weiteren wurde, wie auch schon in den Ergebnissen zu den wahrgenommen Aufgaben dargestellt, ein Arbeitsbündnis geschlossen und gestaltet. Das von den Fachkräften dargelegte Wissen zeigt ein biopsychisches Verständnis von Sucht, das auf den Einzelfall bezogen, durch „Erfahrung“ ergänzt und in das Fallverstehen integriert wird. Dies bedeutet, dass hier alle Elemente eines Professionsideals (Becker-Lenz, Müller 2009) rekonstruiert werden konnten.

    Professionstheoretisch bemerkenswert allerdings war der Befund, dass die Anwendung der beschriebenen Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit in keinem der untersuchten Fälle den Fachkräften bewusst war und als solche beschrieben werden konnte, weiter noch, dass die Fachkräfte die sozialarbeiterischen Konzepte gar nicht kannten. Die Erklärung liegt darin, dass alle Konzepte erst in jüngerer Zeit entwickelt wurden und damit noch nicht Teil der Ausbildung der Befragten waren. Dass die Fachkräfte dennoch danach handelten, ergibt sich daraus, dass sie ihr Tun in der Reflexion der Bedürfnisse und Wünsche der KlientInnen und der Möglichkeiten der organisationalen Rahmenbedingungen entwickelt haben und immer weiterentwickeln. Kristallisationspunkt des dargelegten Wissens ist ein in erster Linie biopsychisches Verständnis von Sucht. Das Wissen um die soziale Dimension wird durch die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionswissen in Fachteams und Supervision ergänzt. Dies bedeutet, sozialarbeiterisches Wissen wurde und wird in Fallbesprechungen, Intervision und Supervision entwickelt und fließt dann in Handlung und Organisationsstrukturen. Dieses speziell sozialarbeiterische Wissen ist aufgrund seiner fallbezogenen Entwicklung als so genanntes implizites Wissen zu kategorisieren. Somit entstehen die sozialarbeiterischen Interventionen und Organisationssturen auf Basis des in Beziehung Setzens von theoretischem (biopsychischem) Wissen, bereits erworbenem Professionswissen (Erfahrungswissen) und den Erfordernissen des konkreten Falls.

    Diskussion

    Im Rahmen der Untersuchung wurde deutlich, dass ambulante Suchtberatungsstellen strukturell eine vermittelnde Rolle einnehmen zwischen Maßnahmen zur Versorgung Hilfebedürftiger, welche in Leistungsverträgen zwischen den Ländern, Kommunen und einzelnen Beratungsstellen festgelegt werden, und Leistungen nach den SGB V und VI. Konkreter handelt es sich hierbei um eine exklusive Scharnierfunktion zu den Hilfen des Sozialgesetzbuches. Ziel ist die Klärung mit den KlientInnen, ob und wenn ja welche konkreten Maßnahmen in welchem Rahmen wann für den konkreten Einzelfall in Frage kommen. Die Bedeutung dieser Funktion für das Suchthilfesystem liegt darin, dass eine zeitlich und inhaltlich passgenaue Vermittlung in weiterführende Hilfen erfolgen kann. Dadurch werden diese Hilfen gewinnbringender und damit für das System ressourcenschonender von den KlientInnen genutzt, weil ihre Veränderungsmotivation ungleich höher zu sein scheint als die von KlientInnen, die diese Hilfen direkt aufsuchen oder ohne ausführliche Vorbereitung „technisch-admininstrativ“ vermittelt werden.

    Dieser Effekt kann entstehen, so die Vermutung, weil es den Fachkräften gelingt, eine funktionale Arbeitsbeziehung – teilweise unter den Bedingungen eines Zwangskontextes (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle) – zu den KlientInnen aufzubauen. Diese Arbeitsbeziehung ermöglicht die Auflösung der Ambivalenzen der KlientInnen bezüglich ihrer Veränderungsmotivation und die Gestaltung eines langfristigen Prozessbogens über den Rahmen einer aktuellen Behandlung hinaus. Dies erleichtert ein erneutes Hilfesuchverhalten bei Rückfällen. Aber auch wenn ein Hilfeprozess ohne weiterführende Maßnahmen abgebrochen wurde, besteht doch die Möglichkeit, dass die KlientInnen erneut Kontakt aufnehmen, da die Beendigung im Rahmen eines Arbeitsbündnisses und nicht im Rahmen eines Konfliktes erfolgte.

    Diese Funktion der ambulanten Suchthilfe im Gesamtsystem der Suchthilfe hat sich historisch entwickelt, ist aber bis heute gesetzlich nicht normiert. Zwar ist die ambulante Suchthilfe aktuell noch mit Ressourcen ausgestattet, aber diese werden auf freiwilliger Basis von Kommunen und teilweise durch Länder, Projekte und Träger gegenfinanziert. Abgesehen von der Unsicherheit, die diese Situation für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit und die Träger ihrer Organisation bedeutet, könnte diese Situation auch ein Risiko für die Versorgung Suchtkranker bzw. für die Effektivität von weiterführenden Maßnahmen insbesondere des SGB V und VI bedeuten, z. B. von Rehabilitationen oder Akutmaßnahmen wie Entgiftungen. Um möglichen Entwicklung in dieser Richtung vorzubeugen, ist es wichtig, dass die Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich ihrer Bedeutung im Gesamtsystem der Suchthilfe bewusst werden und die von ihnen wahrgenommen Aufgaben formulieren und nach außen vertreten. Nur so können notwendige Ressourcen für diese Arbeit, die das Scharnier zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung bildet, dauerhaft legitimiert und damit gesichert werden. Insbesondere die gesetzliche Legitimierung unter expliziter Einbeziehung sozialarbeiterischer Expertise über eine kommunale Kann-Leistung hinaus ist entscheidend, um einheitliche Standards, Ausstattungen und Aufträge für Suchtberatungsstellen formulieren und mit Blick auf integrierte Versorgung weiterentwickeln zu können.

    Implikationen für die Praxis

    Soziale Arbeit liefert einen komplexen Beitrag zur Versorgung Suchtkranker und ihrer Angehörigen im ambulanten Kontext. Schwerpunkt dieser Arbeit ist, eine bezogen auf den jeweiligen Einzelfall und auf regionale Versorgungsstrukturen optimale Verbindung zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung und anderen Hilfsangeboten herzustellen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sollten sich ihrer speziellen Expertise insbesondere in Bezug auf das multiperspektivische Fallverstehen, den Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses und die Gestaltung eines regionalen Hilfenetzes zur Optimierung der Versorgungsstrukturen bewusst werden. Konzepte der Sozialen Arbeit sollten explizit in Organisationskonzepte und Qualitätshandbücher als Standards mit aufgenommen werden, um die Ressourcen, die zu ihrer Umsetzung notwendig sind, dauerhaft zu sichern bzw. deren Evaluation und Weiterentwicklungen zu ermöglichen.

    Interessenkonflikte: Die Autorin gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

    Kontakt:

    Rita Hansjürgens
    Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Leostraße 19
    33098 Paderborn
    r.hansjuergens@katho-nrw.de
    www.katho-nrw.de/paderborn

    Angaben zur Autorin:

    Rita Hansjürgens, M.A., Dipl- Sozialarbeiterin, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn.

    Literatur:
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    • Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) (1999): Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe. Institut für Therapieforschung (IFT). Online verfügbar unter http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Beratungsstellen/leistungsbeschreibung_1999.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2013.
    • fdr (Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V.) (2005): Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe. Vorschläge des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel e. V. zu den Arbeitsgrundlagen von ambulanten Hilfen für Suchtkranke. Unter Mitarbeit von Michael Hoffmann-Bayer, Jost Leune und Birgit Wichelmann-Werth. Hannover, 2005.
    • Helas, Irene (1997): Über den Prozess der Professionalisierung in der Suchtkrankenhilfe. In: Elke Hauschildt (Hg.): Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Geschichte, Struktur und Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S. 147–161.
    • Helfferich, Cornelia (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden.
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    • Loviscach, Peter; Lutz, Roland (1996): Soziale Arbeit im Arbeitsfeld Sucht. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
    • Moch, Matthias (2012): Die Lücke. implizites Wissen und das Theorie-Praxis-Verhältnis. In: neue praxis 42 (6), S. 555–565.
    • Müller, Burkhard (2012): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. 7. überarb. und erw. Aufl. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
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    • Oevermann, U. (1980): Zur Logik der Interpretation von Interviewtexten. Fallanalyse anhand eines Interviews mit einer Fernstudentin. In: Thomas Heinze, Hans-W Klusemann und Hans-Georg Soeffner (Hg.): Interpretationen einer Bildungsgeschichte. Überlegungen zur sozialwissenschaftl. Hermeneutik. Bensheim: Päd.-extra-Buchverlag (Päd. Forschung), S. 15–69.
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