Schlagwort: Mediensucht

  • Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    David Schneider
    Ulrich Claussen
    Katharina Munz

    Die heute teils intensive Mediennutzung im Alltagsleben der Bevölkerung ist ein medial verbreitetes und mitunter kontrovers diskutiertes Thema. Auch in der Suchthilfe kommt der Thematik „intensiver Medienkonsum“ eine immer größere Bedeutung zu. Es ist damit zu rechnen, dass die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz der Folgen der allgemeinen Digitalisierung eher zu- als abnehmen wird.

    Das intensive Mediennutzungsverhalten von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung lässt sich als komorbides Verhalten im Sinne einer medienbasierten Abhängigkeit begreifen oder auch als Verlagerung anderer Suchtproblematiken interpretieren. Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit Suchtproblematik ein spezifisches Risiko für problematischen Medienkonsum aufweisen. Studien, die in der stationären Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen und in anderen Hilfesettings durchgeführt wurden, deuten auf einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen und einer erhöhten Vulnerabilität für medienbasiertes Suchtverhalten hin (Müller et al., 2012 a + b; Müller, 2019).

    Seit der Studie von Müller et al. über „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012, auf die wir uns in der vorliegenden Untersuchung zu einem großen Teil beziehen, ist viel Zeit vergangen. Das Internet wird flächendeckend in allen sozialen Milieus genutzt und ist durch Smartphones auch mobil jederzeit verfügbar. Die durch technische Neuerungen bewirkten Veränderungen der Kommunikationsformen haben dazu geführt, dass der Stellenwert digitaler Medien heute ein ganz anderer ist. Deswegen erscheint es uns sinnvoll, an die mitunter über zehn Jahre zurückliegenden Fragen nach dem medienbasierten Verhalten von Klientinnen und Klienten im Suchthilfesystem anzuknüpfen.

    Unserer Einschätzung nach ist es wichtig, das Medienkonsumverhalten anamnestisch abzuklären, es im Blick zu haben und auf entsprechende Anzeichen und Hinweise seitens der unterstützten Personen zu reagieren. Aus der Perspektive der Suchthilfe besteht die Gefahr, dass behandlungsrelevante pathologische Mediennutzung in den verschiedenen Suchthilfesettings lange unentdeckt bleibt und sich − auch in Wechselwirkung mit stoffgebundenen Süchten – negativ auf den individuellen Verlauf auswirkt.

    Forschungsfrage

    In den Einrichtungen des Frankfurter Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) ist das Thema Medienkonsumverhalten – insbesondere im Kontext der Suchtprävention – immer wieder präsent, gleichzeitig liegen wenige aktuelle belastbare Daten vor. Mit der im Folgenden vorgestellten Untersuchung wollten wir feststellen, in welcher Intensität Medien von den von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit tatsächlich genutzt werden.

    Aufgrund der weiten Verbreitung des Internets und der Möglichkeit, dieses auch in Einrichtungen der Suchthilfe während der Beratung und Behandlung zu nutzen, liegt die Hypothese nahe, dass sich die bereits im Jahr 2012 festgestellte Komorbidität weiter erhöht hat. Auch könnte der Anteil der Personen mit einer latenten medienbasierten Abhängigkeit in den ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe weit höher liegen als bisher angenommen, da das Medienkonsumverhalten bei anderweitiger Erstdiagnose oft nicht abgefragt wird. Klientinnen und Klienten werden deshalb nicht ausreichend unterstützt, ihr Medienkonsumverhalten zu hinterfragen und zu ändern. Ziel unserer praxisnahen Untersuchung ist folglich auch, das Thema abhängiger Medienkonsum zu beleuchten und ggf. noch stärker in die Alltagspraxis der Beratung und Behandlung zu integrieren.

    Methode und Design

    Es wurde eine explorative Querschnittsstudie mit n=136 Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit mit einem Befragungszeitpunkt durchgeführt. Die Befragung fand von November 2021 bis März 2022 statt. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden zuvor ausführlich informiert, die Fragebögen wurden den beteiligten Mitarbeiter:innen erläutert. Die Befragung wurde anonym und ohne die Möglichkeit zur Verknüpfung mit anderen Daten aus Betreuung und Behandlung durchgeführt.

    Befragt wurden nur Klient:innen, die bereits mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit oder pathologischem Glücksspiel als Erstdiagnose ins Hilfesystem eingemündet waren. Klient:innen, die aufgrund eines medienbasierten abhängigen Verhaltens als Hauptproblematik die Einrichtungen aufsuchten, waren von der Studie ausgenommen. So sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich das Phänomen der Komorbidität untersucht wurde.

    Um eine Stichprobe von Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankung zu gewinnen, wendeten wir uns an verschiedene Suchthilfeeinrichtungen des Trägervereins JJ. Die Gewinnung der Befragten erfolgte ohne weitere Ausschlusskriterien als anfallende Stichprobe. Wir erhielten 138 Fragebögen zurück, davon waren 136 auswertbar. Es konnte eine sehr gute Datenqualität erreicht werden. Die Antworten verteilen sich auf ein breites Spektrum von Einrichtungstypen, wie in Tabelle 1 ersichtlich. (Am Ende des Artikels werden die beteiligten Einrichtungen aufgezählt*.)

    Tabelle 1: Anzahl der Personen aus den verschiedenen Einrichtungstypen

    Instrumente

    Die Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen OSVe-S (Wölfling, K., Müller, K.W. & Beutel, M.E., 2008) ist ein Fragebogen zur Erfassung medienbasierten Suchtverhaltens. Neben einer Beschreibung des Medienkonsums werden im OSVe-S Kriterien für eine Abhängigkeit erfragt. Einige Fragen beziehen sich beispielsweise auf das Verlangen nach Onlineaktivitäten („Wie häufig erscheint Ihnen Ihr Verlangen nach Onlineaktivitäten so übermächtig, dass Sie diesem nicht widerstehen können?“), andere auf vergebliche Kontrollversuche („Wie häufig haben Sie bisher versucht, Ihr Onlineverhalten aufzugeben bzw. einzuschränken?“). Weitere Items erfragen schädlichen Gebrauch von Medien („Wie häufig vermeiden Sie negative Gefühle [z. B. Langeweile, Ärger, Trauer] durch Onlineaktivitäten?“). Insgesamt können 45 Punkte erreicht werden, mehr als 13 Punkte sprechen für abhängigen, 7 bis 13 Punkte für einen problematischen oder grenzwertigen Medienkonsum.

    Ergänzt wurden die Angaben zum OSVe-S durch Angaben zu Alter, Geschlecht, Betreuungssetting, Einrichtung und Hauptsuchtmittel.

    Stichprobe

    Es werden n=136 Menschen befragt, die sich in einer stationären Suchthilfeeinrichtung befinden oder durch eine ambulante Suchthilfeeinrichtung beraten oder betreut werden: 112 Männer (82,3 %) und 24 Frauen (17,7 %). Es werden fast ausschließlich Erwachsene befragt, das Durchschnittsalter beträgt 36,2 Jahre, die jüngste befragte Person ist 17, die älteste befragte Person 63 Jahre alt.

    Nach der von ihnen hauptsächlich konsumierten Substanz befragt, nennen 60,5 % eine Substanz, 39,5 % nennen mehrere. Insgesamt zeigen sich folgende Ergebnisse: 30,7 % der Befragten nennen Cannabis, 25,4 % Kokain, 23,7 % Alkohol, 18,4 % Opiate, 13,2 % Stimulanzien und 13,2 % Sonstiges.

    Berufstätig sind 25 % der Befragten, 14,4 % in Vollzeit angestellt, 6,1 % in Teilzeit, 4,5 % der Befragten geben eine selbständige Tätigkeit an. Weitere 6,8 % befinden sich in Ausbildung oder Studium. 46,2 % der Befragten geben an, kein Anstellungsverhältnis zu haben, also ohne Erwerbstätigkeit zu sein.

    Aus vorangegangenen Untersuchungen und aus der klinischen Beobachtung vermuten wir, dass es in der hier untersuchten Stichprobe von Menschen mit einer Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit einen relativ hohen Anteil von Personen mit einem missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhalten geben könnte.

    Aufgrund des explorativen Designs unserer Studie haben wir darauf verzichtet, eine Kontrollgruppe zu rekrutieren, und vergleichen die Anteile missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhaltens in unserer Stichprobe mit den Ergebnissen der vorausgegangenen Untersuchung „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz“ (2012).

    Ergebnisse

    Häufigkeit einer problematischen oder abhängigen Mediennutzung

    Insgesamt zeigen 21,3 % der Befragten ein missbräuchliches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten. 78,7 % zeigen ein unauffälliges Mediennutzungsverhalten (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Onlinenutzung: Ergebnisse der beiden Studien im Vergleich

    In der Auswertung von JJ kamen 23 Personen auf einen Wert zwischen 7 und 13 Punkten. Dieser Punktebereich zeigt missbräuchliche Mediennutzung an und liegt bei 16,9 % der Befragten vor.

    Sechs Personen oder 4,4 % weisen einen Punktewert höher als 13 Punkte auf und fallen damit in den Bereich der Abhängigkeit. Im Vergleich mit der Studie aus dem Jahr 2012 lässt sich ein hoher Anteil an Menschen feststellen, die die Kriterien für medienbasiertes Suchtverhalten erkennen lassen.

    Genutzte Onlineangebote

     Die bloße Erfassung der Onlineaktivitäten sagt zunächst wenig über ein potenziell riskantes, missbräuchliches oder gar abhängiges Mediennutzungsverhalten aus. Gerade für Klient:innen in stationären Settings der Suchthilfe stellt z. B. das Chatten über Messenger-Dienste oder Online-Communities eine wesentliche Möglichkeit dar, mit ihren Angehörigen während der Zeit der Reha in Kontakt zu bleiben. Gleichwohl liefern die Daten einen Überblick, welche digitalen Möglichkeiten wie intensiv genutzt werden. Am meisten Zeit wird laut der Befragten für Internetrecherche aufgebracht, gefolgt von Chatten und Online-Communities. Aber auch Angebote wie Glücksspiel werden von 6,8 % oft bzw. sehr oft genutzt. 16,1 % benutzen oft oder sehr oft Onlinesex-Angebote (s. Tabelle 3).

    Tabelle 3: Genutzte Onlineangebote (JJ 2022)

    Begrenzung der online verbrachten Zeit

    Insgesamt ist ein Drittel (33,2 %) der Befragten zumindest gelegentlich länger online, als sie es sich vorgenommen hatten. 11,1 % sind dies oft oder sehr oft. Ihnen gelingt es kaum, sich online zu begrenzen. Es ist dann auch diese Gruppe, die sich schlecht fühlt, wenn sie nicht online sein kann (11,8 %). Gelegentlich schlecht fühlen sich  9,6 %, wenn sie keine Onlineaktivitäten ausüben können.

    Verlangen nach Onlineaktivitäten

    Fragt man nach der Stärke des durchschnittlichen Verlangens nach Onlineaktivitäten, geben insgesamt 41,9 % an, einen mittelstarken bis sehr starken Drang nach Onlineaktivitäten zu verspüren. Bei 13,2 % ist der Drang stark bis sehr stark.

    8 % der Befragten geben an, dass ihnen der Drang nach Onlineaktivitäten sehr oft so übermächtig erscheint, dass sie ihm nicht widerstehen können. 13,2 % der Befragten geben an, dass es ihnen gelegentlich so geht.

    Vermeidung negativer Gefühle

    Um negative Gefühle wie Langeweile oder Ärger zu überspielen, gehen zumindest gelegentlich 41,9 % online. 16,9 % tun dies oft bzw. sehr oft. Dies verweist auf die Kompensations- und Ablenkungskraft des Onlineangebotes.

    Länge und Intensität der Onlineaktivitäten

    Ein schlechtes Gewissen bezüglich der Länge und Intensität ihrer Onlineaktivitäten haben zumindest gelegentlich 35,5 %. 14,0 % geben an, oft oder sehr oft zu viel oder zu lange online zu sein.

    Negative Folgen aufgrund des Onlineverhaltens

    Die Befragten nennen manifeste negative Folgen des Mediennutzungsverhaltens (s. Tabelle 4). Die Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten kennt ein Drittel der Befragten. Knapp 20 % nennen Geldprobleme, was darauf verweist, dass auch kostenintensive Aktivitäten zu verzeichnen sind. 22,1 % nennen Probleme mit der Gesundheit, was ein hoher Wert ist. Leider kann nicht expliziert werden, um welche gesundheitlichen Probleme es sich hierbei handelt. Aus der Beratungspraxis lässt sich schließen, dass es sich hierbei um Probleme der körperlichen Gesundheit wie Schmerzen im Rücken, Belastung der Augen oder auch Probleme mit dem Tag-Nacht-Rhythmus bzw. dem Einschlafen handeln könnte. Auch psychische Probleme sind denkbar, ein erhöhter Medienkonsum geht häufig mit einer zunehmenden Antriebslosigkeit einher und kann die Entstehung von depressiven Symptomen begünstigen.

    Tabelle 4: Von Befragten genannte Problembereiche aufgrund ihrer Mediennutzung (JJ 2022)

    Insbesondere Menschen aus der jüngeren Altersgruppe bis 34 Jahre leiden aufgrund ihrer Mediennutzung häufiger an sogenanntem digitalen Stress, einem Zustand der psychischen und physiologischen Stressbelastung, die auf die Nutzung von z. B. Social Media zurückzuführen ist. So heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2020: „Für die jüngste Altersgruppe (14. bis 34. Lebensjahr) bestätigte sich, dass ein intensiver bis exzessiver Gebrauch von Social Media mit erhöhter Ängstlichkeit und Symptomen aus dem depressiven Formenkreis, insbesondere Antriebsminderung, innerer Unruhe und Erschöpfungszuständen korrespondierte.“ (Müller, 2020)

    In dieser Altersgruppe ist auch in der aktuellen Befragung der Anteil der Personen mit problematischer Mediennutzung erheblich höher als in der älteren Gruppe (s. Tabelle 7).

    Vergleiche zwischen Gruppen

    Im Folgenden werden Personen, die die Kriterien für eine suchtartige Mediennutzung erfüllen, mit Personen verglichen, die keine Mediennutzungsstörung aufweisen.

    Tabelle 5: Geschlecht der Klient:innen mit unauffälligem und mit suchtartigem Mediennutzungsverhalten
    Tabelle 6: Genannte hauptsächlich konsumierte Substanz

    Auffällig ist der hohe Anteil der Menschen, die Stimulanzien konsumieren und gleichzeitig suchtartig Medien nutzen (60,0 %). An zweiter und dritter Stelle für die Häufigkeit einer komorbiden Mediennutzungsstörung stehen Klient:innen, die hauptsächlich Cannabis (35,0 %) und Alkohol (30,8 %) konsumieren (s. Tabelle 6).

    Tabelle 7: Alter der Befragten

    Nicht sehr überraschend wird deutlich, dass der Anteil derjenigen, die Medien suchtartig nutzen, unter den Jüngeren (bis 34 Jahre) höher, ja fast doppelt so hoch, ist als bei den Befragten, die älter als 34 Jahre sind (27,3 % vs. 13,4 %) (s. Tabelle 7).

    Tabelle 8: Betreuungssetting, in dem sich die Befragten zum Zeitpunkt der Befragung befanden

    Auffällig ist in Tabelle 8 die hohe Zahl der von suchtartiger Mediennutzung Betroffenen im ambulanten Setting. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Strukturen in stationären Einrichtungen mehr Kontrolle über den Medienkonsum bieten, während eine Person, die Beratung in einem ambulanten Setting wahrnimmt, außerhalb dieser Termine weitestgehend selbst über ihren Medienkonsum und ihre Tagesstruktur bestimmen kann.

    Vergleich mit vorangegangener Studie

    Im Folgenden werden die JJ-Zahlen mit den Zahlen der Studie „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012 (vgl. Müller et al., 2012) verglichen.

    Nutzung von Onlineangeboten

    Tabelle 9: Nutzung von Onlineangeboten im Vergleich

    Es lässt sich gut erkennen, dass in den letzten Jahren vor allem die Bereiche Online-Einkaufen, Online-Communities und Streamingdienste deutlich stärker genutzt werden (s. Tabelle 9). Der Bereich der Streamingdienste wurde 2012 noch nicht abgefragt, da ein solches Angebot zu diesem Zeitpunkt noch nicht flächendeckend der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung stand. An der aktuellen Prozentzahl lässt sich jedoch erkennen, dass dieser Bereich einen großen Teil der Mediennutzung ausmacht.

    Negative Folgen bzw. Probleme aufgrund des Onlineverhaltens

    Tabelle 10: Entstandene Probleme bei Menschen mit suchtartiger Internetnutzung im Vergleich

    Auffällig ist, dass sich die entstandenen Probleme der Menschen, die eine suchtartige Internetnutzung aufweisen, verbessert haben und in fast allen Bereichen weniger Probleme aufzutreten scheinen, als das in der Studie von 2012 der Fall war (s. Tabelle 10). Dies mag zum einen an der Veränderung der Stichprobe liegen. Prozentual gesehen ist der Anteil der Menschen mit suchtartiger Nutzung stark angestiegen, aber die Konzentration der verschiedenen Probleme pro Person ist nicht mehr so hoch wie bei der Stichprobe aus 2012. Zum anderen lassen sich Medien heutzutage aufgrund von Smartphones etc. möglicherweise besser in den Alltag integrieren und verursachen dadurch gefühlt oder tatsächlich weniger Probleme als vor zehn Jahren. Werte bis zu 69 % sind aber trotz der Verbesserung immer noch sehr hoch, und es verwundert nicht, dass sich diese Probleme bei Menschen mit suchtartiger Nutzung immer noch zeigen.

    Tabelle 11: Entstandene Probleme bei Menschen ohne suchtartige Internetnutzung im Vergleich

    Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass es sich bei Tabelle 11 um die Werte der Personen handelt, die anhand des Fragebogens keine problematische Nutzung des Internets aufweisen. Trotzdem zeigen sich in unserer Untersuchung deutlich höhere Werte für entstandene Probleme als in der Vergleichsstudie.

    Obwohl laut Fragebogen hier keine suchtartige Mediennutzung besteht, berichtet fast ein Viertel der Befragten von Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten und fast ein Fünftel von finanziellen Schwierigkeiten aufgrund des eigenen Mediennutzungsverhaltens. Es scheint also angeraten, auch bei Personen, die in der Befragung keine suchtartige Internetnutzung gezeigt haben und ein scheinbar unproblematisches Nutzungsverhalten haben, genauer nachzufragen, ob ihr Verhalten trotz der niedrigen Punktzahl in der Auswertung Probleme in ihrem Leben verursacht.

    Zusammenfassung und Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aktuelle Zahl der Klient:innen in der ambulanten und stationären Suchthilfe, die Kriterien für ein medienbasiertes Suchtverhalten zeigen, hoch ist. Sie ist deutlich höher (21,3 %) als in der zum Vergleich herangezogenen Studie von Müller et al. aus dem Jahr 2012 (4,2 %).

    Unterscheidet man bei JJ die Suchthilfesettings ambulant und stationär, ergibt sich, dass Klient:innen im ambulanten Setting mit 30,6  % stärker betroffen sind als Personen im stationären Setting mit 16,7 %.

    Jüngere Klient:innen unter 34 Jahren scheinen mehr von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein (27,3 %) als ältere Klient:innen (13,4 %).

    Auch Personen, die unterhalb des Cut-Offs für suchtartige Internetnutzung liegen und somit als „unproblematische“ Nutzer:innen gelten, beschreiben, dass ihr Mediennutzungsverhalten in vielen Bereichen ihres Lebens Probleme verursacht (Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten 23,4 %, Konflikte mit der Familie 15,9 % und Probleme mit der Gesundheit 13,1 %). In diesem Themenfeld ist ebenfalls ein starker Anstieg im Vergleich zur Studie aus 2012 zu erkennen.

    Hervorzuheben ist zudem noch die Differenz zur Allgemeinbevölkerung. Die Studie „Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark“ aus dem Jahr 2023 legt hierzu valide Zahlen vor. Demnach liegt die Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung der Steiermark geräteunabhängig bei 9,7 %. Ausgehend davon, dass sich die Internetnutzung in Deutschland und Österreich nur bedingt unterscheiden dürfte, lässt sich hier ein signifikanter Unterschied der Prävalenzen zwischen Allgemeinbevölkerung (9,7 %) und Personen aus dem Suchthilfesetting (21,3 %) feststellen.

    Diskussion

    Die vorliegende Untersuchung ist als explorative Querschnittsstudie angelegt, eine Intervention wurde nicht vorgenommen, ein randomisiertes und kontrolliertes Design haben wir für unsere Fragestellung „Wie stellt sich das Mediennutzungsverhalten der von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit dar?“ nicht vorgesehen. Dementsprechend können wir hier deskriptive Ergebnisse vorlegen und mit Ergebnissen von vorausgehenden Untersuchungen vergleichen. Aus den Ergebnissen leiten wir weiteres Vorgehen und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung ab, die wir im Folgenden darstellen.

    Aus unserer Sicht sollten einige Ansatzpunkte weiterverfolgt werden. Diese betreffen vor allem eine Anpassung der Versorgung an die hier ermittelten Bedarfe an Beratung und Behandlung, aber auch zusätzliche Forschungsfragen, da die Datenlage zum Mediennutzungsverhalten bei Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeit bislang sehr überschaubar ist. Folgende Ansatzpunkte sehen wir:

    • Anpassen von Dokumentation und Anamnese
    • Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten
    • Weitere Forschung

    Anpassen von Dokumentation und Anamnese

    Die hier vorgelegten Daten spiegeln sich bislang in unseren Jahresstatistiken nicht wider. Dies liegt zum einen an Voreinstellungen der Basisdokumentation, die somit zu einer Unterbetonung des Problems beitragen. Studien zeigen, dass insbesondere die suchtartige Nutzung von Pornographie in den letzten Jahren vermehrt vorkommt und auch in den kommenden Jahren stärker in der Suchthilfe vertreten sein könnte (vgl. Mestre-Bach et al., 2020). Dieses Themenfeld lässt sich in der aktuellen Basisdokumentation noch nicht dokumentieren. Hier sind also bessere Möglichkeiten der digitalen Dokumentation nötig.

    Des Weiteren ist medienbasiertes Suchtverhalten ein Thema, das oft nicht direkt angesprochen wird. Oftmals stehen stoffgebundene Probleme im Fokus von Beratung und Behandlung. Aus den vorgelegten Daten lässt sich die Notwendigkeit ableiten, Mediennutzung in der Anamneseerhebung stets zu erfragen und Beratung und Behandlung auf die Bedarfe hin abzustimmen. Nicht erfasstes Medienverhalten kann nicht behandelt werden – ein Phänomen, das auch in der „IBSfemme“-Studie thematisiert wird (vgl. Müller et al, 2019).

    Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten

    Wenn gleichzeitig eine stoffgebundene Abhängigkeit und ein problematisches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten vorliegen, sollten beide Anliegen in einer Beratung ihren Platz finden, die Aufteilung auf zwei beratende Personen erscheint wenig zielführend und wenig ökonomisch. Eine Aufteilung in allgemeine, oft auch dezentrale Suchtberatungen und Fachstellen für Verhaltenssucht, die vorrangig in Großstädten angeboten wird, bietet keine integrierte Versorgung aus einer Hand und erfordert zusätzliche Wege und weitere Ressourcen.

    Eine Integration der Beratung zu problematischer Mediennutzung erfordert Schulungen für die Beratenden. Sowohl Beratung im Einzelkontakt als auch Beratung in Gruppen für substanzgebundene Störungen erfordert neben allgemeiner beraterischer Kompetenz noch Fachwissen zu Substanzen und zu abhängiger und problematischer Mediennutzung. Eine Spezialisierung weniger Beratender wird der Breite des Problems nicht gerecht. Um mit der Vielzahl der komorbid betroffenen Klient:innen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich kompetent umgehen und passgenaue Angebote entwickeln/umsetzen zu können, müssen Mitarbeiter:innen zum Thema geschult sein und sich kompetent fühlen. Ist dies nicht der Fall, können Gefühle von Überforderung entstehen und Widerstände, sich des Themas anzunehmen.

    Weitere Forschung

    Kinder und Jugendliche gelten als gefährdete Gruppe für die Entwicklung eines problematischen Mediennutzungsverhaltens. Zur Entwicklung von Medienkompetenz sind präventive Angebote erforderlich. Bei bereits bestehenden Problemen mit Mediennutzung sind sekundärpräventive Ansätze zu entwickeln. Die Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängiger oder problematischer Mediennutzung zusätzlich zu einer bereits bestehenden Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen ist wenig erforscht und sollte in die bestehenden Angebote integriert werden. Mögliche Forschungsfragen hierzu wären:

    • Wie kann die Funktionalität dieser beiden Störungen geklärt werden? Bedingt das eine Problem das andere, gehen beide auf eine gemeinsame Ursache zurück oder existieren sie unabhängig voneinander? (vgl. Moggi, 2014)
    • Verändern sich Auftretenswahrscheinlichkeiten von problematischer Mediennutzung im lebensgeschichtlichen Verlauf einer substanzbezogenen Abhängigkeit?
    • Wie ist die Geschlechterverteilung dieser Problematik einzuschätzen und was sind mögliche Ursachen hierzu? Gibt es systematische Unterschiede zu den einzelnen Bereichen problematischer Mediennutzung?
    • Handelt es sich um eine jugendtypische Problematik oder tritt diese auch im höheren Erwachsenenalter auf?
    • Gibt es Zusammenhänge zwischen konsumierten Substanzen und Art der problematischen Mediennutzung?

    Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Großteil der von Substanzen abhängigen Menschen scheint zusätzlich von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein. Zudem lassen Studien in der Allgemeinbevölkerung besonders unter den Minderjährigen und in Bezug auf spezielle Themenfelder wie Online-Sexsucht darauf schließen, dass exzessive Mediennutzung ein Thema ist, das die Suchthilfe und andere Hilfeangebote in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen wird.

    *An der Untersuchung beteiligte Einrichtungen: Therapiedorf Villa Lilly (Bad Schwalbach), Haus der Beratung (Frankfurt), Therapeutische Einrichtung Auf der Lenzwiese (Höchst im Odenwald), Übergangseinrichtung Wolfgang-Winckler-Haus (Kelkheim), Suchthilfezentrum Wiesbaden, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Hochtaunuskreis (Bad Homburg), Betreute Wohngemeinschaft Eddersheim, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Main-Taunus-Kreis (Hofheim), Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Rheingau-Taunus-Kreis (Taunusstein)

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Katharina Munz
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 0611 9004870
    E-Mail: Katharina.munz(at)jj-ev.de

    Ulrich Claussen
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-11
    E-Mail: kontakt(at)claussen-psychotherapie.de

    David Schneider
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-13
    E-Mail: david.schneider(at)jj-ev.de

    Literatur
    • Programmheft Deutscher Suchtkongress 7. – 9. September 2022 in München. Lübeck, 2022
    • Herz, A., Tran, K. (2022). Jugendfreundschaften während der Coronakrise. https://www.dji.de/themen/corona/jugendfreundschaften-in-der-pandemie.html
    • JIM-Studie 2020 + 2021
    • DAK Mediensucht 2020-Studie: Gaming und Social Media und Corona 2020, vor allem S. 82 ff.
    • DKHW Kinderreport 2021
    • Mestre-Bach, G., Blycker, G.R., Potenza, M.N. (2020): Pornography use in the setting of the COVID-19 Pandemic, J Behav Addict. 2020 Jun; 9(2):181-183
    • Moggi, F. (2014) Theoretische Modelle bei Doppeldiagnosen. In: Walter, M., Gouzoulis-Mayfrank, E. (Hrsg.) (2014) Psychische Störungen und Suchterkrankungen: Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart: Kohlhammer
    • Müller, K.W., Koch, A., Beutel, M.E., Dickenhorst, U., Medenwaldt, J., Wölfling, K., (2012 a). Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz. Psychiatrische Praxis, 2012, 39: 286 – 292
    • Müller, K.W., Ammerschläger, M., Freisleder, F. J., Beutel, M., E., Wölfling, K., (2012 b). Suchtartige Internetnutzung als komorbide Störung im jugendpsychiatrischen Setting – Prävalenz und psychopathologische Symptombelastung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40 (5), 2012, S. 331 – 339
    • Müller, K. W., (2019). Internetbezogene Störungen bei weiblichen Betroffenen: Nosologische Besonderheiten und deren Effekte auf die Inanspruchnahme von Hilfen (IBSfemme)
    • Türcke, C., (2019): Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, C.H. Beck, München 2019
    • Müller, K. W. (2020): Die Nutzung von sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche – Ein Überblick über gesundheitsrelevante Aspekte, Kinder- und Jugendmedizin 2020; 20(04): 229-236
    • Gesundheitsfond Steiermark (2023). Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark, Graz 2023
  • Exzessive Nutzung sozialer Netzwerkseiten

    Exzessive Nutzung sozialer Netzwerkseiten

    Soziale Netzwerkseiten mit den unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen sind schon seit Anfang der 2000er Jahre fester Bestandteil des Internets. Im Gegensatz zu Online-Computerspielen oder Online-Pornografie ist der Name nicht selbsterklärend hinsichtlich der Art und Weise, worin das Angebot der Sozialen Netzwerke besteht und wie dieses genutzt wird. Für Behandler:innen und Forscher:innen, die sich mit dem pathologischen Potenzial bestimmter Online-Aktivitäten und -Angebote auseinandersetzen, dem Phänomen der sog. Internetnutzungsstörungen, stellt sich die Frage, ob es auch ein Suchtverhalten im Umgang mit Sozialen Netzwerken gibt, und wenn ja, wie sich dieses darstellt und woraus es sich speist.

    Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die wichtigsten Fragen rund um Soziale Netzwerke zu beantworten, exemplarisch empirische Hintergründe zu einigen Effekten dieser Netzwerke darzustellen und sich speziell mit der Frage nach dem Suchtpotenzial und dem klinischen Umgang mit der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung zu befassen.

    Allgemeines zu Sozialen Netzwerkseiten

    Was versteht man unter Sozialen Netzwerken? Oft wird die Nutzung von Sozialen Netzwerken mit jener von Online-Messengern gleichgesetzt. Das ist jedoch nicht korrekt. Im Gegensatz zu den sehr einfachen Messengerdiensten erlaubt die Aktivität in Sozialen Netzwerken nicht lediglich die Text- oder Bild-Kommunikation mit vorhandenen Kontakten. Die Möglichkeiten des Austauschs reichen hier wesentlich weiter. Wichtige Merkmale Sozialer Netzwerke sind:

    • die Möglichkeit, ein beliebig detailreiches eigenes Profil zu erstellen und …
    • … dieses fortwährend zu erweitern oder zu modifizieren.
    • eigene Beiträge (Posts) der gesamten Community oder nur einem Teil davon zu präsentieren, wobei diese Beiträge …
    • … nicht textbasiert sein müssen, sondern etwa Bilder oder Audiodateien etc. sein können, oder eine Kombination daraus.
    • über Verlinkungen auch mit Usern in Kontakt zu treten bzw. sich zu vernetzen, die man außerhalb des Netzwerkes nie kennengelernt hat …
    • … und deren Profile und Beiträge man somit betrachten, begleiten und bewerten (z. B. Likes) kann, und welche wiederum …
    • … das eigene Profil und die eigenen Beiträge betrachten, begleiten und bewerten (Likes, aber auch Dislikes) können.

    Diese Aufstellung beinhaltet nur die wesentlichsten und allgemeinsten Strukturmerkmale von Sozialen Netzwerken, denn natürlich unterscheiden sich unterschiedliche Anbieter wie TikTok, Instagram oder Facebook in ihrer Produktpalette und damit auch in den Optionen, welche den Usern zur Verfügung stehen. Trotzdem wird schon bei dieser knappen Auflistung ein bisschen klarer, dass das Kommunizieren in Sozialen Netzwerken eben nicht das moderne Äquivalent zum vormaligen Telefonat ist oder zum Versenden einer SMS. Soziale Netzwerke sind von ihrem Aufbau und der ihnen innewohnenden Dynamik her wesentlich komplexer und gehen weit über einen bilateralen kommunikativen Austausch hinaus. Aus dieser Komplexität heraus ergeben sich für die User spezielle Effekte, welche in dieser Form eben nicht bei einem Telefonat oder einer SMS oder einer Messenger-Kurznachricht auftreten.

    Suchtartige Nutzung Sozialer Netzwerke: die unerkannte Störung

    Warum tun sich viele Menschen, die in der klinischen Versorgung oder der ambulanten Suchthilfe arbeiten, eher schwer damit, die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als eine Variante von Internetnutzungsstörungen wahrzunehmen? Vermutlich liegt es an der Häufigkeit des Auftretens. Patienten und bisweilen auch Patientinnen mit einer suchtartigen Nutzung von Online-Computerspielen, auch Online-Pornografie oder Online-Einkaufsseiten, begegnen Mitarbeitenden in der Suchthilfe in ihrer praktischen Arbeit häufig, wohingegen Personen mit einer suchtartigen Nutzung Sozialer Netzwerke noch immer eine Ausnahme unter den Personen, die das Hilfesystem in Anspruch nehmen, darstellen. Es fehlt demnach an klinischen Erfahrungswerten und an direkten Patientenkontakten.

    Im Gegensatz zu den fehlenden Zahlen aus der Versorgung wissen wir aus epidemiologischen Studien, dass

    • erstens in der Allgemeinbevölkerung Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen mit durchaus hoher Prävalenz auftreten (z. B. Paschke et al., 2021),
    • zweitens Menschen, welche die Kriterien dieser Störung erfüllen, ähnlich belastet sind wie Personen mit anderen Internetnutzungsstörungen und
    • drittens insbesondere Mädchen und Frauen zu den von einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen Betroffenen zählen (z. B. Müller et al., 2016; Scherer et al., 2021).

    Ähnliches geht aus Studien an klinischen Stichproben hervor. Hier zeigt sich, dass gerade Mädchen und Frauen, die wegen anderer psychischer Erkrankungen in ambulanter oder stationärer Behandlung sind, mit ca. 17 Prozent äußerst häufig eine komorbide Internetnutzungsstörung aufweisen, häufig im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Netzwerke. Ungünstig ist, dass diese Begleiterkrankung nur in den seltensten Fällen diagnostisch festgestellt wird und damit auch kein Teil des Behandlungsplans wird. Sie bleibt also in vielen Fällen unbehandelt (Scherer et al., 2021).

    Was sagen uns diese Zahlen? Sie sprechen dafür, dass es die suchtartige Nutzung Sozialer Netzwerke gibt und diese auch mit einem Krankheitswert einhergeht. Dementsprechend ist die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als eine Erscheinungsform aus dem Spektrum der Online-Verhaltenssüchte bzw. Internetnutzungsstörungen aufzufassen. Diese Auffassung wird auch in einem Positionspapier zur Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte (Rumpf et al., 2021) vertreten. Hier wird argumentiert, dass die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung vergleichbare diagnostische Kriterien aufweist wie die Störung durch Computerspielen und dementsprechend in der ICD-11-Kategorie „andere spezifische Verhaltenssüchte“ verschlüsselt werden soll.

    Konkret bedeutet dies, dass wir es auch bei der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung mit drei diagnostischen Kernmerkmalen zu tun haben:

    1. eine verminderte Kontrolle über Häufigkeit und zeitlichen Umfang der Nutzung,
    2. eine Priorisierung des Nutzungsverhaltens vor anderen, essenziellen Lebensbereichen und persönlichen Interessen sowie
    3. die Fortführung der Nutzung trotz damit einhergehender negativer Konsequenzen.

    Zu diagnostischen Zwecken stehen mittlerweile diverse Screeningverfahren zur Verfügung. Verbreitet ist hier beispielsweise die Social Media Disorder Scale (Van den Eijnden, Lemmens & Valkenburg, 2016) oder die speziell für Jugendliche konzipierte Social Media Disorder Scale for Adolescents (SOMEDIS-A), welche es auch als Fremdbeurteilungsinstrument gibt (SOMEDIS-P). Für die weiterführende klinische Beurteilung steht das adaptive „Strukturierte klinische Interview für Internetbezogene Störungen“ (AICA-SKI:IBS; Müller & Wölfling, 2017) zur Verfügung.

    Ergebnisse aus dem Projekt IBS femme

    Die Zahlen verdeutlichen jedoch ebenso, dass wir es in der klinischen Versorgung mit einer hohen Dunkelziffer von Personen, insbesondere Frauen, mit einer nicht diagnostizierten und entsprechend unbehandelten Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung zu tun haben. Wie schon gesagt, ist es noch immer äußerst selten, dass sich Patientinnen im spezifischen Versorgungssystem (z. B. Suchthilfe, Spezialambulanzen) eigeninitiativ vorstellen. Die Gründe dafür sind vielfältig und wurden in dem vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Projekt IBS femme erstmals systematisch untersucht. Im Projekt zeigte sich:

    1. Mädchen und Frauen mit Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung fallen ihrem direkten sozialen Umfeld deutlich seltener als erkrankt auf als Personen mit anderen Internetnutzungsstörungen. Im Gegensatz zu z. B. Patienten mit einer Computerspielstörung ziehen sie sich nicht physisch so stark zurück, sie bleiben präsent, auch wenn sie ihren Mitmenschen vielleicht zerstreuter, unaufmerksamer und weniger zugewandt als früher vorkommen mögen. Dieser Eindruck führt aber seltener zur Sorge im sozialen Umfeld, sondern erweckt eher Unmut. (Muss sie denn die ganze Zeit auf ihr Smartphone starren? Wir unterhalten uns doch gerade.“) Dadurch, dass das soziale Umfeld „ahnungslos“ bleibt, fällt ein wesentlicher Faktor weg, der Abhängigkeitskranke sonst dazu motiviert, sich Hilfe zu suchen.
    2. Mädchen und Frauen mit Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung nehmen zwar wahr, dass sie sich weniger leistungsfähig, weniger motiviert, weniger interessiert, emotional unausgeglichener und freudloser fühlen als früher; sie nehmen auch wahr, dass sie vergleichsweise hohe Nutzungszeiten haben. Allerdings werden die Symptome nur selten mit dem gesteigerten Nutzungsverhalten in einem Zusammenhang gesehen. Anders ausgedrückt: Die Symptomwahrnehmung bei Mädchen und Frauen ist zwar gegeben, jedoch stellen sie keinen Zusammenhang mit einem etwaigen Suchtverhalten her. Diejenigen Frauen, die sich wegen der assoziierten Symptome (Freudlosigkeit, Interessenlosigkeit, abnehmendes psychosoziales Funktionsniveau etc.) psychosoziale oder psychotherapeutische Hilfe suchen, suchen diese also nicht im Suchthilfesystem und thematisieren die Nutzungsproblematik dementsprechend auch nicht in der psychotherapeutischen Behandlung.
    3. Gleichzeitig fehlt auch auf der Seite der Behandelnden in der Regel eine systematische Exploration oder gar Diagnostik einer etwaig begleitend auftretenden Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung. Wenn überhaupt, fällt die Internetnutzungsstörung indirekt auf, etwa dadurch, dass in der Beratung oder Behandlung ab einem gewissen Punkt die Fortschritte ausbleiben, sodann die Ursachenforschung angegangen wird und nun die exzessiven Nutzungszeiten bzw. das Suchtverhalten aufgedeckt werden.

    Suchtartige Nutzung Sozialer Netzwerke: Perspektiven für die Versorgung

    Beschäftigt man sich mit der Thematik etwas näher, wird immer deutlicher, dass die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung ein gesundheitsrelevantes Thema darstellt, absolut vergleichbar mit der mittlerweile anerkannten und auch klinisch zunehmend besser erforschten und versorgten Störung durch Computerspielen. Umso wichtiger ist es, dass die Versorgungssysteme sich der suchtartigen Nutzung Sozialer Netzwerke verstärkt annehmen. Erste Lehren können aus dem Projekt IBS femme gezogen werden, welches derzeit in Form des Folgeprojekts IBS femme*INTERV als Kooperation zwischen der Ambulanz für Spielsucht der Universitätsmedizin Mainz und dem Fachverband Medienabhängigkeit e.V. dank einer erneuten Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit fortgeführt wird.

    Aus dem Projekt IBS femme geht hervor, dass es besonders wichtig ist, Behandlerinnen und Behandler jenseits des Suchthilfesystems oder der Spezialisierung auf Verhaltenssüchte für die Thematik zu sensibilisieren und mit entsprechenden diagnostischen Mitteln auszustatten. Eine Sensibilisierung sollte gleichsam für Angehörige Betroffener erfolgen, gleichzeitig aber auch die Betroffenen selbst adressieren. Deshalb werden im Rahmen des Projekts IBS femme*INTERV derzeit verschiedene Social Media-Kampagnen ausgearbeitet, die auf die Thematik der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung aufmerksam machen und Betroffenen den Zugang zum Hilfesystem erleichtern sollen.

    Auf Grund der fehlenden klinischen Erfahrungswerte stellt sich die Frage nach angemessenen Versorgungsansätzen für Personen mit einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung. Diesbezüglich sind derzeit positive Entwicklungen zu beobachten, die für mehr Klarheit sorgen könnten:

    S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie Internetbezogener Störungen

    Zum einen wurde im März 2020 die S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie Internetbezogener Störungen bei der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) angemeldet und seitdem in einem ausführlichen Prozess ausgearbeitet. Die Leitlinie beinhaltet auch die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, was bedeutet, dass klinisch relevantes Wissen aus der verfügbaren empirischen Literatur zusammengetragen, gesichtet und für die Praxis aufbereitet wurde. Die Leitlinie hat den Zweck, Fachleuten aus der Praxis eine beraterische bzw. therapeutische Richtschnur an die Hand zu geben und Interventionsansätze vorzuschlagen, welche nachweislich mit den besten Erfolgsaussichten eingesetzt werden können. Die Arbeiten an der Leitlinie sind derzeit noch nicht abgeschlossen, jedoch zeigt sich speziell für die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, dass ähnlich wie bei anderen Formen internetsüchtigen Verhaltens verhaltenstherapeutische Ansätze (z. B. das STICA-Programm, vgl. Wölfling et al., 2019; Wölfling, Beutel, Bengesser & Müller, 2022) empfohlen werden und dass auch (teilabstinenzorientierte) Kurzzeitinterventionen mit guten Effekten einhergehen können, was eine erste Verbesserung der Symptome betrifft. Die Fertigstellung der Leitlinie ist noch für 2023 vorgesehen. Sie kann dann frei abgerufen werden auf der Webseite der AWMF.

    Das Beratungsprogramm „PSY-Social Workout“

    Zum anderen wurde im Rahmen des Projekts IBS femme*INTERV ein spezifischer Beratungsleitfaden entwickelt. Dieser stellt eine Zusammenführung aus bereits in IBS femme identifizierten Spezifika bei einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, Erkenntnissen aus der AWMF-Leitlinie und bewährten Methoden aus dem STICA-Programm (Wölfling et al., 2022) dar. Das so entwickelte Beratungsprogramm „PSY-Social Workout“ umfasst zwei vorgeschaltete diagnostische Einheiten, an welche sich zehn Interventionseinheiten anschließen. Acht Wochen nach dem letzten Kontakt erfolgt eine Booster-Session.

    In der Interventionsphase besteht das Programm aus Psychoedukation, Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells nach dem InPrIS-Ansatz (Müller & Wölfling, 2017), Abstinenzexperimenten, dem Aufbau alternativer Verhaltensweisen, schematherapeutischen Elementen und Bestandteilen der Well-Being-Therapie sowie ergänzenden neurokognitiven Trainingsansätzen.

    Wichtige übergeordnete Merkmale des Programms PSY-Social Workout sind:

    • Es soll möglichst niedrigschwellig sein, d. h., es sieht zwar Abstinenzpläne vor, jedoch ist die Abstinenz von der Nutzung Sozialer Netzwerke nicht das erklärte Ziel der Intervention. Das Programm umfasst nur wenige Sitzungen und soll positive Veränderungen vor allem anstoßen und ggf. den Weg in eine weiterführende Behandlung erleichtern. Zudem soll das Programm nach erfolgreicher Evaluation auch als Selbsthilfemanual zur Verfügung gestellt werden.
    • Das Programm PSY-Social Workout soll größtmögliche Flexibilität bieten, d. h., es kann im Einzel- wie auch im Gruppensetting durchgeführt werden, im direkten Kontakt wie auch als videobasierte Beratung. Ebenso ist ein Einsatz begleitend zu einer laufenden Beratung oder Behandlung wegen anderer psychischer Erkrankungen möglich (z. B. als ergänzende Bausteine).

    Demnach handelt es sich bei PSY-Social Workout eher um ein sog. Empowerment-Programm als um eine psychotherapeutische Behandlung. Dies soll den Kreis derjenigen, die das Programm einsetzen wollen, erweitern und somit möglichst viele Anlaufstellen für Betroffene generieren. Derzeit werden umfassende Schulungsmaterialien (Leitfaden inklusive Arbeitsblätter sowie kurze Video-Tutorials) konzipiert, welche u. a. auf der Webseite des Fachverbands Medienabhängigkeit e.V. ab Herbst 2023 verfügbar sein werden. Interessierte, die sich an der Durchführung des Programms in der Praxis beteiligen wollen, können über info@fv-medienabhaengigkeit.de sehr gerne Voranmeldungen senden.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Diplom-Psychologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter – Forschung & Diagnostik
    Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    muellka(at)uni-mainz.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Dr. Kai W. Müller, (1) Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, (2) Fachverband Medienabhängigkeit e.V.
    Lisa Mader, Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz
    Kristin Schneider, (1) Caritasberatungsstelle „Lost in Space“, (2) Fachverband Medienabhängigkeit e.V.

    Literatur:
    • Müller, K.W., Dreier, M., Duven, E., Giralt, S., Beutel, M.E. & Wölfling, K. (2016). A hidden type of Internet Addiction? Intense and addictive use of social networking sites in adolescents. Computers in Human Behavior, 55, 172-177
    • Müller, K.W. & Wölfling, K. (2017). Pathologischer Mediengebrauch und Internetsucht. Stuttgart: Kohlhammer
    • Müller, K.W. & Wölfling, K. (2017). AICA-SKI:IBS. Strukturiertes klinisches Interview zu Internetbezogenen Störungen (1. Aufl.), Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz
    • Paschke, K., Austermann, M.I. & Thomasius, R. (2021). ICD-11-based assessment of social media use disorder in adolescents: Development and validation of the Social Media Use Disorder Scale for Adolescents. Frontiers in Psychiatry, 12, 661483
    • Paschke, K., Austermann, M.I. & Thomasius, R. (2022). International Classification of Diseases-11-based external assessment of social media use disorder in adolescents: Development and validation of the Social Media Use Disorder Scale for Parents. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 25(8), 518-526
    • Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (2021). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, 67(4), 181–185
    • Scherer, L., Mader, L., Wölfling, K., Beutel, M.E., Dieris-Hirche, J. & Müller, K.W. (2021). Nicht diagnostizierte internetbezogene Störungen im psychotherapeutischen Versorgungssystem: Prävalenz und geschlechtsspezifische Besonderheiten. Psychiatrische Praxis, 48(08), 423-429
    • Van den Eijnden, R.J., Lemmens, J.S. & Valkenburg, P.M. (2016). The social media disorder scale. Computers in human behavior, 61, 478-487
    • Wölfling, K. & Müller, K.W., Dreier, M., Ruckes, C., Deuster, O., Batra, A., Mann, K., Musalek, M., Schuster, A., Lemenager, T., Hanke, S. & Beutel, M.E. (2019). Efficacy of Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction (STICA): A multicenter randomized controlled trial. JAMA Psychiatry, 76(10), 1018-1025
    • Wölfling, K., Beutel, M.E., Bengesser, I. & Müller, K.W. (2022). Computerspiel- und Internetsucht – Ein kognitiv-behaviorales Behandlungsmanual, 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer 
  • Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Dr. Kai W. Müller
    Knut Kiepe

    Für viele Menschen scheint es nur allzu klar, dass die bereits mehr als ein Jahr währende Corona-Pandemie in Bezug auf die Internetnutzung deutliche Spuren hinterlässt und zu einer signifikant höheren Anzahl an internetbasierten Schädigungen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – führt. „Höhere Internetnutzung gleich mehr Störungen“ ist aber eine zu einfache Formel: Was wir brauchen, ist ein differenzierter Blick – vor allem auf die psychischen Belastungen und ihre Hintergründe. Dies gilt besonders in Zeiten der Pandemie, aber auch generell im Rahmen der Digitalisierung.

    Als wichtige Grundlage und zum besseren Verständnis ist es hilfreich, den historischen Hintergrund zur Diagnostik zu kennen. Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. setzt sich seit 2008 für die Anerkennung von „Internetnutzungsstörungen“ als psychische Erkrankung ein. 

    Der Weg zur Anerkennung

    Bereits im Jahre 2013 entschied die American Psychiatric Association, die so genannte Internet Gaming Disorder zumindest als Forschungsdiagnose in den Anhang des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Version) aufzunehmen. Dem vergleichsweise neuen (jedoch aus klinischer Sicht überaus relevanten) Phänomen wurde damit erstmalig und offiziell der Staus einer Problematik mit Gesundheitsrelevanz zuerkannt.

    Etwa sechs Jahre später folgte der nächste und womöglich noch wichtigere Schritt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete, das bisherige ICD-Kapitel der Substanzabhängigkeiten um den Aspekt der „abhängigen Verhaltensweisen“ (Verhaltenssüchte) zu erweitern und in diesem Zuge auch die „Störung durch Computerspielen“ als eigenständige psychische Erkrankung zu führen. Neben diesem neuen (direkt benannten) Diagnoseschlüssel bietet das ab 2022 gültige ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Version) nun die Möglichkeit, weitere Verhaltenssüchte und somit auch weitere differenzierbare Internetnutzungsstörungen zu verschlüsseln. In einem aktuellen Vorschlag werden hier insbesondere die Subformen der Online-Pornographie-Nutzungsstörung, der Online-Shoppingstörung und der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als relevante Formen benannt (Rumpf et al., 2021).

    Dysfunktional, suchtartig, exzessiv – viele Bezeichnungen für ein Phänomen

    Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Internetnutzungsstörung eigentlich? Zunächst als Phänomen geführt, wurde seit der erstmaligen Dokumentation Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl von inhaltlich mehr oder weniger synonym gebrauchten Bezeichnungen für das diagnostisch noch nicht verortete Störungsbild verwendet – von pathologisch-dysfunktionalem PC-Gebrauch über Internetsucht und Medienabhängigkeit bis hin zur heutigen Internetnutzungsstörung.

    Unabhängig vom konkret benutzten Begriff gilt für alle Bezeichnungen, dass sie als Oberbegriffe zu verstehen sind und dass der PC, das Internet oder gar die Medien an sich nicht als „Suchtmittel“ in einem direkten Zusammenhang mit einem Abhängigkeitsgeschehen stehen. Vielmehr sind es die einzelnen (zumeist) online durchgeführten Aktivitäten (und damit das Verhalten), welche unter bestimmten Voraussetzungen eine exzessive und unkontrollierte Nutzung im Sinne eines Abhängigkeitsgeschehens hervorrufen können.

    Aus den verfügbaren epidemiologischen Studien an repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung und bestätigt durch Zahlen von Nutzern des Hilfesystems wissen wir, dass es vor allem bestimmte internetbasierte Computerspiele sind, die besonders häufig mit einem suchtartigen Konsum im Zusammenhang stehen. Aus diesem Grunde wurde gerade die „Störung durch Computerspielen“ als einzige Variante der Internetnutzungsstörungen im ICD-11 konkret aufgeführt. Gekennzeichnet ist das Störungsbild durch folgende drei diagnostische Kriterien:

    1. Kontrollverlust über das Nutzungsverhalten
    2. Bedeutungserhöhung bzw. Priorisierung der Nutzung, wodurch andere Lebensbereiche (Freizeitverhalten und Alltagsaktivitäten) beeinträchtigt oder verdrängt werden
    3. Fortführung der Nutzung trotz der dadurch entstehenden negativen Folgeerscheinungen

    Ergänzt wird die diagnostische Definition von einer mit den Kriterien einhergehenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus. Damit ist gemeint, dass Betroffene psychische Belastungssymptome entwickeln sowie Probleme im sozialen und leistungsbezogenen Kontext wie etwa Schule oder Beruf erleben.

    Auch auf die in der Bevölkerung seltener auftretenden Varianten von Internetnutzungsstörungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von sozialen Netzwerken, Online-Pornographie oder Einkaufsportalen, werden die vorgenannten Kriterien angewandt, so dass sich für alle Internetnutzungsstörungen ein einheitlicher diagnostischer Rahmen ergibt.

    Die vorliegende epidemiologische Forschung zur Verbreitung von Internetnutzungsstörungen weist mit großer Übereinstimmung aus, dass Jugendliche und junge Erwachsene deutlich häufiger betroffen sind als ältere Personen. Die ermittelten Prävalenzraten der einzelnen Studien unterscheiden sich zwar leicht, liegen aber bei etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, welche die Kriterien einer Internetnutzungsstörung erfüllen, und bei nochmals etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, die ein zumindest problematisches Nutzungsverhalten aufweisen (hier sind also zumindest einige Kriterien einer Störung feststellbar). Bedenkt man, dass in den Studien ebenfalls mit großer Übereinstimmung eine merklich höhere Belastung der Betroffenen durch weitere psychosoziale und psychopathologische Symptome (z. B. erhöhte Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten und Angstsymptome) festgestellt wird, ergibt sich ein deutlicher Handlungsbedarf. Dieser schließt nicht nur die Behandlung, sondern in besonderem Maße auch die Frühintervention ein. Für Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt der Problementwicklung ist ein entsprechendes Früherkennungssystem notwendig. Ebenso bedarf es einer zielgruppenspezifischen Prävention – hier sollte eine Ausweitung und Überprüfung der vorliegenden Konzepte vorgenommen werden. 

    Der Einfluss der Pandemie auf die Fallzahlen

    Die Entstehung von Internetnutzungsstörungen folgt also nach gegenwärtigem Kenntnisstand komplexen Mechanismen. Die Annahme, dass allein die verstärkte Nutzung von Internetangeboten wie bestimmten Computerspielen oder sozialen Netzwerken ein komplexes Abhängigkeitsgeschehen bedingt, ist mit Sicherheit zu kurz gedacht. Bekannt ist, dass vor allem junge Menschen sehr empfindlich auf sich verändernde Rahmenbedingungen und den Wegfall von Strukturen reagieren. Die Pandemie könnte – mit ihren erhöhten und zum Teil dauerhaften psychischen Belastungen – somit als „Brandbeschleuniger“ wirken und zunehmende Internetnutzungsstörungen bzw. deren höhere Prävalenz begründen.

    Die mittlerweile formulierten Störungsmodelle wie etwa das Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution Modell (Brand et al. 2016) oder das Integrative Prozessmodell der Internetsucht (Müller et al., 2016) gehen von einem komplexen Wechselspiel aus individuellen Prädispositionen, wirksamen Strukturmerkmalen der kritischen Internetaktivität und Einflüssen der sozialen Lebenswelt des Individuums aus. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind insbesondere die Beziehungen zwischen den individuellen Risikofaktoren und der aktuellen sozialen Situation von hoher Bedeutung.

    Verschiedene Berufsverbände und Institutionen wie jüngst die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben darauf hingewiesen, dass die indirekten Auswirkungen der Corona-Pandemie gerade junge Bevölkerungsschichten stark beanspruchen und deutliche Effekte auf ihre psychische Gesundheit ausüben. Einige Forschungsdaten speziell zu Internetnutzungsstörungen, auch wenn sie die Problematik noch nicht über einen ausreichend langen Zeitraum abbilden können, erhärten die Vermutung, dass die Pandemie zu einer nochmals stärkeren Verbreitung des Störungsbildes beitragen kann (z. B. Paschke et al., 2021; Bilke-Hentsch et al., 2020; Rumpf et al., 2020).

    In der ambulanten Beratungspraxis werden unter anderen folgende Symptome in Verbindung mit problematischer Internetnutzung häufig berichtet:

    1. Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Reizbarkeit
    2. starke Leistungsschwankungen oder Leistungsabfall (vor allem in Schule und Ausbildung)
    3. Stimmungsschwankungen und Antriebslosigkeit
    4. physische Beeinträchtigungen bzw. körperliche und psychosomatische Beschwerden (bspw. Kopf- und Gliederschmerzen, Haltungsschäden, Schlafstörungen)
    5. allgemeiner Rückzug

    Ein hoher Grad an Online-Beschulung, das Wegfallen von realen Sozialkontakten und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten könnten diese bekannten Effekte in den bisher erlebten Lockdown-Phasen noch verstärkt haben. Erste, bislang jedoch unveröffentlichte Zahlen aus dem ambulanten Versorgungssystem weisen auf einen merklichen Anstieg der entsprechenden Nutzung des Hilfesystems wegen exzessiven Mediennutzungsverhaltens hin. Auch auf theoretischer Ebene unter Bezugnahme auf die oben genannten Störungsmodelle ist diese Entwicklung plausibel.

    Sowohl Praxis als auch Empirie bestätigen daher die Relevanz folgender Einflussfaktoren, die vor allem Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene in der Zeit der Pandemie betreffen:

    1. Wesentliche Ressourcen brechen weg (z. B. Freizeitaktivitäten, direkter Kontakt zum Freundeskreis).
    2. Gesellschaftliche Sicherheit wird vermisst (z. B. gewohnte soziale Strukturen und Alltagsroutinen).
    3. Unsicherheit und Angst prägen das individuelle und gesamtgesellschaftliche Umfeld.
    4. Das Vertrauen in eine verlässliche Umwelt fehlt (unsichere Zukunftsperspektiven und erlebter Kontrollverlust).

    Diese vier Erkenntnisse sind von hoher Bedeutung und dürfen nicht ignoriert werden, sofern wir nicht nachhaltig negative Folgen für unsere Gesellschaft und im Besonderen für die nachkommenden Generationen in Kauf nehmen wollen. Von daher fordern Berufsverbände und auch der Fachverband Medienabhängigkeit e.V., dass die psychosozialen Folgen der aktuellen Krise ernst genommen werden und ein Auffangnetz für die vulnerablen Gruppen gespannt wird – gerade jetzt, wo die Pandemie zurückgedrängt scheint. Ein solches Netz muss spezielle und geeignete Angebote für Prävention und Behandlung vorhalten.

    Im Rahmen des geforderten und notwendigen Ausbaus der Digitalisierung sollten wir mit Blick auf Kinder und Jugendlichen zwei wichtige Eckpunkte berücksichtigen und in das Auffangnetz einbeziehen:

    1. Wir dürfen (vor allem jüngere) Kinder und Jugendliche nach wie vor nicht mit ihrer Mediennutzung alleine lassen – wir müssen aber auch (gerade von Kindern und Jugendlichen) lernen, virtuelle Angebote und Plätze und deren Funktion sowie Stellenwert besser zu verstehen.
    2. Neben den virtuellen Angeboten müssen wir geeignete reale Anlaufpunkte und Aktivitäten schaffen, ausbauen und stärken, da Digitalisierung diese niemals ersetzen kann.

    Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. ist bereit, an einem solchen Netzprojekt mitzuwirken und seine Erfahrungen und Erkenntnisse bezüglich der problematischen Internetnutzung mit einem differenzierten Blick einzubringen.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    kai.mueller(at)unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Kai W. Müller, Diplom-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht an der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin in Mainz. Er ist 1. Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V.
    Knut Kiepe, Diplom-Sozialarbeiter, war über zehn Jahre als Suchtreferent beim Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) tätig. Aktuell leitet er die Jugend-, Drogen- und Suchtberatung Mörfelden-Walldorf.

    Literatur:
    • Bilke-Hentsch, O., Bachmann, S., Batra, A., Conca, A., Funk, L., Gremaud, F., Jenewein, J., Hentsch, S., Klein, M. Michel, G., Müller, K.W., Müller-Knapp, U., Pezzoli, V., Preuss, U., Rexroth, C., Sevecke, K., Thun-Hohenstein, L., Walter, M., Weber, P., Wladika, W. & Jud, A. (2020). Gibt es ein „Post-corona-Adaptations-Syndrom“? Sollte es „post-Corona“-Interventionen geben? Entwicklungspsychiatrische Überlegungen. Leading Opinions Psychiatrie & Neurologie, 3/4, 6-11.
    • Brand, M., Young, K. S., Laier, C., Wölfling, K. & Potenza, M. N. (2016). Integrating psychological and neurobiological considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: An Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 71, 252-266.
    • Müller, K.W., Dreier, M. & Wölfling, K. (2016). Excessive and addictive use of the internet – prevalence, related contents, predictors, and psychological consequences. In L. Reinecke & M.B. Oliver (Eds.), The Roudledge Handbook of Media Use and Well-Being (pp 223-236). New York, Routledge, Taylor and Francis Group.
    • Paschke, K., Austermann, M. I., Simon-Kutscher, K. & Thomasius, R. (2021). Adolescent gaming and social media usage before and during the COVID-19 pandemic. Sucht, 67, 13-22. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000694
    • Rumpf, H.J., Brand, M., Wegmann, E., Montag, C., Müller, A., Wölfling, K., Müller, K., Stark, R., Steins-Löber, S., Hayer, T., Schlossarek, S., Hoffman, H., Lemenager, T., Lindenberg, K., Thomasius, R., Batra, A., Mann, K., te Wild, B., Mößle, T. & Rehbein, F. (2020). Covid-19 Pandemie und Verhaltenssüchte: Erfahrungen, Konsequenzen und Forderungen. Sucht, 66 (4), 212–216.
    • Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (in press). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, in press.
  • Internetbezogene Störungen

    Am 11. und 12.01.2018 wurde in Berlin im Bundesministerium für Gesundheit in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) der „Expertenworkshop Internetbezogene Störungen (EXIST)“ durchgeführt. Es nahmen 37 Expertinnen und Experten aus der Suchtkrankenhilfe, der Forschung und verschiedener Fachverbände teil. Der Expertenworkshop hatte das Ziel, den aktuellen Stand der Forschung im Bereich der Internetbezogenen Störungen zusammenzutragen. Es wurden elf Vorträge gehalten und der State-of-the-Art des internationalen und nationalen Wissens im Plenum diskutiert.

    Nun ist eine Handreichung erschienen, die kondensiert über das Wissen informiert, das im Rahmen dieses Workshops zusammengetragen wurde. Sie beschreibt den aktuellen Stand in den Bereichen Störungskonzepte, Diagnostik, Prävention, Frühintervention und Behandlung. Dem liegt eine Literaturrecherche zugrunde, die aktuelle Übersichtsarbeiten ermittelt hat. Die Liste der Übersichtsarbeiten ist im Anhang aufgeführt. Sie spiegelt den aktuellen internationalen Wissensstand zu Internetbezogenen Störungen (IBS) wider.

    Die Handreichung verdeutlicht, dass es in vielen Bereichen noch deutlichen Forschungsbedarf gibt. Gleichzeitig besteht Handlungsbedarf, qualifizierte Hilfeangebote für diesen Störungsbereich bereitzuhalten. Die überwiegende Mehrheit der Beteiligten des Expertenworkshops EXIST sprach sich für die Notwendigkeit der Entwicklung von Leitlinien für die Behandlung Internetbezogener Störungen aus. Auf Basis der diskutierten Ergebnisse wird die Entwicklung einer Leitlinie angestrebt, welche den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften

    (AWMF) folgt. Angesichts der aktuellen Forschungslage erscheint eine S1-Leitlinie angemessen. Hierzu sollen aus dem Kreis der Experten und Expertinnen unter Hinzuziehung weiterer mit dem Thema befasster Fachgesellschaften Arbeitsgruppen gebildet werden.

    Die Handreichung steht unter http://www.dg-sucht.de/ zum Download zur Verfügung.

    Quelle: Hans-Jürgen Rumpf & Anja Bischof: Handreichung Expertenworkshop Internetbezogene Störungen (EXIST) am 11.-12. Januar 2018 in Berlin. Lübeck, Mai 2018

  • Always on?!

    Always on?!

    Dr. Klaus Wölfling
    Dr. Klaus Wölfling
    Dr. Kai W. Müller
    Dr. Kai W. Müller
    Prof. Manfred Beutel
    Prof. Dr. Manfred E. Beutel
    Jun.-Prof. Dr. Leonard Reinecke. Foto: Richard Lemke

     

     

     

     

    Die zunehmende Verbreitung des Internets und insbesondere die hohe Nutzungsrate bei Jugendlichen (JIM-Studie, 2015) hat in den letzten Jahren zu einem intensiven gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs geführt. Im Zentrum steht die Frage nach den Folgen der Digitalisierung. Da sich die Nutzung ‚neuer‘ Medien in annähernd allen Gesellschaftsschichten mit einer beispiellosen Geschwindigkeit vollzieht, fehlen weitestgehend Vergleichsmöglichkeiten in Bezug auf die positiven wie auch negativen Auswirkungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Aktuelle Statistiken weisen aus, dass das Internet unter Kindern und Jugendlichen einen besonders hohen Stellenwert einnimmt und internetbasierte Aktivitäten wie etwa Chats und weitere Kommunikationsplattformen, aber auch Online-Computerspiele und Unterhaltungsportale einen integralen Bestandteil im Leben und Aufwachsen dieser Generation darstellen (JIM-Studie, 2015). Diese Generation wird auch als „Digital Natives“ (deutsch: Digitale Eingeborene) bezeichnet.

    Mehr noch als in erwachsenen Bevölkerungsschichten ist hier ein Spannungsfeld zu beobachten, in welchem einerseits Befürwortung der Internetnutzung, andererseits Bedenken hinsichtlich möglicher nachteiliger Effekte auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aufeinandertreffen. Während theoretisch zu erwarten ist, dass beide Positionen in gewissem Maße zutreffen, muss aus empirischer Sicht festgehalten werden, dass derzeit lediglich eine dünne und damit insgesamt wenig belastbare Datengrundlage existiert, welche die mittel- und langfristigen Folgen der Digitalisierung unseres Lebens abbilden könnte. So bleiben wichtige Fragen vorerst ungeklärt, wie etwa die Auswirkung der Digitalisierung auf die Entwicklung der sozioemotionalen Kompetenz oder die Fähigkeit, internetbasierte Fertigkeiten auf andere Lebensbereiche übertragen zu können. Eine besondere Rolle nimmt die Frage ein, welche Auswirkungen eine intensive bis exzessive Mediennutzung auf die psychische Gesundheit hat.

    „Nur eine Phase?“ – und weitere offene Fragen

    Ein viel diskutierter und eindeutiger Nachteil, den die Digitalisierung gebracht hat, ist das Auftreten eines neuen Störungsbildes. Die im Jahr 2013 erfolgte Aufnahme der „Internet Gaming Disorder“ in das Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM-5) als Forschungsdiagnose zeugt davon, dass mit der Verbreitung des Internets auch vorher unbekannte gesundheitsrelevante Auswirkungen der Mediennutzung festzustellen sind (APA, 2013). Aktuelle querschnittliche Erhebungen konnten zeigen, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil der deutschen Allgemeinbevölkerung und gerade auch der Jugendlichen computerspiel- oder internetsüchtiges Verhalten aufweist und hierüber teils dramatische Einschränkungen der psychischen Gesundheit hinnehmen muss. Jedoch stellt sich die Frage nach der zeitlichen Stabilität suchtartiger Internetnutzung: Handelt es sich bei dem Verhalten eher um ein fokussiertes Interesse und damit nur um eine ‚Phase‘? Oder ist das Medienverhalten tatsächlich eine Sucht und bedarf externer, professionaler Hilfe? Außerdem stellt sich die Frage nach den Entstehungsbedingungen einer exzessiven Nutzung: Welche Risikofaktoren begünstigen einen suchtartigen Medienkonsum und welche Faktoren wirken – vielleicht trotz einer intensiven Nutzung – schützend?

    Während seit etwa zehn Jahren eine Zunahme von Querschnittstudien – teilweise auch in Form von repräsentativen Erhebungen – zu verzeichnen ist und somit die oben stehenden Fragen zum Teil schon in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerückt sind, stellen Längsschnitterhebungen noch immer eine Seltenheit dar. Dies ist ungünstig, da Querschnitterhebungen zwar wichtige Erkenntnisse zum Thema erlauben, konkrete Aussagen über die kausalen Zusammenhänge bestimmter Merkmale jedoch nur über längsschnittliche Forschungsmethoden getroffen werden können.

    Viele Jugendliche durchlaufen Phasen mit gesteigertem Interesse an bestimmten Themen. Hierbei handelt es sich um ein aus entwicklungspsychologischer Sicht ganz normales Phänomen, welches für die Autonomieentwicklung in dieser Phase sogar notwendig ist. Diese Phasen können spontan enden oder von neuen Phasen abgelöst werden. Auch von risikoreichem Verhalten wie etwa dem Rauschmittelkonsum ist bekannt, dass sich Konsummuster aus dem Jugendalter keineswegs zwangsläufig im Erwachsenenalter fortsetzen müssen, sondern ebenfalls einer spontanen Remission unterliegen können (Moffitt, 1993). Analog könnte es sich mit dem problematischen bzw. suchtartigen Mediengebrauch verhalten, d. h. es könnte sich hierbei lediglich um eine temporäre Erscheinung in der Entwicklung handeln.

    Viele Studien zur Internetsucht beschränken sich auf eine einmalige Erhebung des Phänomens, also auf eine Abbildung der Situation im Hier und Jetzt. Um den Verlauf bzw. die zeitliche Stabilität abzubilden, sind solche Studiendesigns demnach ungeeignet. Lediglich Längsschnitterhebungen, die ein und dasselbe Phänomen bei denselben Personen zu mehreren unterschiedlichen Zeitpunkten erfassen, können Aufschluss über wichtige Zusammenhänge und tiefere Einblicke in die Thematik geben. Solche Studien werden aufgrund des damit verbundenen enormen Aufwands jedoch zum einen selten durchgeführt, und zum anderen sind sie häufig methodisch nicht einwandfrei. So stellt sich etwa immer wieder das Problem, dass die untersuchte Kohorte nicht über den zeitlichen Verlauf gehalten werden kann, was bisweilen in Stichprobenreduktionen auf zum Teil deutlich unter 50 Prozent resultiert. Aus diesen Gründen ist die Forschungsliteratur zur zeitlichen Stabilität suchtartiger Internet- und Computerspielnutzung, aber auch zu anderen Langzeiteffekten der Mediennutzung durch Jugendliche deutlich unterrepräsentiert. Der bisherige Stand der Forschung soll nachstehend kurz zusammengefasst werden.

    Befunde bisheriger Längsschnittstudien

    Forscher untersuchten im Jahr 2014 rund 3.000 Schüler in Taiwan im Alter zwischen 15 und 17 Jahren über einen Zeitraum von zwölf Monaten bezüglich der Stabilität internetsüchtigen Verhaltens (Chang, Chiu, Lee, Chen & Miao, 2014). Es wurde festgestellt, dass rund 66 Prozent der anfänglich als internetsüchtig diagnostizierten Jugendlichen auch noch bei der (abschließenden) zweiten Messung die diagnostischen Kriterien für eine Internetsucht erfüllten. Positiv hervorzuheben ist die methodische Stärke der Studie: So wurde auf einen gut etablierten Fragebogen zurückgegriffen (CIAS, Chen Internet Addiction Scale; Chen, Weng & Su, 2003) und eine hohe Haltequote der Studienteilnehmer erzielt: 77 Prozent der Schüler nahmen zu beiden Messzeitpunkten teil. Eine weitere Untersuchung aus dem asiatischen Raum fand über einen Zeitraum von drei Jahren statt (Yu & Shek, 2013). Von den 3.300 jugendlichen Befragten nahmen noch 80 Prozent zum letzten Zeitpunkt an der Befragung teil. Der Anteil der Jugendlichen mit Internetsucht erwies sich hier als annähernd stabil: Während zum ersten Zeitpunkt 26 Prozent die Kriterien einer Internetsucht erfüllten, belief sich der Anteil zum Zeitpunkt der letzten Befragung noch auf 23 Prozent.

    Speziell zur Computerspielsucht führten Gentile und Kollegen (2011) eine Studie an 3.000 Jugendlichen aus Asien durch. Ihre Ergebnisse deuten ebenfalls auf eine hohe Stabilität des Problemverhaltens hin. 84 Prozent der zu Beginn als suchtartige Spieler eingeschätzten Jugendlichen zeigten auch noch nach zwei Jahren das gleiche Problemverhalten. Methodisch zu bemängeln ist jedoch die Verwendung eines bislang nicht anerkannten Fragebogens zur Klassifikation der Computerspielsucht.

    Interessanterweise kommen Längsschnittstudien mit europäischen Teilnehmern zu abweichenden Ergebnissen und legen eher den Schluss einer mittleren bis schwachen zeitlichen Stabilität des suchtartigen Verhaltens nahe. Lemmens, Valkenburg und Peter (2011) berichten für eine kleine Stichprobe von 851 Jugendlichen über einen Zeitraum von sechs Monaten geringe Stabilitäten der Diagnose Computerspielsucht. Sie zeigten jedoch gleichzeitig auf, dass eine suchtartige Computerspielnutzung eine zumindest exzessive (also zeitlich ausufernde) Computerspielnutzung sechs Monate später voraussagte. Das Problemverhalten remittierte also nicht vollständig.

    Eine erste Untersuchung basierend auf einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Deutschland nahmen Scharkow, Festl und Quandt (2014) an 4.500 regelmäßigen Computerspielern vor. Hier zeigte ein Prozent der Befragten über den gesamten Zeitraum von zwei Jahren ein problematisches Computerspielverhalten, wohingegen es bei drei Prozent zu einer Veränderung hin zu einem unauffälligen Computerspielverhalten kam. Obgleich dieser Studie eine wichtige Pionierrolle für den deutschen Sprachraum zukommt, lassen sich doch methodische Unzulänglichkeiten finden. Diese betreffen insbesondere die geringe Haltequote der Stichprobe (lediglich 902 der initial 4.500 Teilnehmer konnten zwei Jahre später nachbefragt werden).

    In den oben berichteten Untersuchungsergebnissen wird eine erhebliche Heterogenität deutlich. Daraus lässt sich ein Bedarf an methodisch hochwertigen Studien mit mehreren Messzeitpunkten, ausreichender und kohortenspezifischer Teilnehmerzahl zu allen Messzeitpunkten und zuverlässigen Instrumenten zur Messung der Internetsucht ableiten.

    Schutz- und Risikofaktoren

    Insbesondere erscheint es relevant, in solchen langfristig angelegten Untersuchungen Faktoren ausfindig zu machen, die zu einer Stabilität der Problematik beitragen können oder diese gar bedingen. Erkenntnisse über schützende Faktoren, die zu einer Verbesserung der suchtartigen Mediennutzung beitragen, sind vor allem für die Ableitung präventiver Strategien, aber auch für Interventionsprogramme wichtig. Gerade in dieser Hinsicht mangelt es derzeit noch an aussagekräftigen Forschungsbefunden. Ob sich eine verstärkte Mediennutzung nachteilig auf bestimmte Gruppen von Adoleszenten, die beispielsweise eine spezifische Vulnerabilität mitbringen, auswirkt und welche Einflüsse hierzu beitragen, muss von daher eine wesentliche Aufgabenstellung der modernen Forschung sein. Einen theoretischen Ausgangspunkt für die Formulierung zielgerichteter Hypothesen bietet die inzwischen reichhaltige Literatur aus Querschnittserhebungen.

    Wenngleich die Anzahl jener Studien, die sich gezielt mit der Frage nach Schutz- und Risikofaktoren befassen, noch überschaubar ist, deuten einzelne Befunde doch darauf hin, dass das Auftreten einer Internetsucht unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlicher ist. Ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen und Abhängigkeitsphänomenen legt die Forschung einen Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitsdimensionen und Internetsucht nahe. Demnach ist in erhöhtem Neurotizismus, niedriger Gewissenhaftigkeit oder verminderter Extraversion zumindest ein Korrelat internetsüchtigen Verhaltens zu sehen und möglicherweise sogar ein kausaler Faktor, der die Krankheitsentstehung direkt beeinflusst (vgl. z. B. Müller et al., 2014; Kuss et al., 2014; Braun et al., 2015; für eine Übersicht vgl. Müller, 2013). Hiervon ausgehend kann angenommen werden, dass möglicherweise das Gefühl von einer bedrohlichen Welt voller potenzieller Stressoren zu einer stärkeren Hinwendung zum Internet führt. In dieser als sicher und berechenbar erlebten Online-Welt kann der Jugendliche Belastungen entfliehen und erlebt eine erhöhte Selbstwirksamkeit (Müller, 2013). Im Umkehrschluss ist gleichzeitig anzunehmen, dass es bestimmte Umstände gibt, die eine Remission des exzessiven oder gar suchtartigen Nutzungsverhaltens begünstigen – und eben dieser Punkt ist es, über den es zum aktuellen Zeitpunkt noch so gut wie keine Erkenntnisse gibt. Wissen über diese Thematik würde entscheidende Vorteile mit sich bringen. Im Sinne der positiven Psychologie wäre es etwa möglich, ressourcenfördernd bzw. -aktivierend zu arbeiten und bestehende Präventionskonzepte um entsprechende Module zu ergänzen.

    Einen Versuch, Schutz- und Risikofaktoren bei der Entwicklung von unauffälligem, problematischem und suchtartigem Internetverhalten zu eruieren, nahm die Forschergruppe um Dreier im Jahr 2012 vor. In ihrer international angelegten qualitativen Studie wurden Tiefeninterviews mit Jugendlichen durchgeführt, welche ein intensives bis exzessives Internetnutzungsverhalten aufwiesen. Die Forscher stellten in dieser spezifischen Stichprobe adaptive sowie maladaptive Strategien im Umgang mit dem Internet fest: Zu den identifizierten adaptiven Strategien zählten Kompetenzen wie etwa die Priorisierung von Offline-Aktivitäten als gezielter Ausgleich zum Online-Verhalten sowie angewandtes Verhaltensmonitoring, um die Onlinenutzungszeiten nicht entgleiten zu lassen. Demgegenüber ließen sich maladaptive Strategien identifizieren wie das gezielte Umgehen elterlicher Kontrolle und die Bagatellisierung des exzessiven Verhaltens.

    Verschiedene Nutzertypen

    Anhand der Befragung von Dreier et. al (2012) konnten vier unterschiedliche Nutzertypen ausgemacht werden: „Stuck online“, „Juggling it all“, „Coming full cycle“ und „Killing boredom“. Jugendliche des Typs Stuck online zeigten einen exzessiven Internetkonsum, vernachlässigten wichtige Alltagsaktivitäten (Schule, Freunde, Pflichten) und schafften es nicht aus eigener Kraft, den Internetkonsum zu reduzieren. Die exzessive Nutzung zeigte bei diesen Jugendlichen bereits negative Konsequenzen wie beispielsweise Schlafstörungen. Als Risikofaktoren für diesen Typ wurden defizitäre soziale Fertigkeiten genannt, die teilweise auf erlebte Enttäuschungen in sozialen Interaktionen, aber auch auf Mobbingerlebnisse zurückgeführt werden können. Der Typ Juggling it all zeigt eine Balance zwischen Online- und Offline-Aktivitäten. In beiden ‚Welten‘ zeigen sich Jugendliche dieses Typs sehr präsent, was – negativ betrachtet – zu einem vollen Zeitplan und Stress führen kann. Als protektiven Faktor wiesen diese Jugendliche ein hohes Maß an sozialer Kompetenz auf, die sich darin äußerte, dass die Jugendlichen einen qualitativen Unterschied zwischen Offline- und Online-Kommunikation machen. Gleichzeitig nehmen die Online-Aktivitäten Bezug zur Offline-Welt (z. B. Jugendlicher mit vielen Freunden, der viel Aktivität auf sozialen Netzwerken aufweist). Jugendliche des Typs Coming full cycle zeigten ein exzessives Nutzungsverhalten, konnten jedoch durch Selbstregulierungsprozesse eine progressive und adaptive Veränderung in ihrem Verhalten erzielen. Bei diesen Jugendlichen handelte es sich lediglich um eine ‚Phase‘ exzessiver Nutzung, die sich ohne externe Hilfe wieder legte. Der Typ Killing boredom empfindet die Offline-Welt als langweilig, und ihm fehlt es an alternativen Aktivitäten, die ihn interessieren. Die Internetnutzung ist ein Zeitfüller und eine automatisierte Reaktion auf Langeweile. Dieser Typ zeigt wenig Eigeninitiative in der aktiven Exploration von Verhaltensalternativen und hat begrenzte soziale Fähigkeiten.

    Zusammenfassend scheint die Befundlage zu Risiko- und protektiven Faktoren hinsichtlich der Entwicklung einer Internetsucht überschaubar. Insbesondere an ganzheitlichen und langfristigen Betrachtungen fehlt es bislang. Die Durchführung weiterer methodisch einwandfreier Längsschnittstudien ist in diesem recht neuen Themengebiet bedeutsam, um Präventionskonzepte und Strategien der Frühintervention an die Bedürfnisse der Jugendlichen anpassen zu können.

    Die intensive Nutzung internetbasierter Anwendungen durch Jugendliche zeigt, dass in vielerlei Hinsicht von einem Wandel im Freizeit- und Kommunikationsverhalten auszugehen ist, der auf keinen Fall automatisch mit einem Krankheitswert gleichzusetzen ist. Im Gegenteil existieren empirische Befunde, die der Nutzung moderner Medien mancherlei positive Effekte bescheinigen (z. B. Greitemeyer, 2011). Bei allen nachteiligen Konsequenzen, die eine manifeste Internetsucht nach sich zieht, sollte also nicht außer Acht gelassen werden, dass internetsüchtiges Verhalten mit einer Prävalenz zwischen zwei und vier Prozent in Europa deutlich seltener ist als die problematische Internetnutzung.

    Die Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“

    Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Vertreter/innen der Fachdisziplinen Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Medizin und Medienpädagogik hat sich zum Ziel gesetzt, die oben genannten offenen Punkte näher zu beleuchten. In der vom Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität finanzierten Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“ wird eine repräsentative Stichprobe von 2.500 Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren aus Rheinland-Pfalz schriftlich befragt. Das innovative Moment der Erhebung stellt die Begleitung der Jugendlichen über zwei Jahre hinweg dar. Es wird angestrebt, die Teilnehmer zu insgesamt drei Messzeitpunkten (2015, 2016 und 2017) zu denselben Themen zu befragen und somit Aussagen über individuelle Verläufe in der Mediennutzung treffen zu können. Ebenso soll es möglich werden, Rückschlüsse auf die Kausalität der gefundenen Zusammenhänge zu ziehen. Bei der inhaltlichen Konzeption der Befragung wurde Wert darauf gelegt, dass die Fragestellungen nicht explorativ, sondern theoriegeleitet sind und eine entwicklungspsychologische Perspektive eingenommen wird. Zentrale Inhalte des Projekts betreffen:

    • Art und Umfang des Mediennutzungsverhaltens
    • Subjektive und objektive Beeinflussbarkeit durch Medieninhalte
    • Häufigkeit und Effekte von „Digital Stress“
    • Veränderung von Peer-Kontakten durch die Nutzung sozialer Netzwerke
    • Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung durch unterschiedlich intensive Mediennutzung
    • Prävalenz, Inzidenz (= Häufigkeit der Neuerkrankungen), Stabilität und Remission von Internetsucht
    • Belastung durch psychosoziale Symptome in unterschiedlichen Nutzergruppen

    In der Erhebung kommen ausschließlich gut etablierte Erhebungsinstrumente zum Einsatz, welche vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Ansatzes zusammengestellt wurden. Hierüber sollen die Effekte der Mediennutzung möglichst breit erfasst werden, sodass sich Raum für die Identifikation sowohl von positiven als auch negativen Effekten bietet. Die Studie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf insgesamt 24 Monate angelegt, jedoch wird angestrebt, die rekrutierte Kohorte über den genannten Zeitraum hinaus beizubehalten und im Idealfall auch den Übergang von der Adoleszenz in das junge Erwachsenenalter abbilden zu können.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Unversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    muellka@uni-mainz.de / kai.mueller@unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Dr. Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Leonard Reinecke ist Juniorprofessor am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

    Literatur:
    • APA – American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical manual of mental disorders. 5th ed. Arlington, USA: American Psychiatric Publishing; 2013.
    • Braun, B., Stopfer, J.M., Müller, K.W., Beutel, M.E. & Egloff, B. (2016). Comparing regular gamers, non-gamers, and gaming addicts and differentiating between game genres. Computers in Human Behavior, 55, 406-412.
    • Chang, F. C., Chiu, C. H., Lee, C. M., Chen, P. H., & Miao, N. F. (2014). Predictors of the initiation and persistence of Internet addiction among adolescents in Taiwan. Addictive Behaviors, 39, 1434–1440.
    • Chen, S., Weng, L., & Su, Y. (2003). Development of Chinese Internet Addiction Scale and its psychometric study. Chinese Journal of Psychology, 45, 279–294.
    • Dreier, M., Tzavela, E., Wölfling, K., Mavromati, F., F., Duven, E., Karakitsou, Ch., Macarie, G., Veldhuis, L., Wójcik , S., Halapi, E., Sigursteinsdottir, H., Oliaga, A., Tsitsika, A. (2012). The development of adaptive and maladaptive patterns of Internet use among European adolescents at risk for internet addictive behaviours: A Grounded theory inquiry. National and Kapodistrian University of Athens (N.K.U.A.), Athens: EU NET ADB. Vefügbar unter: www.eunetadb.eu [20.11.2015].
    • Duven, E., Giralt, S., Müller, K.W., Wölfling, K., Dreier, M. & Beutel, M.E. (2011). Problematisches Glücksspielverhalten bei Kindern und Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Abschlussbericht an das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz.
    • Feierabend S., Plankenhorn T., Rathgeb T. JIM 2014: Jugend, Information,(Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12-19-Jähriger in Deutschland [Internet]., November 2014 [zitiert am 24.11.2015]. URL: http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf14/JIMStudie_2014.pdf
    • Gentile, D. A., Choo, H., Liau, A., Sim, T., Li, D., Fung, D., & Khoo, A. (2011). Pathological video game use among youths: A two-year longitudinal study. Pediatrics, 127 (2), 319-329.
    • Greitemeyer, T. (2011). Effects of Prosocial Media on Social Behavior When and Why Does Media Exposure Affect Helping and Aggression?. Current Directions in Psychological Science, 20(4), 251-255.
    • Kuss DJ, Shorter GW, van Rooij AJ, can de Mheen D, Griffiths MD. The Internet addiction components model and personality: Establishing construct validity via a nomological network. Comput Hum Behav. 2014;39:312-21.
    • Lemmens, J. S., Valkenburg, P. M., & Peter, J. (2011). The effects of pathological gaming on aggressive behavior. Journal of Youth and Adolescence, 40, 38-47.
    • Moffitt, T.E. (1993) Adolescent-limited and life-course persistent antisocial behavior: A developmental taxonomy. Psychological Review, 100 (4), 674-701.
    • Müller, K. (2013). Spielwiese Internet: Sucht ohne Suchtmittel. Springer-Verlag.
    • Müller KW, Beutel ME, Egloff B, Wölfling K. Investigating risk factors for Internet Gaming Disorder: A comparison of patients with addictive gaming, pathological gamblers and healthy controls regarding the Big Five personality traits. Eur Addict Res. 2014;20:129-136.
    • Scharkow, M., Festl, R. & Quandt, T. (2014). Longitudinal patterns of problematic computer game use among adolescents and adults – a 2-year panel study. Addiction, 109 (11), 1910-1917. doi: 10.1111/add.12662
    • Wölfling, K., Müller, K. W., Giralt, S., & Beutel, M. E. (2011). Emotionale Befindlichkeit und dysfunktionale Stressverarbeitung bei Personen mit Internetsucht. Sucht, 57 (1), 27-37.
    • Yu, L., & Shek, D. T. L. (2013). Internet addiction in Hong Kong adolescents: a three-year longitudinal study. Journal of pediatric and adolescent gynecology,26 (3), 10-S17.
  • Psychotherapie bei Internetsucht

    Psychotherapie bei Internetsucht

    Michael Dreier
    Michael Dreier
    Dr. Klaus Wölfling
    Prof. Manfred Beutel
    Kai W. Müller

     

     

     

     

    Seit 2013 findet sich die so genannte Internet Gaming Disorder (zu Deutsch: Internetspielsucht, auch: Computerspielsucht), eine häufige Variante internetsüchtigen Verhaltens, als vorläufige Diagnose im Anhang der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5; APA, 2013). Die American Psychiatric Association (APA) reagierte damit auf die stetig anwachsende Zahl wissenschaftlicher Literatur, welche Internetsucht im Allgemeinen und Computerspielsucht im Speziellen als ernstzunehmendes Gesundheitsproblem darstellt. Auf der Grundlage aktueller Prävalenzschätzungen ist davon auszugehen, dass in Deutschland zwischen ein und zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung unter Internetsucht leiden, wobei die Prävalenzraten unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit bis zu vier Prozent nochmals höher zu beziffern sind (vgl. z. B. Müller et al., 2014a,b; Rumpf et al., 2013).

    Internetsucht und Psychotherapieforschung

    Das Problemverhalten selbst ist aktuell nosologisch noch nicht endgültig klassifiziert. Jedoch deuten insbesondere neurowissenschaftliche Befunde darauf hin, dass ähnlich wie beim Pathologischen Glücksspiel von deutlichen Parallelen zu Substanzabhängigkeiten ausgegangen werden kann (Thalemann, Wölfling & Grüsser, 2007; Ko et al., 2013) und viele Kliniker und Forscher deshalb das Störungsbild als substanzungebundene Abhängigkeitserkrankung bzw. Verhaltenssucht auffassen. Auch auf diagnostischer Ebene wird die Ähnlichkeit zu anderen Abhängigkeitserkrankungen unterstrichen. Dies zeigen die von der APA definierten diagnostischen Kriterien für Computerspielsucht: Craving, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen, Interessensverlust, Täuschung von Angehörigen oder Therapeuten, die Gefährdung relevanter Lebensbereiche, Emotionsregulation und Erleben entzugsähnlicher Symptome bei Konsumverhinderung.

    Internationale Studien ebenso wie Erhebungen im deutschen Suchthilfesystem zeigen, dass Internet- und Computerspielsucht mit einer deutlich erhöhten psychosozialen Symptombelastung und komorbiden Erkrankungen einhergeht. Insbesondere depressive Verstimmungen, erhöhte Ängstlichkeit und Stressbelastung sowie ein schlechteres allgemeines psychosoziales Funktionsniveau treten in Verbindung mit Internetsucht auf (vgl. z. B. Wölfling et al., 2013; Yang et al., 2008).

    Aus der aktuell fehlenden Anerkennung der Internetsucht als Störungsbild ergibt sich, dass derzeit nur sehr wenige Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Wirkungsweise (psycho-)therapeutischer Verfahren vorliegen. In einer Evaluation bisher vorliegender Psychotherapiestudien zur Internetsucht stellen King und Kollegen (King, Delfabbro & Griffiths, 2011) entsprechend fest, dass keine der von der Autorengruppe analysierten acht Interventionsstudien den umfassenden Qualitätsstandards klinischer Studien entspricht. Identifizierte Mängel betreffen hier z. B.:

    • Fehlende Definition von Ein- und Ausschlusskriterien für den Einschluss in die Studien
    • Keine ausreichende inhaltliche Beschreibung des Interventionsprogramms
    • Unzureichende Qualität der statistischen Analysen zur Bestimmung der Therapieeffekte
    • Unangemessener methodischer Zugang zur Hypothesentestung (z. B. Fehlen von Kontrollgruppen)

    Trotz des Mangels an standardisierten Behandlungsmanualen ergibt sich aus verschiedenen publizierten Arbeiten jedoch eine Schnittmenge verschiedener Verhaltensdomänen, die in der Therapie aufgegriffen werden. Dazu gehören Maßnahmen wie eine Problemanalyse des Internetnutzungsverhaltens, Abstinenzfokussierung, die Aneignung von Strategien der Kontrolle des Konsums sowie von Motivationstechniken, das Erarbeiten von Tagesstruktur bzw. Online-Zeitmanagement und die Verbesserung sozialer Beziehungen bzw. die Verbesserung der Partnerschaftlichkeit (vgl. King et al., 2011).

    Als positiv ist zu bewerten ist zudem, dass mittlerweile eine erste Meta-Analyse bisheriger Psychotherapiestudien zur Internetsucht veröffentlicht wurde (Winkler et al., 2013). Natürlich sind die Ergebnisse dieser ersten wichtigen Analyse immer vor dem Hintergrund der von King und Kollegen (2011) dokumentierten Schwächen bisheriger Studien zu bewerten, jedoch erlaubt sie eine erste Abschätzung der Wirksamkeit verschiedener Therapiemethoden. In die Studie von Winkler und Kollegen (2013) flossen insgesamt 16 klinische Studien zur Internetsucht aus verschiedenen Kulturkreisen, hauptsächlich jedoch Asien, ein, welche eine Patientenzahl von insgesamt 670 Personen beinhalteten. Die angewandten Interventionsformen bestanden in der überwiegenden Anzahl aus multimodalen Therapieprogrammen mit einem Schwerpunkt auf kognitiv-behavioralen Ansätzen. Zusätzlich wurden drei psychopharmakologische Studien berücksichtigt. Die Autoren verzeichneten unterschiedliche Effektstärken je nach Art der angewandten Intervention. Kognitiv-behaviorale Ansätze waren in Bezug auf die Reduktion der Onlinezeiten und der Symptome der Internetsucht anderen psychotherapeutischen Verfahren überlegen. Die Effektstärken für die kognitive Verhaltenstherapie variierten hier auf einem hohen Niveau zwischen d=0.84 und 2.13, was auf eine gute bis sehr gute Wirksamkeit hindeutet.

    Im Vergleich zwischen der Verhaltenstherapie und der Psychopharmakotherapie ergaben sich keine signifikanten Wirkunterschiede. Die medikamentöse Behandlung der Internetsucht (insbesondere basierend auf selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Methylphenidat) erwies sich mit Effektstärken zwischen d=0.28 und 2.23 ebenfalls als wirksam. Auch hinsichtlich der Wirkung auf assoziierte Problemlagen und psychosoziale Symptome (z. B. depressive Verstimmung) ging die kognitive Verhaltenstherapie mit den höchsten Effektstärken einher.

    Die Analyse der Drop-Out-Quoten ergab, dass fast 20 Prozent der Patienten die Behandlung vorzeitig beendeten. Zusätzlich wurde eine – jedoch auf Grund der geringen Datenmenge als vorläufig anzusehende – Analyse einzelner Wirkfaktoren vorgenommen. Hier erwies sich, dass von höheren Therapieeffekten bei weiblichen und älteren Patienten auszugehen ist. Ein therapeutisches Einzelsetting erwies sich der Gruppentherapie als moderat überlegen.

    Insgesamt deuten die Daten dieser ersten übergreifenden Analyse darauf hin, dass psychotherapeutische und psychopharmakologische Interventionen bei Internetsucht eine gute Wirksamkeit aufweisen, wobei nochmals der vorläufige Charakter der präsentierten Daten unterstrichen werden muss. Ungeklärt bleibt hingegen, inwieweit die erzielten Therapieeffekte über das unmittelbare Setting hinaus zeitliche Stabilität aufweisen. Daneben lassen sich auch noch keine Aussagen darüber treffen, inwieweit die gefundenen Effekte gleichermaßen auf unterschiedliche Formen internetsüchtigen Verhaltens (z. B. Computerspielsucht, Onlinesexsucht, suchtartige Nutzung von sozialen Netzwerken) generalisiert werden können.

    Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Pilotstudie der Ambulanz für Spielsucht

    Im Jahre 2014 wurde von Wölfling, Beutel, Dreier und Müller eine deutsche Studie zur Behandlungswirksamkeit unter Einschluss von 37 männlichen Patienten mit Internetsucht im ambulanten Setting veröffentlicht. Nach Beendigung des manualisierten und standardisierten Therapieprogramms der Arbeitsgruppe um Wölfling (2012) schlossen 26 Patienten die verhaltenstherapeutische Intervention mit positivem Ergebnis ab. 89 Prozent dieser Patienten, die die Therapie regulär beendet hatten, wiesen in der Abschlussmessung ein unauffälliges Internetnutzungsverhalten auf (d. h. die Symptome der Internetsucht waren nicht mehr vorhanden), was in den meisten Fällen eine Abstinenz von der zuvor suchtartig genutzten Internetanwendung beinhaltete. Zudem zeigte sich eine signifikante Verminderung der zuvor beobachteten zusätzlichen psychopathologischen Symptombelastung im SCL-90R. Es handelt sich hierbei um ein Inventar, welches psychische Symptome und Stressbelastungen abbilden kann. Insbesondere in den Bereichen Depressivität, Angstsymptome, Unsicherheit im Sozialkontakt und Zwanghaftigkeit waren hohe Effektstärken zu verzeichnen, d. h. die jeweiligen Symptome waren nach Beendigung der Therapie signifikant zurückgegangen. Insgesamt elf Patienten brachen die Therapie vorzeitig ab, was einer Drop-Out-Quote von 29 Prozent entspricht.

    Multicenter-Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Um für den deutschen Sprachraum eine erste Abschätzung der Wirksamkeit eines standardisierten verhaltenstherapeutischen Behandlungsmanuals zu dokumentieren und die im vorigen Abschnitt vorgestellten Daten aus der Pilotstudie in größerem Umfang zu erhärten, führt die Ambulanz für Spielsucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz derzeit im Zusammenschluss mit drei weiteren Zentren (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Universitätsmedizin Tübingen, Anton Proksch Institut Wien) eine klinische Studie durch.

    Bei dem von der DFG und dem BMBF geförderten Projekt STICA (Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction) handelt es sich um die Weiterführung der oben genannten Pilotstudie im Rahmen einer multizentrischen randomisierten klinischen Kontrollstudie (RCT). Mit dieser Studie sollen Wirksamkeit und Wirkmechanismen der an der Ambulanz für Spielsucht entwickelten verhaltenstherapeutischen Behandlung für Computerspiel- und Internetsucht überprüft werden (Wölfling et al., 2012). Insgesamt sollen 192 Patienten mit Internet- und Computerspielsucht behandelt werden. Zielgruppe für das Behandlungskonzept sind Männer im Alter von 17 bis 55 Jahren. Das Studiendesign für STICA orientiert sich am Verhaltenssuchtansatz von Computerspiel- und Internetsucht in ihren unterschiedlichen Manifestationen. So ist Internetsucht als Sammelbezeichnung zu verstehen und beinhaltet eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten im Internet, die von Betroffenen unkontrolliert bzw. exzessiv ausgeübt werden. Ihre Haupterscheinungsformen beziehen sich auf Computer- bzw. Online-Spiele (z. B. Browsergames, Online-Rollenspiele), die Nutzung von sozialen Netzwerken und Chats, das Surfen auf Erotikseiten, die Teilnahme an Online-Glücksspielen (z. B. Poker, Online-Casinos), das Ansehen und Sammeln von Videos bzw. Filmen (z. B. Streaming-Angebote), ausuferndes Einkaufen (z. B. Online-Auktionen) oder das ziellose Recherchieren und Sammeln von Informationen (z. B. Online-Informationsplattformen oder Lexika).

    In den beteiligten Studienzentren werden die Patienten zufällig entweder der Therapiegruppe oder der Wartekontrollgruppe zugeordnet. Mit dem Vergleich dieser beiden Gruppen soll die Wirksamkeit der speziellen verhaltenstherapeutischen Kurzzeitintervention geprüft werden. Die Behandlung besteht aus 15 Gruppensitzungen (wöchentlich je 100 Minuten), welche unten näher beschrieben werden, und acht Einzelsitzungen (alle 14 Tage 50 Minuten). Acht Patienten stellen die Ideale Gruppengröße dar. Letztendlich erhalten alle in die Studie eingeschlossenen Patienten die Behandlung – für die Wartegruppe beginnt die Therapie jedoch erst nach einer Wartezeit von vier Monaten.  Das genaue Vorgehen bei der Studiendurchführung kann Abbildung 1 entnommen werden (Jäger et al., 2012).

    Abb. 1: STICA Studiendesign
    Abb. 1: STICA Studiendesign

    Ein störungsspezifisches Therapieprogramm bei Internetsucht

    Struktur der Gruppensitzungen

    Bevor die einzelnen Phasen der Therapie skizziert werden, soll vorab  die Struktur der Sitzungen an sich beschrieben werden: Die Gruppensitzungen beinhalten eine Begrüßung und einen Rückblick auf die Ereignisse der letzten Sitzung. Anschließend berichten die Patienten in einer Abstinenzrunde den Verlauf der letzten Woche. Während der Patientenberichte soll der Therapeut/die Therapeutin positive Veränderungen verstärken, Rückfälle und negative Ereignisse werden direkt in der Gruppe besprochen. Zur nachhaltigen Zielerreichung ist eine Ressourcenaktivierung notwendig, welche der Therapeut/die Therapeutin nach den Bedürfnissen der Patienten entwickeln und anwenden muss. Die jeweiligen sitzungsspezifischen Gruppenthemen werden mit ca. 50 Minuten veranschlagt. Sie bestehen aus einer Einführung sowie der Erarbeitung des Themas anhand von Diskussionen, Arbeitsblättern und Übungen. Offene Fragen werden jeweils in der gemeinsamen Zusammenfassung geklärt. Der Therapeut/die Therapeutin entlässt die Gruppenmitglieder, nachdem er/sie einen Ausblick auf die nächste Sitzung gegeben hat.

    Aufbau des Therapiemanuals

    Die folgende Beschreibung basiert auf dem Therapiemanual von Wölfling und Kollegen (2012). Die verhaltenstherapeutische Kurzzeitintervention ist in drei Phasen unterteilt: 1) Psychoedukation und Motivation, 2) Intervention und 3) Transfer und Stabilisierungsphase.

    Die erste Phase (Psychoedukation und Motivation) umfasst die ersten drei Sitzungen und thematisiert eine individuelle störungsspezifische Psychoedukation, vermittelt ein individuelles bio-psychosoziales Erklärungsmodell für die Entstehung von Internetsucht, klärt bzw. fördert die Motivation für eine dauerhafte Verhaltensveränderung (u. a. Abstinenz von der suchtartig genutzten Internetaktivität) und definiert zusammen mit den Patienten weiterführende Therapieziele.

    Die zweite Phase (Intervention) erstreckt sich von Sitzung 4 bis 11 und erarbeitet basierend auf Wochenprotokollen eine Problem- und Verhaltensanalyse nach dem Prinzip des SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz). Es werden funktionale Bewältigungsstrategien im Bereich alternativer Freizeit- bzw. Lebensgestaltung vermittelt, und es soll ein alternativer Umgang mit Emotionen und Stress erlernt werden. Essenzieller Teil dieser Therapiephase ist die Steigerung des Selbstwertes. Diese erfolgt im ständigen Abgleich zur individuellen Biographie anhand spezifischer Problemsituationen mit Selbstwertrelevanz. Darüber hinaus wird mit den Patienten eine angeleitete Exposition mit Reaktionsverhinderung durchgeführt (s. u. bei Sitzung 8).

    Die dritte Phase (Transfer und Stabilisierung) vermittelt in Sitzung 12 bis 15 Maßnahmen für die Rückfallprophylaxe, erstellt einen Notfallplan, reflektiert den Therapieerfolg und durch die Abstinenz eingetretene Veränderungen.

    Inhalte ausgewählter Sitzungen

    In Ergänzung zum bereits dargestellten Ablauf der einzelnen Phasen werden nun ausgewählte Sitzungen näher erläutert.

    Sitzung 1 beinhaltet das Kennenlernen, das Unterzeichnen eines Therapievertrages und das schriftliche Fixieren von Therapiezielen. Nachdem ein Überblick über das Therapieprogramm gegeben wurde, kommt es zur Vereinbarung eines Abstinenzversuches und zur Festlegung einzelner Therapieziele. Unterstützend werden Arbeitsblätter für Wochenprotokolle ausgehändigt, anhand derer die Patienten Situationen aufzeichnen sollen, in denen es in jüngster Vergangenheit zu Spielverlangen gekommen ist. Hier wird vermerkt, welche Emotionen, Kognitionen, körperliche Empfindungen und konsequenten Handlungen bzw. Konsequenzen sich daraus für den Patienten ergaben. Einige Sitzungen, wie beispielsweise die erste Sitzung, bergen „Stolpersteine“ und methodische Schwierigkeiten, auf die es zu achten gilt. So ist es besonders wichtig, dass es nicht zu einer Ausgrenzung Einzelner (beispielsweise Patienten mit bereits initiierter Abstinenz vs. noch stark in der Nutzung verhafteter Patienten) oder einem Ungleichgewicht zwischen den Redeanteilen der Gruppenteilnehmer kommt.

    Aufgabe des Therapeuten/der Therapeutin ist es, auf Einwände und Bedenken der Teilnehmer hinsichtlich eines Abstinenzversuches würdigend einzugehen und diese dennoch gleichzeitig kritisch zu hinterfragen (Prinzip des geschmeidigen Widerstandes). Die zunächst mündlich formulierten und erörterten Ziele sollten realistisch und im konkreten individuellen Fall umsetzbar sein. Es zeigt sich bei der Einführung der Wochenprotokolle, dass es Patienten stellenweise schwer fällt, die Differenzierung zwischen Situationen, Gedanken und Gefühlen vorzunehmen. Hier können Elemente aus Emotionsdiskriminations-Trainings von Nutzen sein.

    Sitzung 6 hat die Entwicklung eines individuellen SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz) zum Thema. Während der Abstinenzrunde werden wieder positive Veränderungen zur Vorwoche aufgegriffen. Es schließt sich die Erarbeitung des individuellen Störungsmodells an. Dabei werden Zusammenhänge zwischen internalen und/oder externalen Risikosituationen, suchtspezifischen Grundannahmen und automatischen Gedanken, die das Verlangen auslösen können, anhand eines Arbeitsblattes zur Mikroanalyse inhaltlich vertieft (individuelles SORCK-Modell).

    In Sitzung 8 werden die Patienten ohne Vorankündigung von Bildreizen bezüglich ihres jeweiligen Störungsbildes empfangen, die sie selbst gewählt und vorab zur Verfügung gestellt haben. Dies kann beispielsweise ein Avatar sein oder eine typische Situation, die Nutzungsverlangen auslöst (z. B. der eigene hochgerüstete PC). Es handelt sich hierbei um eine Exposition mit Reaktionsverhinderung. Die Gruppensitzung startet wieder mit einer Abstinenzrunde, welche positive Veränderungen zur Vorwoche aufgreift und verstärken soll. Der Therapeut/die Therapeutin hat die Aufgabe, mit den Patienten die Emotionen und Kognitionen zu verbalisieren und zu analysieren, die durch den Expositionsstimulus hervorgerufen wurden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, den Grad des ausgelösten Nutzungsverlangens zu quantifizieren (auf einer Skala von 0/kein Verlangen bis 100/maximales Verlangen) und dieses im Verlauf der Stunde zu einem merklichen Absinken zu bringen. Positive Gefühle, Kompetenzerwartung und Lernerfahrungen, die auf der Erfahrung basieren, dem Spieldruck nicht nachgegangen zu sein, sind als wichtige Ergebnisse dieser Sitzung anzustreben. Das Expositionsrational wird durch den Einsatz von Notfallkärtchen und konkreten individuellen Handlungsanweisungen in Verführungssituationen abgerundet. Die Gruppe betrachtet gemeinsam den Verlauf des Expositionstrainings aus einer Meta-Perspektive. Hierbei sollte die biographische Einordnung als vertiefende Verarbeitung der Exposition (z. B. Verfassen eines Abschiedsbriefes an den Avatar) mit einbezogen werden. Das Aufgreifen der Erfahrungen in der Exposition und deren therapeutische Nachbearbeitung sollten in anschließenden Einzelsitzungen auf individueller Ebene erfolgen. Typische Schwierigkeiten dieser Sitzung sind das Verständnis des Konfrontationsrationals und v. a. die Gefahr eines gesteigerten Verlangens, welches zu einer erhöhten Rückfallgefährdung beitragen kann.

    In Sitzung 10 und 11 wird ein Modell zur Entwicklung der eigenen Medienaffinität erarbeitet. Die Abstinenzrunde verstärkt wieder positive Veränderungen und greift potenzielle Rückfälle auf. Zielstellung für die Patienten ist es, Zusammenhänge zwischen Lebensereignissen, Lebenszufriedenheit und ihrer Mediennutzung zu erarbeiten und die identifizierten Entwicklungsverläufe in der Gruppe zu besprechen.

    Nach Beendigung der letzten Gruppensitzung folgt eine Zeit von sechs Wochen, in welcher in der Regel kein therapeutischer Kontakt erfolgt. Nach Ablauf dieser Frist werden alle Gruppenteilnehmer zu einer sog. Booster-Session eingeladen, in welcher besprochen wird, inwiefern die Integration der in der Therapie erlernten Techniken in die Lebensumwelt des Patienten gelungen ist und wo unter Umständen Nachbesserungsbedarf besteht.

    Kontakt:

    Michael Dreier
    Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    Michael.Dreier@uni-mainz.de
    www.unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel​​​ und der Dipl.-Soziologe Michael Dreier forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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