Schlagwort: Medizinische Rehabilitation

  • ADHS in der Suchtrehabilitation

    ADHS in der Suchtrehabilitation

    Einleitung

    Dr. Ulrich Böhm
    Marcus Breuer

    Mitarbeitende in der Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen sind zunehmend mit AD(H)S als komorbider Störung konfrontiert. Aus Sicht der Rehabilitationseinrichtungen ist dieses Thema herausfordernd. Zum einen stellt das Krankheitsbild selbst eine Herausforderung dar, da die entsprechenden Symptome die Mitwirkungsfähigkeit durchaus beeinträchtigen können. Zum anderen sind die Erwartungen der Rehabilitand:innen hoch, im Zuge der Reha eine gründliche Diagnostik zu erfahren und umfassend behandelt zu werden. Hierbei stoßen die Einrichtungen häufig an die Grenzen ihrer Ressourcen. Auch eine externe Diagnostik steht meistens nicht zeitnah zur Verfügung. Außerdem besteht häufig ein Zielkonflikt: In der Suchtrehabilitation ist die Abstinenz das übergeordnete Behandlungsziel, die wirksamsten zugelassenen Medikamente gegen die ADHS bergen aber oft selbst das Risiko, abhängig zu machen. Ihr Einsatz wird unter Expert:innen unterschiedlich eingeschätzt. Die verschiedenen Herangehensweisen soll dieser Artikel deutlich machen.

    In der letztgültigen S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Registernummer 028 – 045, Stand 02.05.2017) steht zur Frage der Medikamentierung Folgendes: „Wenn eine medikamentöse Behandlung indiziert ist, sollen Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin als mögliche Optionen zur Behandlung der ADHS in Betracht gezogen werden.“ (Langfassung, S. 69) Weiter ist aufgeführt: „Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS, bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezialisten mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und Sucht erfolgen.“ (Langfassung, S. 70)

    Es finden also schwierigste Abwägungsprozesse in der Behandlung statt. Auch die Team-Dynamik wird durch das Thema beeinflusst. Es tauchen Fragen auf wie: Gibt es ADHS überhaupt? Werden wir nicht von Rehabilitand:innen manipuliert, damit sie legal Suchtstoffe erhalten? Ist es überhaupt gerechtfertigt, komorbid erkrankte Rehabilitand:innen mit Stimulanzien zu behandeln, welche Wirkung hat das auf die anderen?

    Bei der Idee zu diesem Beitrag war es uns besonders wichtig, keine Spaltungsprozesse zu induzieren, insbesondere medizinischer Dienst (Pflege, Ärzt:innen) und therapeutisch tätiges Personal sollten an einem Strang ziehen. Mit gutem Beispiel voran wurde diese Einführung von einem Psychologen und einem Arzt verfasst! Mit den hier vorgestellten Berichten von Expert:innen möchten wir Ihnen ein breiteres Bild der gelebten Praxis im Umgang mit ADHS in der Suchtrehabilitation bieten.

    Wir danken allen Expert:innen, die uns Auskunft gegeben haben! Dafür haben wir einen standardisierten Fragebogen zusammengestellt. Die ausformulierten Fragen lesen Sie in den ersten beiden Beiträgen, in denen wir selbst aus unseren Einrichtungen berichten. Die folgenden Darstellungen werden durch entsprechende Stichworte gegliedert.

    Wir wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre!

    Marcus Breuer & Dr. Ulrich Böhm


    Deutscher Orden Ordenswerke, Würmtalklinik, Gräfelfing

    Dr. Bernward Böhle
    Marcus Breuer

    Die Fragen beantworteten:
    Marcus Breuer, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut/ Sozialmedizin, Klinikleitung und Therapeutische Leitung
    Dr. Bernward Böhle, Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapie, Suchtmedizin, Notfallmedizin, Ärztliche Leitung

    Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

    Es gibt in unserer Klinik einen sogenannten Behandlungspfad „Komorbidität ADHS und Sucht“. Dieser steuert und systematisiert unser Procedere im Umgang mit einer möglichen ADS/ADHS. Der Behandlungspfad beinhaltet folgende Bereiche:

    a) Nach Diagnostik und Ableiten eines Schwerpunktes à modulares Vorgehen

    • Hauptproblembereich: Aufmerksamkeit und Konzentration
    • Hauptproblembereich: Hyperaktivität und Impulsivität
    • Bei Mischtypus à Kombination

    b) Psychoedukation und Störungsmodell

    c) Weitere therapierelevante Bereiche

    Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

    Hier sind mehrere Aspekte zu nennen: Erstens ist die Abwägung der Schwerpunktsetzung zwischen der Behandlung der Abhängigkeitserkrankung einerseits sowie der ADS/ADHS andererseits anspruchsvoll – dies betrifft insbesondere die Psychotherapie. Auch die Dauer der Reha-Behandlung ist hierbei relevant.

    Zweitens ist der Umgang mit der häufig geringen Frustrationstoleranz, der Ungeduld sowie der Hyperaktivität der betroffenen Rehabilitand:innen für das Behandlerteam häufig besonders anstrengend. Dies gilt insbesondere, wenn in Therapiegruppen mehrere Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS anwesend und involviert sind.

    Drittens ist die Unterscheidung zwischen Motivationsdefiziten einerseits und Schwierigkeiten in Folge der ADHS manchmal nicht ganz einfach zu treffen.

    Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

    Wir orientieren uns grundsätzlich an der jeweils gültigen AWMF-Leitlinie. Bei einer fraglich vorliegenden ADS bzw. ADHS verwenden wir – im Rahmen des oben erwähnten Behandlungspfades „ADHS und Sucht“ – mehrere Diagnostik-Bestandteile:

    • die „Adult Self Report Scale“ (ASRS) als Screening-Fragebogen
    • Fremdanamnese
    • Zeugnisse (insbesondere Grundschulzeugnisse)
    • die „Hamburger ADHS-Skalen für Erwachsene“ (HASE); diese beinhalten mehrere Subtests, u. a. die WURS-K (Wender Utah Rating Scale – Kurzform)
    • DIVA – Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen

    Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

    Ja, es findet – wenn gewünscht, sowie nach erfolgter Diagnostik – ggf. auch eine Medikation der ADHS statt, wir handeln hier ebenso wie auch bei anderen evtl. vorliegenden komorbiden psychischen Störungen. Es kommen hierbei ausschließlich Atomoxetin (Strattera) oder Antidepressiva mit einem noradrenergen Wirkmechanismus (z. B. SNRI, Venlafaxin) zur Anwendung. In unserer Klinik werden keine Methylphendidate und keine Amphetamine/Amphetaminderivate (Dexamphetamine, Lisdexamphetamine etc.) verwendet; das heißt, es gibt bei uns keine Verschreibung von BtM-Medikamenten wie Ritalin, Elvanse o. ä.

    Hintergrund für die Nicht-Verschreibung von Amphetaminderivaten ist die aus unserer Sicht deutlich zu hohe Gefahr einer Suchtverlagerung bzw. eines Missbrauchs dieser ADHS-Medikation.

    Wir unterscheiden in unserem Vorgehen hierbei nicht nach der Erstindikation Alkoholabhängigkeit vs. Drogenabhängigkeit; unser klinischer Umgang ist für beide Subgruppen gleich. Ein unterschiedlicher Umgang wäre in unserem Diagnosen-gemischten Reha-Setting auch nicht umsetzbar.

    Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

    Ja, die psychotherapeutischen Interventionen beziehen sich insbesondere auf die Bereiche Aufmerksamkeit, Konzentration, Umgang mit vorhandener Hyperaktivität sowie Impulskontrolle. Neben Psychoedukation und speziellem Skilltraining im Rahmen der Einzeltherapie planen wir, zukünftig in unregelmäßigen Abständen auch ein „Kompaktmodul ADHS“ als indikatives Kleingruppenagebot für betroffene Rehabilitand:innen anzubieten.

    Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

    Sport ist häufig eine wesentliche Säule für das Erlernen eines funktionaleren Umgangs mit der eigenen motorischen Unruhe. Insbesondere motorisch anstrengende Aktivitäten („Auspowern“) eignen sich daher gut.

    Bei Interesse besteht in der Ergotherapie die Möglichkeit, innerhalb eines wöchentlichen Angebotes Übungen zur Verbesserung in den Bereichen Konzentration bzw. Aufmerksamkeit durchzuführen.

    Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

    Ja, in unregelmäßigen Abständen im Rahmen von teaminternen Fortbildungen.


    Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen

    Dr. Ulrich Böhm

    Die Fragen beantwortete: Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung

    Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

    Im RehaCentrum Alt-Osterholz gibt es einen differenzierten Ansatz mit einem systematischen Procedere. Sollte sich aus der Anamnese und/oder dem klinischen Eindruck der Verdacht auf eine ADHS ergeben, wird dies fachärztlich untersucht und eine Diagnostik eingeleitet.

    Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

    In der Einrichtung besteht eine kritisch-differenzierte Haltung ohne ideologische Scheuklappen. Die Haltung „ADHS gibt es gar nicht“ ist kaum (mehr) spürbar. Dennoch werden insbesondere Rehabilitand:innen, die eine sehr süchtige Struktur mitbringen und mehr oder weniger offensiv für einen Einsatz von Stimulanzien eintreten, dabei eigene psychotherapeutische Anstrengungen vermeiden und das Heil in der Medikation sehen, kritisch in den Blick genommen. Hier sehen wir durchaus eine große Herausforderung.

    Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

    In der fachärztlichen Untersuchung geht es zunächst um die differentialdiagnostische Einordnung und ein Screening mit dafür geeigneten Testbögen. Sollte sich der Verdacht auf eine ADHS erhärten, werden weitere diagnostische Mittel eingesetzt: Anforderung alter Befunde, Vorlage von Grundschulzeugnissen, wenn möglich eine Fremdanamese. Leider besteht nicht die Möglichkeit einer ausführlichen Diagnostik, weder in der Reha-Einrichtung noch im ambulanten Umfeld. Es erfolgt eine enge Abstimmung zwischen Bezugstherapeut:in und dem fachärztlich psychiatrischen Kollegen, die für sehr wichtig erachtet wird. Insbesondere Verlaufsbeobachtungen im gruppentherapeutischen Kontext sind sehr wertvoll. Bei dringendem Verdacht empfehlen wir eine ausführliche Diagnostik und leiten diese ein, aus Termingründen finden diese Untersuchungen allerdings erst nach der Reha-Behandlung statt. Beim Einsatz von Medikamenten findet eine entsprechende (Vor)Diagnostik statt (Labor, EKG, RR-Kontrollen).

    Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

    Bei bereits fachärztlich vordiagnostizierter ADHS führen wir zunächst die Vormedikation fort, überprüfen aber auch die Diagnose während der Behandlung und setzen dann ggf. die Medikation ab, dies geschieht gar nicht so selten. Sollte sich die Diagnose klinisch bestätigen, setzen wir die Medikation (auch mit Stimulanzien) während der gesamten Behandlung fort.

    Bei nicht vordiagnostizierter Störung setzen wir bei starken klinischen Hinweisen für ADHS in einem ersten Schritt zunächst keine Stimulanzien ein. Bei Vorliegen einer begleitenden depressiven Symptomatik wird zunächst mit Bupropion behandelt, was häufig gute Effekte auch auf die ADHS bewirkt. Bei keiner komorbiden depressiven Symptomatik wird Atomoxetin eingesetzt. Sollten entweder starke Nebenwirkungen auftreten oder sich die klinische Symptomatik nicht verbessern, wird auch eine Medikation mit Stimulanzien geprüft und nach sorgfältiger Abwägung ggf. eingesetzt. Dabei wird die Indikation bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit oder auch mit Drogenabhängigkeit ohne stimulierende Substanzen etwas großzügiger gestellt.

    Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

    Jede:r Rehabilitand:in mit ADHS oder dem Verdacht auf eine ADHS erhält einen Betroffenenratgeber, und es finden verhaltenstherapeutische Interventionen statt. Es gibt allerdings keine Indikationsgruppe ADHS.

    Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

    Die betroffenen Rehabilitand:innen werden besonders für sporttherapeutische Angebote, insbesondere Ausdauersport, sensibilisiert.

    Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

    Es werden in der Einrichtung monatlich interne Fortbildungen angeboten. Eine Fortbildung zum Thema ADHS gab es bisher nicht, ist aber geplant.


    Netzwerk Suchthilfe gGmbH, Fachklinik Release, Ascheberg-Herbern

    Maren Ward

    Die Fragen beantwortete: Maren Ward, M.Sc. Suchttherapie, Therapeutische Leitung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Da unsere Einrichtung auf die Behandlung von komorbiden ADHS-Erkrankungen spezialisiert ist, gibt es ein systematisches Vorgehen, sowohl für Rehabilitand:innen mit vorbestehender ADHS-Diagnose als auch für solche, die im klinischen Alltag Anzeichen für das Vorliegen eines ADHS zeigen. Bei bereits vorbestehender Diagnose werden zunächst die bereits erfolgten Behandlungsversuche eruiert. Im direkten Gespräch mit den Rehabilitand:innen erfolgt außerdem eine Sondierung des individuellen Kenntnisstandes über ADHS. Im Rahmen von 1 zu 1 Psychoedukation werden grundlegende Inhalte vermittelt und bestehende Fragen der Rehabilitand:innen beantwortet. Im Anschluss erfolgt eine Integration in die ADHS-Gruppe.

    Im Rahmen der Einzeltherapien werden die Themen der Gruppentherapie aufgegriffen und ergänzt. Ergänzende arbeits-, ergo und sporttherapeutische Bausteine runden das Behandlungskonzept ab. Während der ärztlichen Visiten werden zudem medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten besprochen und eingeleitet.

    Haltung und Herausforderungen

    Wir legen in unserer Einrichtung großen Wert auf eine wertschätzende, ressourcenorientierte Haltung unser Mitarbeiter:innen im Umgang mit unseren Rehabilitand:innen. Ein Großteil der Menschen mit ADHS hat in der bisherigen Biografie erhebliche Selbstwertkränkungen erleben müssen, die teilweise zur Entwicklung weiter psychischer Störungen beigetragen haben. Wir wollen vermitteln, dass ein veränderter Hirnstoffwechsel zunächst nur eine besondere Art zu denken und zu sein bedeutet und dass sich erst über maladaptive Bewältigungsversuche eine Störung im eigentlichen Sinne ergibt. Wir wollen Rehabilitand: innen helfen, ihre Besonderheiten wertschätzend anzunehmen, und vermitteln dies durch die entsprechende Grundhaltung in unserer Mitarbeiterschaft. Wir versuchen, die besonderen Ressourcen, die diese Menschen mitbringen, in den Vordergrund zu rücken und ihnen damit zu ermöglichen, individuelle Defizite bestmöglich auszugleichen.

    Besondere Herausforderungen ergeben sich über die häufig vorliegenden komorbiden Erkrankungen wie z. B. Depressionen oder Angststörungen und die hohe Sensibilität für Selbstwertkränkungen, die sich durch die individuellen Biografien ergeben. Auch die Integration in die Arbeitstherapie erfordert besonderes Fingerspitzengefühl und eine hohe Fachkompetenz, da Rehabilitand:innen mit ADHS durch ihre Symptomatik meist gravierende Probleme haben, sich an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen.

    Rehabilitand:innen mit ADHS profitieren in besonderem Maße von tragfähigen Arbeitsbeziehungen zu unseren Mitarbeiter:innen. Sie benötigen immer wieder persönliche Ansprache und Motivationsarbeit, daher nimmt die Behandlung einen großen Anteil an  personellen Ressourcen in Anspruch.

    Diagnostik

    Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Rehabilitand:innen ohne bereits vorliegende Diagnose zu uns in die Behandlung kommen. Unsere Mitarbeiter:innen sind daher auf besonders dafür sensibilisiert, ihre Verhaltensbeobachtung entsprechend zu intensivieren. Ergeben sich Hinweise durch Beobachtungen, Anamnese oder Familienanamnese, so erfolgt zunächst ein Screening. Sollte dieses Auffälligkeiten zeigen, folgt eine standardisierte testdiagnostische Phase. Wir arbeiten hierbei sowohl mit den gängigen Fragekatalogen als auch strukturierten Interviews. Um eine ausführliche Erstdiagnostik gewährleisten zu können, arbeiten wir außerdem mit Befragungen der Angehörigen und der Sichtung alter Schulzeugnisse. Die Ergebnisse werden sowohl an ärztliche als auch therapeutische Leitung weitergeleitet. Schließlich werden im Rahmen von Behandlungskonferenzen, im interdisziplinären Team, diagnostische Erkenntnisse besprochen und Behandlungsschritte eingeleitet.

    Medikation

    In vielen Fällen ist eine medikamentöse Einstellung der Rehabilitand:innen erforderlich, um es ihnen zu ermöglichen, auf therapeutischer Ebene an ihren Problemlagen arbeiten zu können. Ist dies aus medizinischer Sicht vertretbar und vom Rehabilitanden erwünscht, erfolgt die Einstellung auf Lisdexamfetamin, Methylphenidat und Atomoxetin. Dabei werden keine generellen Unterschiede zwischen Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit gemacht, da beide Gruppen deutlich von der Behandlung profitieren.

    Psychotherapie

    Unser auf ADHS ausgerichtetes Behandlungskonzept hat in verschiedenen Bereichen speziell angepasste Behandlungsbausteine. Im Rahmen der Psychotherapie finden sowohl im einzel- als auch im gruppentherapeutischen Setting spezifische Angebote statt. Diese beziehen sich auf psychoedukative Inhalte und auf an individuelle Bedürfnisse des Einzelnen oder der Gruppe angepasste Inhalte.

    Besondere Ansätze

    Im Rahmen der Arbeitstherapie kommt es zu individuellen Job-Coachings. Es erfolgt eine Einteilung in an die Fähigkeiten der Menschen angepasste Modelarbeitsplätze. Im Rahmen der Ergotherapie kann bei Bedarf computergestütztes Konzentrationstraining erfolgen. Im Bereich der Sporttherapie nehmen Rehabilitand:innen an angeleiteten Ausdauereinheiten teil. Rehabilitand:innen steht außerdem eine Sauna zur Verfügung, um nach Bedarf durch physikalische Reize Spannungen regulieren zu können.

    Fortbildungsangebote

    Alle Mitarbeiter:innen werden regelmäßig in internen Fortbildungen geschult. Weitere externe Fortbildungsmöglichkeiten bestehen im Bereich Diagnostik. Je nach Bedarf werden weitere Inhalte in die Fortbildungsplanung integriert. Sowohl therapeutische Leitung als auch ärztliche Leitung sind ausgebildete Selbstwerttrainer bei ADHS. In unserer Wissensdatenbank befindet sich außerdem eine große Auswahl an Fachliteratur und Arbeitsmaterialien für verschiedene Berufsgruppen.


    CRT Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Fachklinik Nettetal, Wallenhorst

    Dr. Elke H. Sylvester

    Die Fragen beantwortete: Dr. Elke H. Sylvester, FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Chefärztin

    Umgang mit komorbider ADHS und Medikation

    In der Fachklinik Nettetal werden ausschließlich Männer mit der Hauptdiagnose Drogenabhängigkeit behandelt. Die Einrichtung hat 42 Plätze, davon acht in der Adaption.

    Eine ADHS wird als komorbide psychische Störung mitbehandelt. Eine bestehende Medikation mit Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin wird weitergeführt. Die Indikationsstellung wird insbesondere bei bekannter Amphetaminabhängigkeit kritisch mit dem Rehabilitanden und bei Bedarf auch im Trialog Rehabilitand, Bezugstherapeut:in, Arzt/Ärztin diskutiert. Dosisanpassungen und Absetzversuche erfolgen unter regelmäßigen Verlaufskontrollen in der ärztlichen Sprechstunde und werden in Fallbesprechungen thematisiert.

    Medikamentöse Neueinstellungen im Rahmen der Rehabilitationsbehandlung erfolgen in der Regel mit Atomoxetin.

    Die medikamentöse Therapie ist eingebettet in den Gesamtbehandlungsplan mit strukturierenden Maßnahmen im Rahmen der Arbeits- und Ergotherapie, Einzel- und Gruppentherapie, der indikativen und edukativen Gruppenangebote sowie der Sport- und Freizeitangebote u.s.w.

    Haltung und Herausforderungen

    Das Konzept der Fachklinik Nettetal sieht die Mitbehandlung weiterer komorbid bestehender psychischer Störungen vor. Es besteht die Haltung, dass eine erfolgreiche Suchtbehandlung nur gelingen kann, wenn alle diagnostizierten psychischen Störungen Berücksichtigung finden. Die besondere Herausforderung bei der ADHS-Therapie liegt aus meiner Sicht in der Akzeptanz der Therapie mit Psychostimulanzien, also Medikamenten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und ein eigenes Abhängigkeitspotenzial besitzen. Die kritische Diskussion insbesondere im Hinblick auf eine bestehende Amphetaminabhängigkeit erfolgt regelmäßig in Einzelfall- und Teambesprechungen.

    Diagnostik

    Die Diagnostik in der Fachklinik Nettetal umfasst die klinische Beobachtung, wenn möglich die Vorlage von Grundschulzeugnissen sowie die Durchführung der Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene (HASE). Bei positivem Befund erfolgt die Aufklärung des Rehabilitanden über die Diagnose und die therapeutischen Möglichkeiten inklusive der medikamentösen Therapie, die aufgrund der bestehenden Abhängigkeitserkrankung – wie oben erwähnt – vorzugsweise mit Atomoxetin durchgeführt wird.

    Medikation

    Sofern bei Rehabilitanden bereits eine medikamentöse Therapie etabliert ist, wird diese weitergeführt. Dabei kommen wie o.g. Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin zur Anwendung. Mit einer medikamentösen Therapie mit Guanfacin bestehen bislang keine Erfahrungen.

    Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin fallen als Psychostimulanzien unter das Betäubungsmittelgesetz und haben ein eigenes Abhängigkeitspotenzial, so dass die Gabe in einem schützenden Rahmen der Suchtbehandlung der besonderen Sorgfalt bedarf. Auch sollte ein Procedere bei nicht regulärer Entlassung im Vorfeld besprochen werden, um eine unkontrollierte Einnahme bzw. einen Weiterverkauf der Medikamente möglichst zu verhindern.

    Atomoxetin wird von Patienten, die Erfahrungen mit Psychostimulanzien haben, oft als weniger wirksam empfunden.

    Psychotherapie

    Die komorbide ADHS findet Berücksichtigung in der Bezugstherapie bei der Erstellung des Störungsmodells, der Reha-Zielformulierung sowie der Prozessgestaltung. Ein besonderer Fokus wird auf die Alltagsstrukturierung gelegt. Edukative und indikative Gruppenangebote (u. a. Entspannungstraining, Achtsamkeitstraining, Training emotionaler Kompetenzen) werden nach individueller Indikation in den Rehabilitationsplan integriert.

    Besondere Ansätze

    Nach einem Screening wird in der Ergotherapie bei auffälligem Befund ein RehaCom-Training durchgeführt. Die Teilnahme an der Nordic Walking- oder Laufgruppe wird dringend empfohlen, der Zusammenhang zwischen Ausdauersport und psychischer Stabilität wird individuell erläutert.

    Fortbildungsangebote

    In Teamsitzungen werden sowohl anhand von Einzelfällen als auch in kurzen Referaten von  Mitarbeitenden Informationen zu unterschiedlichen Thematiken gegeben, z. B. komorbide psychische Störungen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, neue diagnostische Verfahren, neue Medikamente.


    Drogentherapie-Zentrum Berlin gGmbH, Fachklinik LAGO am Wannsee

    Dr. Frank Puchert

    Die Fragen beantwortete: Dr. Frank Puchert, Chefarzt

    Umgang mit komorbider ADHS

    Grundsätzlich stellen wir fest, dass die mehrmonatige stationäre Behandlung unter recht sicheren abstinenten Bedingungen bei der Diagnostik und Therapie des AD(H)S nachhaltige Vorteile bietet.

    Wir wissen und stellen im Kontakt mit den Rehabilitand:innen fest, dass Aufmerksamkeitsprobleme bei Substanzabhängigen häufig sind. Nicht selten hilft reines Abwarten. Nicht nur bei Cannabisnutzern – bei denen aber besonders häufig – bildet sich das Problem zurück. Wir beobachten quasi gemeinsam mit den Rehabilitand:innen, wie sich kognitive Folgen des Konsums über die Wochen legen. Über die reine Entwöhnung hinaus bestehen keine zusätzlichen Behandlungsnotwendigkeiten bei dieser Gruppe von Betroffenen.

    Es gibt auch andere. Bei einigen lässt sich im engeren Sinne feststellen, dass der Konsum ursprünglich sogar der Versuch war, das Aufmerksamkeitsproblem zu bekämpfen. Betroffene berichten insbesondere bei dem Konsum von Stimulanzien Ungewöhnliches: sie seien darunter ruhiger geworden, sogar strukturierter. Mitunter erwähnen Rehabilitand:innen sogar Teilhabevorteile: sie seien in der Schule besser mitgekommen, hätten nur unter Konsum eine Ausbildung durchgehalten etc. Diese Personen leiden häufig in besonderer Weise unter dem Wegfall der Substanzwirkung.

    Bei dieser Gruppe von Betroffenen sowie bei denen, die klinisch als aufmerksamkeitsbeeinträchtigt auffallen, sind wir zusätzlich therapeutisch herausgefordert. Hier legen wir besonderen Wert auf fokussierende und achtsamkeitsfördernde Therapien wie Entspannungsübungen, kognitives Training, Bogenschießen etc. Sport stellt auch hier einen wichtigen Therapiebestandteil dar.

    Diagnostik

    Bei hartnäckigen und anhaltenden Problemen unternehmen wir weitere diagnostische Schritte beginnend damit, dass wir evaluieren, ob das Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsproblem anamnestisch anhaltend und früh beginnend ist. Wir streben immer fremdanamnestische Daten an in Form von Berichten Angehöriger, Zeugnissen, mitunter auch in Form von Behandlungsberichten z. B. aus kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken.

    Dies wird ergänzt durch Fragebogendiagnostik (ADHS-Selbstbeurteilungsskala von Rösler et al.), die mit dem Problem behaftet ist, dass subjektive Schilderungen (und Überzeugungen) einen großen Stellenwert haben.

    Medikation

    In der Zusammenschau stellen wir behandlungsbedürftige ADHS/ADS-Probleme fest, die aufgrund der Ausprägung und/oder des individuellen Leidensdrucks die medikamentöse Behandlung nahelegen. Leitliniengerecht empfehlen wir Atomoxetin. Dabei sind die ausreichende somatische Diagnostik und die informierte Zustimmung selbstverständlich. Da wir nicht selten beunruhigende Nebenwirkungen sahen, ist uns die Aufklärung darüber besonders wichtig. Häufiger erlebten wir urogenitale Nebenwirkungen wie spontane Ejakulationen. Auch psychische Auffälligkeiten in Form affektiver Beeinträchtigungen sind wichtig. Selten erlebten wir psychotische Symptome.

    Ein großer Teil der Rehabilitand:innen erlebt wenig Nebenwirkungen, ist zufrieden und will die Behandlung nach Entlassung fortsetzen. Dies erfordert frühzeitige Planung, um kompetente verordnende Ärztinnen und Ärzte zu finden sowie aber auch Lieferengpässe zu evaluieren.

    Bei Nichtwirksamkeit der Atomoxetinbehandlung machten wir Behandlungsversuche bspw. mit Bupropion, die uns nicht sehr überzeugt haben.

    Da wir uns entschieden haben, konsequent ohne potenziell Abhängigkeit erzeugende Medikamente zu behandeln, verzichten wir auf die Vergabe von Stimulanzien. Häufig organisieren wir die Weiterbehandlung in Praxen, wo dies dann ambulant ermöglicht werden kann.


    ADV – Rehabilitation und Integration gGmbH, Fachklinik F42, Berlin

    Martin Rüdiger

    Die Fragen beantwortete: Martin Rüdiger, Psychologischer Psychotherapeut, Therapeutische Leitung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Wir gehen da immer individuell vor. Die meisten vermeintlichen ADHS-Diagnosen stellen sich als Selbstdiagnosen heraus und erfüllen nur selten die tatsächlichen Kriterien. Sollte sich eine tatsächliche ADHS-Diagnose abzeichnen, geht es zunächst darum, den Leidensdruck, bisherige eigene und professionelle Bewältigungsversuche, Zusammenhänge mit der Abhängigkeitserkrankung sowie Veränderungswünsche der Betroffenen zu eruieren. Danach wird dies in die jeweilige Behandlung implementiert (und eine eventuelle Weitervermittlung nach Ende der Therapie in Betracht gezogen). Zudem wird eine mögliche, der primären Abhängigkeitserkrankung angemessene, Medikation geprüft.

    Haltung und Herausforderungen

    Unserer Erfahrung nach sind die tatsächlichen Veränderungsmöglichkeiten bei dieser Diagnose eher gering, die Abgrenzung zu grundlegenden Bindungsproblemen im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung ist schwierig. Insofern geht unsere Arbeit weniger in Richtung Symptomkontrolle, sondern fokussiert auf eine komplementäre, validierende Beziehungsgestaltung und Erkrankungs-Akzeptanz.

    Diagnostik

    Die Diagnostik erfolgt anhand der Anamnese nach Behandlungsbeginn, wenn nötig ziehen wir ein strukturiertes Interview hinzu. Meist scheitert die Diagnosestellung an den objektiven Daten (Zeugnisse etc.) aus der Kindheit.

    Medikation

    Ja, in diesem Fall verwenden wir ausschließlich Atomoxetin.

    Fortbildungsangebote

    Bei Interesse der Mitarbeitenden wird an externe Fortbildungsangebote verwiesen.


    Alida Schmidt-Stiftung, Fachkrankenhaus Hansenbarg, Hanstedt

    Die Fragen beantworteten:
    Dr. Susanne Schulze, Oberärztin
    Bertrand Evertz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt
    Philine Kreter, Psychologin M.sc. und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Seit einigen Jahren richten wir in unserer Klinik ein besonderes Augenmerk auf AD(H)S-Symptome und fragen diese bereits im psychiatrischen Aufnahmegespräch sondierend ab. Ergeben sich hierbei anamnestisch oder klinisch Hinweise auf das Vorliegen eines AD(H)S, erfolgt durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten die gezielte Diagnostik mittels Fragebögen und Interview unter Beachtung möglicher Differentialdiagnosen und Komorbiditäten wie z. B. Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgestörungen. Bestätigt sich der Verdacht und lässt sich das AD(H)S als aufrechterhaltender oder erschwerender Faktor für die Abhängigkeitserkrankung identifizieren, erhält die Rehabilitandin / der Rehabilitand nach Ausschluss von Kontraindikationen das Angebot einer medikamentösen Therapie.

    Haltung und Herausforderungen

    Berufsgruppenübergreifend gibt es in unserer Klinik eine offene Haltung gegenüber der Thematik. Im Umgang mit den Rehabilitand:innen nehmen wir die Auswirkungen der Neurodivergenz auf das Verhalten, Erleben und Fühlen (auch auf die Suchtentwicklung) in den unterschiedlichen therapeutischen Bereichen wahr. Diagnostische Hinweise kommen nicht selten auch aus der Arbeits- und Physiotherapie. Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit ADHS fallen in allen Bereichen zumeist primär durch ihre motorische Unruhe und Impulsivität, andererseits aber auch durch Kreativität und Leistungsbereitschaft auf und reagieren oftmals sehr dankbar auf die Diagnosestellung und das Behandlungsangebot. Dies wirkt sich positiv auf die Beziehungsgestaltung aus und ermöglicht oft gute therapeutische Erfolge.

    Herausfordernd stellen sich zuweilen eine mit der Impulsivität einhergehende Aggressivität und Einschränkungen in der Selbststeuerung dar, die insbesondere dann limitierend für den Reha-Erfolg sind, wenn nicht frühzeitig eine adäquate (medikamentöse) Therapie begonnen werden kann.

    Diagnostik

    Bei Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise erfolgt die ADHS-Diagnostik mittels Selbstauskunftsbögen bzgl. der Kindheit und der Gegenwart, mittels eines standardisierten klinischen Interviews durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten und – sofern verfügbar – mittels fremdanamnestischer Einschätzungen durch Angehörige bzw. anhand von Schulzeugnissen. Ergänzend ermöglichen die Teilnahme an einem AD(H)S-Infoseminar und zur Verfügung gestellte Fach- und Selbsthilfeliteratur es den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden selbst, Stellung zu den diagnostischen Einschätzungen zu beziehen.

    Medikation

    In der Behandlung eines klinisch relevanten und für die Prognose der Sucht und anderer psychiatrischer Komorbiditäten sowie der Arbeitsfähigkeit entscheidenden AD(H)S kommen bei uns in erster Linie Methylphenidat und Lisdexamfetamin zum Einsatz. Die leitliniengemäße Behandlung mit Atomoxetin erfolgt eher selten – einerseits auf Grund der vergleichsweise geringeren Wirksamkeit bei ausgeprägtem ADHS und der etwas geringeren Akzeptanz auf Grund von Nebenwirkungen, andererseits auch auf Grund der unsteten Verfügbarkeit mit schwer kalkulierbaren Lieferengpässen.

    Kommt auf Grund somatischer oder psychiatrischer Komorbiditäten eine Behandlung mit den genannten Präparaten nicht in Frage, greifen wir im Einzelfall auf Bupropion zurück, wobei sich dieses in seiner Wirksamkeit oftmals als nicht befriedigend erweist.

    Das Risiko eines Medikamentenmissbrauchs vor dem Hintergrund der Suchterkrankung besteht und wird mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden offen thematisiert. Insbesondere bei bestehender Drogenabhängigkeit muss die Medikation zuweilen im Verlauf wieder abgesetzt werden, wenn sie sich als „Trigger“ und damit Risikofaktor für einen Rückfall erweist.

    Schwierigkeiten ergeben sich zudem häufig bei der Planung der ambulanten Weiterverordnung im Anschluss an die Reha – einerseits aus krankheitstypischen Gründen: Menschen mit AD(H)S neigen dazu, Aufgaben aufzuschieben, andererseits und vor allem auf Grund der bekannten Hürden bei der Facharztsuche.

    Psychotherapie

    Aktuell wird von psychotherapeutischer Seite einmal monatlich eine interaktionelle Informationsgruppe zu AD(H)S angeboten. In den einzeltherapeutischen Gesprächen wird im Zuge der ADHS-Diagnostik auf individuelle Probleme und Lösungsmöglichkeiten eingegangen. Betroffene Rehabilitand:innen werden ermuntert, auch in gruppentherapeutischen Sitzungen die für sie nützlichen Fidgets zu nutzen. Eine indikative Gruppe zu psychotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten und Skills im Umgang mit Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Prokrastination ist in Planung.

    Besondere Ansätze

    Bislang sind AD(H)S-spezifische Angebote in der Bewegungs- und Ergotherapie noch nicht etabliert. Individuell wird in diesen Bereichen aber störungssensibel auf die besonderen Bedürfnisse eingegangen.

    Fortbildungsangebote

    Hausintern erfolgen Fortbildungen zu Symptomatik und Diagnostik der AD(H)S und es besteht das Angebot von Fallbesprechungen und Supervision. Die Inhalte externer Fortbildungen einzelner Mitarbeitender werden von diesen im Rahmen von Teambesprechungen präsentiert.


    Deutscher Orden Ordenswerke, Schlosspark-Klinik, Bergisch Gladbach

    Sven Bange

    Die Fragen beantwortete: Sven Bange, FA für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Leitender Arzt der Schlosspark-Klinik, jetzt: Einrichtungsleitung der Schwarzbachklinik, Ratingen

    Umgang mit komorbider ADHS

    Zunächst erfolgt eine umfassende Anamneseerhebung und Standarddiagnostik, danach werden die klinischen Eindrücke aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragen und bei Hinweisen oder Vorbefunden zum ADS/ADHS wird eine Abklärung durch ausführliche Diagnostik (HASE vs. Differentialdiagnostik) und Fremdanamnesen/Zeugnisse usw. durchgeführt. Frühestens ca. vier Wochen nach Aufnahme (keine Entzügigkeit mehr, Umstellungsprozess an die Klinikbedingungen fortgeschritten) erfolgt eine medikamentöse Einstellung, der Behandlungsplan wird entsprechend den individuellen Bedürfnissen angepasst (s. u.).

    Haltung und Herausforderungen

    ADHS wird als Erklärungsmodell eingebaut (Selbstbehandlungsversuch/biografische Einordnung) und damit auch dem Patienten zur Verfügung gestellt. Wir erstellen eine individuelle Behandlungsplanung: Was braucht dieser Patient gerade, was steht für ihn im Mittelpunkt? Oft ist die Behandlung der ADHS als hilfreicher Teil der Rückfallprophylaxe zu verstehen. Auch wenn bei uns die Behandlung der Sucht im Fokus steht, ist dies oft gar nicht so sehr voneinander zu trennen. Herausfordernd ist die medikamentöse Einstellung bei mehreren Diagnosen. Wo fängt man bei der therapeutischen Arbeit an (viele Baustellen)? Eine andere Herausforderung besteht darin, sich nicht vom Patienten „anstecken“ zu lassen und Themen-/Sensations-Hopping mitzumachen.

    Diagnostik

    • HASE (WURS-K, ADHS-SB als Screening, WRI ggf. zur Klarifizierung)
    • Ggf. Leistungsdiagnostik, z. B. d2-R
    • Vorbefunde einfordern (Vorbehandlungen, Grundschulzeugnisse), Fremdanamnese (z. B. Eltern)

    Medikation

    Unserer Erfahrung nach ist eine Medikation oft erst der Schlüssel zur gelingenden Therapieteilnahme. Durch die rasche und bessere Wirksamkeit von Medikinet adult gegenüber den oft Wochen brauchenden „Antidepressiva“ wie Strattera usw. sehen wir hier einen klaren Vorteil. Wir sehen jedoch keinen Vorteil von Elvanse gegenüber Medikinet, insbesondere durch die auch nicht mehr testbare Abgrenzung zum Meth-/Amphetamin-Konsum. Daher setzen wir Elvanse nicht mehr ein und versuchen bei derartiger Vormedikation umzustellen. Zu beachten ist natürlich der mögliche Missbrauch von Medikinet durch nasalen Konsum, Sammeln oder das „Weitergeben“ an Nicht-Betroffene. Das lässt sich durch klare Ausgabestrukturen gut regeln.

    Psychotherapie

    Je nach Patientenschaft bieten wir im Bereich Psychotherapie eine Skillsgruppe für ADHS und psychoedukative Einheiten (z. B. Medizin-Infogruppe) an. Nicht speziell für ADHS besteht ein allgemeines Angebot von anspannungssenkenden Interventionen wie Achtsamkeitstraining, Akupunktur, achtsames Dartspielen und Ausdauertraining. Zu Beginn kann es erforderlich sein, dass tägliche Kurzkontakte mit den Bezugstherapeut:innen zur Strukturierung und einer besseren Einpassung in den Alltag stattfinden. Hierdurch können auch Überforderungssituationen mit Hochanspannung und Konflikten vermieden werden.

    Besondere Ansätze

    Zu Beginn der Therapie wird ein Hirnleistungstraining durchgeführt. Treten dort besondere Defizite auf, bekommen die Patienten ein indikatives Hirnleistungstraining zur Förderung von Konzentration, Durchhaltevermögen und Aufmerksamkeit. Die Zeit wird individuell angepasst und langsam gesteigert. Auch die äußeren Umstände können variiert werden je nach Level der Ablenkbarkeit.

    In der Arbeitstherapie bekommen ADHS-Betroffene zunächst aktivere Aufgaben wie im Bereich Garten und Hof sowie der Holzwerkstatt. Im Laufe der Wochen werden sie Stück für Stück an Aufgaben herangeführt, die ein längeres Sitzen und größere Aufmerksamkeitsspannen erfordern, sowie an künstlerisch meditative Aufgaben, z. B. meditatives Malen oder Mandala. In der Arbeitstherapie wird meist allein gearbeitet, auch um Konflikte durch impulsive Handlungen zu vermeiden und Sicherheit zu vermitteln.

    In den ergotherapeutischen Bezugsgruppenstunden geht es zunächst um das Bremsen des Patienten und das Heranführen an die Bezugsgruppe. Ziel ist, Teamfähigkeit und Teamarbeit zu ermöglichen. Im Verlauf ist eine Erweiterung und Anpassung der ergotherapeutischen Ziele sehr regelmäßig erforderlich, um auf die neu erreichten Fähigkeiten aufbauen zu können.

    In der Sporttherapie ist die Ausdauer-orientierte Laufgruppe mit moderater Intensität meistens hilfreich sowie weitere achtsamkeitsbasierte Einheiten wie Körperwahrnehmungstraining, Entspannungsverfahren, achtsames Dartspielen usw. Bei fortgeschrittenen Patienten wird auch Bouldern zur Fokussierung eingesetzt. Bei Mannschaftssportarten ist insbesondere zu Beginn der Behandlung besonders auf die „explosive“ Gruppendynamik durch beteiligte ADHS-Betroffene zu achten.

    Zusätzlich wird Ohr-Akupunktur und Kurzmeditation je zweimal wöchentlich bei freiwilliger Teilnahme angeboten.

    Fortbildungsangebote

    In wiederkehrenden Zyklen oder bei neuen Mitarbeitenden erfolgen regelhaft Schulungen zu dem Thema, zur Klinikhaltung und unseren Behandlungsansätzen. Im gelebten Alltag wird, wie bei anderen begleitenden Störungsbildern auch, immer wieder am Beispiel des aktuellen Patienten in Teamsitzungen, Supervisionen, Fallkonferenzen oder im direkten Kontakt zwischen Team/Bezugstherapeut:nnen und Klinikleitung der Austausch und die gemeinsame Abstimmung des Umgangs praktiziert.


    MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, Oppenweiler

    Dr. Martin Enke
    Prof. Dr. Tillmann Weber

    Die Fragen beantworteten:
    Prof. Dr. Tillmann Weber, ehem. Chefarzt der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, jetzt: Blomenburg Privatklinik Selent, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
    Dr. Martin Enke, Klinikleitung & Leitender Psychologe der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim

    Umgang mit komorbider ADHS

    Die MEDIAN Klinik Wilhelmsheim ist eine Rehabilitationseinrichtung für Abhängigkeitserkrankungen von Alkohol, Medikamenten, Cannabis und pathologischem Glücksspiel. Zur Behandlung häufiger, mit der Abhängigkeit eng interagierender psychischer Komorbiditäten bauen wir aktuell ein spezifisches, paralleles Behandlungskonzept für ADHS, Depressionen und Traumafolgestörungen aus. ADHS hat schon seit einigen Jahren aufgrund der in der stationären Entwöhnung hohen Komorbidität von bis zu 20 Prozent einen hohen Stellenwert in der Behandlung in unserer Klinik. Alle neu aufgenommenen Patienten durchlaufen ein Screening auf ADHS. Ziel ist eine frühzeitige Diagnostik bzw. Überprüfung der Vordiagnose, um eine leitliniengerechte medikamentöse und psychotherapeutische Mitbehandlung schon während der Suchtreha zu gewährleisten. Diese ist strukturell und inhaltlich ergänzend zur Abhängigkeitsbehandlung aufgebaut. Die parallele, aber in den Gesamtbehandlungsplan integrierte Behandlung ermöglicht eine gleichwertige Therapie zur Abhängigkeitserkrankung durch separates Fachpersonal.

    Haltung und Herausforderungen

    Erwachsene mit ADHS können unter einer Vielzahl von Einschränkungen leiden, die sich noch aus der kindlichen Entwicklungsstörung, aus nicht selten fehlangepassten Alltagskompensationen und aus den neurobiologisch gegebenen Defiziten der ADHS selbst ergeben. In den Biographien unserer Patienten sehen wir einen oft dysfunktionalen, aufrechterhaltenden Umgang mit diesen Einschränkungen oder eine mangelnde Behandlung der Einschränkungen. Dafür sehen wir aber teilweise frühe Versuche, sich mit dem Konsumieren von Substanzen selbst zu helfen. Im Ergebnis sind ADHS und Abhängigkeit(en) eng verwobene Krankheiten, die ein komplexeres Vorgehen benötigen.

    Als Klinik ist es unser Anspruch, beide Erkrankungen parallel, aber auch deren komplexe Zusammenhänge integrativ zu behandeln. Es entspricht nicht unserer Haltung, lediglich die Abhängigkeit zu extrahieren und die Behandlung der ADHS auf nachfolgende Angebote zu verschieben. Dieses Vorgehen würde höhere Rückfälle und unzureichende Therapien verursachen. Die Herausforderung unseres ganzheitlichen Behandlungsansatzes ist es, die komplexere Symptomatik in der gegebenen Reha-Zeit auch (an)behandeln zu können. Dafür steigern wir in Absprache mit der Rentenversicherung personelle Ressourcen, mit denen eine parallele Diagnostik, psychiatrische Behandlung und psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapie erfolgt.

    Diagnostik

    Innerhalb der ersten ein bis zwei Wochen nach Aufnahme durchlaufen alle Patienten ein Screening auf ADHS mit einer hohen Sensitivität. Das ist wichtig, da ADHS in vielen Fällen sonst unterdiagnostiziert bliebe, da die Betroffenen nachvollziehbar oft wenig Einsicht in die lebenslang begleitende Symptomatik haben. Bei positivem Screening erfolgt eine detailliertere klinische Befragung und psychometrische Diagnostik durch Fachpersonal. Grundlage ist der Nachweis der ADHS in der Kindheit. Meistens müssen wir diese durch anamnestische Erhebungen, Zeugnisse und Fremdbeurteilungen nachträglich feststellen. Die aktuelle Symptomatik muss durch psychometrische Selbst- und Fremdbeurteilungen sowie klinische Interviews bestätigt werden. Aufgrund der häufigen Komorbiditäten und Symptomüberschneidungen wird die endgültige Diagnose in interdisziplinärer Beurteilung von Psychotherapeuten und Psychiatern festgelegt. In einem etwas vereinfachteren Vorgehen überprüfen wir auch Vordiagnosen.

    Medikation

    Grundsätzlich klären wir alle Patienten mit einer ADHS über die psychopharmakologischen Behandlungsoptionen auf und sprechen dann individuelle Empfehlungen aus. Unser medikamentöses Behandlungsspektrum umfasst die in Deutschland zugelassenen Methylphenidate mit verzögerter Wirkstofffreisetzung (Medikinet adult®, Ritalin adult®), Lisdexamphetamin (Elvanse adult®) und Atomoxetin (Strattera®). Selten können unter bestimmten Voraussetzungen auch sog. Off-Label-Medikamente (Bupropion (Elontril®) oder Guanfacin (Intuniv®)) verordnet werden. Eine relative Kontraindikation für Stimulanzien besteht bei Patienten, bei denen ein Stimulanzienmissbrauch oder Weiterverkauf wahrscheinlicher ist, was bei Patienten aus dem Drogenmilieu (z. B. Dealen, Beschaffungskriminalität) häufiger zutrifft.

    Psychotherapie

    Patienten mit ADHS nehmen an einer geschlossenen Gruppentherapie über 15 Sitzungen teil, die während des stationären Aufenthaltes parallel zur Suchttherapie stattfindet. In dieser Gruppentherapie werden neben psychoedukativen Elementen die Introspektionsfähigkeit für die Symptomatik und Anspannung/Nervosität erhöht, Handlungskompetenzen erweitert und Selbstmanagementstrategien für Impulsivität aufgebaut. Es werden Zukunftsperspektiven mit ressourcenorientierten Ansätzen vertieft sowie Fähigkeiten zur Selbstorganisation verbessert. Zum Erreichen der verbesserten Handlungskompetenzen werden derzeit Möglichkeiten zu Einzeltherapiesitzungen aufgebaut, um aufrechterhaltende Faktoren individuell zu behandeln. Eine psychotherapeutische Kleingruppentherapie zur alltagsnahen Behandlung von aufschiebendem Verhalten und Desorganisation ist ebenfalls zeitnah geplant. Für nähere Informationen lesen Sie hier: Sucht und ADHS | MEDIAN Kliniken.

    Besondere Ansätze

    Bewegungs- und nicht sprachliche Therapien haben eine wichtige, adjuvante Rolle in der Behandlung. Sport- und Bewegungstherapie gehören daher zum festen Wochenplan sowie in den ersten Wochen auch samstags. Hinzu kommt die Kunsttherapie einmal pro Woche. Über computergestützte Therapien werden Konzentration und kognitive Kompetenzen trainiert. Insgesamt bieten wir weit über 30 indikative Gruppentherapien an, um individuelle Problembereiche aufzugreifen, die jedoch nicht störungsspezifisch auf die ADHS-Patienten ausgerichtet sind, sondern allen Patienten zur Verfügung stehen.

    Fortbildungsangebote

    Da wir im Rahmen unseres SuchtPlus-Konzeptes u. a. die komorbide ADHS als Therapieschwerpunkt behandeln und dafür Fachpersonal vorhalten, erfolgen regelmäßig interne und externe Fortbildungen.


    Deutscher Orden Ordenswerke, Schwarzbachklinik, Ratingen

    Sebastian Winkelnkemper

    Die Fragen beantwortete: Sebastian Winkelnkemper, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Chefarzt der Schwarzbachklinik, jetzt: Chefarzt des MEDIAN Rehazentrums Daun – Thommener Höhe und Altburg

    Umgang mit komorbider ADHS

    Bei uns wird vor allem auf die klinische Beobachtung Wert gelegt. Wir arbeiten in den monatlich stattfindenden Fallbesprechungen die UTAH-Wender Kriterien – Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität (z. B. Gefühl der inneren Unruhe), Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, mangelnde Affektkontrolle, Impulsivität, emotionale Überreagibilität – wiederholt „durch“ und achten hierbei auf die Schilderungen aus den unterschiedlichen Bereichen. Die Darstellung aus dem Sport und hierbei insbesondere aus Mannschaftssportarten (Impulsivität) sowie aus der Ergo- und Arbeitstherapie sind von zentraler Bedeutung. Die Einholung einer Fremdanamnese gelingt oftmals nicht, da der Kontakt der Rehabilitand:innen zu den eigenen Eltern nicht immer besteht. Schulzeugnisse sind oftmals ebenfalls nicht einzuholen. Psychologische Testungen wie Impulsivitätsabfragen und der HASE runden die Diagnostik im Bedarfsfall ab, wobei der klinische Eindruck regelhaft im Vordergrund steht.

    Haltung und Herausforderungen

    Sofern eine ADS/ADHS gesichert werden kann, stellen wir regelhaft fest, dass diese vor der Entwicklung der Suchterkrankung bestand. Die Bearbeitung des therapierelevanten Modells wird in diesem Fall beeinflusst und „erleichtert“. Der Konsum erfolgte meist im Sinne einer Selbstmedikation zur Überwindung/Reduktion der Symptome. Mit der Abstinenz ist bei Persistenz der Erkrankung im Erwachsenenalter festzustellen, dass die Symptomatik „durchschlägt“, sich erneut zeigt. Die medikamentöse Behandlung beeinflusst meist lediglich die Konzentrationsfähigkeit und die Fokussierung, so dass anfänglich die Affektlabilität, die Impulsivität und die Desorganisation als Herausforderung zu sehen sind. Die Strukturierung und Begleitung in unserer Einrichtung helfen sicher zur Begleitung und Reduktion der Desorganisation. Eine Herausforderung stellt der Umgang mit Impulsivität und mangelnder Affektkontrolle dar. Anfänglich ist es bei Impulsivität und Emotionalität mitunter erforderlich, „fünfe gerade sein zu lassen“, hier ist es wichtig, therapeutisch darauf einzugehen. Es stellt allerdings eine Überforderung der betroffenen Rehabilitand:innen dar, dies mit der Aufnahme zu erwarten.

    Diagnostik

    Die Anamnese und die klinische Beobachtung aus allen Arbeitsbereichen in der Fachklinik liefern die stimmigsten Hinweise. Wie bereits geschildert, orientieren wir uns an den UTAH-Wender Kriterien und versuchen, die Fremdanamnese einzuholen, auch wenn dies regelhaft misslingt. Ggfs. ergänzen wir die Diagnostik durch die Testung nach HASE und regelhaft durch Impulsivitätsfragebögen.

    Medikation

    Bisher verfügte die Fachklinik leider nicht über die Möglichkeit der BtM-Behandlung. Nachdem wir Anfang 2025 das Pflegezimmer umgebaut haben, können wir zukünftig auch auf Methylphenidate und Lisdexamphetamin zurückgreifen. Bisher haben wir mit Atomoxetin oder bei gleichzeitigem Wunsch der Tabakabstinenz mit Bupropion behandelt. Darüber hinaus haben wir ggfs. „off-label“ Guanfacin verabreicht.

    Psychotherapie und besondere Ansätze

    „Therapeutische Manuale“ verwenden wir nicht. Im Rahmen der Behandlung orientieren wir uns in allen Arbeitsbereichen an der Bearbeitung der Alltagsstrukturierung. Insbesondere die klinische Sozialarbeit und die Ergo- und Arbeitstherapie sind für die Reduktion der Desorganisation von zentraler Bedeutung. Die sportliche Aktivierung thematisiert den Umgang mit Impulsivität und Emotionalität, alle Bereiche arbeiten an der Freizeitgestaltung und hierbei insbesondere am Umgang mit „Langeweile“. Therapeutische Indikativgruppen zielen auf die Steigerung der Konfliktfähigkeit mit Besserung des Umgangs mit Emotionalität ab.

    Fortbildungsangebote

    Unsere Mitarbeiter wurden im Rahmen interner und externer Fortbildungen im Umgang mit der Komorbidität ADS/ADHS geschult. Insgesamt würde ich konstatieren, dass die monatlichen Fallbesprechungen allerdings für alle Mitarbeitenden dauerhaft die beste Schulung darstellen. Die Beobachtung der Verläufe über die Behandlungszeit liefert die wertvollsten Erkenntnisse im Umgang mit psychiatrischen Komorbiditäten und in diesem Fall im Umgang mit ADS und ADHS.


    Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel gGmbH, Fachklinik Kamillushaus, Essen

    Tina Behrouzi

    Die Fragen beantwortete: Tina Behrouzi, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz Fachklinik Kamillushaus

    Umgang mit komorbider ADHS

    In der Fachklinik Kamillushaus in Essen verfügen wir über eine lange Tradition in der Suchtrehabilitation sowie viel Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von AD(H)S. Unsere spezialisierte Ambulanz versorgt pro Quartal über 1.000 AD(H)S-Patient:innen mit und ohne substanzbezogene Störungen. Aufgrund der signifikant höheren Prävalenz von ADHS bei Menschen mit Suchterkrankungen (ca. 21 %, Rohner et al., 2023) führen wir leitliniengerecht bei allen Rehabilitand:innen routinemäßig ein Screening durch. Bei Hinweisen erfolgt zeitnah eine ausführliche Diagnostik sowie eine stringente, integrierte AD(H)S-Therapie.

    Haltung und Herausforderungen

    Unsere therapeutische Haltung basiert auf folgenden Prinzipien:

    ⇒ Diagnostik und Behandlung sollten nicht verschleppt werden; ADHS-Expertise sollte möglichst bald in jeder Einrichtung der Suchtrehabilitation vorhanden sein. Menschen mit komorbider ADHS machen über 20 % der Menschen mit Suchterkrankungen aus und haben schwerere Verläufe (Icick et al., 2020).

    ⇒ Eine individuell abgestimmte Pharmakotherapie bewirkt oft eine signifikante Verbesserung der ADHS-Symptomatik und reduziert teilweise auch Suchtdruck sowie Rückfallrisiko (Barbui et al., 2023, Brynte, 2024). Eine strukturierte Psychotherapie der Suchterkrankung und der ADHS-Symptomatik sollte möglichst parallel erfolgen (Zulauf et al., 2014, Johnson et al., 2021).

    ⇒ Menschen mit AD(H)S leiden unter einem individuellen Profil an Einschränkungen ihrer sogenannten Exekutivfunktionen (EF). Beispiele für EF sind die Unterdrückung und Steuerung von Impulsen, Emotionsregulation, Planung, Steuerung und Bewertung eigener Aktivitäten, Antizipation der Konsequenzen einer Handlung, Aufschieben von Belohnung, Wahrnehmung von Zeit u. a. Eine genauere Kenntnis der individuellen AD(H)S-Kernsymptomatik hilft

    • zu verstehen, wie die individuellen Einschränkungen der Exekutivfunktionen bei einzelnen Patient:innen den Umgang mit der Suchterkrankung erschweren,
    • bei der Kontrolle der Wirksamkeit einer ADHS-Medikation und
    • bei der Erstellung eines personalisierten psycho- und ergotherapeutischen Behandlungsplans.

    ⇒ Unsere Therapieangebote berücksichtigen die durch AD(H)S reduzierte Fähigkeit zur Alltagsorganisation und unterstützen Betroffene durch: Terminerinnerungen, einen Rezepterinnerungsservice, das Zuschicken von Rezepten, Videokonsultationen, schriftliche Medikamentenanweisungen etc.

    ⇒ Unsere psychotherapeutische Arbeit ist bewusst ADHS-informiert, um Fehldeutungen von Überforderung mit der Alltagsorganisation als „Widerstand“ oder „Motivationsmangel“ entgegenzuwirken. Eine besondere Herausforderung ist der zeitliche und fachliche Aufwand für eine gute Differenzialdiagnostik auf der einen Seite und die schlechte Passung mit den aktuell vorhandenen Vergütungsmodellen auf der anderen Seite. Auch finden Patient:innen oft keine Weiterbehandler:innen für AD(H)S. Menschen mit AD(H)S leiden oft unter Schlafstörungen und tun sich deutlich schwerer mit gesunden Lebensgewohnheiten. Der Aufbau von gesunden Routinen erfordert oft viel Coaching in vielen kleinen Schritten.

    Es gibt auch besondere Chancen: Bei starker genetischer Prädisposition für ADHS sollten die Kinder von Rehabilitand:innen früh getestet werden, da eine Behandlung mit Stimulanzien in bestimmten Phasen der kindlichen Entwicklung das Risiko für spätere Suchterkrankungen deutlich senken kann (Groenman et al., 2013 und 2019, Deng & Espiridon, 2024).

    Diagnostik

    Unsere Diagnostik entspricht der aktuellen S3-Leitlinie und umfasst speziell validierte Instrumente für die Diagnostik bei komorbiden Suchterkrankungen. Wichtig ist es, ADHS-Symptome aus der Kindheit und der Zeit vor Entstehung der Suchterkrankung bzw. vor der Entstehung anderer psychischer Störungen sicher zu erfassen, um falsch positive Diagnosen zu vermeiden. Dazu dienen eine ausführliche Entwicklungsanamnese, wenn möglich Fremdanamnese und die Sichtung von Schulzeugnissen und Vorbefunden. Bei Patient:innen ohne Hyperaktivität und mit guter intellektueller Kompensationsfähigkeit bestehen hierbei oft besondere diagnostische Herausforderungen. Auch die Familienanamnese gibt aufgrund der genetischen Komponente Hinweise.

    Medikation

    Die medikamentöse Behandlung der ADHS im Kontext von Suchterkrankungen ist oft mit Vorbehalten belegt. Tatsächlich weist die aktuelle Studienlage darauf hin, dass eine adäquate medikamentöse Therapie – auch mit Stimulanzien – z. B. das Rückfallrisiko reduzieren und die Therapieadhärenz verbessern kann (s. o.).

    Auch wenn Studien über die Verwendung bestimmter Medikamentengruppen bei unterschiedlichen Substanzabhängigkeiten und über die Outcomes in Bezug auf die Suchterkrankung existieren (Fluyau et al., 2021; Paslakis et al., 2010; Chamakalayil et al., 2021; Adler et al., 2010), zeigt die klinische Anwendung, dass Patient:innen oft sehr unterschiedliche AD(H)S-Kernsymptome mit konkreter Auswirkung auf die Suchterkrankung haben (z. B. AD(H)S-bedingte Stimmungsschwankungen, quälende körperliche Hyperaktivität, erschöpfende Reizoffenheit, überschießende emotionale Reaktionen, starkes Prokrastinieren u. a.). Welches Medikament für welches Kernsymptom wirksam ist, muss individuell ausprobiert werden. Auch das Nebenwirkungsprofil macht oft einen Medikamentenwechsel notwendig.

    Nicht-Stimulanzien haben den Vorteil einer kontinuierlichen Wirkung ohne den für Stimulanzien typischen „Rebound“ am Abend. Bei Bedenken bezüglich eines Missbrauchs der Medikation sind folgende Fragen hilfreich: Besteht ein Risiko des Missbrauchs zur kognitiven Leistungssteigerung (hohes Leistungsideal, Student:innen)? Besteht ein Risiko, dass orale Medikamente als Rauschmittel auf anderem Wege appliziert werden? Das ist selten, aber mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden. Für bestimmte Hochrisiko-Gruppen sollten nur Nicht-Stimulanzien eingesetzt werden, ansonsten ist eine gute Aufklärung wichtig, evtl. ist die kontrollierte Abgabe in kleineren Mengen sinnvoll.

    Über Interaktionen von Medikation und Suchtmitteln sollte gut aufgeklärt werden. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass bei Rückfällen meist die Medikation gestoppt wird.

    Gerade junge Erwachsene sollten zudem eindringlich über die Gefahren der Weitergabe von Betäubungsmitteln aufgeklärt werden (medizinische Risiken, Verlust des Studienplatzes, Anzeige etc.). Auch in Deutschland scheint es vor allem an Hochschulen immer mehr zum Missbrauch von Stimulanzien zur kognitiven Leistungssteigerung zu kommen. Ein Vorrat an zu großen Mengen an Stimulanzien bei Patient:innen könnte eine unkritische Weitergabe von Medikation fördern.

    Eine Zulassung von Guanfacin in Deutschland für die Indikation AD(H)S wäre als eine weitere Behandlungsoption wünschenswert.

    Psychotherapie

    Wir bieten regelmäßig eine psychologisch geleitet ADHS-Gruppe für stationäre und ambulante Patient:innen an. Zudem unterstützen wir aktuell den Aufbau einer ADHS-Selbsthilfegruppe. In unserer Ambulanz arbeiten wir an einem Therapiekonzept mit spezialisierter Ergotherapie und spezifischen Coaching-/ psychotherapeutischen Interventionen (z. B. ADHS-spezifische DBT-Skills).

    Besondere Ansätze

    Ambulanten Patient:innen empfehlen wir spezialisierte Ergotherapie, insbesondere funktionelles Alltagstraining. Aufgrund der begrenzten Evidenz ist Neurofeedback aktuell nicht prioritär.

    Fortbildungsangebote

    Ja, wir bieten interne Fortbildungen zum Thema ADHS an, um kontinuierlich eine integrative, ADHS-informierte Behandlungskultur zu fördern.

  • Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    1. Einleitung

    Bereits Anfang 2020 war erkennbar, dass die SARS-CoV-2-Pandemie erhebliche Implikationen auch auf die medizinische Rehabilitation haben wird. Daher initiierte die Deutsche Rentenversicherung Bund den Förderaufruf „Forschungsvorhaben zu Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf das System der Rehabilitation“. In diesem Rahmen wurde das hier vorgestellte Forschungsprojekt „Auswirkungen der SARS‐CoV‐2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation und Nachsorge (CoV-AZuR)“ im Sommer 2020 am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin konzipiert.

    Die Sucht-Rehabilitation unterscheidet sich von der medizinischen Rehabilitation bei anderen Indikationen in mehreren Aspekten, welche während der SARS-CoV-2-Pandemie Bedeutung gehabt haben könnten. Hierzu gehören besondere Zugangswege. Neben Entgiftungsstationen in Akutkrankenhäusern und weiteren Institutionen erfolgt der Zugang insbesondere über Suchtberatungsstellen. Das Spektrum der Einrichtungen, in denen Sucht-Rehabilitation durchgeführt wird, variiert erheblich, von Suchtberatungsstellen mit wenigen Reha-Behandlungsplätzen bis hin zu großen Fachkliniken mit hunderten Betten. Die durchschnittliche Dauer der Sucht-Rehabilitation beträgt 86 Tage, im Gegensatz zu 23 Tagen in der somatischen Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Entsprechend höher liegen die Kosten für Sucht-Rehabilitationsleistungen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2020). Die Rehabilitandenstruktur unterscheidet sich deutlich von derjenigen in der übrigen medizinischen Rehabilitation: Sie weist einen hohen Männeranteil, ein vergleichsweise niedriges mittleres Alter und einen niedrigen sozioökonomischen Status mit einer Überrepräsentation von z. B. Arbeitslosen, Wohnungslosen, Menschen in betreutem Wohnen und Gefangenen auf.

    Während der Pandemie kam es zu Veränderungen im Zugang zu Suchtmitteln und im Konsumverhalten. Die Studienlage hierzu ist je nach Suchtmittel und untersuchter Population uneinheitlich (Georgiadou et al., 2020; Koopmann et al., 2020; Manthey et al., 2020; Suhren et al., 2021; Klosterhalfen et al., 2022). Es wurden neue oder vermehrt in der Pandemie auftretende Motive für erhöhten Substanzkonsum und verstärktes Suchtverhalten identifiziert, darunter Langeweile, Einsamkeit und Angst vor Ansteckung (Lochbühler, 2021). Es ist aus vorherigen Studien bekannt, dass diese Faktoren bestehende Suchterkrankungen verstärken bzw. die Rückfallgefahr erhöhen können (Henkel, Zemlin, 2009).

    Vor diesem Hintergrund hatte die Studie zum Ziel, pandemiebedingte Veränderungen in der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge zu beschreiben. Folgende Fragestellungen wurden untersucht: Welche Veränderungen während der SARS‐CoV‐2-Pandemie zeigten sich für die Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Bezug auf

    1. organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen,
    2. Personal und Teamarbeit,
    3. Zugang und Inanspruchnahme der Sucht-Rehabilitation und Rehabilitandenstruktur,
    4. Reha-Konzept, therapeutische Leistungsangebote und Digitalisierung
    5. und in Bezug auf Behandlungsergebnisse?

    2. Methoden

    Die Beobachtungsstudie verfolgt einen Mixed-Methods-Ansatz und bindet mehrere Akteure und Perspektiven ein. Hierzu gehören Einrichtungsleitungen, Behandler:innen und Rehabilitand:innen. Die Studie gliedert sich in vier Module M1 bis M4:

    M1: Einrichtungsleitungen aller ca. 1.050 Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Deutschland wurden zu zwei Zeitpunkten (t1: Herbst 2021, t2: Sommer 2022) angefragt, online einen Fragebogen auszufüllen. Einschlusskriterium war das Vorhalten wenigstens einer der folgenden Leistungstypen: stationäre Rehabilitation (STR), Adaption (ADA), ganztägig ambulante Rehabilitation (TAR), ambulante Rehabilitation (ARS) und Suchtnachsorge (NAS). Der auswertbare Rücklauf umfasste zu t1/t2 n=336/415 Fragebögen für n=556/615 Einrichtungsstandorte. Für einen Teil der Analysen wurden die Einrichtungen in drei Settings gruppiert:

    1. Stationäre Einrichtungen: ausschließlich stationäres Angebot inkl. Adaption (t1/t2 n=58/68)
    2. Gemischt stationär-ambulante Einrichtungen (inkl. TAR, n=39/35)
    3. 3. Ambulante Einrichtungen: ausschließlich berufs-/alltagsbegleitendes ambulantes Angebot (ARS und/oder NAS, n=239/312).

     M2: Zur vertieften Exploration wurden mit n=26 ärztlich oder therapeutisch in Sucht-Reha-Einrichtungen tätigen Personen Leitfaden-gestützte Interviews (über Videotelefonie) zu zwei Zeitpunkten durchgeführt (t1: Ende 2021/Anfang 2022; t2: Herbst 2022). Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und inhaltsanalytisch nach Kuckartz ausgewertet.

     M3: In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in 34 Sucht-Reha-Einrichtungen eine Hybrid-Befragung (wahlweise online oder schriftlich) von insgesamt n=460 Personen, die sich zum Befragungszeitpunkt in Sucht-Rehabilitation (n=303) oder Nachsorge nach vorheriger Sucht-Rehabilitation (n=157) befanden, durchgeführt. Die Angaben wurden deskriptiv ausgewertet.

    M4: Ergänzend wurden Routine-Statistiken der Deutschen Rentenversicherung und Routine-Daten, die mit dem Kerndatensatz Sucht (KDS) erhoben werden, vergleichend für die Jahre 2019 bis 2021 herangezogen.

    Abbildung 1 zeigt, wie sich die vier Studienmodule in den Pandemieverlauf zeitlich einordnen.

    Abbildung 1: Studienmodule mit Erhebungszeiträumen im Pandemieverlauf. Pfeile symbolisieren retrospektive Fragestellungen teils spezifisch auf die erste Welle bezogen (M1) und Einschluss von Personen in Nachsorge, die zuvor ihre Rehabilitation abgeschlossen hatten (M3). Quelle: Robert-Koch-Institut 2023; eigene Darstellung.

    In diesem Beitrag werden ausgewählte Studienergebnisse vorgestellt. Eine detailliertere Beschreibung sowohl der Methodik als auch von einzelnen Ergebnissen und deren Einordnung in den Forschungsstand wurde an anderer Stelle publiziert (Brünger et al., 2023; Burchardi et al., 2023).

    3. Ergebnisse

    3.1 Organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

    Nahezu sämtliche Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Nachsorge berichteten von der Implementierung umfassender Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie. Diese Maßnahmen umfassten die Verpflichtung zum Testen und zum Tragen von Masken, Abstandsregeln, die Reduzierung von Gruppengrößen, die Erweiterung räumlicher Kapazitäten (teilweise durch Anmietung oder Umwidmung von Räumlichkeiten), die Umwandlung von Doppelzimmern in Einzelzimmer sowie restriktivere Vorschriften bezüglich Ausgang, Besuchen und Heimfahrten. Der infolge der Implementierung von Hygiene- und Abstandsregeln entstandene Raummangel führte bei etwa 70 % der Einrichtungen zu Problemen bei der Umsetzung von Therapie und Aufenthalt. Die subjektive Wahrnehmung von Corona-Schutzmaßnahmen durch die Rehabilitand:innen selbst variierte: Während 34 % der Befragten eher oder völlig zustimmten, dass sie sich durch die Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt fühlten, gaben 42 % an, sie fühlten sich eher nicht oder überhaupt nicht eingeschränkt.

    Die Einstellungen in Bezug auf Corona-Schutzimpfungen variierten deutlich zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Einerseits akzeptierte etwa ein Drittel der Einrichtungen zumindest zeitweise nur Rehabilitand:innen mit Impfnachweis (34 %). Andererseits verzichteten zwei Drittel der Einrichtungen durchgehend im Zeitverlauf auf einen Impfnachweis (66 %). Die einrichtungsbezogene Impfpflicht für das Personal wurde je nach Setting von 59-85 % der Einrichtungsleitungen begrüßt. Allerdings traten in 23-30 % der Einrichtungen Konflikte in der Belegschaft in Bezug auf die Corona-Schutzimpfung auf, die in Einzelfällen zu Kündigungen oder Versetzungen führten (Abbildung 2).

    Abbildung 2: Interne Probleme aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Abbrüche oder Unterbrechungen laufender Reha-Leistungen, ein Aufnahmestopp und die generelle Ein­­stellung von rehabilitativen und weiteren, nicht-rehabilitativen Leistungen waren am häufigsten in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 zu verzeichnen. Jedoch war dies bei einer Minderheit der Einrichtungen der Fall. Die häufigsten genannten Gründe hierfür waren landesrechtliche bzw. behördliche Anordnungen gefolgt von innerbetrieblichen Gründen. Ein beträchtlicher Anteil der Einrichtungs­leitungen gab an, die Anzahl der Behandlungsplätze pandemiebedingt reduziert zu haben. Die Reduktion fiel in der ersten Welle besonders hoch aus, überwiegend in Einrichtungen der stationären (48 %) und ganztägig ambu­lan­ten Rehabilitation (55 %). Die am häufigsten genannten Gründe waren ein Mangel an Therapie­räumen sowie ein Mangel an Rehabilitandenzimmern aufgrund zunehmender Einzel­belegung.

    Bedingt durch die Reduktion von Behandlungsplätzen, die gesunkene Nachfrage und pandemiebedingte Mehrausgaben gestaltete sich die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 auch unter Berücksichtigung von Ausgleichszahlungen für etwa jede zweite Einrichtung mit stationärem Angebot (49 %) und gut jede dritte ambulante Einrichtung schwieriger (39 %). Dies führte je nach Setting bei 26-51 % der Einrichtungen zu Zurückstellungen von Investitionen (Abbildung 3).

    Abbildung 3: Finanzielle Auswirkungen der Pandemie (M1, t1). Mehrfachantworten möglich

    Die Einrichtungsleitungen bewerteten Vorgaben und Unterstützungsangebote der Fachverbände überwiegend positiv, auch die Leistungsträger erhielten eine eher positive Bewertung. Hierzu zählt die mehrheitlich als flexibel und unbürokratisch erachtete Möglichkeit zur modifizierten Leistungs­erbringung bzw. Abrechnung während der Pandemie. Hingegen wurden Gesundheitsämter und andere staatliche Institutionen bzw. Behörden kritischer bewertet.

    3.2 Personal und Teamarbeit

    Die Pandemie war mit erheblichen Auswirkungen auf Personalsituation und -management verbunden. Hierzu gehören zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 eine Verringerung oder Einstellung von Fortbildungen, mehr Homeoffice, Mehrarbeit/Überstunden und Verschiebung von Urlaub. Daneben wurden als Herausforderungen krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal, besondere Regelungen für Risiko-Beschäftigte, Abbau von Überstunden bzw. Resturlaub sowie erhöhter Personalbedarf genannt. Zum zweiten Befragungszeitpunkt im Sommer 2022 hatten pandemiebedingte Auswirkungen auf die Personalsituation etwas abgenommen, lagen jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Eine Ausnahme stellte der Personalausfall durch Krankheit dar: Dies war zu diesem Zeitpunkt mit je nach Setting 61-85 % Nennungen der am häufigsten berichtete Aspekt (Abbildung 4).

    Abbildung 4: Auswirkungen der Pandemie auf Personalsituation und -management (M1). Mehrfachantworten möglich

    Je nach Setting berichteten im Herbst 2021 74-82 % der Einrichtungen von erheblichen Veränderungen in der Teamarbeit. Im Sommer 2022 ging dieser Anteil bei den stationären Einrichtungen leicht von 74 % auf 67 % zurück und halbierte sich in gemischt stationär-ambulanten (41 %) und rein ambulanten Einrichtungen (37 %). Zu den genannten Veränderungen gehörten die Einführung von digitalen Teamsitzungen, weniger Möglichkeiten zur Supervision und Team-Konflikte hinsichtlich Corona (Abbildung 5).

    Abbildung 5: Art der Veränderungen in Teamarbeit (M1). Mehrfachantworten möglich

    Ein sehr hoher Anteil der Einrichtungsleitungen in stationären (90 %) und gemischt stationär-ambulanten Einrichtungen (97 %) sowie 77 % der ambulanten Einrichtungen berichteten im Herbst 2021 von pandemiebedingten beruflichen Mehrbelastungen beim Personal. Private Mehrbelastungen wurden vergleichbar häufig genannt (84-89 %). Im Sommer 2022 ging der Anteil zurück, jedoch gab weiterhin die Mehrheit der Einrichtungsleitungen berufliche (53-73 %) und private (58-71 %) Mehrbelastungen an. Zu den genannten beruflichen Mehrbelastungen gehören Hygiene- und Schutzmaßnahmen, höhere Arbeitsintensität bzw. Mehrarbeit, veränderte Teamarbeit und veränderte Arbeitsinhalte, Umstellung auf digitale therapeutische Angebote, Homeoffice und veränderte Arbeitszeiten. Als private Mehrbelastungen wurden psychische Anspannung und Stress, Angst vor Ansteckung und Belastung durch vermehrte häusliche Kinderbetreuung bzw. Homeschooling sowie Belastungen durch soziale Isolation und reduzierte Work-Life-Balance genannt.

    3.3 Zugang, Inanspruchnahme und Rehabilitandenstruktur

    Gut die Hälfte der befragten Rehabilitand:innen (54 %) gab an, dass es pandemiebedingt zu einem erhöhten Verlangen bzw. Drang nach Suchtmitteln kam. Von diesen Personen wurden als häufigste Gründe soziale Isolation/Einsamkeit (73 %), Langeweile (64 %) und Konflikte in Partnerschaft und/oder Familie (36 %) angegeben. 52 % gaben einen (eher) erhöhten Suchtmittel­konsum an, 11 % einen verminderten Konsum. 62 % der Befragten berichteten, häufiger allein konsumiert zu haben.

    Während der Pandemie waren zunächst 23 % der Rehabilitand:innen über Behandlungsmöglich­keiten (eher) verunsichert, 19 % hatten laut eigenen Angaben nicht ausreichend professionelle Hilfe. 12 % gaben (eher) Schwierigkeiten an, sich über Möglichkeiten einer Sucht-Rehabilitation zu infor­mieren. 13-15 % der Befragten empfanden die Suchthilfe und ‑beratung in der Nähe als schwer oder gar nicht persönlich erreichbar und nahmen überwiegend telefonische oder Online-Gespräche wahr. 11 % gaben (eher) an, dass sie von keiner Klinik zur Entgiftung aufgenommen werden konnten (Abbildung 6).

    Abbildung 6: Subjektive Wahrnehmung von Beratung und Unterstützung im Vorfeld einer Sucht-Rehabilitation (M3)

    Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung lag die Anzahl der Sucht-Reha-Leistungen 2020 und 2021 um 10 % bzw. 9 % unter dem Niveau des Vorpandemiejahrs 2019. Der Rückgang fiel bei Frauen (-12 %/-11 %) und Alkohol­abhängigkeit (-13 %/-16 %) sowie für Kurzzeitbehandlung (-12 %/-18 %) und Adaption (-14 %/-12 %) überdurchschnittlich hoch aus. Bei illegalen Drogen wurde 2021 fast wieder das Niveau von 2019 erreicht (-2 %). Die Quote von angetretenen zu bewilligten Sucht-Reha-Leistungen reduzierte sich gemäß Deutsche Rentenversicherung von 79 % im Jahr 2019 auf 70 % im Jahr 2021. Die Einrichtungsleitungen berichteten ebenfalls von einem erhöhten Anteil an Nicht-Antrit­ten, der im Sommer 2022 noch anhielt. Als Gründe für die gesunkene Nachfrage wurden Verun­sicherung über Behandlungsmöglichkeiten in der Pandemie (79 %), weniger Weitervermittlungen (69 %), Angst vor Ansteckung (62 %) und restriktive Regeln in der Einrichtung (48 %) am häufigsten genannt.

    Je nach Setting vermuteten im Sommer 2022 71-80 % der Einrichtungsleitungen mittelfristig einen erhöhten Bedarf an Sucht-Rehabilitationen im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Als primärer Grund wurde von 99 % ein pandemiebedingter Anstieg von Suchtproblematiken angegeben, 47 % begründeten ihre Erwartungen zudem mit nachzuholenden Leistungen.

    Hinsichtlich möglicher Veränderungen der Rehabilitandenstruktur während der Pandemie gaben die Einrichtungsleitungen zu beiden Befragungszeitpunkten an, dass der Anteil von Personen mit ausgeprägter somatischer bzw. psychischer Komorbidität gestiegen sei.

    3.4 Reha-Konzept, Leistungsangebote und Digitalisierung

    Die Einrichtungsleitungen berichteten zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 von erheblichen Änderungen sowohl am Reha-Konzept als auch bei einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten. Die Mehrheit der Einrichtungen trennte zumindest zeitweise konsequent sowohl Behandlungsgruppen (60-66 %) als auch Wohnbereiche (48-56 %). Bei gruppen­therapeutischen Angeboten wurden Gruppengrößen reduziert, Gruppen ins Freie verlagert, Ersatzangebote wie „Stillarbeit“ angeboten bzw. auf telefonische und videogestützte Einzel- und Gruppentherapie umgestellt. Auch angehörigenorientierte Interventionen wurden stark eingeschränkt bzw. auf digitale Formen umgestellt. Externe Belastungs- und Arbeitserprobungen sowie Praktika mussten aufgrund von Ausgangs- und Heimfahrtbeschränkungen sowie restriktiven Regeln bei kooperierenden Unternehmen eingeschränkt werden. Einige Reha-Einrichtungen erweiterten im Gegenzug ihre internen berufsbezogenen Angebote oder gewährleisteten einen digitalen Austausch mit externen Unternehmen. Im Sommer 2022 zum zweiten Befragungszeitpunkt wurden Änderungen am Reha-Konzept und an einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten seltener berichtet.

    Im Herbst 2021 gaben 48 % der Leitungen von stationären Einrichtungen und 71-74 % der Leitungen der übrigen Einrichtungen an, dass sich in der Pandemie die therapeutische Beziehung verändert habe. Als Gründe wurden vorwiegend die Maskenpflicht und Abstandsregeln genannt. Reduzierte Gruppengrößen sowie mehr Einzeltherapie wurden in Hinblick auf den Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung kontrovers beurteilt. Je nach Setting überwogen leicht negative bzw. positive Bewertungen. Die Rehabilitand:innen nahmen ihre Rehabilitation während der Pandemie subjektiv überwiegend positiv wahr. 63 % stimmten der Aussage (eher) zu, sich innerhalb der Reha-Einrichtung sicher und frei zu fühlen. Nur 12 % gaben an, dass die Therapie durch Konflikte aufgrund von Meinungsverschieden­heiten zum Thema Corona beeinträchtigt war. Allerdings berichtete gut die Hälfte der Einrichtungsleitungen im Herbst 2021, dass es wegen restriktiverer Ausgangs-, Besuchs- und Heimfahrtregeln häufig (17 %) bzw. gelegentlich (39 %) zu Konflikten mit Rehabilitand:innen oder Angehörigen kam. Lediglich etwa 7 % der Einrichtungen gaben an, dass es diesbezüglich nie zu Konflikten gekommen sei.

    Telefonische und digitale Technologien kamen in der Pandemie für zahlreiche Leistungsangebote vermehrt zum Einsatz. Am häufigsten waren telefonische Einzeltherapien verbreitet, 95 % der ambulanten und 58 % der stationären Einrichtungen berichteten dies. Zudem boten 72 % der ambulanten Einrichtungen Einzeltherapie auch videogestützt an, bei stationären Einrichtungen waren es 22 %. Ein häufiger Einsatzzweck für digitale Technologien waren auch Online-Vorgespräche vor Aufnahme (je nach Setting bei 38-45 % der Einrichtungen) und Online-Angehörigengespräche (51-56 %). Gut ein Drittel der gemischt stationär-ambulanten (35 %) und ambulanten Einrichtungen (37 %) berichtete, auch Gruppentherapien online erbracht zu haben. Telefonisch angebotene Gruppen­therapien waren hingegen selten (je nach Setting 1-14 %) (Abbildung 7).

    Abbildung 7: Nutzung telefonischer/digitaler Therapieangebote (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Von den befragten Rehabilitand:innen gab ein Viertel an, telefonische bzw. digitale Angebote in Anspruch genommen zu haben, wobei die Nutzung in der ambulanten Rehabilitation (37 %) erheblich höher als in der stationären Rehabilitation (10 %) ausfiel.

    Die Implementierung von telefonischen bzw. digitalen Therapieangeboten wurde sowohl von Einrichtungsleitungen als auch Rehabilitand:innen überwiegend positiv beurteilt. 87 % der Einrichtungsleitungen fanden dies während der Pandemie als ergänzendes Angebot (eher) sinnvoll, 84 % plädierten (eher) dafür, dies auch nach der Pandemie zu ermöglichen. Zugleich gaben 75 % an, dass Vor-Ort-Angebote (eher) zu bevorzugen sind. Bei der Befragung von Rehabilitand:innen zeigten sich vergleichbare Ergebnisse.

    3.5 Behandlungsergebnisse

    Laut Deutscher Suchthilfestatistik blieb der Anteil planmäßiger Entlassungen über die Jahre 2019 bis 2021 konstant bei etwa 80 %. Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung ging der Anteil regulärer Entlassungen im Bereich Alkoholabhängigkeit im Jahr 2020 (62 %) im Vergleich zu 2019 (66 %) etwas zurück, stabilisierte sich jedoch 2021 (65 %) wieder annähernd. Ein vergleichbarer Befund zeigte sich für die Arbeitsfähigkeit bei Rehabilitationsende.

    Schwierigkeiten beim Entlassmanagement berichteten 77 % der stationären Einrichtungen und 43 % der Einrichtungen mit ambulantem Angebot im Herbst 2021. Im Sommer 2022 reduzierte sich dieser Anteil deutlich auf 33 % bzw. 19 % der Einrichtungen. Am häufigsten wurden Probleme bei der Weitervermittlung in Selbsthilfegruppen berichtet (je nach Setting 83-86 %). Ebenso war der Zugang in Nachsorge (41 %), in ambulante ärztliche (23-46 %) und psychotherapeutische Versorgung (36-52 %) und in berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen (28-51 %) während der Pandemie vielfach erschwert. Tendenziell wurden in allen drei Settings im Sommer 2022 für die meisten Weiterbehandlungsbereiche seltener besondere Schwierigkeiten berichtet. Ausnahmen stellen die ambulante ärztliche (48-55 %) und psychotherapeutische Versorgung (50-85 %) dar (Abbildung 8).

    Abbildung 8: Weiterbehandlungsbereiche, bei denen Schwierigkeiten auftraten (M1). Mehrfachantworten möglich; nur Ergebnisse n≥5 dargestellt

    Die befragten Einrichtungsleitungen berichteten sowohl von positiven als auch negativen Einflüssen auf den Behandlungserfolg. Verkleinerungen der Gruppengröße wurden am häufigsten positiv hinsichtlich des Behandlungserfolgs eingeschätzt, gefolgt von mehr Einzeltherapie und festen Gruppenkonzepten. Als negative Einflussfaktoren des Behandlungserfolgs wurden fehlende externe Belastungserprobung, Veränderungen der Ausgangs-, Heimfahrt- und Besuchsregelungen, Personalbelastungen sowie Hygiene- und Abstandsregeln genannt.

    4. Diskussion

    Es zeigten sich deutliche pandemiebedingte Auswirkungen auf die Sucht-Rehabilitation in Bezug auf Rahmenbedingungen, Personalsituation und Teamarbeit, Inanspruchnahme von Sucht-Rehabilitation sowie hinsichtlich Reha-Konzept und Ausgestaltung einzelner therapeutischer Leistungsangebote. Um das Therapieangebot bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz von Rehabilitand:innen und Personal vor einer Corona-Infektion aufrechtzuerhalten, mussten die Sucht-Reha-Einrichtungen mit Beginn der Pandemie in kürzester Zeit umfassende Konzepte zur Hygiene und Infektionsprävention erstellen, umsetzen und regelmäßig an die aktuellen Vorgaben und die jeweilige Pandemiesituation anpassen. Damit einher gingen Veränderungen in der Teamarbeit – z. B. digital geführte Teamsitzungen, Supervisionen sowie Fort- und Weiterbildungen – sowie erhöhte berufliche und private Belastungen für das Personal.

    Die Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation reduzierte sich in den Jahren 2020 und 2021 um jeweils etwa 10 % gegenüber 2019, allerdings fiel dieser Rückgang weniger stark aus als in der medizinischen Rehabilitation insgesamt. Hier waren Rückgänge von 18 % bzw. 15 % zu verzeichnen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Ein Großteil der Einrichtungsleitungen rechnet kurz- bis mittelfristig mit einer steigenden Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation, im Wesentlichen begründet durch einen pandemiebedingten Anstieg an Suchtproblematiken und als Nachholeffekt. Die gesunkene Nachfrage, die notwendige Verringerung von Behandlungsplätzen und pandemiebedingte Mehrausgaben gingen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Reha-Einrichtungen einher. 2022 kamen Energiekrise und Inflation hinzu.

    Nahezu alle therapeutischen Leistungsangebote mussten zur Wahrung von Corona-Schutzmaßnahmen zumindest zeitweise in veränderter Form erbracht werden, beispielsweise durch Verkleinerungen von Gruppen, Verlagerungen ins Freie und durch Umstellungen auf digitale und telefonische Angebote. Dies hatte laut Einrichtungsleitungen unterschiedliche Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung. So wurden Maskenpflicht und Abstandsregeln mehrheitlich als negativ empfunden. Es ist derzeit noch nicht eindeutig beurteilbar, ob Pandemie und Corona-Schutzmaßnahmen und damit verbundene Änderungen des Rehabilitationskonzepts und der therapeutischen Leistungsangebote Auswirkungen auf den langfristigen Behandlungserfolg haben, da Auswertungen zur Katamnese zwölf Monate nach dem Ende der Rehabilitation im Pandemiezeitraum erst begrenzt verfügbar sind. Gemäß Routinedatenauswertungen hat sich der kurzfristige Behandlungserfolg hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu Reha-Ende – nach einem leichten Rückgang im Jahr 2020 – im Jahr 2021 wieder auf dem Niveau vor der Pandemie stabilisiert (Erbstößer et al., 2022).

    Während der Pandemie wurden vermehrt telefonische und digitale Technologien für einzelne therapeutische Leistungsangebote eingesetzt, darunter Einzel- und Gruppentherapien sowie für Vorgespräche und angehörigenorientierte Interventionen. Dies wurde sowohl von Einrichtungs­leitungen als auch Rehabilitand:innen als ergänzendes Angebot überwiegend positiv bewertet. Grund­sätzlich werden Vor-Ort-Angebote bevorzugt. Zugleich waren sowohl Einrichtungsleitungen als auch befragte Rehabilitand:innen mehrheitlich der Meinung, dass telefonische und digitale Therapieangebote auch über die Pandemie hinaus eine sinnvolle und niedrigschwellige Ergänzung darstellen. Solche Angebote ermöglichten es den Einrichtungen zudem, in der Pandemie unter Wahrung von Corona-S­chutz­maßnahmen die therapeutische Beziehung auch bei Personen aufrechtzuerhalten, die beispiels­weise aufgrund von Krankheit oder Quarantäne nicht an Vor-Ort-Therapien teilnehmen konnten.

    Es liegt bislang wenig Evidenz vor, ob telefonische oder digitale rehabilitative Angebote genauso wirksam sind wie Vor-Ort-Angebote. Es gibt zwar vergleichende Studien zur Wirksamkeit einzelner digitaler Angebote wie ambulante Psychotherapie (Lutz et al., 2021) und Suchtberatung (Pritszens, Köthner, 2020). Jedoch existieren noch keine ausreichenden Erkenntnisse darüber, ob sich diese Ergebnisse auf komplexe Versorgungsformen wie die Sucht-Rehabilitation übertragen lassen. Weitere Wirksamkeits­untersuchungen sind wünschenswert, um den Nutzen digital erbrachter Therapieangebote besser beurteilen zu können.

    5. Fazit

    Die Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ­‑Nachsorge wurden in der Pandemie vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Durch gemeinschaftliche Anstrengungen konnten diese Herausforderungen gemeistert werden. Davon zeugen:

    • der im Vergleich zur übrigen medizinischen Rehabilitation geringere Rückgang bei der Inanspruch­nahme der Sucht-Rehabilitation,
    • die im gesamten Pandemieverlauf kontinuierliche und lückenlose Aufrechterhaltung eines niedrigschwelligen Sucht-Rehabilitations- und Nachsorgeangebots in der Fläche, teils unter Nutzung telefonischer und digitaler Technologien,
    • der allenfalls temporär reduzierte kurzfristige und langfristige Rehabilitationserfolg (soweit sich dies anhand der vorliegenden Studiendaten und weiterer Statistiken und Veröffentlichungen aktuell beurteilen lässt).

    Diese in der Pandemie gewonnenen Erfahrungen bieten Potenzial für die Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation sowohl für zukünftige Krisen als auch für die Routineversorgung in postpandemischer Zeit.

    Um die Versorgung auf hohem Niveau und angepasst an die gegebenen Bedingungen auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, ist es sinnvoll, Vorkehrungen zu treffen. Dazu zählen:

    • die Erstellung von Pandemieplänen einschließlich der kurzfristigen Einrichtung eines Krisenstabs bei Bedarf,
    • die Bereitstellung der erforderlichen technischen Ausstattung,
    • das Vorhalten von Infektionsschutzmaterialien und
    • die entsprechende Schulung der Beschäftigten.

    Zusätzlich ist es von entscheidender Bedeutung, die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit des Suchthilfesystems für Betroffene und Angehörige auch in Krisenzeiten zu kommunizieren, um potenzielle Versorgungslücken zu vermeiden.

    In einem anderen Forschungsprojekt wurden detaillierte Handlungsempfehlungen für pandemische Krisensituationen entwickelt, die prinzipiell auch auf die Sucht-Rehabilitation übertragbar sind (Annaç et al., 2023a). Dieser Handlungskatalog ist frei zugänglich (Annaç et al., 2023b). Jedoch sollte wegen Spezifika der Sucht-Rehabilitation geprüft werden, ob gegebenenfalls Modifikationen oder Ergänzungen bei einzelnen Empfehlungen ratsam sind.

    Neben der besseren Bewältigung zukünftiger Krisensituationen lassen sich aus der Studie Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation in der Regelversorgung ableiten. Der bedeutendste Aspekt ist der vermehrte Einsatz digitaler Technologien. Die Pandemie wirkte als Katalysator für die Digitalisierung im Bereich der Sucht-Rehabilitation. Zum einen sind digitale Technologien für interne Prozesse wie Besprechungen, Homeoffice, Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen sowie für die externe Kommunikation mit Vor- und Nachbehandler:innen, mit Rehabilitand:innen und deren Angehörigen nutzbar. Zum anderen ist vor allem der Einsatz für therapeutische Zwecke möglich, beispielsweise für Einzel- und Gruppentherapien sowie für angehörigenorientierte Interventionen. Die Mehrheit der Einrichtungsleitungen hält dies in Ergänzung zu Vor-Ort-Angeboten für sinnvoll, beispielsweise als niedrigschwelliges Angebot für bislang nicht ausreichend erreichte Personengruppen (z. B. ländliche Regionen, bessere Vereinbarkeit von Reha und beruflichen oder privaten Verpflichtungen wie Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen). Ob digitale Technologien nach dem temporären Einsatz während der Pandemie auch langfristig in der Regelversorgung für die Erbringung von therapeutischen Leistungen in der Sucht-Rehabilitation eingesetzt werden, hängt insbesondere von der Schaffung entsprechender rechtlicher, finanzieller und organisatorischer Rahmenbedingungen und dem Nachweis vergleichbarer Behandlungserfolge ab.

    Förderhinweis:
    Die Studie wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund finanziell gefördert. Kooperationspartner der Studie waren der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) und der Fachverband Sucht+ e. V. Die Forschungsgruppe dankt allen Einrichtungen, die mitgewirkt haben.

    Literatur
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    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023b). ReCoVer-Handlungskatalog. Handlungsoptionen zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Letzter Zugriff am 01.10.2023, https://www.uni-wh.de/fileadmin/user_upload/03_G/07_Humanmedizin/03_Lehrstuehle/Versorgungsforschung/ReCoVer_Handlungskatalog.pdf.
    • Brünger, M., Burchardi, J., Jansen, E., Schall, F., Schlumbohm, A., Spyra, K., Köhn, S. (2023): Änderungen der Therapiegestaltung und Nutzung digitaler Angebote in der Sucht-Rehabilitation während der SARS-CoV-2-Pandemie – Eine bundesweite Befragung von Einrichtungsleitungen und Rehabilitand:innen. SuchtAktuell, 1/2023. 5-14.
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    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2020). Reha-Atlas 2020. Die Teilhabeleistungen der Deutschen Rentenversicherung in Zahlen, Fakten und Trends. Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund.
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    Kontakt:

    Martin Brünger
    Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    Charitéplatz 1
    10117 Berlin
    https://medizinsoziologie-reha-wissenschaft.charite.de/forschung/rehabilitationsforschung/
    rehaforschung@charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Alle Autor:innen sind am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin affiliiert.

    • Martin Brünger, Arzt, MPH, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
    • Stefanie Köhn, Dipl.-Päd. (Rehab.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Jennifer Marie Burchardi, B.Sc. Physiotherapie, M.Sc. Public Health, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Anna Schlumbohm, M.A. Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Eva Jansen, M.A. Ethnologie, Psychologie und Politik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Friedericke Schall, cand. med., Doktorandin
    • Prof. Dr. Karla Spyra, Professorin für Rehabilitationswissenschaften und Leiterin des Bereichs Rehabilitationsforschung am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
  • Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    1 Einleitung

    Menschen mit Suchterkrankungen haben im Anschluss an eine Entzugsbehandlung – bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzungen – grundsätzlich Anspruch auf eine Entwöhnungsbehandlung („Suchtrehabilitation“) als Antragsleistung, wobei sich die Maßnahme möglichst nahtlos an den qualifizierten Entzug anschließen soll. Neben einer nachhaltigen Konsummengenreduktion (i. d. R. mit dem Ziel der Abstinenz) wird bei Entwöhnungsbehandlungen großer Wert auf eine psycho-soziale Stabilisierung der Behandelten und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe gelegt (Deutsche Rentenversicherung, 2017; Verband der Ersatzkassen (vdek), 2001).

    Der gesamte Rehabilitationssektor – und damit auch die Suchtrehabilitation – ist traditionell durch stationäre Maßnahmen geprägt. Allerdings mehrten sich in den vergangenen 20 Jahren Stimmen, die eine konsequentere Umsetzung des gesundheitspolitischen Leitsatzes „ambulant vor stationär“ im Rehabilitationssektor forderten und sich für den Ausbau stationsersetzender Angebote aussprachen (Hibbeler, 2010; Kalinka, 2003; Karoff, 2003; Seitz et al., 2008). Im Zuge dieser Tendenzen wurde auch bei Abhängigkeitserkrankungen die Rolle ambulanter bzw. ganztägig ambulanter Angebote u. a. auf Grundlage gemeinsamer Rahmenvereinbarungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt (Deutsche Rentenversicherung, 2008; Deutsche Rentenversicherung, 2011).

    Zugleich wurde klargestellt, dass ambulante und stationäre Suchtrehabilitation nicht automatisch austauschbare Angebote darstellen. Vielmehr bestimmen medizinische Aspekte (Schwere der Störung, Komorbiditätsprofil), soziale Aspekte (Teilhabe, Unterstützung durch das Umfeld) und infrastrukturelle Aspekte (Erreichbarkeit), ob eine ambulante Entwöhnungsbehandlung im konkreten Einzelfall in Erwägung zu ziehen ist (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Einzelstudien bestätigen, dass ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlung tatsächlich unterschiedliche Zielgruppen erreichen (Preuss et al., 2012), eine systematische Gegenüberstellung der Klientel beider Behandlungsformen hinsichtlich soziodemographischer und behandlungsbezogener Parameter auf einer breiten Datengrundlage fehlt aber bislang.

    2 Methodik

    Dieser Artikel baut auf dem Kurzbericht 2023/I der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) auf (Künzel et al., 2023) und erweitert die dort vorgenommene beschreibende Darstellung um statistische Verfahren, die Aufschluss geben, inwieweit Unterschiede zwischen der Klientel, die eine ambulante, und der Klientel, die eine stationäre Rehabilitation erhalten hat, als „auffällig“ einzustufen sind. Maßnahmen aus dem Bereich der ganztägigen ambulanten Rehabilitation bleiben unberücksichtigt.

    2.1 Datenquelle

    Die analysierten Daten stammen aus der Routineerhebung der DSHS im Datenjahr 2021. Die DSHS basiert auf einer großzahligen Gelegenheitsstichprobe ambulanter und stationärer Suchthilfe-Einrichtungen, die ihre Arbeit entsprechend den Vorgaben des Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe (KDS; aktuelle Version KDS 3.0) (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 2022) mittels zertifizierter Softwareprogramme dokumentieren. Die Daten werden in den Einrichtungen fallbezogen erhoben, anhand bestimmter Gruppierungskriterien gebündelt und als Aggregatdaten dem IFT Institut für Therapieforschung in München zur Verfügung gestellt. Detaillierte Informationen zu den Erhebungsmechanismen und Datenflüssen wurden an anderer Stelle publiziert (Schwarzkopf et al., 2020).

    2.2 Stichprobenselektion

    Die hier präsentierten Auswertungen basieren auf der Gegenüberstellung der beiden Stichproben („Läufe“) „Fälle mit Hauptmaßnahme Stationäre Medizinische Rehabilitation“ (STR) sowie „Fälle mit Hauptmaßnahme Ambulante Medizinische Rehabilitation“ (ARS). Als Hauptmaßnahme gilt dabei diejenige Maßnahme, die die jeweilige Behandlungsepisode dominiert hat. Um bestmögliche Vergleichbarkeit der beiden Stichproben sicherzustellen, wurde jeweils die Bezugsgruppe der „Zugänge und Beender“ herangezogen. Somit gehen in die Auswertung nur Daten von Fällen ein, die im Jahr 2021 begonnen bzw. beendet wurden.

    Bei der Selektion wurde, den Standards der DSHS entsprechend, eine Missingquote von 33 % angesetzt. Demnach sind für jeden Auswertungsparameter nur Daten derjenigen Einrichtungen berücksichtigt, bei denen für den jeweiligen Parameter maximal 33 % der Angaben fehlen. Dies erhöht einerseits die Datenqualität, da Einrichtungen, die für einen entsprechenden Parameter viele Fehlwerte aufweisen, nicht in die Auswertungen eingehen, führt aber andererseits dazu, dass sich die Fallzahl von Parameter zu Parameter unterscheidet. Die Fallzahlen sowie die Anzahl der für die einzelnen Parameter datenliefernden Einrichtungen werden daher zusammen mit den Missingquoten jeweils ausgewiesen.

    2.3 Zielparameter

    Zunächst wurde die Zahl der Einrichtungen, die ARS bzw. STR als Hauptmaßnahme durchgeführt haben, sowie die Zahl der ARS- bzw. STR-Fälle deskriptiv gegenüberstellt.

    Anschließend wurde die in ARS und STR behandelte Klientel hinsichtlich soziodemographischer (Geschlechterverteilung, Altersstruktur, Elternschaft, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit), störungsbezogener (Alter bei Erstkonsum, Konsumhäufigkeit bei Maßnahmenbeginn, dokumentierte Problembereiche) und behandlungsbezogener Parameter (Haltequote, Behandlungserfolg) verglichen. Hierfür wurde für soziodemographische und störungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Zugänge“ zurückgegriffen und für behandlungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Beender“. Auch dies trägt zu unterschiedlichen Fallzahlen bei.

    Zur Berücksichtigung der Altersstruktur wurde neben dem Durchschnittsalter die Verteilung der Fälle über die Kategorien „unter 30 Jahre“, „30 bis 49 Jahre“ und „50 Jahre und älter“ abgebildet. Der binär kodierte Parameter Elternschaft erfasst, ob die Behandelten eigene minderjährige Kinder haben. Für den Parameter Schulabschluss wurden die Ausprägungen „Abitur“ und „Schulabbruch“ dichotomisiert ausgewertet. Konsumhäufigkeit adressiert die Anzahl an Konsumtagen in den 30 Tagen vor Antritt der Maßnahme und berücksichtigt neben dem Durchschnittswert auch die Verteilung der Klientel über die Kategorien „kein Konsum“, „1 bis 6 Konsumstage“, „7 bis 15 Konsumstage“, „16 bis 28 Konsumtage“ und „(fast) täglicher Konsum“. Die dokumentierten Problembereiche benennen Bereiche des täglichen Lebens, die bei Behandlungsbeginn beeinträchtigt waren. Der Parameter Haltequote adressiert den Anteil planmäßig beendeter Behandlungen, wobei die unterschiedlichen Gründe einer plan- bzw. unplanmäßigen Beendigung differenziert erfasst werden. Als Behandlungserfolg gelten in Einklang mit den Standards der DSHS Behandlungen, an deren Ende sich die Suchtproblematik im Vergleich zur Ausgangssituation verbessert hat bzw. unverändert geblieben ist.

    2.4 Auswertungen

    Die Auswertungen konzentrieren sich auf eine Gegenüberstellung von ARS- und STR-Fällen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen, wobei die Klassifikation der zu Grunde liegenden Störungen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) erfolgt (Dilling et al., 2015). Hierbei werden sowohl Fälle mit Abhängigkeitssyndrom als auch Fälle mit missbräuchlichem Konsum der jeweiligen Substanzen berücksichtigt, wobei DSHS-Auswertungen beide Ausprägungen nicht differenzieren, sondern gemeinsam berichten. Die Schwerpunktsetzung auf Alkohol- (ICD-10 F10) und Cannabinoidkonsumstörungen (ICD-10 F12) ist mit ihrer empirischen Relevanz in ARS und STR begründet.

    Aufgrund der aggregierten Daten können in der DSHS nur einfache Gruppenvergleiche vorgenommen werden. Eine modelltechnische Mitberücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren bei der Interpretation der Unterschiede ist nicht möglich. Somit wurden für kontinuierliche Daten Mittelwertsvergleiche anhand von t-Tests durchgeführt. Für Anteilswerte erfolgten Chi²-Tests. Hierbei wurden in die Grundgesamtheit auch Fälle mit der Variablenausprägung „unbekannt“ einbezogen. Aufgrund der hohen Sensitivität der beiden statistischen Tests und der großen Fallzahlen wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,01 festgelegt, um das Risiko einer Überinterpretation kleiner Ausprägungsunterschiede zu minimieren.

    Alle Auswertungen und Datenvisualisierungen wurden mit Hilfe der Statistik-Tools von Microsoft Excel vorgenommen.

    3 Ergebnisse

    3.1 Fallzusammensetzung

    328 Einrichtungen haben Falldaten zu ARS als Hauptmaßnahme und 107 Einrichtungen Falldaten zu STR als Hauptmaßnahme geliefert. ARS wurde überwiegend in ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen (n = 309 Einrichtungen) und STR nahezu ausnahmslos in stationären Suchthilfe-Einrichtungen (n = 104 Einrichtungen) erbracht. Das Fallvolumen der STR war mit 24.508 Zugängen bzw. 26.985 Beendern rund fünfmal so hoch wie das der ARS mit 4.871 Zugängen bzw. 5.469 Beendern.

    Informationen zur Hauptdiagnoseverteilung lagen für 322 Einrichtungen mit ARS-Angebot sowie für alle 107 Einrichtungen mit STR-Angebot vor, wobei in ARS häufiger keine Hauptdiagnose dokumentiert wurde (n = 293 Fälle; 6,1 %) als in STR (n = 387 Fälle; 1,6 %; p-Wert < 0,0001). Alkoholbezogene Störungen dominierten jeweils die Fälle mit Hauptdiagnose (ARS: n = 3.103 Fälle; 69,0 % | STR: n = 15.711 Fälle; 65,2 %; siehe Abbildung 1). In ARS wie auch in STR folgten an zweiter Stelle Behandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen (ARS: n = 406 Fälle; 9,0 % | STR: n = 2.342 Fälle; 9,7 %). An dritter Stelle stand in ARS das Pathologische Spielen (n = 325 Fälle; 7,2 %), das in STR den siebten Rang einnahm (n = 445 Fälle; 1,8 %). Hier bildete Multipler Substanzmissbrauch den dritthäufigsten Behandlungsanlass (n = 2.085 Fälle; 8,6 %), der in ARS an sechster Stelle stand (n = 131 Fälle; 2,9 %). Auf Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von Störungen durch den Konsum von Flüchtigen Lösungsmitteln, Tabak oder Halluzinogenen entfiel jeweils nur ein geringer Anteil. Gleiches gilt für Exzessive Mediennutzung.

    3.2 Klientelcharakteristika

    a) Soziodemographie

    Die aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen behandelte ARS-Klientel unterschied sich hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika systematisch von der STR-Klientel (siehe Tabelle 1). Bei beiden Konsumstörungen war die ARS-Klientel im Mittel älter und es fand sich ein geringerer Anteil an unter 30-Jährigen. Zudem lebte die ARS-Klientel jeweils seltener allein, hatte ein höheres Bildungsniveau (Abiturquote höher, Schulabbruchquote geringer) und war häufiger an den Arbeitsmarkt angebunden (Erwerbstätigkeit häufiger, Arbeitslosigkeit seltener). Für Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fand sich in ARS zudem ein höherer Anteil an Frauen und an Eltern minderjähriger Kinder.

    b) Störungsbezogene Parameter

    Der Erstkonsum von Alkohol bzw. Cannabinoiden erfolgte bei der ARS-Klientel und der STR-Klientel ähnlich früh, jedoch waren die ARS-Fälle bei Störungsbeginn im Mittel älter (siehe Tabelle 1). ARS wurde häufiger abstinent angetreten als STR, zugleich waren die drei Konsumklassen „7 bis 15 Tage“, „16 bis 28 Tage“ und „fast täglich“ schwächer besetzt (höchste Klasse bei cannabinoidbezogenen Störungen nicht signifikant). Für ARS-Fälle mit alkoholbezogenen Störungen ließen sich zudem im Mittel weniger Konsumtage im Monat vor Maßnahmenantritt beobachten.

    c) Dokumentierte Problembereiche

    Grundsätzlich wurde in ARS seltener eine Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche dokumentiert als in STR, wobei die entsprechenden Unterschiede für beide Konsumstörungen meist signifikant waren (siehe Abbildung 2). Lediglich psychische Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 67,9 %; STR = 71,8 %; p = 0,02 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 71,0 %; STR = 79,0%; p = 0,09) und familiäre Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 54,7 %; STR = 51,8 %; p = 0,05 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 53,4 %; STR = 62,9 %; p = 0,03) wurden in ARS und STR jeweils ähnlich häufig erfasst.

    3.3 Behandlungsergebnisse

    Grundsätzlich endeten Entwöhnungsbehandlungen überwiegend planmäßig, wobei die Haltequote bei ARS und STR jeweils ähnlich war (siehe Abbildung 3). In wenigen Fällen wurde nicht dokumentiert, ob die Maßnahme planmäßig oder unplanmäßig endete, ohne dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen ARS und STR bestanden (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,8 %, STR = 0,2 %; p = 0,16 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 2,3 %, STR = 0,3 %; p = 0,68).

    Betrachtet man die Anlässe einer planmäßigen Beendigung, so kam es in ARS jeweils häufiger als in STR zur Beendigung nach Behandlungsplan (alkoholbezogene Störungen 80,2 % vs. 73,8 %; p = 0,0003 | cannabinoidbezogene Störungen 80,1 % vs. 57,5 %; p < 0,0001) und seltener zu planmäßigen Wechseln in andere Einrichtungen (alkoholbezogene Störungen 5,1 % vs. 12,6 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 5,8 % vs. 17,9 %; p < 0,0001). Bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fanden sich in ARS zudem häufiger vorzeitige Beendigungen mit ärztlichem / therapeutischem Einverständnis (8,8 % vs. 7,3 %; p = 0,008) und bei cannabinoidbezogenen Störungen seltener Beendigungen auf ärztliche / therapeutische Veranlassung (7,6 % vs. 15,4 %; p = 0,0003).

    In Bezug auf eine unplanmäßige Beendigung waren disziplinarische Beendigungen in ARS seltener als in STR (alkoholbezogene Störungen 10,7 % vs. 17,5 %; p = 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 9,8 % vs. 27,9 %; p = 0,003). Zudem kam es bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen in ARS häufiger zu außerplanmäßigen Einrichtungswechseln (17,1 % vs. 2,7 %; p < 0,0001) und bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen gab es in ARS mehr Todesfälle (2,7 % vs. 0,1 %; p < 0,0001).

    Im Zuge der Entwöhnungsbehandlung wurde bei beiden Konsumstörungen in ARS und STR ähnlich häufig eine Verbesserung der Ausgangssituation erreicht (siehe Abbildung 4). Bei alkoholbezogenen Störungen bestand auch hinsichtlich des Prozentsatzes, der stabil geblieben ist, kein Unterschied zwischen ARS und STR. Bei cannabinoidbezogenen Störungen wurde in ARS indes seltener eine Stabilisierung erreicht als in STR (13,3 % vs. 21,9 %; p = 0,005). Die Ausgangsproblematik verschlechterte sich in ARS jeweils häufiger als in STR, allerdings auf niedrigem Niveau (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,6%; STR = 0,6 %, p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 5,5%; STR =1,0 %, p < 0,0001).


    Zugleich war der Anteil an Behandelten, die die Konsumenge von Alkohol bzw. Cannabinoiden im Zuge der Entwöhnungsbehandlung verringert haben, in ARS niedriger als in STR (alkoholbezogene Störungen: 38,3 % vs. 72,5 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: 35,2 % vs. 63,4 %; p < 0,0001). Allerdings war am Ende der Maßnahme nicht immer dokumentiert, ob sich die anfängliche Suchtproblematik verändert hat, wobei dies bei der Klientel mit cannabinoidbezogenen Störungen in ARS seltener vorkam als in STR (5,0 % vs. 9,9 %; p = 0,002).

    4 Einordnendes Fazit

    Dieser Artikel vergleicht erstmals anhand von aktuellen Daten der DSHS die Fallzusammensetzung und das Ergebnis bei ambulanten und stationären Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen. Hierbei zeigt sich, dass stationäre Suchtrehabilitation deutlich weiter verbreitet ist als ambulante Maßnahmen, wobei in beiden Settings jeweils eine spezifische Klientel behandelt wird. Einschränkend sei darauf verwiesen, dass die Gegenüberstellung Fälle mit alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen – die Hauptanlässe für Suchtrehabilitation – adressierte. Eine Verallgemeinerung auf andere stoffgebundene und stoffungebundene Suchterkrankungen ist nicht unmittelbar möglich.

    Grundsätzlich waren soziodemographische Unterschiede zwischen der ARS-Klientel und der STR-Klientel ausgehend von den Anforderungskriterien, für wen eine ambulante Maßnahme geeignet ist, zu erwarten: Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ fordert unter anderem, dass im Falle einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung ein stabilisierendes / unterstützendes soziales Umfeld sowie ausreichende berufliche Integration gewährleistet sein sollten (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Dass den DSHS-Daten zu Folge die ARS-Klientel seltener allein lebt und häufiger erwerbstätig sowie seltener arbeitslos ist als die STR-Klientel, spiegelt eine adäquate Umsetzung dieser Vorgabe.

    Darüber hinaus hat die ARS-Klientel ein höheres Bildungsniveau (d. h. Abitur häufiger, Schulabbruch seltener) als die STR-Klientel. Dies deckt sich mit Beobachtungen in einer kleinen monozentrischen Studie unter Alkoholabhängigen (Schmidt et al., 2009). Hier steht zu vermuten, dass das höhere Bildungsniveau sich förderlich auf die Therapieadhärenz auswirkt, die wiederum eine Grundanforderung an die ambulante Durchführbarkeit einer Suchtrehabilitation darstellt (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Zudem legt episodische Evidenz nahe, dass ein höherer Bildungsgrad – insbesondere bei Frauen – positiv mit dem Verbleib in der Suchtbehandlung assoziiert ist (Courtney et al., 2017; Pinto et al., 2011; Vigna-Taglianti et al., 2016).

    Des Weiteren finden sich in ARS häufiger Eltern minderjähriger Kinder als in STR. In einem ambulanten Setting lassen sich annahmegemäß Fürsorge- und Aufsichtspflichten leichter realisieren als in einem stationären Setting, weswegen Eltern gewisse Präferenzen für ambulante Angebote haben könnten. Dies legt zumindest eine Studie nahe, die den Mangel an auf Eltern zugeschnitten Therapieangeboten als eine von mehreren Hürden für die Inanspruchnahme stationärer Entwöhnungsbehandlungen unter Methamphetaminabhängigen identifizierte (Hoffmann et al., 2018). Eine Übertragbarkeit auf andere Suchterkrankungen erscheint hier legitim.

    Darüber hinaus spricht das klinische Bild der STR-Klientel für eine komplexere Problematik. Die STR-Fälle haben häufiger Probleme in verschiedenen Lebensbereichen und konsumieren Alkohol bzw. Cannabinoide im Monat vor Behandlungsbeginn intensiver. Dies korrespondiert mit den Klientelcharakteristika einer früheren Studie, die Risikoprofile für den frühzeitigen Abbruch einer ambulanten bzw. stationären Entwöhnungsbehandlung unter Personen mit Alkoholkonsumstörungen analysierte (Preuss et al., 2012). Hier fand sich eine höhere Prävalenz psychischer und körperlicher Begleiterkrankungen und eine kürzere Abstinenzperiode unter den stationär Behandelten. Beide Befunde reflektieren die Vorgaben der Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die bei Personen mit intensivem Suchtverlauf und schwerwiegenden psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen eine stationäre Rehabilitation empfehlen (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Trotz dieser unterschiedlichen Fallcharakteristika wird in ARS und STR ähnlich häufig ein positives Behandlungsergebnis (Reduktion oder Stabilisierung) erzielt. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich in ARS behandelte Personen mit cannabinoidbezogenen Störungen zwar signifikant seltener stabilisieren, sich aber zugleich (nicht-signifikant) häufiger verbessern. Dies spricht für eine tendenzielle Verschiebung aus der Kategorie „Stabilisierung“ in die Kategorie „Verbesserung“. Zudem ist eine Verringerung der initialen Suchtproblematik in ARS und STR ähnlich wahrscheinlich. Dies lässt vermuten, dass Personen mit komplexerem Störungsbild von STR zumindest kurzfristig stärker profitieren als von ARS. Zugleich kommt es in ARS häufiger als in STR zu einer Verschlechterung der Suchtproblematik und die Konsummenge wird seltener verringert – was sicher auch mit der ausgangs niedrigeren Konsumintensität zusammenhängt. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür dürfte aber insbesondere die einfachere Verfügbarkeit der Substanzen kombiniert mit weniger engmaschigen Kontrollmöglichkeiten im ambulanten Setting sein.

    Da die Daten die Situation unmittelbar zum Behandlungsende abbilden, besteht keine Rückschlussmöglichkeit, ob sich die für STR beobachtete deutlich stärkere Konsummengenreduktion nachhaltig verstetigt. Es ist anzunehmen, dass bei stationären Entwöhnungsbehandlungen ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht, sobald die Betroffenen in ihrer regulären Lebenswelt wieder erleichterten „Substanzzugriff“ haben. So geht der Katamnesebericht des Fachverbandes Sucht für das Datenjahr 2018 davon aus, dass die Hälfte der Personen, die eine ambulante Entwöhnungsbehandlung durchlaufen haben – davon 79,2 % aufgrund von Alkohol- und 6,4 % aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen – ein Jahr nach deren Abschluss gemäß DGSS 4-Standard (also ggf. nach Rückfall) abstinent war (Becker et al., 2021). Im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung galt dies im Datenjahr 2020 aber nur für zwei Fünftel der Personen, die aufgrund von Alkoholkonsumstörungen behandelt worden waren (Bachmeier et al., 2023), bzw. für ein Fünftel der Personen, die aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen behandelt worden waren (Kemmann et al., 2023). Dies unterstreicht implizit die Bedeutung, die einer adäquaten Rehabilitations-Nachsorge (Deutsche Rentenversicherung, 2015) insbesondere nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung zukommt.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ARS und STR unterschiedliche Personengruppen erreichen und nicht per se individuell austauschbare Behandlungsangebote darstellen. Da es die Aggregatdaten der DSHS nicht erlauben, soziodemographische und störungsbezogene Unterschiede zwischen ARS-Klientel und STR-Klientel statistisch zu berücksichtigen, ist ein Vergleich der „Effektivität“ von ARS und STR grundsätzlich nicht angebracht. Vor dem Hintergrund der komplexeren Problematik der STR-Fälle ist der fehlende Unterschied zwischen beiden Behandlungsansätzen hinsichtlich Haltequote und Anteil an Fällen mit verbesserter Suchtproblematik allerdings positiv zu werten. Anscheinend gelingt es ARS und STR gleichermaßen gut, ihre spezifische Klientel bedarfsgerecht durch die Entwöhnung zu begleiten.

    5 Abkürzungsverzeichnis
    • ARS                Ambulante Medizinische Rehabilitation
    • DSHS             Deutsche Suchthilfestatistik
    • ICD                 International Classification of Diseases
    • IFT                  Institut für Therapieforschung
    • KDS                Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe
    • STR                Stationäre Medizinische Rehabilitation
    6 Literatur
    • Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Daniel, H., Dyba, J., Funke, W., Kemmann, D., Klein, T., Medenwaldt, J., Premper, V., Reger, F., & Wagner, A. (2023). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS+-Katamnese des Entlassjahrgangs 2020 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2023(5) 21-36.
    • Becker, A., Bick-Dresen, S., Schneider, B., Bachmeier, R., Bingel-Schmitz, D., Fölsing, B., Funke, W., Klein, T., Kramer, D., Löhnert, B., Steffen, D., Seydlitz, U., & Granowski, M. (2021). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation–FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2018 von Ambulanzen für Alkohol-und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2021(3) 38-47.
    • Courtney, R. J., Clare, P., Boland, V., Martire, K. A., Bonevski, B., Hall, W., Siahpush, M., Borland, R., Doran, C. M., West, R., Farrell, M., & Mattick, R. P. (2017). Predictors of retention in a randomised trial of smoking cessation in low-socioeconomic status Australian smokers. Addict Behav, 64, 13-20. https://doi.org/10.1016/j.addbeh.2016.07.019
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    • Vigna-Taglianti, F. D., Burroni, P., Mathis, F., Versino, E., Beccaria, F., Rotelli, M., Garneri, M., Picciolini, A., & Bargagli, A. M. (2016). Gender Differences in Heroin Addiction and Treatment: Results from the VEdeTTE Cohort. Substance Use & Misuse, 51(3), 295-309. https://doi.org/10.3109/10826084.2015.1108339
    Förderhinweis

    Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf(at)ift.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Die Autorinnen repräsentieren die Forschungsgruppe „Therapie und Versorgung“ am IFT Institut und Therapieforschung. Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, bildet einen zentralen Grundpfeiler dieser Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Forschungsgruppe Therapie und Versorgung schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS.

    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl.-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Monika Murawski, MPH, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Carlotta Riemerschmid, MSc. Psychologie, IFT, Doktorandin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Jutta Künzel, Dipl.-Psych., IFT, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsgruppe Therapie- und Versorgung
  • Die Kinder mitnehmen

    Die Kinder mitnehmen

    Nathalie Susdorf
    Gotthard Lehner

    In Hutschdorf bei Thurnau (Landkreis Kulmbach – Oberfranken – Bayern) gibt es zukünftig zwei Einrichtungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: suchtmittelabhängige Frauen und deren Kinder auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft nachhaltig zu unterstützen. Das ist zum einen die DGD Fachklinik Haus Immanuel, eine Rehabilitationseinrichtung zur Behandlung suchtmittelabhängiger Frauen, sowie das derzeit noch im Bau befindliche DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“, das voraussichtlich Ende des Jahres fertiggestellt wird. Den beiden Institutionen angeschlossen ist die Kindertagesstätte „Kindernest“, die sich ebenfalls auf dem Gelände in Hutschdorf befindet.

    Die DGD Fachklinik Haus Immanuel – Mit dem Aufhören anfangen

    DGD Fachklinik Haus Immanuel

    In idyllischer Lage nahe der oberfränkischen Städte Kulmbach, Bayreuth und Bamberg liegt innerhalb eines parkähnlichen Areals die DGD Fachklinik Haus Immanuel. Das Haus behandelt seit 1907 alkoholabhängige Menschen, seit 1961 ausschließlich suchtmittelabhängige Frauen. Heute zählt die Klinik zu den modernsten Suchtkliniken Bayerns. In den letzten Jahren rückten die Mitbetreuung und Förderung von Kindern immer stärker in den Fokus. So wurde 2012 eine heilpädagogische Kindertagesstätte, das Kindernest, eröffnet. Die DGD Fachklinik Haus Immanuel gehört ebenso wie das neue Mutter-Kind-Zentrum zur DGD-Stiftung (DGD steht für Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband) in Marburg. Pro Jahr werden etwa 250 suchtkranke Frauen und ca. 50 Kinder aufgenommen, die ihre Mütter während der Therapie begleiten. Für viele Rehabilitandinnen ist dies ein wichtiger Schritt für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern.

    Wohnen im Haus Immanuel

    Der familiäre Charakter der Klinik ist eine ideale Grundlage, um Rehabilitandinnen auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft zu unterstützen und nachhaltige Therapieerfolge bei alkohol- und medikamentenabhängigen Frauen zu erreichen.

    Der Klinikkomplex verfügt über 60 Therapieplätze für Frauen zwischen 18 und 75 Jahren. Zudem bietet die DGD Fachklinik Haus Immanuel eine gemeinsame Mutter-Kind-Therapie an. Bis zu 12 Kinder können ihre Mütter zur Behandlung nach Hutschdorf begleiten und werden im klinikeigenen Kindernest betreut. Jeder Mensch hat Anspruch auf Privatsphäre, deshalb bewohnen die Rehabilitandinnen moderne Einzelzimmer, die zu Wohngruppen mit max. zwölf Personen gehören. Die Mütter wohnen mit ihren Kindern jeweils in zwei zusammenhängenden Zimmern.

    Gemeinsame Mahlzeiten, kreatives Arbeiten, Begegnungen mit anderen, aktive oder stille Entspannung sind wichtige Komponenten einer erfolgreichen Therapie. Für Entspannung und therapeutische Anwendungen stehen zudem ein hauseigenes Schwimmbad, eine Sporthalle mit Kletterwand, ein Beachvolleyballfeld sowie eine Minigolfanlage zur Verfügung. Auch Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Programm. Der soziale Gedanke, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, unterstützt nicht nur den Therapieerfolg, sondern hilft auch dabei, wieder auf Menschen zugehen zu können.

    Während ihrer Therapie werden die Rehabilitandinnen von einem multiprofessionellen Team aus etwa 70 Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen betreut. Die Mitarbeitenden aus den Bereichen Medizin, Sucht- und Psychotherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sporttherapie sowie Pädagogik, Sozialarbeit und Seelsorge begleiten die Frauen während ihres 15-wöchigen Aufenthalts im Haus Immanuel. Dabei werden die suchtkranken Frauen nach einem ganzheitlichen Ansatz behandelt. Neben medizinischen und therapeutischen Maßnahmen wird besonderer Wert auf ein Umfeld gelegt, das Körper und Seele guttut.

    Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen:

    • Besinnungsphase
    • Intensivphase
    • Belastungsphase

    In allen Phasen wird auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen eingegangen. Jede Rehabilitandin wird bereits ab der ersten Woche einem/einer Bezugstherapeut:in zugeordnet. Neben Einzel- und Gruppentherapie werden verschiedene indikative Gruppen sowie eine integrierte Traumatherapie angeboten.

    Behandlungsangebot der DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Medizinische Versorgung

    Die medizinische Versorgung der Rehabilitandinnen wird durch erfahrene Ärzt:innen gewährleistet. Zu Beginn der Behandlung wird ein individuelles Behandlungskonzept festgelegt. In diesem Rahmen wird auch der Umfang der begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen im Hallenbad, Kneippen, Waldlauf und Gymnastik bestimmt. Zur Linderung des Suchtdrucks wird auch Akupunktur angeboten.

    Psycho-/Sozialtherapie

    Der/die Bezugstherapeut:in ist Ansprechpartner: in für alle Belange, Fragen und Krisen der Rehabilitandinnen. Eine wesentliche Hilfe bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte ist die wöchentliche psychotherapeutische Einzeltherapie. In der Gruppentherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, erarbeiten die Rehabilitandinnen gemeinsam ein Verständnis für ihre Abhängigkeitserkrankung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten für einen Ausstieg aus der Sucht.

    Arbeits- und Ergotherapie

    Ein Aufenthalt im Haus Immanuel soll Rehabilitandinnen wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Ziel ist die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Hierfür stehen die arbeitstherapeutischen Bereiche Büro, Handwerk, Garten, Hauswirtschaft und Küche zur Verfügung. Bei Bedarf erhalten arbeitssuchende Rehabilitandinnen auch PC- und Bewerbungstraining. Bei der Ergotherapie sollen kreative Fähigkeiten (wieder)entdeckt und gefördert werden. Dies vermittelt Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstwertgefühl.

    Physiotherapie

    Bewegung und Entspannung sind wichtig, um ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Leistungsfähigkeit zu bekommen. Angeboten werden z. B. Lauftraining, Nordic Walking, Rückenschule, Fahrrad fahren, Massagen und Wassergymnastik. Die Physiotherapeut:innen der Klinik entwickeln für jede Frau einen passenden Therapieplan. Darüber hinaus wurde die Behandlung der Rehabilitandinnen um das Angebot des therapeutischen Kletterns erweitert.

    Mutter-Kind-Therapie

    Es wird oft vergessen, dass Kinder besonders unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden. Die Mutter-Kind-Einrichtung in der DGD Fachklinik Haus Immanuel kümmert sich darum, die oftmals gestörte Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern und den Kindern wieder eine tragfähige Beziehung zur Mutter zu ermöglichen. Die Mütter bilden eine eigene Therapiegruppe im Haus, das Programm ist auf ihre spezielle Situation abgestimmt.

    Traumatherapie

    Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei alkohol- oder medikamentenabhängigen Frauen etwa dreimal häufiger auf als bei männlichen Rehabilitanden. Die PTBS-Therapie ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlung suchtkranker Frauen und damit fester Bestandteil des Therapieangebots. Ziel ist es, dass die Frauen lernen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, um so die Heilungschancen für die Suchterkrankung langfristig zu verbessern.

    Seelsorge

    Auch die Seelsorge wird im Haus Immanuel großgeschrieben. Unabhängig davon, wie die Rehabilitandinnen zur Kirche stehen, nimmt sich eine Seelsorgerin gerne Zeit für sie. Für die persönliche Ruhe steht ein „Raum der Stille“ zur Verfügung, der jederzeit genutzt werden kann. Die Rehabilitandinnen sind auch herzlich zur wöchentlichen Andacht eingeladen. Hier wird gemeinsam gesungen, gebetet oder sich zu einem biblischen Thema ausgetauscht.

    Mütter und Kinder profitieren gemeinsam

    Die neue Kita „Kindernest“, die im Zuge des Neubaus des Mutter-Kind-Zentrums erweitert wird

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder mit abhängigkeitskranken Müttern und/oder Vätern zusammen. Dadurch laufen sie ganz besonders Gefahr, in ihrem späteren Leben ebenfalls von Alkoholmissbrauch und psychischen Folgeerkrankungen betroffen zu sein. In der DGD Fachklinik Haus Immanuel können bis zu zwölf Begleitkinder betreut werden, während die Mütter ihre Therapie absolvieren: Säuglinge und Kleinkinder im klinikeigenen Kindernest, die Schulkinder besuchen Bildungseinrichtungen in der Region. Auch schwangere Frauen sind in der DGD Fachklinik Haus Immanuel herzlich willkommen.

    Die freundlich und kindgerecht gestalteten Wohn- und Spielbereiche werden Kindern aller Altersgruppen gerecht. Auch die Außenbereiche bieten ideale Bedingungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tages. Trampolin, Minigolf, Spielplätze und Kletteranlagen stehen zur Verfügung. Vor allem der neu angelegte Waldspielplatz bietet hervorragende Möglichkeiten für die Kinder, die (häufig wenig bekannte) Natur zu erkunden. Die Kinder spielen vorwiegend mit den Dingen, die sie im Wald oder auf dem Feld vorfinden. Daneben können sie ihren eigenen Garten bepflanzen und bewirtschaften. Und bei schlechtem Wetter bietet der liebevoll gestaltete Bauwagen Unterschlupf zum Geschichten erzählen, Malen, Basteln und Essen.

    Wenn Tiere der Seele guttun – tiergestützte Therapie

    Neu hinzukommen wird ein Therapieangebot mit Ponys und Alpakas. Dies soll die individuelle Entwicklung der Frauen und Kinder fördern. Durch die tiergestützte Therapie wird z. B. die Sinneswahrnehmung geschärft, das Selbstbewusstsein und die (soziale) Verantwortung werden gestärkt. Gerade Kindern fällt es leichter, über die Betreuung eines Tieres in die Therapie einzusteigen (das Tier als Eisbrecher) oder auch mögliche Einsamkeit zu überwinden (das Tier als Freund). Darüber hinaus werden auf dem weitläufigen Gelände der DGD Fachklinik Haus Immanuel mehrere Bienenvölker angesiedelt. Die Therapeut:innen pflegen gemeinsam mit den Müttern und Kindern die Bienenstöcke, schleudern Honig und ziehen Kerzen, die in der Region vermarktet werden sollen.

    Trotzt aller Bemühungen und Therapiemöglichkeiten kann nicht in jedem Behandlungsfall eine positive Prognose gestellt werden. Die Rückfallrate von suchtkranken, rehabilitierten Frauen liegt immerhin bei 50 Prozent. Immer wieder sucht das Haus Immanuel nach Nachsorgeeinrichtungen für Mütter mit ihren Kindern, die es aber leider in der Form nicht gibt. Um den Rehabilitandinnen und ihren Kindern gerecht zu werden, reifte der Entschluss, selbst ein neues Mutter-Kind-Zentrum zu bauen, das derzeit in direkter Nachbarschaft zur DGD Fachklinik Haus Immanuel fertiggestellt wird.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ – Zurück in ein eigenverantwortliches Leben

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder in einem Haushalt mit alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Eltern. Das bedeutet, ca. jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf. Über das Thema Abhängigkeit wird im Allgemeinen nur selten gesprochen, und wenn doch, zumeist nur sehr abwertend. Die Frauen, die in der Fachklinik Haus Immanuel behandelt werden, kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Traumatische Erlebnisse, gestörte Beziehungen oder auch finanzielle Probleme führten in ihre Abhängigkeitserkrankung. Darunter leiden nicht nur die Frauen selbst. Auch Freunde und Familie tragen die Last mit. Besonders schwer haben es die Kinder.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Die ständige Sorge und Ungewissheit beeinflussen ihre Entwicklung oft negativ und haben langfristige Auswirkungen. So ist das Risiko dieser Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Vergleich zu Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien bis zu sechsmal höher. Mit dem Bau des neuen DGD Mutter-Kind-Zentrums „Rückenwind“, an das auch die Kita Kindernest angeschlossen sein wird, sollen vor allem die Kinder unterstützt werden. Sie werden gemeinsam mit ihren meist noch jungen Müttern betreut und begleitet. An oberster Stelle steht dabei das Kindeswohl.

    Die neue Einrichtung bietet Platz für zwölf Mütter, die eine Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtrehabilitationseinrichtung abgeschlossen haben, und bis zu 16 Kinder. Es sind insgesamt zwölf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern geplant. Durch vielfältige Vernetzungen zu anderen professionellen Hilfswerken (z. B. zur Sprachförderung, Spezialisten für FASD, Sonderschulpädagogik) soll die Rückkehr zur Teilhabe an der Gesellschaft vereinfacht werden. Grundlegend ist hier die Gewöhnung an realitätsnahe und gelingende Alltagsstrukturen, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder. Mütter und Kinder sollen auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben unterstützt werden. Auch die soziale Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft wird gefördert. Mütter und auch Kinder finden wieder ihren Platz im sozialen Umfeld. Im Idealfall gehen Mütter (wieder) einer beruflichen Tätigkeit nach, Kinder können ihre schulischen Leistungen verbessern und weiterführende Schulen besuchen.

    Wer wird im Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen?

    Das Angebot der Mutter-Kind Einrichtung richtet sich an ehemals abhängigkeitskranke Frauen mit Kindern, die nach § 19 SGB VIII einen Hilfebedarf haben. Eine Altersbegrenzung der Mutter ist nicht gegeben. Die Mutter sollte im Regelfall eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abgeschlossen haben, und die Kinder sollten sie als sog. Begleitkinder in der Therapie begleitet haben. Es sollen auch Mütter aufgenommen werden, die aufgrund einer richterlichen Anordnung die Weisung haben, eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen, da ihnen ansonsten die elterliche Sorge entzogen wird. Nach §§ 113 ff. und 123 ff. SGB IX wird Eingliederungshilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen geleistet. Durch das Hilfsangebot für ehemals abhängigkeitskranke Mütter und Schwangere sollen aktuelle Krisen- und Notfallsituationen im Schutze einer stationären Unterbringung überwunden werden. Bei den Kindern wird der Förderbedarf durch das Jugendamt festgestellt.

    Die Problematik FASD

    Man kann davon ausgehen, dass mindestens 1/3 der Kinder, die zukünftig im DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ aufgenommen werden, unter dem Syndrom FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) leiden. Nach Schätzungen der ehemaligen Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler werden jedes Jahr in Deutschland ca. 10.000 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Mortler, 2018). Diese Beeinträchtigung entsteht, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren und damit das Kind schädigen.

    Kinder mit FASD weisen erhebliche Störungen auf. So kann mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Wachstumsauffälligkeiten des Kindes führen. Typischerweise sind die Kinder mit FASD bereits bei der Geburt klein und leicht. Sie bleiben dystroph bis mindestens im Grundschulalter. Darüber hinaus führt eine Alkoholschädigung im Mutterleib zu schwerwiegenden und lebenslang andauernden Defiziten im kognitiven Bereich. Kinder mit FASD können eine globale Intelligenzminderung (IQ < 70) haben. Viele Betroffene weisen ein sehr heterogenes Profil mit Stärken in den sprachgebundenen Intelligenzleistungen und deutlichen Schwächen im logischen Denken, in der Arbeitsgeschwindigkeit, der Konzentration und in zahlengebundenen Aufgaben auf.

    Viele Kinder mit FASD haben eine auditive und/oder visuelle Gedächtnisstörung. Dadurch müssen Lerninhalte sehr häufig wiederholt werden – unabhängig davon, ob es sich um Alltags- oder Schulaufgaben handelt. Die Geduld und die Resilienz der Bezugsperson werden sehr stark beansprucht.

    Die häufigste Begleitstörung bei Kindern mit FASD ist jedoch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Davon betroffene Kinder benötigen eine ständige Begleitung und/oder Unterstützung.

    Zu den psychosozialen Entwicklungsrisiken von Kindern mit FASD zählen langfristig frustrierende Lebenserfahrungen wie Schulabbrüche, soziale Isolation, Stigmatisierung, Obdachlosigkeit und ein fehlendes soziales Netz. Laut einer Studie von Spohr & Steinhausen (2008) hatten nur 13 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen wenigstens einmal einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. 27 Prozent der von FASD betroffenen Erwachsenen lebten in Institutionen, 35 Prozent im betreuten Wohnen, 8 Prozent bei den Eltern, 14 Prozent unabhängig, 8 Prozent mit einem Partner und 8 Prozent mit einer eigenen Familie.

    Das Hilfsangebot im Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Das individuelle Hilfsangebot richtet sich nach den Stärken bzw. Schwächen der Frau sowie dem Förderbedarf des Kindes. Im interdisziplinären Team werden die verschiedenen Aspekte der Behandlung besprochen, und es wird eine zeitliche Perspektive der Förderung von Mutter und Kind festgelegt.

    Beziehungsarbeit

    Eine tragfähige und vertrauensvolle professionelle Beziehung zwischen der Mutter und der Bezugstherapeutin bildet die Basis, auf der alle sozialpädagogischen und therapeutischen Interventionen aufbauen.

    Soziale Einzelfallhilfe

    In der Einzelfallhilfe wird die geplante Maßnahme mit der Mutter besprochen. Dabei werden ihre Vorstellungen berücksichtigt, und es erfolgt die konkrete Umsetzung. Die Einzelfallhilfe beinhaltet:

    • Krisenintervention
    • Beratungs- und Informationsgespräche
    • Planungs-, Organisations- und Strukturierungshilfen (Wochenplan, Haushaltsplan)
    • Abstinenzsicherung
    • Motivationsarbeit
    • Anleitung (bei Bedarf für Versorgung des Kindes, hauswirtschaftliche Tätigkeiten …)
    • Erweiterung der Erfahrungen und des Lebensraums (Freizeitaktivitäten …)
    • Reflexion des Erziehungsverhaltens – ggfs. zusammen mit dem Kind/den Kindern
    Pädagogische Arbeit mit dem Kind

    Die pädagogische Arbeit mit dem Kind findet zu einem großen Teil in der hauseigenen Kita Kindernest mit zwei heilpädagogischen Gruppen statt. Dabei sollen je nach Alter der Kinder folgende Programme durchgeführt werden:

    • Papilio U3
    • Papilio (3.–6. Lebensjahr)
    • Trampolin (6.–12. Lebensjahr)

    Papilio ist ein Programm zur Förderung der psychosozialen Gesundheit und zur Prävention von Verhaltensproblemen für Kinder in Kindertagesstätten und Kindergärten. Die Arbeit der Erzieherinnen/Heilpädagoginnen beinhaltet dabei u. a. die Entwicklungsbeobachtung und -förderung, die Sicherstellung der materiellen und der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, die Freizeitgestaltung sowie das Netzwerken mit Frühfördereinrichtungen.

    Sozialpädagogische Arbeit mit den Müttern

    Um die Erziehungskompetenz der Mutter zu fördern, werden folgende Maßnahmen angeboten:

    • Mutter-Kind-Gruppe
    • Elterncoaching
    • Anleitung im Umgang mit dem Kind
    • Einbeziehung der Kinder in den Alltag
    • Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung
    Soziale Gruppenarbeit

    Die Gruppe bildet ein lebensnahes Umfeld, in dem sich die Mütter in schwierigen Situationen gegenseitig Hilfestellung geben können, sich in der Kinderbetreuung unterstützen und auch soziale Fähigkeiten ausbauen können. Folgende Gruppenaktivitäten werden in neuen DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ angeboten:

    • Freizeitgestaltung, Ausflüge
    • Organisation und Feiern von Festen (private und religiöse)
    • Gemeinsame Projekte
    • Sport
    • Kochen
    • Entspannungsübungen (Jacobson, Autogenes Training, Akupunktur …)
    • Jahresfeste
    • Kreative Beschäftigungen für Mütter und Kinder wie Malen, Basteln, Töpfern
    Sozialpädagogische Arbeit mit dem Umfeld

    Das soziale Umfeld der Frauen kann Ressourcen und Unterstützung bereithalten. Dies gilt es zu nutzen. Ebenso können aber auch Konflikte durch die Partner, die Kindsväter oder die Herkunftsfamilie bestehen. Die eigene Biografie zu verstehen, in eine Unabhängigkeit hineinzuwachsen und Beziehungen zu klären, sind Ziele in diesem Bereich. Hierfür besteht folgendes Angebot:

    • Einbeziehung der Väter und/oder der Partner: Paargespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit der Herkunftsfamilie: Angehörigengespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit dem Freundeskreis: Klärung von Beziehungen, Abbau von Gefährdungen, Stärkung von Ressourcen, Aufbau von stabilisierenden Sozialkontakten
    • Psychoedukation: Wie kann ich meine Krankheit besser verstehen und bewältigen?
    • Umgang mit Depressionen
    • Vermeidung von Rückfällen
    Kooperation mit externen Stellen

    Die Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen ist wichtig, um den Frauen eine umfassende Nutzung des medizinischen und sozialen Hilfespektrums zu ermöglichen. Mit folgenden Einrichtungen kooperiert das Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“:

    • Jugendamt
    • Kinderärzt:innen
    • Ärzt:innen aller Fachrichtungen, Kliniken
    • Frühfördereinrichtungen
    • Schulen, Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), Ausbildungs- und Arbeitsstellen
    • Psychotherapeut:innen
    • Beratungsstellen
    • Ämter, Behörden, Polizei, Opferhilfe Oberfranken (Weißer Ring)
    • Mutter-Kind-Gruppen
    • Arbeitskreise
    • DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Darüber hinaus findet Vernetzungsarbeit mit anderen Mutter-Kind-Einrichtungen und den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe statt.

    Insgesamt steht den Müttern und ihren Kindern ein breit gefächertes Angebot pädagogischer, medizinischer, therapeutischer und psychologischer Hilfen zur Verfügung. Das DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ wird an 365 Tagen im Jahr geöffnet sein. Die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft ist rund um die Uhr gewährleistet. Die Kita Kindernest mit ihren zwei heilpädagogischen Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0–18 Jahren hat an allen Werktagen im Jahr geöffnet. Die offizielle Eröffnung der neuen Einrichtung ist für Anfang 2023 geplant.

    Literatur bei den Autor:innen

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Gotthard Lehner, Klinikleiter
    Nathalie Susdorf, Öffentlichkeitsarbeit

    DGD Fachklinik Haus Immanuel
    Hutschdorf 46
    95349 Thurnau-Hutschdorf
    Tel. 09228 / 99 68-0
    E-Mail: info(at)haus-immanuel.de

    www.dgd-haus-immanuel.de
    www.dgd-rueckenwind.de
    www.dgd-kliniken.de

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil III

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Im dritten Teil des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ stehen die Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sowie Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt. In Teil I und Teil II (erschienen am 26.08. und 09.09.2020) wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang, Fachkräftemangel, Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte behandelt.

    e) Modularisierung

    In den Jahren 2011 bis 2015 erfolgte eine zunehmende Modularisierung des Leistungsangebotes in der Suchtrehabilitation. Es wurden verschiedene neue bzw. ergänzende Behandlungsformen entwickelt und durch entsprechende Rahmenkonzepte der Leistungsträger definiert.

    Mit dem Rahmenkonzept zur ganztägig ambulanten Suchtreha wurden 2011 die Anforderungen für eine noch relativ neue Behandlungsform festgelegt, für die auch die Bezeichnungen Tagesreha oder teilstationäre Reha verwendet werden. Zahlreiche Einrichtungen wurden seither neu eröffnet, viele davon sind aber nicht ausgelastet, und einige wurden auch schon wieder geschlossen, weil diese sehr kleinen Einrichtungen (häufig nur zwölf Plätze) kaum wirtschaftlich zu führen sind. Besonders nachgefragt wird die sog. ganztägig ambulante Entlassungsform. Das bedeutet, dass sich an eine (häufig verkürzte) stationäre Phase eine in der Regel vierwöchige Phase im ganztägig ambulanten Behandlungssetting anschließt. Seit 2007 haben sich Einrichtungen der ganztägig ambulanten Suchtreha über ein jährliches Bundestreffen vernetzt und arbeiten gemeinsam an der Lösung spezifischer Probleme wie bspw. der passenden Indikationsstellung in Abgrenzung zur ambulanten und stationären Reha, der Etablierung von 6-Tages-Konzepten mit Angeboten am Wochenende, dem Vergütungsausfall durch Krankheitstage der Rehabilitanden, den notwendigen Suchtmittelkontrollen beim täglichen Übergang zum Alltag und der Eignung dieser Behandlungsform für Drogenabhängige.

    Das Rahmenkonzept zur Nachsorge im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trat 2012 in Kraft. Damit wird eine deutliche Trennung der (sozialtherapeutischen) Reha-Nachsorge von der (suchttherapeutischen) ambulanten poststationären Reha-Behandlung definiert, mit erheblichen Folgen für die Angebotsstruktur in diesem Bereich. Therapiegruppen in der ambulanten Nachsorge und in der ambulanten Reha müssen nun getrennt durchgeführt werden, was zu immer kleineren Gruppen und einer abnehmenden Wirtschaftlichkeit für die Anbieter führt. Insbesondere im ländlichen Raum droht eine deutliche Reduzierung dieses Leistungsangebotes. Es folgten im Jahr 2015 weitere Rahmenkonzepte zur ambulanten bzw. ganztägig ambulanten Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen (stationären) Phase. Damit wurden wieder mehr Optionen für eine suchttherapeutische ambulante poststationäre Behandlung geschaffen.

    Mit dem Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung wurde im Jahr 2014 eine sehr weitgehende Möglichkeit für die kombinierte Durchführung verschiedener Behandlungsmodule bzw. Behandlungsphasen im Rahmen einer Kostenzusage geschaffen. Die einzelnen Phasen können in stationärer, ganztägig ambulanter oder ambulanter Form durchgeführt werden. In der Regel erfolgt im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation eine Fortführung im ambulanten Setting. Für die Durchführung ist ein gemeinsames Konzept der beteiligten Leistungsanbieter erforderlich. Die Fallzahlen für diese Behandlungsform sind bundesweit eher gering. Allerdings konnte mit dem Konzept „Kombi-Nord“ der drei norddeutschen Regionalträger der DRV eine noch flexiblere Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher Module geschaffen werden, bei der ein zeitlicher Rahmen für die Gesamtbehandlung definiert, Übergabegespräche beim Phasenwechsel festgelegt und eine Fallsteuerung ergänzt werden.

    Besonders im Fokus steht derzeit die Ambulante Reha Sucht (ARS), für die seit 2008 ein Rahmenkonzept der Leistungsträger existiert. Diese Leistungsform wurde vor rund 25 Jahren als ergänzendes Angebot in Fach- und Beratungsstellen entwickelt. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass dieses Angebot bei einem bundesweit einheitlich vorgegebenen Kostensatz und definierten Personal- und Strukturanforderungen der Leistungsträger kaum noch kostendeckend realisiert werden kann. Seit 2017 finden intensive Verhandlungen zwischen den Suchtverbänden und den Leistungsträgern statt, und es konnten einige organisatorische und finanzielle Verbesserungen vereinbart werden, bspw. wurde die Federführung für die Leistungsanbieter dem jeweiligen Regionalträger der DRV zugeordnet, und der Kostensatz wurde deutlich angehoben. Ob damit die langfristige Überlebensfähigkeit dieses wichtigen Leistungsangebotes sichergestellt werden kann, bleibt abzuwarten.

    Eine weitere besondere Leistungsform in der Suchtreha ist die Adaptionsbehandlung als zweite bzw. letzte Phase der stationären medizinischen Rehabilitation. Sie ist stärker als die vorangehende Entwöhnungsbehandlung auf die Aspekte Wohnung und Arbeit fokussiert. Mit der Verfahrensabsprache zur Adaptionsbehandlung haben sich die Leistungsträger 1994 erstmalig auf gemeinsame Rahmenbedingungen für die Behandlungsform verständigt. Seit 2007 gab es sozialrechtliche Auseinandersetzungen mit Teilen der Gesetzlichen Krankenversicherung, die den medizinischen Charakter und die Zuständigkeit für die Kostenübernahme betrafen. Mit einem Urteil des LSG Baden-Württemberg von 2017 wurde diese Frage aber letztlich so entschieden, dass die Adaption eindeutig der medizinischen (und nicht der sozialen) Reha zuzuordnen ist. Zu dem Ergebnis, dass die GKV die Kosten für die Adaptionsbehandlung übernehmen muss, kommt auch ein ganz aktueller Beschluss des Sozialgerichtes Oldenburg (17.07.2020). Die Deutsche Rentenversicherung hat 2017 eine Erhebung unter den Einrichtungen zur Bestandsaufnahme durchgeführt, da die konzeptionelle Entwicklung in den letzten 20 Jahren zu regionalen Unterschieden geführt hat. 2019 wurde ein Rahmenkonzept veröffentlicht, das eine inhaltliche Einordnung der Adaption in das Leistungsspektrum der Suchtrehabilitation bieten sowie einheitliche strukturelle und personelle Anforderungen beschreiben soll.

    Die folgende Übersicht (Tabelle 1), die 2016 von den Suchtverbänden als Hilfestellung für Träger und Einrichtungen erstellt wurde, zeigt die unterschiedlichen Leistungsformen im Gesamtzusammenhang:

    Tab. 1: Kombinationsmöglichkeiten von Behandlungsformen in der Suchtrehabilitation

    Vor dem Hintergrund dieser Modularisierung der Leistungsangebote können in der Suchtrehabilitation inzwischen sehr individuelle Behandlungsverläufe gestaltet werden, die allerdings erhebliche Anforderungen an das modul- bzw. phasenübergreifende Fallmanagement stellen. Das wirft für die Zukunft verstärkt die Fragen auf, wer dieses Fallmanagement leistet und wie diese zusätzliche Leistung vergütet werden soll. Eine mögliche weiterführende Perspektive könnte auch die Kombination mit Angeboten außerhalb der medizinischen Rehabilitation im Rahmen einer integrierten Versorgung sein. Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass eine solche Vernetzung möglich ist und erhebliche Vorteile für die Leistungsberechtigten, die Leistungserbringer und die Leistungsträger bringt, ist das Modell „Alkohol 2020“, das in Wien erprobt wurde und mittlerweile in der Regelversorgung umgesetzt wird (vgl. Reuvers 2017: „Alkohol 2020“. Eine integrierte Versorgung von alkoholkranken Menschen in Wien).

    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung

    Seit 2009 existiert in der medizinischen Reha eine gesetzliche Verpflichtung zur Zertifizierung der Systeme für das interne Qualitätsmanagement. Es gab es schon um das Jahr 2000 herum erste Überlegungen, wie die eher industriell geprägten Ansätze zur Umsetzung von Qualitätsmanagement für das Gesundheitswesen und die Sozialwirtschaft angepasst und praxisgerecht umgesetzt werden können. Ein Beispiel dafür ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQus), die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert (www.dequs.de). Mittlerweile ist Qualitätsmanagement aus der Suchtrehabilitation nicht mehr wegzudenken und ein selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltages geworden: Prozess- und Dokumentenmanagement helfen bei der Strukturierung der Arbeit, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen werden als wichtige Rückmeldungen und Impulse für die Weiterentwicklung der Einrichtung gesehen, und in der Management-Bewertung werden jährlich Kennzahlen und andere wichtige Informationen zur Lage der Einrichtung bewertet. In den letzten Jahren haben der Umfang und die Komplexität der normativen Anforderungen, die nachweisbar zu erfüllten sind (Arbeitssicherheit, Brandschutz, Hygiene, Datenschutz, Risikomanagement etc.), deutlich zugenommen. Die Umsetzung wird in der Regel in das vorhandene QM-System integriert. Diese Anforderungen belasten die kleinen und mittelgroßen Einrichtungen in der Suchtrehabilitation deutlich mehr als größere Krankenhäuser, weil der Umsetzungsaufwand unabhängig von der Einrichtungsgröße ähnlich hoch ist: Die Personalausstattung ist jedoch sehr begrenzt, und für diese Sonderaufgaben sind in der Regel keine zusätzlichen Ressourcen im refinanzierten Stellenplan vorgesehen.

    In den Jahren 2014 bis 2016 erfolge eine umfassende Weiterentwicklung im Bereich der Verfahren für die externe Qualitätssicherung, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Suchtrehabilitation haben. Die unterschiedlichen Instrumente im Reha-QS-Programm der Deutschen Rentenversicherung wurden an aktuelle fachliche und organisatorische Anforderungen angepasst: Anforderungen zur Strukturqualität (2014), einheitliches Visitationskonzept (2014), grundlegende Überarbeitung der Klassifikation Therapeutischer Leistungen (2015), Auswertungen zur KTL-Statistik (2015), neue Checkliste für die Bewertung im Peer-Review-Verfahren (2016) und Aktualisierung der Reha-Therapiestandards (2016). Darüber hinaus werden mit der Rehabilitanden-Befragung Daten zur Rehabilitanden-Zufriedenheit und zum subjektiven Behandlungserfolg erhoben. Zusammen mit der Laufzeit der Entlassungsberichte und der Beschwerdequote steht somit ein sehr umfangreiches Bewertungssystem für die Qualität von Reha-Einrichtungen zur Verfügung. Die meisten Kennzahlen werden in ein 100-Punkte-System umgerechnet, so dass die Kennzahlen verschiedener Einrichtungen unmittelbar verglichen werden können. Zusätzlich wurde 2017 das Verfahren des „Strukturierten Qualitätsdialoges“ eingeführt, bei dem Einrichtungen zu Stellungnahmen aufgefordert werden, falls absolute oder relative Schwellenwerte unterschritten werden.

    Die Ergebnisse der externen Qualitätssicherung sollen zukünftig immer stärker in die Belegungssteuerung und die Vergütungsverhandlungen einbezogen werden. Dabei sind allerdings einige Probleme zu bedenken:

    • Die QS-Daten bilden nur einen Teil der tatsächlichen Qualität der Einrichtungen ab, bspw. werden Behandlungsergebnisse kaum berücksichtigt.
    • Für kleine Einrichtungen liegen wegen der geringen Fallzahlen tw. nur unvollständige QS-Daten vor.
    • Die Auswertungen zu den QS-Daten enthalten immer wieder Fehler, die bei der Übertragung oder Aggregation der Daten entstehen und nur mit großen Aufwand zu identifizieren sind.
    • Die QS-Daten sind nicht immer aktuell, weil bspw. nach einer Visitation Mängel, die zu einer geringen Punktzahl geführt haben, unmittelbar abgestellt werden, aber keine Neubewertung erfolgt.

    Die Suchtrehabilitation hat außerdem eine lange Tradition im Bereich Dokumentation und Statistik, weil der Nutzen der Auswertung von Behandlungsdaten früh erkannt wurde. 1974 erfolgte die erste gemeinsame, einrichtungsübergreifende Dokumentation in der ambulanten Suchthilfe mit dem System EBIS. Der Deutsche Kerndatensatz (KDS) für eine einheitliche Dokumentation in psychosozialen Beratungsstellen und stationären Einrichtungen der Suchthilfe wurde 1998 eingeführt. Damit wurde die Grundlage für eine bundesweit einheitliche Datenerfassung und statistische Analyse geschaffen (Deutsche Suchthilfestatistik www.suchthilfestatistik.de). Für den ab 2017 gültigen KDS 3.0 wurden vom Fachausschuss Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) umfangreiche Überarbeitungen des KDS vorgenommen. Der neue KDS berücksichtigt nun die nationalen, kommunalen, regionalen und einrichtungsseitigen Anforderungen umfassender und integriert auch die Spezifikationen, die sich aus den europäischen Vorgaben ergeben. Die Dokumentation ist insgesamt aufwändiger geworden, weil versucht wurde, die zunehmende Komplexität der Hilfen und Angebote in der Suchthilfe besser abzubilden. Das hat zunächst dazu geführt, dass die Vollständigkeit und Qualität der in den Einrichtungen erhobenen und in der Suchthilfestatistik zusammengeführten Daten leider nicht besser geworden ist.

    Während die Suchthilfestatistik vor allem die Basisdaten abbildet, d. h. es werden Informationen zu Beginn und am Ende der Behandlung abgefragt, führen viele Einrichtungen zusätzlich katamnestische Befragungen ein Jahr nach Behandlungsende durch. Damit liegen wichtige und umfangreiche Daten zur Ergebnisqualität und zur Wirksamkeit der Suchtbehandlung vor. Die ergänzenden Analysen und Statistiken zu diesen Katamnesedaten sind auf den Internetseiten der Suchtverbände (buss/Basis- und Katamnesedaten, FVS/Wirksamkeitsstudien, FVS/Basisdokumentation) zu finden. Ein zentrales Problem bei katamnestischen Befragungen ist der häufig geringe Rücklauf und die Einschätzung der Situation (bspw. Abstinenz, soziale und berufliche Integration) bei den sog. Non-Respondern. Dazu wurde in den vergangenen Jahren ein aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördertes Forschungsprojekt am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité durchgeführt, das wichtige Erkenntnisse und wertvolle Hinweise für die zukünftige Durchführung der Katamnese-Befragungen gebracht hat.

    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    In den letzten Jahren wurde u. a. vom Bundesrechnungshof und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Leistungsgeschehen im Bereich der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung analysiert und in diesem Zusammenhang eine fehlende Transparenz im „Reha-Markt“ kritisiert. Dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob die Beschaffung von Rehabilitationsleistungen durch die Deutsche Rentenversicherung nicht dem öffentlichen Vergaberecht unterliegt und möglicherweise im Rahmen von Ausschreibungen erfolgen muss. Auf der Grundlage der „verbindlichen Entscheidung zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ wurde daher 2017 ein zweistufiger Prozess mit folgenden Regelungen definiert:

    • Offenes Zulassungsverfahren – Jeder geeignete Anbieter erhält nach einer Qualitätsprüfung einen Belegungsvertrag und wird von einem federführenden Träger der DRV betreut. Mit dem Belegungsvertrag ist allerdings keine Belegungsgarantie verbunden.
    • Transparentes Belegungsverfahren – Die Einrichtungsauswahl für einen konkreten Fall nach Bewilligung eines Rehaantrages folgt einem definierten Algorithmus (u. a. medizinische Indikation, Komorbidität, Sonderanforderungen, Wunsch- und Wahlrecht, Setting) und wird nachvollziehbar dokumentiert. Stehen mehrere Einrichtungen zur Verfügung, erfolgt die Zuweisungsentscheidung nach einem Bewertungssystem mit den Kriterien Qualität, Preis, Wartezeit und Entfernung zum Wohnort.

    Aus Sicht der Leistungserbringer muss dieser Prozess allerdings um eine weitere, dritte Stufe ergänzt werden, die die Vereinbarung einer angemessenen und leistungsbezogenen Vergütung regelt und dabei auch die Kostenstrukturen im Einrichtungsvergleich berücksichtigt. Bislang wurden von den Leistungsträgern nur Rahmenbedingungen für eine jährliche relative Anpassung der Vergütungssätze (Orientierung an einem „Reha-Index“ und an einer „Marktpreisbandbreite“) festgelegt.

    Mit dem 2018 erschienenen Gutachten „Angemessene Vergütung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Zuständigkeitsbereich der Deutschen Rentenversicherung“ wurde ein Vorschlag zur Festlegung einer angemessenen Vergütung vorgelegt. Da aus Sicht der Gutachter wegen der Marktmacht der Rentenversicherungsträger das vom Gesetzgeber gewollte Wettbewerbskonzept versagt, ist die Vergütung der Rehabilitationsleistungen nach Maßgabe eines zweistufigen Verfahrens aus Kostenprüfung und Vergütungsvergleich zu ermitteln, welches das Bundessozialgericht für andere nicht wettbewerblich strukturierte Leistungserbringermärkte entwickelt hat.

    Das BMAS hat im Dezember 2019 den Referentenentwurf für ein Gesetz zur Regelung der Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Weiterentwicklung des Übergangsgeldanspruchs – Medizinisches Rehabilitationsleistungen-Beschaffungsgesetz (MedRehaBeschG) vorgelegt. In der Einführung zu dem Entwurf wird hervorgehoben, dass das bislang praktizierte offene Zulassungsverfahren die im Europäischen Vergaberecht eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten bereits genutzt hat, nun aber eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll. Diese bezieht sich insbesondere auf

    • die Zulassung und die konkrete Inanspruchnahme (Belegung) von Rehabilitationseinrichtungen nach objektiv festgelegten Anforderungen,
    • die Regelung des „Federführungsprinzips“ sowie
    • die Entwicklung eines verbindlichen, transparenten, nachvollziehbaren und diskriminierungsfreien Vergütungssystems zur Ermittlung, Bemessung und Gewichtung der an die Rehabilitationseinrichtungen zu zahlenden Vergütungen (bis Ende 2025).

    Am 26. August 2020 wurde der „Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht)“ innerhalb der Bundesregierung beschlossen, in dem auch die o. g. Regelungen zur Beschaffung von medizinischen Rehabilitationsleistungen enthalten sind. Darin ist festgelegt, dass die DRV Bund bis 30. Juni 2023 verbindliche Entscheidungen zu folgenden Regelungen vorlegen muss:

    • Anforderungen für die Zulassung von Reha-Einrichtungen
    • Ausgestaltung des Vergütungssystems
    • Kriterien für die Inanspruchnahme von Reha-Einrichtungen
    • Daten der externen QS und deren Veröffentlichung

    Die Entwicklung des Vergütungssystems soll zusätzlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Dabei sind folgende Kriterien zu beachten, wobei die Bewertungsrelation gegenüber dem Referentenentwurf neu hinzugekommen ist:

    • die Indikation,
    • die Form der Leistungserbringung,
    • spezifische konzeptuelle Aspekte und besondere medizinische Bedarfe,
    • ein geeignetes Konzept der Bewertungsrelationen zur Gewichtung der Rehabilitationsleistungen und
    • eine geeignete Datengrundlage für die Kalkulation der Bewertungsrelationen.

    Es wird außerdem festgelegt, dass bei der Vereinbarung der Vergütung zwischen dem Federführer und der Reha-Einrichtung folgende Aspekte zu berücksichtigen sind (neu ist in dem Regierungsentwurf der regionale Faktor):

    • leistungsspezifische Besonderheiten, Innovationen, neue Konzepte, Methoden,
    • der regionale Faktor und
    • tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen.

    Bei den Verfahren für die Zulassung und die Belegung sind keine wesentlichen Änderungen zum bisherigen Vorgehen der DRV erkennbar. Von besonderem Interesse für die Leistungserbringer wird allerdings die Ausgestaltung des Vergütungssystems sein, denn neben der Belegung ist die Vergütung der zweite wesentliche Faktor für die Wirtschaftlichkeit einer Reha-Einrichtung.

    Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind für die Träger und Einrichtungen in der Suchtrehabilitation in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Auf der einen Seite werden von den Leistungsträgern hohe Qualitätsanforderungen in den Bereichen Struktur, Personal und Konzept formuliert, deren Erfüllung teilweise unter Androhung von Sanktionen eingefordert wird. Auf der anderen Seite existieren durch die „Macht-Asymmetrie“ im Reha-Markt nur begrenzte Möglichkeiten zur Verhandlung von kostendeckenden Vergütungen. Damit bleibt den Betreibern von Einrichtung nur ein geringer ökonomischer Handlungsspielraum.

    Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Suchtrehabilitation (traditionell) viele kleine Einrichtungen gibt, mit einer deutlich geringeren Platzzahl als üblicherweise in der somatischen oder psychosomatischen Rehabilitation. Wenn man als „klein“ eine Einrichtung mit bis zu 50 Betten bzw. Plätzen definiert, dann macht das bei den Fachkliniken ca. 100 von 180 Einrichtungen (60 Prozent) und ca. 4.000 von 13.000 Plätzen (30 Prozent) aus. Tagesreha- und Adaptionseinrichtungen sind mit durchschnittlich zwölf Plätzen noch kleinere Organisationseinheiten. Diese Einrichtungen genießen eine hohe Wertschätzung bei Leistungsträgern, Zuweisern und Rehabilitanden, weil sie ein „familiäres“ Therapiesetting bieten, bei dem viele positive Effekte einer „therapeutischen Gemeinschaft“ ihre Wirkung entfalten können. Sie sind häufig auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet und können ein deutliches konzeptionelles Profil zeigen. Und für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Arbeit in einem übersichtlichen Team sehr attraktiv. Allerdings gibt es auch einige erhebliche Nachteile, die letztlich auch zu wirtschaftlichen Problemen führen und zu der Frage, ob diese Einrichtungen noch eine Zukunft haben:

    • hoher Anteil an Fixkosten (bspw. für Nachtdienste oder Qualitätsmanagement), die sich in größeren Einrichtungen besser verteilen lassen,
    • minimale und deshalb nicht attraktive und kaum zu besetzende Stellenanteile bei einigen sehr spezialisierten Berufsgruppen,
    • geringe personelle Redundanz und somit Vertretungsprobleme insbesondere bei längeren ungeplanten Abwesenheiten,
    • hohe Anfälligkeit für Belegungsschwankungen, weil ein einzelnes Aufnahme- oder Entlassungsereignis relativ gesehen stärker ins Gewicht fällt.

    In den vergangenen Jahren konnte neben der Schließung von Einrichtungen vor allem auch vermehrt die Zusammenlegung von Einrichtungen, die Übernahmen von Einrichtungen durch größere Träger oder auch die Fusion von Trägern beobachtet werden. Wichtig ist dabei zum einen, dass es sich bei den Schließungen nicht um eine „Marktbereinigung“ handelt, denn die Nachfrage folgt bei Abhängigkeitserkrankungen nicht den üblichen Marktgesetzen. Es sind bereits dort regionale Versorgungslücken entstanden, wo ambulante und stationäre Angebote unabhängig vom Bedarf bzw. der Nachfrage eingestellt werden mussten. Zum anderen führen Fusionen nicht automatisch zu einer besseren Wirtschaftlichkeit von Trägern und Einrichtungen, Größe allein ist kein Erfolgsfaktor. Das Profil einer Einrichtung, die speziellen therapeutischen Angebote und eine klare Definition der Zielgruppen sind wichtige Faktoren für die Zusammenarbeit mit Zuweisern. Erfolgreich sind in der Regel die Träger, die eine Diversifizierung der Angebote betreiben, die verschiedene Leistungsbereiche integrieren und die in der Lage sind, selbst oder in Kooperation mit anderen Träger funktionierende Behandlungsketten zu etablieren.

    Wie könnte es weitergehen?

    Die vorstehende Beschreibung von aktuellen Trends und Themen, die die Arbeit in der Suchtrehabilitation aktuell und zukünftig beeinflussen, ist lang und komplex, aber vermutlich nicht umfassend. Für die Führungskräfte, die in den Trägern und Einrichtungen Verantwortung für viele Menschen und Arbeitsplätze tragen, ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

    Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass die Suchthilfe im Allgemeinen und die Suchtreha im Besonderen einen traditionell hohen Organisationsgrad haben, d. h., es existieren zahlreiche Kooperationen, Netzwerke, Verbände und Fachgesellschaften. Dadurch wird eine besondere Kooperationskultur geprägt, die ein altes Prinzip der Suchtselbsthilfe aufgreift und auf die Ebene von Einrichtungen überträgt: Im kollegialen Austausch lassen sich viele Probleme deutlich besser lösen, und durch ein gemeinsames Auftreten lässt sich die Vertretung der eigenen Interessen „schlagkräftiger“ organisieren. Daher kann es hilfreich sein, bei der Bearbeitung der angesprochenen Zukunftsthemen und Herausforderungen eine individuelle Ebene (Einrichtung, Träger) und eine gemeinschaftliche Ebene (Netzwerke, Verbände) zu unterscheiden und die anstehenden Aufgaben entsprechend zu verteilen (vgl. Tabelle 2).

    Tab. 2: Individuelle und gemeinschaftliche Handlungsebenen in der Suchtreha

    Natürlich muss jede verantwortliche Führungskraft die eigenen „Hausaufgaben“ machen. Aber es ist eine gute Tradition in der Suchthilfe, sich Rat von anderen „Peers“ zu holen, und manche Probleme werden allein schon durch die Erkenntnis kleiner, dass andere auch keine bessere Lösung haben.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil II

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil II

    Prof. Dr. Andreas Koch

    In Teil I des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ vom 26. August 2020 wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang sowie Fachkräftemangel behandelt. Im nun folgenden Teil II geht es um die Schwerpunkte Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte.

    c) Digitalisierung

    Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass wir uns in einer Informationsgesellschaft befinden, in einer vernetzten Welt, die nahezu grenzenlose Transparenz und Informationsgeschwindigkeit verspricht, mit allen Chancen und Risiken. Seit einigen Jahren kommt daher kaum ein Fachbeitrag, der sich mit Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft beschäftigt, ohne das Stichwort Digitalisierung aus. Es wird immer wieder gefordert, die digitalen Möglichkeiten vor, während und nach der Therapie stärker zu nutzen sowie intensiver auf die veränderten Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzugehen (vgl. Schmidt-Rosengarten 2018: Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?). In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Initiative der Drogenbeauftragten der Länder (AOLG AG Sucht) hinzuweisen. Im Januar 2020 hat sich in Essen eine Expertengruppe aus verschiedenen Bereichen der Suchthilfe zu einem Fachgespräch getroffen. Im Mittelpunkt der Beratungen standen die Bedingungen, die für eine gelingende Bewältigung des digitalen Wandels benötigt werden, und die Frage, welche grundlegenden Aspekte dabei zu beachten sind. Die dabei erarbeiteten „Essener Leitgedanken“ fassen thesenartig zusammen, wie die Suchthilfe den digitalen Wandel für die Weiterentwicklung der Hilfeangebote nutzen kann.

    Bei der großen Vielfalt von Themen und Optionen ist eine Unterscheidung der organisatorischen und der therapeutischen Perspektive hilfreich, um die relevanten Handlungsfelder im Bereich der weiteren Digitalisierung der Suchthilfe zu identifizieren.

    Organisatorische Perspektive

    Aus der Erkenntnis, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, dass die Einrichtungen und Träger ihre Öffentlichkeitsarbeit entsprechend anpassen müssen, um die Fachöffentlichkeit (Leistungsträger, Zuweiser, Kooperationspartner) und die „Kunden“ (suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen) zu erreichen. Dabei haben Printmedien (Flyer, Kurzkonzepte etc.) weiterhin ihre Bedeutung, aber die Präsenz in Onlinemedien wird immer wichtiger. Eine technisch schlecht gemachte Homepage ist eine katastrophale Visitenkarte für eine Einrichtung, aber natürlich müssen die präsentierten Informationen nicht nur optisch ansprechend, sondern auch fachlich fundiert und aktuell sein. Zudem müssen die veränderten „Lesegewohnheiten“ berücksichtigt werden: Die gute Visualisierung von Informationen und die passende sprachliche Gestaltung hat bei Printmedien eine ebenso hohe Bedeutung wie die Nutzung von „bewegten Bildern“ und Interaktionsmöglichkeiten bei Onlinemedien.

    Kontrovers diskutiert wird die Präsenz von Einrichtungen in digitalen Netzwerken. Sie wird einerseits immer wieder gefordert, weil dort möglicherweise maßgebliche Meinungs- und Imagebildung betrieben wird. Andererseits ergibt nur eine kontinuierliche Aktivität in diesen Netzwerken Sinn, und diese erfordert einen enormen personellen Aufwand. Immer größere Bedeutung gewinnen auch Bewertungs- und Informationsportale, in denen jeder frei und mehr oder weniger qualifiziert seine Einschätzung abgeben kann. Auch die Beobachtung dieser Portale ist aufwändig. Eine interessante Option ist es, durch „Public Reporting“ von Qualitätsdaten auf eigenen oder offiziell dafür eingerichteten Webseiten selbst für Transparenz und idealerweise ein positives Image zu sorgen.

    Die Digitalisierung hat natürlich auch längst Einzug in den Arbeitsalltag der Suchtreha-Einrichtungen gehalten. Die internen Arbeitsabläufe werden verstärkt von den vorhandenen Dokumentationssystemen bestimmt, und auch in der externen Kooperation findet eine zunehmende Automatisierung statt, bspw. durch die digitale Übermittlung von Laborbefunden oder den elektronischen Datenaustausch mit den Leistungsträgern. Diese Entwicklung ist ohne Frage sinnvoll und führt nach der häufig sehr anstrengenden Einführungsphase für eine neue Software zu vielen Erleichterungen in der täglichen Arbeit. Aber es sind einige Risiken zu bedenken: Zum einen ist es kaum noch leistbar, alle Anforderungen des (sicherlich notwendigen) Datenschutzes zu erfüllen, ohne dabei die Arbeitsabläufe immer komplizierter zu machen. Zum anderen verändert sich auch die Kommunikationskultur in den Einrichtungen. Wo vorher eine ärztliche Verordnung persönlich einer Pflegekraft mitgeteilt wurde, erfolgt nun lediglich ein kurzer Eintrag in die digitale Patientenakte. Wo vorher in der Fallkonferenz der therapeutische Prozess eines Patienten ausführlich diskutiert wurde, werden nun in der Teamsitzung die erreichten Therapieziele unmittelbar aus dem  Dokumentationssystem heraus mit dem Beamer an die Wand projiziert.  Auch wenn diese Beispiele etwas plakativ formuliert sind, so bleibt doch festzuhalten, dass diese Veränderung der Kommunikationskultur aktiv gestaltet werden muss, um noch ausreichend Raum für den notwendigen persönlichen Austausch zu geben.

    Therapeutische Perspektive

    Insbesondere bei den tendenziell jüngeren Patientinnen und Patienten in der Drogentherapie hat sich das Sozial- und Kommunikationsverhalten in den letzten Jahren deutlich verändert. Die Beschreibung einer erfahrenen therapeutischen Leiterin fasst die Problematik etwas vereinfachend, aber sicherlich sehr treffend zusammen: „Früher hat man sich zu den Patienten in die Raucherecke gestellt und wusste sofort, wie die Stimmung in der Einrichtung ist. Heute sitzen alle in ihren Zimmern und kommunizieren mit Mitpatienten und Externen über soziale Netzwerke. Wir im Team bekommen Schwierigkeiten und Krisen gar nicht oder zu spät mit!“ Diese Entwicklung stellt die therapeutischen Teams vor allen in den stationären Einrichtungen vor große Herausforderungen. Sie müssen zugleich die (sichtbare) soziale und die (verborgene) digitale Erlebenswelt der Patientinnen und Patienten im Blick behalten. Daher werden auch die Hausregeln zur Mediennutzung immer wieder diskutiert und angepasst. Generelle oder zeitweise Verbote von Geräten sind dann schwierig, wenn sie nicht bzw. nicht mit vertretbarem Aufwand kontrolliert werden können. Sinnvoll und notwendig ist vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Patientinnen und Patienten in den Bereichen Mediennutzung und digitale Kommunikation. Diese Auseinandersetzung bietet wiederum häufig interessante therapeutische Ansatzpunkte.

    Ein weiterer bedenkenswerter Aspekt bezieht sich auf die berufliche Orientierung, die im Rahmen der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung eine große Rolle spielt. Die entsprechenden Angebote, die die Einrichtungen in den Bereichen Arbeits- und Ergotherapie vorhalten, orientieren sich häufig noch am „klassischen“ Berufsbild Handwerk (u. a. Schreinerei, Metallwerkstatt, Garten und Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Küche) sowie an einfachen kaufmännischen und administrativen Tätigkeiten (u. a. Patientenbüro oder Kiosk). Diese Bereiche haben bei entsprechenden beruflichen Erfahrungen und Zielsetzungen der Rehabilitanden sowie für die arbeitsbezogene Diagnostik, die Entwicklung von grundlegenden Kompetenzen und die Erprobung der allgemeinen Belastungsfähigkeit weiterhin große Bedeutung. Gleichwohl muss in das konzeptionelle Leistungsspektrum aber auch die immer wichtiger werdende Nutzung digitaler Medien in vielen Berufen sowie die Entwicklung neuer Berufsbilder integriert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die regionale Vernetzung mit Betrieben, die entsprechende Praktikumsplätze bereitstellen können. Ein wichtiges Element ist auch das Bewerbungstraining, das in nahezu allen Einrichtungen mit Kompetenzvermittlung in den Bereichen Onlinerecherche und Erstellung digitaler Bewerbungsmappen etabliert ist. Allerdings müssen den Einrichtungen auch die notwendigen (finanziellen) Ressourcen zur Verfügung stehen, um die konzeptionell entwickelte „Arbeitstherapie 4.0“ realisieren zu können.

    Unter dem Begriff „E-Mental-Health“ wird derzeit intensiv diskutiert, welche Rolle die Digitalisierung bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielen kann und soll. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat zu diesem Thema eine Task Force eingesetzt und beteiligt sich an entsprechenden Forschungsvorhaben. Für verschiedene Krankheitsbilder liegen schon erste Erfahrungen aus Pilotprojekten vor. Die Ergebnisse zeigen, dass digitale Medien und Onlineangebote eine wertvolle Unterstützung bei der Behandlung darstellen, aber offensichtlich die etablierten und im direkten persönlichen Kontakt eingesetzten psychotherapeutischen Methoden nicht ersetzen können. Insofern ist diese Entwicklung nicht bedrohlich für die vorhandenen Therapiekonzepte in der Suchtrehabilitation. Aber bspw. die Entwicklung von Apps für die Vorbereitung der Therapie (Information und Bindung), die Begleitung bei der Behandlung (Organisation in der Einrichtung) und die Sicherung des Behandlungserfolges (Online-Nachsorge) ist sicherlich eine sinnvolle Ergänzung des Leistungsspektrums der Einrichtungen.

    d) Therapie und Konzepte

    Für die Träger und Einrichtungen in der Suchthilfe war es schon immer notwendig, gesellschaftliche und politische Entwicklungen sowie Veränderungen bei Zielgruppen und ihren Konsummustern genau zu beobachten, um mit den eigenen Hilfeangeboten auf eine veränderte Bedarfslage reagieren zu können. In der Suchtreha bedeutet das eine regelmäßige Aktualisierung des Therapiekonzeptes, das nach bestimmten Vorgaben der Leistungsträger zu strukturieren und mit dem „Federführer“ abzustimmen ist. Jeder Reha-Einrichtung wird bei der Deutschen Rentenversicherung ein federführender Leistungsträger (Bundes- oder Regionalträger) als Ansprechpartner für strukturelle, konzeptionelle, personelle und finanzielle Fragen zugeordnet.

    So ist es auch weiterhin therapeutisch sinnvoll, spezielle Behandlungskonzepte für besondere Zielgruppen anzubieten. Beispiele für eine solche Ausrichtung sind die folgenden:

    • In den letzten Jahren hat die Zahl der stationären Einrichtungen, die Substitution im Rahmen der Rehabilitation durchführen, zugenommen (ca. 30). Es handelt sich dabei um ein wichtiges ergänzendes Angebot für Opiatabhängige, bei dem die lange umstrittene Frage der Abdosierung während der Reha inzwischen deutlich individueller geregelt werden kann. Die Deutsche Rentenversicherung hat hier die Rahmenbedingungen flexibilisiert und ist derzeit bemüht, mehr Daten über dieses Behandlungsangebot zu sammeln. Die Suchtverbände haben 2017 eine bundesweite Übersicht zu diesem Angebot erstellt.
    • Die Zahl der stationären Einrichtungen, die Therapie ausschließlich für Frauen anbieten, ist deutlich rückläufig (ca. 10), vor allem, weil diese eher kleinen Einrichtungen kaum wirtschaftlich zu führen sind. Diese Entwicklung ist bedauerlich, weil es sich um eine besondere Möglichkeit der geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Therapie handelt.
    • In vielen stationären Einrichtungen ist die therapiebegleitende Aufnahme von Kindern möglich (ca. 40). Die entsprechenden Betreuungskonzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und werden in unterschiedlicher Höhe über einen Haushaltshilfesatz finanziert. Eine Kombination von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe mit der Suchtrehabilitation der Eltern gelingt nur in seltenen Fällen (vgl. Andreas Koch & Iris Otto 2018: „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation). 2019 wurde von den Suchtverbänden ein Rahmenkonzept für Kinder suchtkranker Eltern in der stationären Entwöhnungsbehandlung veröffentlicht.

    Vor dem Hintergrund der Einführung des MBOR-Konzeptes in der somatischen und psychosomatischen Reha der Deutschen Rentenversicherung (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) wurden auch ergänzende Empfehlungen für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. 2014 wurden die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen) veröffentlicht, die von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitet wurden. In dieser Arbeitsgruppe waren Expertinnen und Experten aus Einrichtungen und Verbänden und der Leistungsträger vertreten. Auch wenn die berufliche Orientierung in der Suchttherapie mit Blick auf die Gründungkonzepte der „Trinkerheilstätten“ Ende des 19. Jahrhunderts schon immer einen hohen Stellenwert hatte, haben die BORA-Empfehlungen eine erhebliche Wirkung auf die Entwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen gehabt: Berufs- und arbeitsbezogene Aspekte sind neben den psycho- und suchttherapeutischen Interventionen mehr in den Fokus gerückt. Die Bedeutung der entsprechenden therapeutischen Angebote im Rahmen des Gesamtkonzeptes ist ebenso gestiegen wie der Stellenwert der beteiligten Berufsgruppen (insbesondere Arbeits- und Ergotherapeuten) in den Teams. Außerdem ist zu erwähnen, dass die Deutsche Rentenversicherung in intensiven Verhandlungen mit der Bundesagentur für Arbeit sowie dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städtetag Empfehlungen zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen erarbeitet hat. Damit soll sowohl der Zugang von Arbeitssuchenden aus der Beratung in die Suchtreha wie auch die Weitervermittlung nach der Reha in die Beratung und Arbeitsförderung erleichtert werden.

    Eine wesentliche Entwicklung in der Sucht- und Drogenszene war in den letzten Jahren der vermehrte Konsum von synthetischen Drogen, die aufgrund der immer wieder veränderten chemischen Struktur bei Suchtmittelkontrollen kaum nachweisbar sind. Das wirft zum einen die Frage nach Nutzen und Bedeutung von bislang üblichen regelmäßigen medizinischen Kontrollen auf, und zum anderen, ob man sich auf das „Wettrüsten“ der ständigen Anpassung von Testungen an Variationen der synthetischen Drogen einlassen will. Einige Einrichtungen sind inzwischen dazu übergegangen, eher auf Verhaltensbeobachtungen zu vertrauen und nur bei Rückfallverdacht zusätzliche (aufwändigere) Testungen vorzunehmen. Letztlich können diese Fragen nicht allgemeingültig beantwortet werden, sondern jede Einrichtung muss sich, passend zu ihrer Zielgruppe und ihrer konzeptionellen Ausrichtung, für einen Weg entscheiden, der dann aber auch konsequent von allen Teammitgliedern umgesetzt werden sollte. Ein weiterer Trend ist die Auflösung bekannter Konsummuster, die sich auf nur eine Substanz beziehen (Heroin, Kokain, Cannabis, Alkohol etc.). Das zunehmend komplexere Konsumverhalten wirft die Frage auf, ob eine konzeptionell getrennte Behandlung von Alkoholabhängigkeit und Drogenabhängigkeit noch sinnvoll ist. Möglicherweise sind andere Unterscheidungskriterien zukünftig wichtiger, bspw. die beruflichen und sozialen Teilhabepotentiale der Rehabilitanden sowie die daraus resultierenden Rehaziele und Therapieplanungen.

    Seit über zehn Jahren wird auch intensiv über eine „neue“ Form der nicht-stoffgebundenen Abhängigkeit (Verhaltenssucht) diskutiert: Die Begriffe Medienabhängigkeit, Computerspielabhängigkeit, Pathologischer Internetgebrauch, Onlineproblematik oder Internetsucht sind Versuche, dieses Phänomen zu fassen, das mit der verstärkten Nutzung digitaler Medien im Alltag aufgetaucht ist. Inzwischen hat sich die teilweise sehr heftige Debatte um die Dimension dieser Problematik deutlich beruhigt und zwei wesentliche Ergebnisse sind festzuhalten:

    • Es handelt sich um ein klinisch relevantes und eigenständig zu diagnostizierendes Problem, über das immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und das daher auch durch die American Psychiatric Association 2013 im DSM-5 als Forschungsdiagnose (Internet Gaming Disorder) aufgenommen wurde. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt dieser Entwicklung mit der Aufnahme der Diagnose Gaming Disorder in die ICD-11.
    • Es wurden in den letzten Jahren offensichtlich ausreichende Hilfeangebote entwickelt, um den entsprechenden Beratungs- und Behandlungsbedarf zu decken. In der Suchtreha haben sich vor allem die Einrichtungen auf die Behandlung spezialisiert, die bereits Erfahrungen mit anderen Verhaltenssüchten (insbesondere Pathologisches Glücksspiel) hatten.

    Wie auch bei anderen Indikationen, nimmt die Bedeutung von wissenschaftlich fundierten Leitlinien bei der Behandlung von Suchterkrankungen zu. Ein wesentlicher Meilenstein war die Veröffentlichung der S3-Leitlinien Tabak und Alkohol im Jahr 2015. Die S3-Leitlinien für Alkohol- und Tabakabhängigkeit entstanden in einem vierjährigen Entwicklungsprozess nach den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Die Federführung lag bei der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Mehr als 50 Fachgesellschaften, Berufsverbände, Gesundheitsorganisationen, Selbsthilfe- und Angehörigenverbände mit über 60 ausgewiesenen Suchtexpertinnen und -experten waren in die Entwicklung eingebunden. 2016 wurde die unter Federführung der DGPPN entwickelte S3-Leitlinie für Methamphetamin-bezogene Störungen veröffentlicht. Die Arbeiten an einer S3-Leitlinie für schädlichen Medikamentenkonsum und Medikamentenabhängigkeit wurden 2017 ebenfalls unter der Federführung der DGPPN begonnen. Seit 2018 arbeitet eine Expertengruppe auf Initiative der DG-Sucht unter Federführung der Suchtforschungsgruppe der Universität Lübeck an der Entwicklung einer S1-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung internetbezogener Störungen.

    Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO soll als konzeptuelle Grundlage die Teilhabeorientierung in der Behandlung fördern und eine gemeinsame Sprache für verschiedene Gesundheitsberufe bereitstellen. Um die praktische Handhabung der ICF zu vereinfachen, empfiehlt die WHO die Entwicklung so genannter Core Sets: Ein Core Set enthält nur diejenigen Kategorien, die zur Beschreibung eines bestimmten Krankheitsbildes relevant sind. Da die für den Bereich Abhängigkeitserkrankungen wichtigen Kategorien nicht nur von der Indikation abhängen, sondern auch vom Behandlungssetting, wurde das Core Set modular aufgebaut mit den Versorgungsbereichen Beratung, Vorsorge, Entzug, Medizinische Reha und Soziale Reha (MCSS = Modulares ICF Core Set Sucht). Eine Forschungsgruppe aus dem Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf legte dazu 2016 einen ersten Vorschlag vor, der im Rahmen eines gemeinsamen Projektes mit Expertinnen und Experten aus der Suchthilfe entwickelt worden war. Ab 2017 lief ein Folgeprojekt, in dessen Rahmen das MCSS im Hinblick auf seine Praxisrelevanz und Validität empirisch überprüft wurde. Dabei wurde es querschnittlich in der Routineversorgung eingesetzt. Das mittlerweile finalisierte MCSS umfasst das Basismodul (25 Kategorien), das für alle Behandlungsbereiche einsetzbar ist, sowie die bereichsspezifischen Module Beratung (8 Kategorien), Vorsorge (7 Kategorien), Qualifizierter Entzug (6 Kategorien), Medizinische Reha (32 Kategorien) und Soziale Reha (10 Kategorien), die zusätzlich angewendet werden können. Es ist davon auszugehen, dass das nun vorliegende konsentierte MCSS zu einer stärkeren expliziten Berücksichtigung der ICF in der Suchtrehabilitation führen wird.

    Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Wo stehen wir?

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Ursprung der Suchtrehabilitation geht zurück auf die Trinkerheilstätten, die Ende des 19. Jahrhunderts von Diakonie und Caritas aufgebaut wurden. Nach den Urteilen des Bundessozialgerichtes von 1968 (Anerkennung von Sucht als Krankheit) und 1978 (Kostenverteilung bei Suchtbehandlung) wurde die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker konzipiert und zu einer qualitativ hochwertigen Leistung mit zahlreichen Behandlungsoptionen weiterentwickelt. Die medizinische Rehabilitation im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen ist heute ein sehr spezifisch ausgestaltetes Segment im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen, bei dem vor allem die Förderung der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt steht.

    Sie ist Teil eines komplexen Systems aus suchtspezifischen Angeboten in den Bereichen Beratung, Akutbehandlung, Selbsthilfe, Eingliederungshilfe und Substitution sowie vielen anderen Hilfeangeboten (bspw. in Justizvollzugsanstalten oder in der niedrigschwelligen Drogenhilfe). Eine Reha-Maßnahme (Entwöhnungsbehandlung) wird dabei i.d.R. im Rahmen eines Klärungs- und Motivationsprozesses in einer Suchtberatungsstelle vorbereitet und schließt sich idealerweise nahtlos an eine entsprechende Akutbehandlung (Entgiftung) an. Viele suchtkranke Menschen werden aber auch in anderen, nicht suchtspezifischen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens betreut und behandelt, bspw. in Arztpraxen oder Allgemeinkrankenhäusern. Eine umfassende Analyse der Hilfen und Angebote für Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erstellt.

    Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation ist traditionell geprägt von vielen kleinen Einrichtungen (bis zu 50 Behandlungsplätze). Die Einrichtungen gehören überwiegend zu den freien Wohlfahrtsverbänden oder zu privaten Trägern, mit jeweils etwa der Hälfte der bundesweit verfügbaren Behandlungsplätze. Darüber hinaus gibt es auch einige wenige Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, bspw. Fachkliniken oder Fachabteilungen der Psychiatrien in Baden-Württemberg oder der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen. Vor dem Hintergrund der über 100-jährigen Geschichte der Suchthilfe hat sich ein hoher Organisationsgrad mit mehreren Fachverbänden und Fachgesellschaften entwickelt. Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation lässt sich wie folgt im Überblick darstellen:

    • 180 stationäre Einrichtungen (Fachkliniken, Therapieeinrichtungen oder Abteilungen/Stationen von Krankenhäusern) mit 13.000 Plätzen und 50.000 Behandlungen pro Jahr
    • 100 Adaptionseinrichtungen (intern oder extern) mit 1.300 Plätzen und 4.500 Behandlungen pro Jahr
    • 50 ganztägig-ambulante Einrichtungen (Tagesreha oder teilstationäre Reha) mit 600 Plätzen und 2.500 Behandlungen pro Jahr
    • 600 anerkannte ambulante Einrichtungen (vor allem Beratungsstellen und Fachambulanzen) mit 18.000 Behandlungen (Reha und Nachsorge) pro Jahr (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019)

    Die Hauptdiagnose Alkoholabhängigkeit macht bei rund 65 Prozent der Behandlungsfälle den größten Anteil aus, 30 Prozent der Hauptdiagnosen betrifft die Abhängigkeit von illegalen Drogen, fünf Prozent der Fälle beziehen sich auf andere Indikationen (Pathologisches Spielen, Medikamentenabhängigkeit, Essstörungen, Internetsucht). Das Durchschnittsalter der behandelten Menschen im Bereich Alkohol liegt bei 44 Jahren und im Bereich Drogen bei 30 Jahren. 20 bis 25 Prozent der Behandelten sind Frauen. Aufgrund der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und der geltenden Anspruchsvoraussetzungen ist die Deutsche Rentenversicherung mit ca. 85 Prozent der überwiegende Leistungsträger in der Suchtrehabilitation, die gesetzliche Krankenversicherung finanziert etwa zwölf Prozent der Behandlungen. In einigen Fällen wird die Behandlung auch von Sozialhilfeträgern, Privaten Krankenversicherungen oder Selbstzahlern finanziert.

    In den Einrichtungen wird von interdisziplinären Teams (vertreten sind u. a. Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit, Pflege, Ergotherapie) ein breites Leistungsspektrum vorgehalten: medizinische Versorgung, Psycho- und Suchttherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sport und Bewegung, Kreativtherapie und Freizeitgestaltung, Sozialdienst sowie viele weitere Angebote, die in einem mit den Leistungsträgern abgestimmten Therapiekonzept beschrieben sind. Aufgrund entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen und der eigenen fachlichen Ansprüche von Leistungsträgern und Leistungserbringern wurden für die Suchtrehabilitation hohe Standards in den Bereichen Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung erarbeitet, die weit über die Anforderungen in anderen Bereichen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens hinausgehen.

    Was beschäftigt uns?

    In den folgenden Abschnitten werden einige wichtige aktuelle Trends und Themen dargestellt, die die fachliche, organisatorische und sozialrechtliche Entwicklung in der Suchtrehabilitation derzeit bestimmen und vermutlich auch in der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden. Die Auswahl und Schwerpunktsetzung entspricht der subjektiven Erfahrung des Autors und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

    a) Nachfrage und Zugang
    b) Fachkräftemangel
    c) Digitalisierung
    d) Therapie und Konzepte
    e) Modularisierung
    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    a) Nachfrage und Zugang

    Bis 2013 war eine stetig steigende Nachfrage in der Suchtrehabilitation zu beobachten, was zum Teil demografische Ursachen hatte: Die „Babyboomer“ der starken Geburtsjahrgänge bis Anfang der 1970er Jahre hatten einen zahlenmäßig hohen Behandlungsbedarf (Altersdurchschnitt Alkohol ca. 44 Jahre). Das gesetzlich gedeckelte Budget der Deutschen Rentenversicherung für die gesamte medizinischen Reha (nicht nur für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen) wurde fast komplett ausgeschöpft, und es drohte eine finanziell begründete Limitierung von Reha-Maßnahmen. In der Suchtrehabilitation war aber ab 2014 ein deutlicher Einbruch bei den Anträgen zu beobachten. Trotz umfassender gemeinsamer Analysen von Deutscher Rentenversicherung und Suchtverbänden konnten keine eindeutigen Ursachen identifiziert werden. Die Zugangswege in die Suchtreha verteilen sich grundsätzlich zu 60 Prozent auf die Vermittlung aus Beratungsstellen und zu 20 Prozent auf die (direkte) Verlegung aus psychiatrischen oder internistischen Entzugskliniken. Im Bereich illegale Drogen spielt auch der Zugang direkt aus Justizvollzugsanstalten mit rund zehn Prozent eine Rolle (vgl. Weissinger 2017: Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren). Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Gründe für den Antragsrückgang vorliegen:

    • schwierige Finanzierungssituation in den Suchtberatungsstellen, die vor allem auf die kommunale Grundfinanzierung angewiesen sind,
    • alternative (und vermeintlich „niedrigschwelligere“) Behandlungs- und Betreuungsangebote in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und der ambulanten Substitution für Opiatabhängige,
    • Probleme beim Übergang aus der Haft in die Suchtreha (insbesondere bei Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG „Therapie statt Strafe“).

    Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind einige Einrichtungen in den letzten Jahren geschlossen worden, in manchen Regionen gingen bis zu zehn Prozent der Behandlungskapazitäten verloren. Die Situation vieler Einrichtungen wird zudem durch zu niedrige Vergütungssätze erschwert, die kaum die laufenden Kosten decken und keine Investitionen ermöglichen (vgl. Koch & Wessel 2016: Ein Gespenst geht um in Deutschland …). Seit 2017 steigen die Antragszahlen in der Suchtreha wieder, insbesondere im Bereich illegale Drogen. Allerdings sind auch für diesen positiven Trend keine eindeutigen Ursachen auszumachen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die „Marktentwicklung“ in diesem Bereich kaum zu prognostizieren ist und damit die wirtschaftlichen Planungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern schwierig sind.

    Im Zusammenhang mit der Analyse des Antragsrückgangs und der Zugangswege in die Suchtrehabilitation sind einige spezifische Aspekte und Entwicklungen zu erwähnen, die Auswirkungen auf die „Schnittstellen“ zwischen den unterschiedlichen Hilfebereichen und Leistungssegmenten haben:

    • Auf der Grundlage gemeinsamer Beratungen von Leistungsträgern und Suchtverbänden wurde 2017 das Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug / Suchtrehabilitation verabschiedet. Die zwischen Deutscher Rentenversicherung, Gesetzlicher Krankenversicherung und Deutscher Krankenhausgesellschaft abgestimmten Handlungsempfehlungen sollen den Zugang nach qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker verbessern.
    • Im Auftrag der beiden Fachverbände Caritas Suchthilfe (CaSu) und Gesamtverband für Suchthilfe (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland) wurde im Oktober 2018 die von Prof. Dr. Rita Hansjürgens (Alice-Salomon-Hochschule Berlin) erarbeitete Expertise Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“ veröffentlicht. Sie umfasst eine differenzierte Situationsbeschreibung und formuliert Forderungen für die zukünftige Gestaltung dieses zentralen Bereiches im Suchthilfesystem. Vor dem Hintergrund der sich weiter verschlechternden Finanzierungssituation vieler Suchtberatungsstellen wurde 2019 der „Notruf Suchtberatung“ von zahlreichen Verbänden veröffentlicht, und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stellte entsprechende Forderungen zur Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Arbeit von Suchtberatungsstellen auf.
    • Seit 2013 läuft die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP-System). Es handelt sich um ein analog zu den DRG entwickeltes Entgeltsystem, das in den psychiatrischen Krankenhäusern seit 2018 verpflichtend umzusetzen ist. Die Einordnung in die für Suchtkranke vorgesehenen PEPP-Codierungen erfolgt nach dem ökonomischen Aufwand der Behandlung. Für die Qualität sorgt der verpflichtende Nachweis von Personal-Anhaltszahlen, der im Rahmen des ergänzenden Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) im Jahr 2016 festgelegt wurde. Es bleibt noch abzuwarten, welche Auswirkungen die Umsetzung auf die Behandlung von Suchtkranken in der Psychiatrie sowie das Zusammenspiel von Entgiftung und Entwöhnung haben wird.
    • Zwei veränderte Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) haben möglicherweise positiven Einfluss auf die Behandlung von Suchtkranken in der ambulanten Psychotherapie bzw. die Zusammenarbeit dieses Bereiches mit anderen Leistungsangeboten für Suchtkranke. Durch die Änderung der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2011 wird die ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen erleichtert, da Patientinnen und Patienten nicht mehr zwingend abstinent sein müssen, um eine Therapie zu beginnen. Mit der Änderung der Rehabilitations-Richtlinie im Jahr 2017 wurde das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) umgesetzt, so dass nun auch Psychotherapeuten zur Verordnung bestimmter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation befugt sind. Damit ist auch eine Weitervermittlung von suchtkranken Patientinnen und Patienten in die Suchtrehabilitation möglich.

    b) Fachkräftemangel

    Der Leiter einer Fachklinik machte im Pausengespräch während einer Verbandstagung folgende Bemerkung: „Wir werden demnächst irgendwo in Deutschland eine Klinikschließung erleben, nicht weil die Belegung oder die Finanzierung so schlecht ist, sondern weil nicht mehr genug qualifiziertes Personal zu finden ist!“ Damit wurde eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte  auf den Punkt gebracht. Wie in fast allen Branchen macht sich in Deutschland auch im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft der Fachkräftemangel immer deutlicher bemerkbar. Für den Bereich der Suchtrehabilitation betrifft das vor allem ärztliches und pflegerisches, mittlerweile aber auch sozialpädagogisches und psychologisches Personal.

    Die hohen quantitativen und qualitativen Anforderungen der Leistungsträger durch Sollstellenpläne und Formalqualifikationen verschärfen das Problem noch. Hier werden zukünftig neue Lösungen gefunden werden müssen, die einerseits die Qualität der Behandlung sicherstellen, andererseits aber auch der Arbeitsmarktlage Rechnung tragen. Im psychologischen Bereich wird bspw. ein von der Platzzahl abhängiger Anteil an Psychologischen Psychotherapeuten gefordert. Eine deutliche Erleichterung war hier die vor einigen Jahren eingeführte Regelung, dass bei noch nicht vorhandener Approbation auch die Zwischenprüfung oder absolvierte Hälfte der Weiterbildung bei dem entsprechenden Personal im Stellenplan anerkannt wird. Im Bereich Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit darf mittlerweile grundsätzlich nur noch Personal im Stellenplan gezählt werden, das die suchttherapeutische Weiterbildung vollständig abgeschlossen hat. In den von der Deutschen Rentenversicherung anerkannten Curricula der entsprechenden Institute gem. den neuen Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen von 2011 (vgl. DRV Bund 2013: Vereinbarungen im  Suchtbereich, S. 80) ist aber vorgesehen, dass diese Zusatzausbildung berufsbegleitend erfolgt. Es stellt sich also die Frage, wo das in Weiterbildung befindliche Personal beschäftigt werden soll? Es gibt nur geringe Stellenanteile  im Bereich „Sozialdienst“ und die Vergütungssätze in der Suchtrehabilitation lassen keinerlei Spielraum, diese Mitarbeitenden zusätzlich in den Einrichtungen zu beschäftigen.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Personalsituation ist die deutliche Verschiebung des Geschlechterverhältnisses. Sozial- und Gesundheitsberufe werden immer stärker von weiblichen Arbeitskräften dominiert, was grundsätzlich natürlich kein qualitatives oder quantitatives Problem darstellt. Allerdings wird von vielen Einrichtungsleitungen das Fehlen von „männlichen Identifikationsfiguren“ in den therapeutischen Teams beklagt, da rund drei Viertel der Patienten in der Suchtreha Männer sind. Und die praktische Erfahrung zeigt, dass die therapeutische Beziehung ein wesentlicher Wirkfaktor für eine gelingende Behandlung ist. Diese Beziehung lässt sich gleichgeschlechtlich anders gestalten, was bspw. auch für die Therapie in spezifischen Fraueneinrichtungen gilt.

    Es werden in den Einrichtungen aber nicht nur Fachkräfte dringend gesucht, sondern ebenso Führungskräfte, die bereit sind, Verantwortung für Menschen, Konzepte und Gebäude zu übernehmen. Auch wenn das nach „früher war alles besser“ klingt, so lässt sich doch in der Praxis des Personalmanagements beobachten, dass die Nachbesetzung von Leitungsfunktionen in den Einrichtungen schwieriger wird. Bislang konnten häufig Nachfolgeregelungen mit ambitionierten Mitarbeitenden gefunden werden, die zunächst einige Jahre in der  „zweiten Reihe“ Erfahrungen als Bereichsleitung oder stellvertretende Einrichtungsleitung gesammelt hatten. Zunehmend berichten aber Personalverantwortliche in den Trägerorganisationen, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Häufig fällt die Antwort von Nachwuchskräften, denen eine Führungsposition zugetraut und angeboten wird, so oder so ähnlich aus: „Den Stress und die Verantwortung tue ich mir für eine kleine Gehaltserhöhung lieber nicht an!“ Das mag zum einen ein Hinweis darauf sein, dass Führungspositionen in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen wegen der komplexen (fachlichen, personellen, organisatorischen, rechtlichen etc.) Anforderungen und der zunehmenden ökonomischen Zwänge weniger attraktiv sind als die möglicherweise eher sinnstiftende therapeutische Arbeit. Zum anderen könnte eine Ursache für dieses Phänomen in der veränderten Einschätzung der „Generation Y“ (Geburtsjahrgänge etwa 1985 bis 1995) im Hinblick auf eine akzeptable Arbeitsbelastung liegen. Wobei man sicherlich vorsichtig sein muss, denn diese Generationenmodelle sind stark verallgemeinert und können nicht jede individuelle berufliche Entscheidung erklären.

    Es stellt sich also die Frage, wie Unternehmen im Sozial- und Gesundheitsbereich auf diese existentielle Herausforderung reagieren sollen. Eine Trendwende am Arbeitsmarkt ist schon aus demografischen Gründen nicht zu erwarten, und die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften ist wegen der hohen sprachlichen Kompetenzanforderungen in der Psycho- und Suchttherapie eher im Einzelfall eine sinnvolle Lösung. Wenn die Einrichtungsträger in ausreichendem Umfang junge Fach- und Führungskräfte finden wollen, erfordert das neue Wege bei der Personalgewinnung, der Personalentwicklung und der Personalbindung. Dazu gehören u. a. folgende Aspekte:

    • Personalgewinnung – Vermittlung eines positiven Berufsbildes für die Suchthilfe in der Öffentlichkeit und bei potenziellen Bewerbern, bspw. durch regionale Vernetzung (Jobmessen) oder Ausbildungspartnerschaften (Bereitstellung von Praktikumsplätzen, Kooperation bei dualen Studiengängen, Förderung von Weiterbildungen).
    • Personalentwicklung – Unterstützung der Mitarbeitenden bei der professionellen Weiterentwicklung, wenn in kleinen Einrichtung kaum hierarchische Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sind, bspw. durch ergänzende therapeutische Weiterbildungen.
    • Personalbindung – Entwicklung einer Unternehmenskultur, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Arbeitgeber bietet sowie langfristig zufriedenes und (psychisch wie physisch) gesundes Arbeiten ermöglicht.

    Es ist im Zeitalter der extremen Vernetzung und Transparenz durch soziale Netzwerke nicht mehr ausreichend, sich als guter Arbeitgeber in Broschüren oder auf der Internetseite zu präsentieren. Wenn diese Darstellung von der Wahrnehmung der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag abweicht, dann steigt zum einen die Fluktuation, weil es viele offene Stellen bei anderen Unternehmen gibt, und zum anderen verbreitet sich das schlechte Image schnell unter potenziellen Bewerbern. Daher muss der Gestaltung einer positiven Unternehmenskultur verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtige Bereiche sind in diesem Zusammenhang:

    • offene und vertrauensvolle Kommunikation (bspw. fairer Umgang mit Fehlern)
    • ressourcenorientierter und unterstützender Führungsstil (insbesondere Wahrnehmung individueller Stärken und Schwächen, Wünsche und Ziele)
    • transparente Entscheidungsstrukturen und Arbeitsabläufe (zur Vermeidung von Unberechenbarkeit und Unsicherheit)
    • Beteiligung an Gestaltungs- und Abstimmungsprozessen (zur Entwicklung eines gemeinsamen Verantwortungsbewusstseins)
    • individuelle zeitliche und räumliche Arbeitsgestaltung (u. a. flexible Arbeitszeit und mobiles Arbeiten in Abhängigkeit von den gegebenen Anforderungen und Rahmenbedingungen)
    • Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Teamzusammenhalt (u. a. zur Herstellung von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit)

    Dadurch entstehen hohe Anforderungen an die Führungskräfte, und es wird zunehmend wichtiger, diesen auch die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, bspw. durch Fort- und Weiterbildungen, kollegiale Supervision oder externes Coaching.

    • Am 9. September 2020 erscheint Teil II mit den Themen: Digitalisierung, Therapie und Konzepte.
    • Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.
    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    „Was am Anfang verloren geht, kann man nicht mehr aufholen“

    Marcus Breuer

    Die Frage nach der so genannten Haltequote (d. h. nach dem Anteil derjenigen Rehabilitanden, die eine Rehabilitationsbehandlung planmäßig beenden) ist eine, wenn nicht sogar die zentrale Frage in der stationären Drogenrehabilitation. Erstaunlicherweise gibt es kaum empirische Forschung zu diesem Thema. Im Rahmen eines mehrmonatigen Projektes haben die Ordenswerke des Deutschen Ordens versucht, hierzu weitere Erkenntnisse zu sammeln. Der Autor dieses Artikels war von Januar bis April 2017 damit beauftragt, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

    Das Haltequotenprojekt sollte folgende Fragestellungen bearbeiten:

    1. Analyse der Haltequoten in den zehn Drogenfachkliniken (Reha) im Bereich Suchthilfe der Ordenswerke des Deutschen Ordens
    2. Identifikation möglicher Einflussfaktoren auf die jeweilige Haltequote
    3. Möglichst Generierung von Vorschlägen für Maßnahmen zur Verbesserung der Haltequote in ausgewählten Einrichtungen

    Folgende Umsetzungsschritte und Methoden wurden angewandt:

    1. Literaturrecherche
    2. Analyse ausgewählter Qualitätsindikatoren bzw. möglicher Einflussfaktoren auf die Haltequoten in den betrachteten Einrichtungen
    3. Erstellung eines strukturierten Interview-Leitfadens und Durchführung von Interviews mit den einzelnen Klinikleiter/innen sowie Stellvertreter/innen
    4. Vor-Ort-Besuch ausgewählter Einrichtungen
    5. Erstellung eines internen Abschlussberichtes

    Ergebnisse der Literaturrecherche

    Wie bereits erwähnt, existiert derzeit kaum Forschung zum Thema „Haltequoten in der Drogenrehabilitation“.  Die wenigen Studien, die vorliegen, wurden zunächst ausgewertet.

    Patientenmerkmale

    Wenn man sich mit den unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Haltequoten in der Suchttherapie befasst, stellt man zunächst fest, dass Patientenmerkmale einen wesentlichen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben (Abbildung 1).

    Abb. 1

    Der Einfluss der Patientenmerkmale ist als Ausdruck von Patientenselektion zu verstehen, das heißt:

    1. unterschiedliche Settings behandeln unterschiedliche Patientengruppen,
    2. innerhalb eines gegebenen Settings kann man diesen Faktor als Behandler nicht direkt beeinflussen bzw. nur durch eine zukünftig veränderte Selektion im jeweiligen Setting.

    Um die Haltequote durch therapeutisches Vorgehen zu beeinflussen und zu verbessern, interessieren daher andere Einflussfaktoren als die Patientenselektion.

    Patientenzufriedenheit

    Mit irregulären Beendigungen von Drogen-Rehabilitationsbehandlungen beschäftigt sich eine Studie des IFT München (Küfner et al., 1994). Die Autoren finden folgende Gründe für Abbruchgedanken bzw. für den Verbleib in der Einrichtung:

    Gründe für Abbruchgedanken:

    1. Unzufriedenheit mit der Einrichtung
    2. Verzweiflung und Unbehagen
    3. Probleme im Therapieprozess
    4. Mitklient/innen und deren Abbruch

    Gründe für den Verbleib:

    1. Hoffnung und Nachdenken
    2. Bindung an die Einrichtung
    3. Schutzfunktion der Therapie

    Diese Aspekte nannten drogenabhängige Klienten in stationärer Behandlung als Antworten auf die Fragen, welche Gründe sie einerseits zum Infragestellen der Fortsetzung der Behandlung und andererseits zum Verbleib in der Behandlung bewogen haben.

    Therapeutisch ist es also sinnvoll, die Gründe für Abbruchgedanken in den Blick zu nehmen und möglichst zu minimieren sowie die Gründe für den Verbleib in der Rehabilitationsbehandlung möglichst zu betonen und zu stärken.

    In einer weiteren Publikation fassen Küfner et al. (2016) folgende Hinweise zur Reduzierung von Therapieabbrüchen zusammen:

    • Abbruchgedanken sind so häufig, dass dieses Thema präventiv angesprochen werden sollte.
    • Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut/in und Patient/in ist von Bedeutung, aber schwierig zu beeinflussen.
    • Erlebnispädagogische Maßnahmen stärken die Bindung an die Einrichtung.
    • Strenge Regeln und Sanktionen führen zu einem häufigeren Therapieabbruch.

    Wenn man sich nun im Rahmen von Untersuchungen zur Patientenzufriedenheit möglichst vorurteilsfrei mit kritischen Beurteilungen von Rehabilitand/innen auseinandersetzt, ergeben sich als häufigste Nennungen (dichotomisiert nach einer 6-stufigen Skala; mod. n. Küfner, 2008):

    Mit „stimmt überwiegend“ beurteilt:

    • Regeln wurden stur gehandhabt: 72,2%
    • Wurde unfreiwillig zu Sachen gedrängt: 57,4%
    • War für mich nicht die richtige Einrichtung: 40,7%
    • Kann nicht profitieren von Therapie: 35,2%
    • Belastung durch Probleme anderer Patienten: 33,3%

    Mit „eher unzufrieden mit“ beurteilt:

    • Großgruppe 48,1% (andere Aussagen wurden nur zu 14,8% bis 27,8% mit „eher unzufrieden“ beurteilt)

    Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass die Handhabung von Regeln ein wichtiger Faktor für Therapieabbrüche ist. Die therapeutische Einzelarbeit wird im Vergleich zur Gruppenarbeit unterschätzt. Einschränkend ist anzumerken, dass dies den Stand von 2008 darstellt, es gibt keine neueren Daten! Seitdem hat es in den beiden Bereichen „Regeln“ bzw. „Großgruppen“ in den Einrichtungen wesentliche Veränderungen (Verbesserungen) gegeben. Weitere Folgerungen für die Optimierung von Suchttherapien sind (mod. n. Küfner, 2016):

    • Die Thematisierung negativer Folgen des Drogenkonsums ist wichtig, vor allem für psychoedukative Ansätze.
    • Soziale Beziehungen zu Personen ohne Drogenkonsum sind von erheblicher Bedeutung.
    • Die subjektive Belastung durch andere Drogenabhängige (in der Klinik) sollte ernst genommen werden. Dies spricht für eine Verstärkung von Einzeltherapien!
    • Der Abbau von Barrieren in der Vorbereitung auf psychosoziale Interventionen bedarf einer systematischen Verbesserung. Besprochen werden sollten Stigmatisierung, negative Therapieerfahrungen und generelle Vorbehalte gegenüber psychosozialen Therapien wie Misstrauen, die Befürchtung, die eigene Autonomie zu verlieren, Angst vor dem Verlust des eigenen Lebensstils und der bisherigen Freunde.

    Bei einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema lässt sich ein Spannungsfeld zwischen einer sach- bzw. fachgerechten Behandlung einerseits und dem Dienstleistungsaspekt der Leistungserbringung in der Rehabilitation andererseits feststellen.

    Komorbide Erkrankungen (Doppeldiagnosen)

    Ein wesentlicher Aspekt bei der Behandlung Drogenabhängiger ist das Vorkommen von und der therapeutische Umgang mit komorbiden Erkrankungen, d. h. es liegen – neben der Suchterkrankung – eine oder auch mehrere weitere psychische Erkrankungen vor. Aus der Beurteilung des Behandlungsbedarfs wissen wir (mod. n. Küfner, 2016):

    • Etwa 60 bis 70% der Opioidabhängigen und der substituierten Drogenabhängigen weisen eine komorbide Störung auf.
    • Besonders häufig sind Angststörungen und affektive Störungen. Unter den Persönlichkeitsstörungen fällt die Häufigkeit von antisozialen Persönlichkeitsstörungen auf.
    • Ein beträchtlicher Teil der komorbiden Störungen ist zeitlich vor der Suchtstörung entstanden. Dies kann als Hinweis auf die notwendige Behandlung sowohl der Sucht als auch der komorbiden Störung betrachtet werden.
    • Neben den Klassifikationsebenen I und II (Persönlichkeitsstörungen) der ICD-10 müssen die sozialen und psychosozialen Problembereiche mitbetrachtet werden.
    • Dieser Behandlungsbedarf gilt auch für die substitutionsgestützte Therapie
      (s. Ergebnisse der PREMOS Studie, Wittchen et al., 2007).

    Der Aspekt der komorbiden psychischen Erkrankungen und deren Berücksichtigung in der Behandlung spielt im Zusammenhang mit der Frage nach der Haltequote aus mehreren Gründen eine Rolle. Zum einen gibt es Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Personen mit komorbiden psychischen Erkrankungen grundsätzlich eine schlechtere Prognose haben. Zum anderen ist es unmittelbar plausibel, dass sich diese Personen die Bearbeitung aller ihrer Probleme von einer Behandlung erwarten. Die Enttäuschung dieser Erwartung könnte zu einer Häufung von Behandlungsabbrüchen führen. Schließlich gibt es empirische Hinweise darauf, dass diese tendenziell schlechtere Prognose durch einen erhöhten Behandlungsaufwand kompensiert werden kann.

    Im Hinblick auf die Haltequote und eine erfolgreiche Behandlung gibt es noch einige zusätzlich zu berücksichtigende Aspekte, die den Rahmen dieses Artikels hier sprengen würden. Dies sind vor allem:

    • die Häufigkeit von Rückfällen und der Umgang mit Rückfällen seitens der behandelnden Klinik sowie
    • unterschiedliche Klinikstrategien im Umgang mit individuellem Fehlverhalten und Regelverstößen.

    Eigene Beobachtungen und Ergebnisse aus Kliniken des Deutschen Ordens

    Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Haltequotenprojekts standen eigene Zahlenerhebungen bzw. Zahlenzusammenstellungen sowie die Durchführung strukturierter Interviews und deren Auswertung.

    Die nachfolgend dargestellten Zahlen stammen aus zehn Drogenrehabilitationskliniken der Ordenswerke des Deutschen Ordens. Aus Gründen der Diskretion und Vertraulichkeit wurden die Einrichtungen anonymisiert. Betrachtet wurden alle im Zeitraum von 01.01.2014 bis 31.12.2016 in diesen zehn Kliniken behandelten Patienten (n=4.223). Diese Stichprobe wurde einer ausführlichen Datenanalyse unterzogen. Hierzu hatte der Autor Zugang zu sämtlichen Daten, so wie sie in den Rehakliniken mit dem Patientenverwaltungsprogramm „Patfak“ erfasst worden waren. Ein zweiter Weg, Daten zu erheben und auszuwerten, bestand in der Durchführung von strukturierten klinischen Interviews mit jeweils zwei Leitungsvertretern aus den betrachteten Einrichtungen. Hierzu wurde ein eigener mehrseitiger Interview-Leitfaden entwickelt. Die Ergebnisse wurden qualitativ ausgewertet. Dieser zweite Teil beinhaltet daher durchaus auch subjektive Interpretationsanteile.

    Die Abbildungen 2 und 3 zeigen die Ergebnisse der Datenanalyse. Diese Zahlen zur Haltequote und zu den irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu interpretieren! Sie wurden neu errechnet und sind NICHT mit Zahlen und Quoten vergleichbar, wie sie z. B. im Patientenverwaltungsprogramm ausgegeben werden. So wurden hier sämtliche Beendigungen mit der Entlassform „vorzeitig auf ärztliche Veranlassung“ nicht zu den planmäßigen Beendigungen gezählt bzw. nicht als solche bewertet. Grund hierfür ist die sehr unterschiedliche Handhabung dieser Entlassform in den verschiedenen Rehakliniken, die einen Vergleich unmöglich gemacht hätte. Die hier betrachtete „Haltequote-kons“ (für Haltequote, konservativ) beinhaltet ausschließlich die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“.

    Auch die „30-Tage-irreg-Quote“ ist nicht mit einer ähnlichen Variable im Patientenverwaltungsprogramm vergleichbar. Die hier aufgeführte „30-Tage-irreg-Quote“ misst den prozentualen Anteil der irregulären Beendigungen in den ersten 30 Tagen des Aufenthaltes im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Entlassungen in einem betrachteten Zeitraum.

    Abb. 2
    Abb. 3

    Erklärung der Variablen in Abbildung 3:
    Der Zusatz „ZR“ meint jeweils „Zeitraum“, d. h. die Quote bezogen auf die einzelnen Halbjahre
    „Haltequote-kons“: beinhaltet nur die Entlassformen „regulär“ sowie „vorzeitig mit ärztlichem Einverständnis“
    „Spannweite ZR-Haltequote-kons“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum
    „ZR-30-Tage-irreg-Q“: der prozentuale Anteil an irregulären Beendigungen in einem betrachteten Halbjahr gemessen an allen Beendigungen im gleichen Zeitraum
    „Spannweite ZR-30-Tage-irreg-Q“: Differenz zwischen dem jeweils besten und dem jeweils schlechtesten Wert der betrachteten Einrichtung, somit ein Maß für die Schwankungen innerhalb einer Einrichtung über den Gesamtzeitraum

    Die Ergebnisse in Abbildung 2 und 3 zeigen: Die Einrichtungen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die betrachteten Kliniken zwar alle im Bereich der Drogenrehabilitation tätig sind, innerhalb dieses Feldes jedoch z. T. recht unterschiedliche Patientengruppen behandeln, d. h., es wurden teilweise „Äpfel mit Birnen“ verglichen. Deshalb sollte die Interpretation der Zahlen äußerst vorsichtig erfolgen, ebenso ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Patentrezepte für die Verbesserung der Haltequote gibt es (leider) keine. Konkretere Aussagen, die aus diesen Zahlen abgeleitet werden können, lauten:

    1. Die Haltequoten der betrachteten Einrichtungen unterscheiden sich z. T. erheblich.
    2. Dies ist nur teilweise Ausdruck von unterschiedlicher Klientel (Patientenselektion).
    3. Einrichtungen, deren Zahlen im zeitlichen Verlauf stärker schwanken, sind entweder grundsätzlich instabiler (d. h. geringere Schwankungen im zeitlichen Verlauf sind besser) oder aber einzelne Einrichtungen sind/waren zwischenzeitlich von Sondereffekten betroffen (zwei Einrichtungen).
    4. Die Haltequote innerhalb der jeweils ersten 30 Tage einer Rehabilitationsbehandlung ist zentral für die generelle Haltequote einer Einrichtung („Was am Anfang verloren geht, kann man später nicht mehr aufholen“).

    Beim Versuch, sich etwas genauer mit den Effekten hinter diesen Zahlen zu befassen, ergeben sich Hinweise auf wahrscheinliche Einflussfaktoren auf die Haltequote. Auch wenn im Rahmen des Haltequotenprojekts keine Ressourcen für eine aufwändige Pfadanalyse oder eine Faktorenanalyse zur statistischen Quantifizierung der jeweiligen Einflussfaktoren vorhanden waren, so lassen sie sich hier zumindest auflisten wie folgt.

    Mögliche Einflussfaktoren auf die Haltequote

    Etwas zugespitzt könnte man festhalten: „Alles hat einen Einfluss!“. Die Ergebnisse der Datenanalyse und der klinischen Interviews weisen darauf hin, dass folgende Faktoren die Haltequote beeinflussen:

    • 30-Tage-irreg Quote: Irreguläre Verluste in den ersten 30 Tagen der Reha wirken sich negativ auf die Gesamt-Haltequote aus.
    • Anzahl der „vom Setting abgestoßenen“ Rehabilitanden: Diese Gruppengröße dient als indirektes Maß für die Güte der Adhäsion des Settings. Dies betrifft die Aspekte Kundenfreundlichkeit sowie Bindungsgestaltung.
    • Stimmigkeit des Settings (innere Konsistenz): Passen die einzelnen Behandlungselemente gut zueinander?
    • Anzahl der Rückfälle im Setting: Die Anzahl dient als (sehr indirektes) Maß für das „Chaos im Setting“ bzw. die vorhandene Setting-Kontrolle.
    • Qualität des „Umgangs mit Fehlverhaltens“ im Setting: Werden viele Patienten disziplinarisch entlassen und wenn ja, die ‚richtigen‘? Existieren angemessene Strategien, um nicht ‚unnötig‘ Patienten zu entlassen?

    Darüber hinaus spielen noch die Bereiche Patientenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit eine Rolle. Weil deren Einfluss sich jedoch nicht eindeutig in eine bestimmte Richtung auswirkt wie bei den oben genannten Faktoren, werden sie hier als „Ja, aber“-Einflussfaktoren auf die Haltequote bezeichnet.

    Die Patientenzufriedenheit hat natürlich einen Einfluss. Relevant ist v. a. die Patientenzufriedenheit der (späteren) Abbrecher, diese lässt sich allerdings kaum erheben. Wenn Querschnittsbefragungen durchgeführt werden (wie dies der Deutschen Orden regelmäßig tut), muss berücksichtigt werden, dass es zu einer recht zufälligen Stichprobenauswahl kommt und die Ergebnisse einer tagesaktuellen Beeinflussung unterliegen (Stichwort: Re-Test-Reliabilität). In Längsschnittbefragungen wie bei der deQus-Patientenbefragung ergibt sich ein anderes Problem: Es werden zwar gute Items abgefragt, aber es gibt hierbei einen Selektionseffekt, denn es werden nur planmäßige Beender befragt.

    Die Mitarbeiterzufriedenheit hat natürlich ebenfalls einen Einfluss auf die Haltequote. Die Interpretation von Befragungen zur Mitarbeiterzufriedenheit ist jedoch keineswegs linear und einfach. So gibt es z.B. auch Teams, die vollauf mit sich selbst zufrieden und beschäftigt sind, was sich nicht nur positiv auf die Patienten auswirkt.

    Hinweise für die Setting-Gestaltung

    Bei der Setting-Gestaltung geht es wesentlich um Bindung.  Die Maxime könnte sein: „Schaffe kein Setting, in dem du nicht selbst (gern) Patient sein möchtest.“ In der Zusammenschau aller hier betrachteten Faktoren ergeben sich folgende notwendige Grundprinzipien für sinnvolle Setting-Gestaltung (Breuer, 2017):

    • TSB – Teamorientierte stationäre Behandlung (F. Urbaniok)
    • Berücksichtigung der Anreizbedingungen im Setting (Kontingenz)
    • Bindung (K.-H. Brisch)
    • Transparenz und Berechenbarkeit
    • Nach-Erziehung
    • Waage: Akzeptanz vs Veränderung (analog DBT, M. Linehan)
    • Motivational Interviewing (Miller & Rollnick)
    • Gestaffelte Konsequenzen für Fehlverhalten
    • Perspektivübernahme seitens der Therapeuten bei der Detailausgestaltung des Settings → das Setting soll in sich stimmig sein

    Für die Zukunft gilt es, die verschiedenen, hier aufgeführten Faktoren zu den Themen „Haltequote“ sowie „Setting-Gestaltung“ in den Fachkliniken der Drogenrehabilitation möglichst umfassend zu berücksichtigen und zu implementieren.

     Literaturhinweise beim Verfasser

    Kontakt:

    Dipl.-Psych. Marcus Breuer
    Psychologischer Psychotherapeut
    Klinikleitung
    Würmtalklinik Gräfelfing
    Josef-Schöfer-Str. 3
    82166 Gräfelfing
    marcus.breuer@deutscher-orden.de

    Angaben zum Autor:

    Marcus Breuer, Dipl.-Psych. (PP), ist Leiter der Würmtalklinik Gräfelfing und des Adaptionshauses Kieferngarten, München.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Krankenkassen trocknen medizinische Reha aus

    Die Arbeitsgemeinschaft Medizinische Rehabilitation SGB IX (AG MedReha) hat ein Gutachten über den Vergütungsbedarf von Rehabilitationsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegt. Das Ergebnis: Das aktuelle Vergütungsniveau liegt deutlich unter dem, was zur Erfüllung der Strukturanforderungen der Krankenkassen notwendig ist. Die in der AG MedReha vertretenen Leistungserbringerverbände beklagen deshalb ein Austrocknen der medizinischen Reha und fordern die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zur Änderung ihrer Vergütungspraxis auf.

    Das aktuelle Gutachten „Was kostet die Rehabilitationsleistung? Kostenberechnung auf Basis struktureller Anforderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung“ der aktiva Beratung im Gesundheitswesen GmbH im Auftrag der AG MedReha geht von den Strukturanforderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) aus, die die Verbände der Krankenkassen mit anderen Rehabilitationsträgern gemeinsam beschlossen haben und die etwa für die Personalausstattung in den Reha-Einrichtungen maßgeblich sind. Auf dieser Basis berechnen die Gutachter die notwendigen Tagessätze exemplarisch für die medizinische Rehabilitation orthopädischer, kardiologischer und geriatrischer Patienten. Für die stationäre orthopädische Rehabilitation kalkulieren die Gutachter einen Vergütungssatz von 164 Euro pro Belegungstag. Der kalkulierte Vergütungssatz für die kardiologische Rehabilitation beträgt 157 Euro und für die stationäre geriatrische Rehabilitation 265 Euro pro Belegungstag. Die Gutachter bewerten die Ergebnisse auch für andere, im Rahmen der Studie nicht untersuchte Indikationen, als richtungsweisend.

    Die heute im Markt realisierbaren Vergütungssätze im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung liegen aber bis zu 30 Prozent unter den im Gutachten ermittelten Werten. Damit wird deutlich, dass sich die Rehabilitationseinrichtungen in einer chronischen Unterfinanzierung befinden. Rehabilitationseinrichtungen müssen im Gegensatz zu Krankenhäusern sämtliche Kosten aus dem Vergütungssatz refinanzieren. Nur wenn die Leistungserlöse die tatsächlichen Personal-, Sach- und Investitionskosten abdecken, können die Rehabilitationskliniken langfristig ihre Aufgaben erfüllen und so den Rechtsanspruch der Versicherten auf medizinische Rehabilitation flächendeckend sichern.

    Die AG MedReha fordert daher zum Erhalt der notwendigen Reha-Struktur eine zügige Anpassung der Vergütungssätze in der Rehabilitation, um die notwendige Versorgungsstruktur langfristig und in der geforderten Qualität zu sichern. Durch ihre bisherige Vergütungspolitik trocknen die Krankenkassen die Reha stattdessen aus und riskieren den Abbau notwendiger Angebotsstrukturen. Aktuell zehren die Kliniken ihre Substanz immer weiter auf oder sind gezwungen, die Leistungen zu subventionieren. Erste Klinikschließungen sind bereits erfolgt bzw. Anbieter reduzieren ihre Anzahl an Rehabilitationsplätzen. Die medizinische Rehabilitation wird im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zukünftig deutlich an Bedeutung gewinnen. Hier spielt vor allem die demografische Entwicklung und die wachsende Anzahl älterer Menschen eine entscheidende Rolle, beispielsweise im Bereich „Reha vor Pflege“ bzw. bei der sachgerechten Anschlussversorgung bei immer kürzeren Krankenhausverweildauern.

    Das Gutachten steht auf der Homepage der AG MedReha zum Download bereit:
    www.agmedreha.de > Themen > Gutachten zur Kostenstruktur

    Pressestelle der AG MEdReha, 23.05.2018

  • Startschuss für das Bundesprogramm „rehapro“

    Verbunden mit einem ersten Förderaufruf wurde am 4. Mai 2018 die Förderrichtlinie für die Modellprojekte „rehapro“ im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Förderung von Modellprojekten zur Stärkung der Rehabilitation wurde im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes beschlossen (§ 11 SGB IX neu). Beide Papiere stehen im Bundesanzeiger zum Download zur Verfügung (www.bundesanzeiger.de, Suchbegriff „rehapro“). Zusätzliche Informationen zum Antragsverfahren finden sich auf der Internetseite http://www.modellvorhaben-rehapro.de.

    Die Modellvorhaben haben als übergeordnete Ziele, neue Ansätze zur Unterstützung von Menschen mit komplexen gesundheitlichen, psychischen und seelischen Unterstützungsbedarfen oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen zu erproben. Des Weiteren soll auch die Zusammenarbeit der Akteure im Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation weiter verbessert werden. Dies betrifft insbesondere die folgenden Themenfelder:

    • Zusammenarbeit der Akteure, z. B. der Leistungsträger untereinander oder mit Leistungserbringern
    • Individualisierte Bedarfsorientierung/Leistungserbringung
    • Frühzeitige Intervention
    • Nachsorge und nachhaltige Themen

    Den Trägern der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Jobcenter) und den Rentenversicherungsträgern stehen hierzu bis 2022 jeweils 500 Millionen Euro zur Verfügung. Die Anträge können bei den örtlichen Jobcentern und den Rentenversicherungsträgern, als so genannten federführenden Bedarfsträgern, gestellt werden. Die Förderdauer der Modellprojekte beträgt nach § 11 Absatz 2 SGB IX bis zu fünf Jahren.

    Das Antragsverfahren ist zweistufig gestaltet und sieht vor, dem eigentlichen Projektantrag eine aussagefähige Projektskizze voranzustellen. Dies ermöglicht sowohl den Antragstellern wie auch den Bedarfsträgern entsprechende Ansätze zu sondieren, ohne gleich in ein finales Antragsverfahren (Projektantrag) einzusteigen. Nachdem die Antragsskizze positiv beschieden wurde, kann innerhalb von zwei Monaten ein Projektantrag eingereicht werden.

    Erste Bewilligungen sind für November 2018 vorgesehen. Es sind weitere Förderstufen geplant. Die zweite Stufe wird voraussichtlich Anfang 2019 erfolgen. Sowohl die Suchtfachverbände wie auch die DHS planen jeweils Anträge einzureichen.

    Quelle: CaSu Infobrief 08/2018, 11.05.2018