Schlagwort: Medizinische Rehabilitation

  • „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    „Weil sonst keiner zuständig ist …“

    Iris Otto
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) ist als Fachverband der bundesweite Zusammenschluss von rund 160 stationären Einrichtungen und Fachabteilungen mit knapp 7.500 Plätzen zur Behandlung und Betreuung suchtkranker Menschen. Zahlreiche Mitgliedseinrichtungen verfügen über spezielle Betreuungskonzepte für die Kinder von suchtkranken Rehabilitanden. Diese Konzepte sind sehr individuell in ihrer fachlichen Ausgestaltung und wurden jeweils in Abstimmung mit dem federführenden Leistungsträger der Deutschen Rentenversicherung entwickelt. Auch die Höhe der Vergütung für diese zusätzliche Betreuungsleistung ist sehr unterschiedlich und folgt keiner einheitlichen Systematik. Dabei ist zu beachten, dass die Rehabilitationsträger bislang nur für die Behandlung der Eltern mit Suchtdiagnose zuständig sind und die Betreuung als so genannte Begleitkinder lediglich über einen Haushaltshilfesatz finanziert wird. Eine weitergehende Unterstützung liegt dann in der Zuständigkeit der Jugendhilfe.

    Einige aktuelle politische Entwicklungen lenken nun aber den Fokus verstärkt auf diese spezielle Zielgruppe: Zum einen sieht das Flexi-Rentengesetz vor, dass die Kinder- und Jugendrehabilitation nun eine Pflichtleistung für die Deutsche Rentenversicherung ist. Zum anderen hat die Bundesdrogenbeauftragte einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages mit initiiert, der eine deutliche Verbesserung der Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern fordert. Bemerkenswert ist daran, dass auch suchtkranke Eltern explizit genannt werden. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind nicht selten psychisch stark belastet. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Kinder ergibt sich der dringende Handlungsbedarf auch aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgekosten bei Vernachlässigung dieser Risikozielgruppe.

    Vor diesem Hintergrund entschied sich der buss, eine verbandsinterne Umfrage zur begleitenden Aufnahme von Kinder in der Suchtrehabilitation durchzuführen, um sich einen Überblick über die Betreuungsangebote, die finanzielle Situation und den Personalmehraufwand in den Einrichtungen zu verschaffen. Über die verbandseigene Webseite www.therapieplaetze.de konnten durch die erweiterte Suche „Eltern mit Kind“ insgesamt 37 Einrichtungen ermittelt und angeschrieben werden. 26 Einrichtungen füllten den Fragebogen aus, neun Einrichtungen nahmen in den Jahren 2015/2016 keine Begleitkinder auf, drei Einrichtungen gaben keine Rückmeldung.

    Betreuungsplätze und Fallzahlen

    Insgesamt stellen diese 26 Einrichtungen 212 Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und hatten 676 Betreuungsfälle im Jahr 2015 sowie 665 Fälle im Jahr 2016. Die Altersverteilung der Begleitkinder ist heterogen, die meisten Kinder sind zwischen drei und fünf Jahre alt (43 Prozent). Jeweils etwa gut ein Viertel fällt auf die Gruppe der Kinder unter zwei Jahren und auf die Gruppe der 6- bis 11-Jährigen. In Ausnahmefällen nehmen einzelne Einrichtungen Kinder ab zwölf Jahren auf, also jenseits des Grundschulalters.

    Der überwiegende Teil der Einrichtungen hält bis zu zehn Betreuungsplätze vor. Das Minimum liegt bei drei, das Maximum bei 26 Plätzen (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Anzahl der Betreuungsplätze pro Einrichtung

    Betreuungsangebote

    Die Betreuung der Kinder während der Therapiezeiten erfolgt in den meisten Fällen in der Einrichtung oder bei Kooperationspartnern. Die Betreuungsangebote reichen von externer Unterstützung (z. B. Notmütterdienst) bis hin zur Heilpädagogischen Tagesstätte. In Abbildung 2 ist die Häufigkeitsverteilung der Angebote dargestellt (Mehrfachnennung möglich). Insgesamt 13 Einrichtungen bieten unterstützende Maßnahmen zur Betreuung in eigenen Kinder-Einrichtungen an.

    Abbildung 2: Betreuungsangebote in den Einrichtungen

    Einrichtungen, die keine eigene Kindertagesstätte oder einen Kindergarten vorhalten, haben Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden ortsansässigen Anbietern  (siehe Abbildung 3). Jedoch bestehen die meisten Kooperationsvereinbarungen mit Grundschulen (14 Nennungen).

    Abbildung 3: Kooperationsvereinbarungen mit externen Partnern

    Neben einer Grundversorgung der Kinder bestehen weitere Kooperationsvereinbarungen mit folgenden Institutionen:

    • Förder- oder Sonderschule, Schule für Behinderte
    • Frühförderstelle
    • Kinderarzt oder Kinderklinik
    • Ambulante Einrichtung für Kinder von Suchtkranken
    • Kommunaler Fachbereich Familienhilfe und Erziehungsberatung
    • Kreisjugendamt (örtlich zuständiges Landratsamt)
    • Ergotherapie oder Logopädie

    Suchtkranke Eltern sind in vielen Fällen überfordert mit der Erziehung der Kinder. Daher bieten 16 Einrichtungen neben der Betreuung der Kinder auch gemeinsame Unterstützungsangebote für Eltern und Kinder an. Insbesondere Spiel-, Sport- und Freizeitaktivitäten werden genannt. Therapeutische Gesprächsrunden und Interaktionstherapien mit Videoanalyse gehören außerdem zum Portfolio einzelner Einrichtungen. Eltern erhalten Unterstützung in Form von speziellen Gruppenangeboten (Müttergruppe, Indikative Gruppe für Eltern), Elternsprechstunden und Mütter-Kompetenztraining nach dem Programm des Kinderschutzbundes. Im Bedarfsfall finden Krisengespräche statt. Im Zusammenhang mit diesen Angeboten stellt sich für die Einrichtungen ein zusätzliches Problem: Nicht alle genannten Leistungen lassen sich angemessen in der KTL (Klassifikation Therapeutischer Leistungen) abbilden und somit entstehen Nachteile bei der Erfüllung der im Rahmen der Reha-Qualitätssicherung geforderten Standards (bspw. Reha-Therapiestandards).

    Kinder von suchtkranken Eltern benötigen in erheblichem Umfang psychische, soziale, pädagogische und z. T. medizinische Unterstützung. Elf Einrichtungen geben in diesem Zusammenhang an, spezielle Förderprogramme für Kinder vorzuhalten. Je nach Entwicklungsstand des Kindes steht die emotionale, motorische, sprachliche, kognitive und soziale Förderung im Vordergrund. Dazu werden Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Frühförderprogramme angesetzt. Entspannungsverfahren, Suchtprävention und angeleitete aktive Freizeitgestaltung gehören ebenso dazu. Drei Einrichtungen verfügen über eine eigene heilpädagogische Tagesstätte. In fünf Einrichtungen werden die Kinder unter Einbeziehung von externen Kooperationspartner betreut.

    Personalausstattung

    Die o. g. besonderen Leistungen können nur mit Hilfe von zusätzlichem Personal bewältigt werden. In den Einrichtungen werden Erzieher/innen (16 Nennungen), Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen und Therapeut/innen (elf Nennungen), Psycholog/innen bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeut/innen (vier Nennungen) und Kinderkrankenschwestern (vier Nennungen) eingesetzt. Neben Absolvent/innen des FSJ (drei Nennungen) werden auch Sport-/ Ergotherapeut/innen, Sozialassistenz und Tagesmütter genannt. Ein Teil der Einrichtungen holt sich bei Bedarf fachliche Unterstützung auf Honorarbasis.

    Diese vielfältigen und umfassenden Betreuungskonzepte werden mit vergleichsweise geringem Personaleinsatz realisiert. Im Schnitt stehen 0,2 bis 0,3 Vollkräfte pro Betreuungsplatz zur Verfügung (siehe Abbildung 4), dies entspricht etwa zehn Wochenstunden pro Betreuungsplatz. Dieser Umfang ist letztlich der unzureichenden Vergütung geschuldet.

    Abbildung 4: Personalausstattung pro Betreuungsplatz

    Finanzierung

    Für die Aufnahme von Kindern im Rahmen der Suchtrehabilitation der Eltern sehen die Rehabilitationsträger (DRV und GKV) einen tagesgleichen Haushaltshilfesatz vor, der nur die Unterbringung, Verpflegung und Aufsicht abdecken soll, weitere Leistungen werden nicht berücksichtigt. Die Obergrenze für diesen Haushaltshilfesatz liegt derzeit bei 74 Euro und wird jährlich angepasst. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen eine große Spannbreite der Vergütungssätze für begleitende Kinder. 14 Einrichtungen weisen Kostensätze bis 60 Euro aus, sieben Einrichtungen erhalten eine Vergütung in Höhe von 61 bis 70 Euro, und sechs Einrichtungen liegen über 70 Euro (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Kostensätze für die Kinderbetreuung (gruppiert)

    Der geringste Kostensatz bei den befragten Einrichtungen lag bei 38,50 Euro. Die betroffene Einrichtung hat den Betrieb des hauseigenen Kindergartens inzwischen wegen der massiven Unterfinanzierung eingestellt. Bei den angegebenen Kostensätzen von über 74 Euro (Obergrenze Haushaltshilfesatz DRV) werden die Differenzbeträge vom Jugendamt übernommen. Hier handelt es sich um einige wenige Einrichtungen mit Behandlungsverträgen in der Jugendhilfe gem. § 78 ff., § 27 i.V. mit § 34, § 35 i.V. mit § 34 SGB VIII. Im Bereich der GKV zahlt die AOK in vier Fällen einen Pflegesatz von 42 Euro, obwohl mit den übrigen Rehabilitationsträgern Tagessätze von 62 bis 74 Euro vereinbart sind.

    Ausblick

    Die Behandlung der suchtkranken Eltern steht im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zwar im Vordergrund, aber mindestens die intensive Betreuung der Kinder, wenn nicht sogar die spezifische Behandlung, ist unumgänglich. Eine frühzeitige Intervention stärkt die Kinder in ihrer psychischen und physischen Entwicklung und kann die Ausbildung von psychischen Problemen bis hin zu eigenen Suchterkrankungen verhindern. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen mit viel Engagement versucht wird, den Kindern und ihren Familien zu helfen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Betreuungskonzepte teilweise weit über den finanzierten Rahmen hinausgehen. Die Suchtrehabilitationseinrichtungen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zur Förderung der Teilhabe von Familien, die von Suchterkrankungen betroffen sind, und es ist sehr bedauerlich, dass es dafür bislang keinen einheitlichen leistungsrechtlichen Rahmen gibt.

    Bei einem Treffen der entsprechenden Mitgliedseinrichtungen des buss im Sommer 2017 wurde der Vorschlag formuliert, eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage für die Betreuung von Kindern suchtkranker Eltern im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu schaffen und in diesem Zusammenhang auch eine einheitliche Vergütung von Seiten der Rehabilitationsträger zu fordern. Insbesondere folgende Elemente sollten Teil der gemeinsamen konzeptionellen Grundlage sein:

    • Kindgerechte Unterbringung (Zimmer der Rehabilitand/innen mit Kinderschlafraum, Spielmöglichkeit, Speise- und Aufenthaltsräume, Sicherheit etc.)
    • Kindgerechtes Notfallmanagement (Notfallversorgung, Kinder-Reanimationsmaske etc.)
    • Angebote zur gemeinsamen Freizeitbeschäftigung für Eltern und Kinder
    • Vermittlung von Kompetenzen zur Haushaltsführung und zur Grundversorgung eines Kindes
    • Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Förderung der Eltern-Kind-Bindung
    • Feststellung des Förderbedarfs für das Kind und bei Bedarf Einleitung entsprechender Hilfe bzw. Erarbeitung von Nachsorgeempfehlung
    • Bei Bedarf fallbezogene Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt
    • Bei Bedarf Organisation der Vorstellung bei einem Kinderarzt

    Ziel muss es sein, dass für Einrichtungen, die diese Mindeststandards erfüllen, der Höchstsatz für die Haushaltshilfe voll ausgeschöpft wird. Über diese ‚Basisbetreuung‘ hinausgehende Angebote müssen zusätzlich vergütet werden. Eine Möglichkeit wäre in diesem Zusammenhang die Erhöhung des tagesgleichen Vergütungssatzes der Eltern, weil von den Einrichtungen zusätzliche therapeutische Leistungen auch für die Eltern erbracht werden. Notwendig wäre auch eine längere Dauer der Reha, um der Eingewöhnungsphase und den häufigen Erkrankungen der Kinder Rechnung zu tragen. Ganz besondere Anforderungen entstehen zudem für Einrichtungen, die schwangere Patientinnen aufnehmen und diese häufig auch bis zur Geburt und darüber hinaus begleiten. Eine weitere Möglichkeit ist die ‚Co-Finanzierung‘ der Leistungen für die Kinder durch die Jugendhilfe, was in einigen wenigen Fällen schon realisiert wird. Allerdings sind hier nicht unerhebliche Hürden zwischen zwei Versorgungssegmenten (medizinische Rehabilitation und Jugendhilfe) zu überwinden, und das ist von einzelnen Einrichtungen alleine nur mit großer Mühe zu bewältigen.

    Es ist dringend geboten, die Einrichtungen mit Angeboten für begleitend aufgenommene Kinder deutlicher als bisher durch die Leistungsträger zu unterstützen und dabei den gegebenen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen sowie nach weiteren Finanzierungsmodellen zu suchen. Damit kann ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, Kinder suchtkranker Eltern davor zu bewahren, selbst suchtkrank zu werden oder an anderen seelischen oder körperlichen Folgen ein Leben lang zu leiden. Einrichtungen, die Kinder begleitend zur Suchtreha der Eltern aufnehmen und entsprechende Angebote vorhalten, unterstützen die Kinder wesentlich darin, potentielle Einschränkungen in ihrer späteren gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu überwinden.

    Der Artikel ist in der Zeitschrift Sozial Extra erschienen:
    Koch, A., Otto, I., „Weil sonst keiner zuständig ist …“ Umfrage zur Mitaufnahme von Kindern in der Suchtrehabilitation, in: Sozial Extra 1/2018, 42, 40-43, DOI 10.1007/s12054-018-0004-8, http://link.springer.com/article/10.1007/s12054-018-0004-8

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.

  • Humor in der Suchtkrankenhilfe

    Humor in der Suchtkrankenhilfe

    Dr. Kareen Seidler
    Eva Ullmann

    Humor ist amüsant. Lachen ist Vergnügen. Aber Suchterkrankung und Humor? Passt das überhaupt zusammen? Sucht ist ein multifaktorielles Problem, bei dem Gewohnheiten im Verhalten, die Fähigkeit zur Impulskontrolle, sozialisiertes Verhalten, Problemlösungsstrategien, Vererbung und viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Im Laufe einer Suchterkrankung, z. B. während eines langjährigen Alkoholmissbrauchs, geht oftmals der Humor verloren. Kann seine Reaktivierung die Genesung unterstützen? Einiges spricht dafür: Humor entspannt, kann Schmerzen reduzieren und senkt Stresshormone. Er aktiviert Kreativität bei Problemlösungen und ermöglicht die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen. In der Arbeit mit Suchtkranken kann der Fokus auf Humor eine große Kraftquelle sein – sowohl für die professionellen Helfer/innen als auch für die Patient/innen.

    Sozialer und aggressiver Humor

    Der Duden definiert Humor als „Fähigkeit und Bereitschaft, auf bestimmte Dinge heiter und gelassen zu reagieren“. Die relativ neue Disziplin der Humorwissenschaft unterscheidet zwischen sozialem Humor und aggressivem Humor. Sozialer Humor beinhaltet einen Perspektivwechsel, ohne dass jemand abgewertet oder beschämt wird. Man kann sich und andere gut dastehen lassen, respektvoll sein, wertschätzend, und dabei Menschen und Situationen liebevoll karikieren.

    Ein Arzt lernt einen Patienten mit langjährigem Alkoholabusus kennen. Im Erstanamnesegespräch fragt der Arzt den Patienten, wann er zum letzten Mal Sex hatte. „1945“, sagt der Patient. Der Arzt schaut ihn mitleidig an. Darauf der Patient mit einem Blick auf die Uhr: „Aber es ist doch erst 16:30 Uhr. Also noch gar nicht so lange her.“

    Aggressiver Humor geht hingegen häufig mit der Herabsetzung einer Person oder Personengruppe einher, wirkt destruktiv und ist in der Therapie fehl am Platz:

    Was ist der Unterschied zwischen einem Tumor und einer Krankenschwester?
    Ein Tumor kann auch gutartig sein.

    Der Mediziner Paul McGhee (1994) hat ein mehrstufiges Humorprogramm entwickelt, mit dem Menschen ihrem eigenen Humor wieder stärker auf die Spur kommen können. Dieses setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:

    1. Den eigenen Humorstil und persönliche Humorvorlieben entdecken: Wo kann man noch lachen? Wann und wo bekommt man bereits beim Über-die-Schwelle-Treten eine Depression? Ist der eigene Humor verloren gegangen?
      Die weiteren Schritte sollen dann zu mehr Selbstfürsorge und täglichem Humorerleben beitragen:
    2. Verstehen, was eine spielerische Einstellung und Haltung zum Leben sein kann, und selbst eine entwickeln
    3. Selbst Optimismus entwickeln, Humor praktisch einsetzen (Witze, lustige Geschichten erzählen)
    4. Sprachlichen Humor entdecken, fördern, erzeugen (durch Wortspiele)
    5. Humor im Alltag und im eigenen Umfeld finden, die eigene Aufmerksamkeit dafür schulen und humorvolle Betrachtungsweisen erlernen
    6. Über sich selbst lachen, sich selbst nicht so ernst nehmen
      Erst die letzten Stufen der Humorarbeit fordern eine heitere Gelassenheit auch in stressigen Alltagssituationen:
    7. Im Stress Humor finden
    8. Die Schritte 1 bis 7 ins eigene Leben integrieren: Humor als Bewältigungs- und Überwindungsstrategie

    Humor im Umgang mit Suchtpatienten

    Sabine Link hat an der Hochschule Koblenz und der Universität Marburg das Humor-Stufenprogramm von McGhee für die Arbeit in Suchtkliniken angepasst und mit Patient/innen ausprobiert (siehe die Dissertation „Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe“). Insgesamt nahmen 90 Personen aus verschiedenen Einrichtungen der Suchthilfe an der Untersuchung teil (ambulante Nachsorge, medizinische Rehabilitation und qualifizierter Entzug). Sie wurden in zwei Altersklassen eingeteilt. Die Probanden nahmen an einem Humortrainingsprogramm teil. Es fanden Tests zu Beginn der Untersuchung, nach drei Monaten und nach sechs Monaten statt.

    Das Ziel der Dissertation war die Untersuchung und Beantwortung der Frage, ob Humor und heitere Gelassenheit eine angezeigte Interventionsmaßnahme in einem suchttherapeutischen Setting sein können. Nach dem Humortraining zeigten die meisten Probanden eine positive Veränderung in ihrem Sinn für Humor, dies führte u. a. zu einer besseren Stressbewältigung. Außerdem nahm die Heiterkeit der Studienteilnehmer im Durchschnitt zu, während Werte wie Ernsthaftigkeit und schlechte Laune abnahmen. Durch die Humor-Interventionen verbesserte sich auch die allgemeine Befindlichkeit der Patient/innen. Das galt für deren Ausgeglichenheit, Gutgestimmtheit, leistungsbezogene Aktiviertheit, Extravertiertheit/Introvertiertheit und Erregtheit. Die Werte für Ängstlichkeit/Traurigkeit und allgemeine Desaktiviertheit sanken hingegen. Generell empfiehlt die Forscherin deswegen, eine Humor-Sensibilisierung in ambulanten und stationären Suchttherapien zu implementieren und eine Humor-Weiterbildung für Fachkräfte in der Suchthilfe einzusetzen. Nicht zuletzt ist sie der Meinung, dass man Humor auch als Teil der Einrichtungskultur etablieren sollte.

    Sabine Link: Für Suchtpatienten abgewandeltes Humortraining nach Paul McGhee

    Für die Arbeit in Suchtkliniken und in der Suchtberatung lohnt es sich also, den aufwertenden, wertschätzenden Humor und seine Einsatzmöglichkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen. In Gesprächen versuchen Mediziner/innen und Psycholog/innen oft durch das Aktive Zuhören eine wertschätzende Haltung herzustellen. Dabei fasst der Arzt/Therapeut bzw. die Ärztin/Therapeutin in eigenen Worten zusammen, was der Patient/Klient bzw. die Patientin/Klientin gesagt hat.

    „Ihrer Meinung nach macht eine Therapie keinen Sinn.“
    „Sie sind der Meinung, Ihr Suchtproblem müssen Sie alleine in den Griff kriegen.“
    „Ihnen ist Ihre Frau zu raumeinnehmend.“

    Kennzeichnend beim Aktiven Zuhören sind die wohlwollende Grundhaltung, die zugewandte Körpersprache und vor allem eine möglichst große Wertfreiheit gegenüber dem Patienten/der Patientin. Gute Erfahrung machen Fachkräfte der Suchtarbeit aber auch damit, das Gesagte ab und an humorvoll zu spiegeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Ton, in dem das Gesagte vorgebracht wird. Er sollte freundlich sein und ein Augenzwinkern hörbar machen.

    „Sie halten eine Therapie nach dem Entzug für völligen Blödsinn und absolute Zeitverschwendung.“
    „Sie meinen, Ihnen kann auf dieser Welt ohnehin niemand helfen und die Psychotanten hier haben gar keine Ahnung.“
    „Für Sie ist Ihre Frau ein dominanter Napoleon.“

    Ein Lächeln, ein Grinsen, ein Lachen löst die gespannte Stimmung und kann durchaus helfen, den Patienten/die Patientin zuhörbereit zu machen. Wichtig ist aber, wertschätzenden von abwertendem Humor unterscheiden zu können. Sätze wie „Sie mauern und sind absolut unkooperativ!“ sind destruktiv und verletzend. Es geht in der humorvollen Spiegelung darum, das Offensichtliche zu übertreiben, dabei aber weiterhin interessiert zu bleiben an der Meinung des Gegenübers.

    Ein Problem bei Suchterkrankungen ist die hohe Rückfallquote. Eine durchschnittliche Suchterkrankung dauert 20 Jahre. In dieser Zeit kämpfen professionelle Helfer/innen immer wieder um die Aufmerksamkeit der Patient/innen und ihre Bereitschaft zur Veränderung von Gewohnheiten. Humor kann dabei helfen, die Spielregeln in der Klinik zu vermitteln oder Veränderungen anzuregen. Perspektivwechsel helfen bei den eingefahrenen Denkmustern der Patient/innen. Humorvolles Feedback kann zum Beispiel so formuliert werden:

    Monatelang hatte sich die Patientin nach Abbruch des Entzugs nicht blicken lassen, auf einen Rückruf wartete man vergeblich. Plötzlich schwebte sie wieder ein, als sei sie gestern erst in der Klinik gewesen, und fragte nach ihren Werten. Statt sich zu ärgern, sagte die Ärztin: „Seit vier Monaten sitze ich hier und warte, dass Sie mir genau diese Frage stellen.“

    Spielregeln kann man humorvoll zum Beispiel so vermitteln:

    Auf dem Spielplatz eines Cafés hängt ein Schild: „Jedes unbeaufsichtigte Kind erhält von uns ein Eis, einen Liter Cola und einen Hundewelpen.“

    „Ah, Sie sind die Trainerin für das Seminar heute?“
    „Nein, ich gehöre hier zur Einrichtung.“

    Ein Vorteil des Medikaments Humor ist seine schnelle Wirksamkeit. Humor beginnt in erster Linie bei einem selbst. Er ist im Alltag überall zu finden, es reicht, die Augen offen zu halten. In vielen Situationen kann man sich dann entscheiden, ob man sich ärgert – oder lacht. Um seinen eigenen Humor (wieder) zu entdecken, ist es hilfreich, sich z. B. Folgendes zu fragen:

    • Mit wem lache ich gerne?
    • Welcher Humor fällt mir leicht?
    • In welchen Situationen kann ich leicht die Perspektive wechseln?
    • Wie gut kann ich auch bei einer langjährigen Krankheit noch über mich selbst lachen?

    Anschließend kann man versuchen, die Menschen, mit denen man gern lacht, und die Art von Humor, die einem leicht fällt, bewusst zu suchen. Wenn man sich seines Humors bewusst ist, kann man üben, ihn gezielt einzusetzen.

    Ein Steg, extra „reserviert“ für Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Personen

    Selbst in Grenzsituationen kann Humor manchmal passend sein. Folgende Todesanzeige wurde z. B. im Schweizer Tagesanzeiger veröffentlicht:

    Die Anzeige hatte Herr Jacob vor seinem Tod selbst bei der Zeitung hinterlegt.

    Humor innerhalb des Mitarbeiterteams

    Humor bezieht sich auf uns selbst und auf andere. Humor ist unerwartet und überrascht uns. Humor macht Schmerz erträglich und sich nicht nur über den eigenen Schmerz lustig. Auch professionelle Helfer/innen können davon profitieren, in ihrem Team einen liebevollen Humor zu pflegen und zu regelmäßigem Humor zu ermuntern. Zum Beispiel durch einen wöchentlichen Austausch von Patienten-Anekdoten.

    Bei einem Patientengespräch in einer Klinik stellte sich die Psychologin vor. Der Patient verstand „Zoologin“. Er war irritiert, war er sich doch keiner Tierallergie bewusst.

    Eine Anekdote, die das ganze Team zum Lachen brachte. Bei dieser Art der Anekdoten kann der Humor auch mal deftiger werden. Er ermöglicht dem Team eine bessere Bewältigung der Arbeitsbelastungen. Wichtig ist die Sensibilität: Patienten-Anekdoten sollten nur in einem geschützten Rahmen erzählt werden.

    Humor lässt sich nicht verordnen. Eine humorvolle heitere Stimmung im Team entsteht, wenn es Raum für Anekdoten gibt, wenn es ein Ritual der witzigsten Geschichten geben darf.

    Humorvolle Laune steckt an – im Team, die Patient/innen, privat. Therapeut/innen, Ärzte/Ärztinnen und Pflegepersonal können sich und Patient/innen immer wieder mit wertschätzendem Humor zum Perspektivwechsel einladen. Das stärkt Motivation und Durchhaltekraft – sowohl bei Patient/innen als auch bei den Mitarbeiter/innen. Humor ist als Medikament völlig kostenfrei. Man muss es nur passend dosieren. Darüber darf diskutiert werden.

    Tipp der Redaktion:
    Anschauliche und unterhaltsame Beispiele für Humor in einer tragischen Lebenssituation bieten die Filme „Ziemlich beste Freunde“ (2011) und „Lieber leben“ (2017).

    Nächste Termine:
    Kontakt, Informationen und Humorentdeckungen:

    Deutsches Institut für Humor
    Feuerbachstraße 26
    04105 Leipzig
    Tel. 0341 4811848
    info@humorinstitut.de
    www.humorinstitut.de
    www.facebook.com/humorinstitut
    www.twitter.com/humorinstitut

    Angaben zu den Autorinnen:

    Eva Ullmann ist Gründerin und Leiterin des Humorinstituts. Sie arbeitet nach einem Pädagogik- und Medizinstudium seit vielen Jahren als Humoristin, Autorin und Rednerin.
    Dr. Kareen Seidler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Pressesprecherin des Instituts. Sie fasst die manchmal komplizierte Humorforschung verständlich zusammen.

    Literatur und Buchtipps:
    • Eva Ullmann und Albrecht Kresse: Humor im Business: Gewinnen mit Witz und Esprit, Berlin: Cornelsen, 2008
    • Eva Ullmann: Ich kann’s ja doch! Die Kunst der tägliche Kommunikation, Hörbuch, siehe auch: www.facebook.com/ichkannsjadoch
    • Eva Ullmann und Isabel García: Ich rede2: Spontan und humorvoll in täglichen Kommunikationssituationen, Hörbuch
    • Paul McGhee: How to develop your sense of humour: An 8 step humour development training program, Dubuque, IA: Kendall/Hunt, 1994.
    • Sabine Link: Anstiftung zur heiteren Gelassenheit. Und: Vom ernsthaften Versuch einer evidenzbasierten Studie zum Humor in der Suchthilfe, Marburg/Lahn 2014, im Internet zugänglich unter: https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2014/0416/ (letzter Zugriff 05.01.2018)

    alle Fotos: Deutsches Institut für Humor

  • Wie wirksam ist die Suchtrehabilitationsbehandlung?

    Zur Wirksamkeit der abstinenzorientierten Suchtrehabilitationsbehandlung liegen zwar keine randomisierten Kontrollgruppenstudien vor, aber die in den großen Fachverbänden zusammengeschlossenen Rehabilitationseinrichtungen führen regelmäßige Katamnesebefragungen der entlassenen Patientinnen und Patienten durch. Die aktuellen Daten vermitteln ein differenziertes Bild der Rehabilitationsbehandlung.

    Standards zur Berechnung der Erfolgsquote

    Katamnesebefragungen in der Suchthilfe orientieren sich in Deutschland seit vielen Jahren an den Katamnesestandards der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Diesen Standards zufolge sollen Katamnesebefragungen regelmäßig ein Jahr nach der Entlassung aus der Behandlung als Vollerhebung durchgeführt werden. Zur Berechnung der Erfolgsquote werden vier verschiedene Standards errechnet, die sich hinsichtlich der Bezugsgröße (nur regulär entlassene Patientinnen und Patienten oder alle Patientinnen und Patienten) und hinsichtlich der Behandlung unklarer Fälle und so genannter Non-Responder (Entlassene, die sich nicht an der Katamnesbefragung beteiligt haben) unterscheiden. Die höchsten Erfolgsquoten berechnen sich mit dem DGSS-Standard 1, der sich nur auf reguläre Entlassungen und nur auf die Responder bezieht. Die niedrigste Erfolgsquote ergibt DGSS-Standard 4, der sich auf alle Patientinnen und Patienten (also auch auf nicht regulär entlassene) bezieht und alle unklaren Fälle und Non-Responder als Rückfälle und somit nicht erfolgreiche Fälle behandelt.

    In der abstinenzorientierten Rehabilitation gilt als erfolgreich, wer ein Jahr nach der Entlassung dauerhaft abstinent oder nach einem oder mehreren Rückfällen mindestens seit 30 Tagen abstinent lebt. Standard 1 führt zu einer Überschätzung, Standard 4 zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Anzahl abstinent lebender ehemaliger Patientinnen und Patienten. Da Standard 4 dem international üblichen intention-to-treat-Konzept entspricht, beziehen sich alle folgenden Erfolgsdaten auf diesen Standard.

    Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige

    Der Fachverband Sucht e.V. (FVS) hat 2017 die Katamnesedaten für den Entlassjahrgang 2014 veröffentlicht. In den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt die katamnestische Erfolgsquote für den konservativen Standard 4 bezogen auf 11.033 ehemalige Patientinnen und Patienten bei 40,9 Prozent. Betrachtet man die katamnestische Erfolgsquote über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich ein langsamer, aber stetiger Rückgang. Um ältere Katamneseergebnisse vergleichen zu können, muss man sich dabei auf das frühere Erfolgskriterium „Abstinenz nach Rückfall drei Monate“ beziehen. In den 1990er Jahren lag die Erfolgsquote danach über oder um die 50 Prozent, zwischen 2000 und 2009 über 40 Prozent und seit 2010 unter 40 Prozent, für den Entlassjahrgang 2014 nach diesem älteren Kriterium bei 37,4 Prozent.

    Frauen sind erfolgreicher als Männer, über 40-Jährige erfolgreicher als Jüngere. Am höchsten liegt die katamnestische Erfolgsquote bei einer Behandlungsdauer von zwölf bis 16 Wochen, sowohl bei kürzerer als auch bei längerer Behandlungsdauer geht die Erfolgsquote zurück. Weitere Faktoren, die mit einer höheren Erfolgsquote korrelieren, sind feste Partnerschaften, Erwerbstätigkeit vor der Aufnahme sowie ein planmäßiger Behandlungsabschluss. Die Abhängigkeitsdauer steht nicht in einem signifikanten Zusammenhang mit dem Behandlungserfolg. In knapp 85 Prozent der Fälle ist die Rentenversicherung der Kostenträger und in rund 13 Prozent eine Krankenkasse. Die Arbeitsunfähigkeit geht zwischen Therapiebeginn und Katamnesezeitpunkt deutlich zurück (von 62 auf 39 Prozent), während der Anteil der Erwerbstätigen nur moderat (von 46 auf 52 Prozent) steigt.

    Vom Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) liegen seit August 2017 die Katamnesedaten für den Entlassjahrgang 2015 vor. Die katamnestische Erfolgsquote liegt diesen Daten zufolge bei 38,6 Prozent.

    Tageskliniken

    In Tageskliniken, in denen eine ganztägige ambulante Suchtrehabilitationsbehandlung angeboten wird, liegen die katamnestischen Erfolgsquoten bei der Auswertung des FVS (Entlassjahrgang 2014) bei einer Gesamtzahl entlassener Patientinnen und Patienten von 336 bei 40,5 Prozent, beim buss (Entlassjahrgang 2015) bei einer Gesamtzahl von 183 bei 37,7 Prozent, insgesamt also ungefähr auf dem Niveau der stationären Behandlung in den Fachkliniken. Die Merkmale der Klientel unterscheiden sich allerdings: In der ganztägig ambulanten Rehabilitation der FVS-Einrichtungen sind mehr Frauen, mehr Ältere, mehr Erwerbstätige und mehr Klientinnen bzw. Klienten, die in einer festen Partnerschaft leben, als in den Fachkliniken des FVS.

    Ambulante Suchtrehabilitation

    Bereits 2016 haben Caritas und Diakonie Ergebnisse ihrer Katamnesebefragung zur ambulanten Suchtrehabilitation in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen für den Entlassjahrgang 2014 vorgestellt. Befragt wurden 2.791 Personen, von denen 85 Prozent wegen einer Alkohol- oder Medikamentendiagnose und der Rest wegen illegaler Drogen oder pathologischem Glückspiel in Behandlung waren. Je nachdem, ob alle Einrichtungen oder nur diejenigen mit einem Rücklauf von mindestens 45 Prozent betrachtet werden, lag die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS-4-Standard zwischen 49,6 und 52,4 Prozent und damit höher als in der stationären und ganztägig ambulanten Rehabilitation. In der ambulanten Rehabilitation waren mehr Frauen, mehr Erwerbstätige, weniger Bezieher von Arbeitslosengeld 1 und 2 und mehr Patientinnen in festen Beziehungen als in den Fach-kliniken und in den Tageskliniken.

    Fachkliniken für Drogenabhängige

    Deutlich niedriger liegt die katamnestische Erfolgsquote in der stationären abstinenzorientierten Drogenrehabilitation. Bei einer deutlich geringeren Rücklaufquote als in den Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Anteil der Abstinenten (dauerhaft und 30 Tage nach Rückfall) auf der Basis von 253 Fällen in der buss-Katamnese in Drogeneinrichtungen bei 22,5 Prozent. Die FVS-Katamnese errechnet auf der Grundlage von 1.508 Fällen eine Erfolgsquote von 23,8 Prozent. Dabei differenziert die Katamnese des Fachverbandes Sucht in Fachkliniken für Drogenrehabilitation zwischen verschiedenen Substanzen. Während die Erfolgsquote bei Cannabis, Kokain und Stimulanzien zwischen 24,6 und 27,6 Prozent schwankt, liegt sie für Opioide bei 11,9 Prozent. Wie nicht anders zu erwarten, unterscheiden sich die Merkmale der Rehabilitand/innen in Drogeneinrichtungen deutlich von den Merkmalen der Rehabilitand/innen in Alkoholeinrichtungen: In den Drogeneinrichtungen war das Durchschnittsalter mit 29,8 Jahren gut 16 Jahre jünger als in den Alkoholeinrichtungen (46,2 Jahre). Der Anteil der Erwerbstätigen, der regulären Beendigungen und der Patientinnen und Patienten mit einer festen Partnerbeziehung liegt in den Drogeneinrichtungen jeweils deutlich niedriger als in den Alkoholeinrichtungen.

    Quelle: HLS-Forschungsbrief, Ausgabe 48/Dezember 2017
    Download des gesamten Forschungsbriefes sowie früherer Ausgaben unter:
    https://www.hls-online.org/service/materialien/hls-forschungsbriefe/

    Literatur:
    • Bachmeier, R., Feindel, H., Herder, F. et al. (2017): Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2014 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht-Aktuell, 24: 53-69.
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Alkoholeinrichtungen. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Tageskliniken. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (2017): Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassjahrgang 2015 – Drogeneinrichtungen. Online unter: http://suchthilfe.de/informationen/statistik.php
    • Fischer, M., Kemmann, D., Domma-Reichart, J. et al. (2017): Effektivität der stationären abstinenzorientierten Drogenrehabilitation. FVS- Katamnese des Entlassjahrgangs 2014 von Fachkliniken für Drogenrehabilitation. SuchtAktuell, 24: 70-78.
    • Medenwaldt, J. (2016): Katamnesen Ambulante Rehabilitation Sucht von DCV und GVS – Wesentliche Ergebnisse aus vier Erhebungsjahrgängen 2013 bis 2016. Online unter: http://www.sucht.org/angebote/publikationen/dokumentation/ergebnisse-der-katamnesen-ambulante-rehabilitation-sucht-wirkungsdialog-und-daraus-abgeleitete-perspektiven/
    • Schneider, B., Mielke, D., Bachmeier, R. et al. (2017): Effektivität der Ganztägig Ambulanten Suchtrehabilitation – Fachverband Sucht – Katamnese des Entlassjahrganges 2014 aus Einrichtungen Alkohol- und Medikamentenabhängiger. SuchtAktuell, 24: 90-100.
  • BISS – Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation

    BISS – Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation

    Wolfgang Indlekofer

    Zahlreiche Katamnesen belegen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit im ersten Jahr nach der Rehabilitation – auch nach erfolgreichem Abschluss – für viele Drogenabhängige am größten ist und dass eine gelungene berufliche Reintegration die beste Voraussetzung für eine suchtmittelfreie Zukunft darstellt. Dennoch können auch dann, wenn ein festes Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis vorliegt, Krisen und Rückfälle auftreten. Diese Erfahrung wurde auch in der Rehaklinik Freiolsheim und in der dazugehörenden Adaptionseinrichtung im Integrationszentrum Lahr gemacht.

    Im Integrationszentrum Lahr mit 20 Adaptionsplätzen absolvieren die Rehabilitand/innen in ihrer letzten Behandlungsphase ein Praktikum in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes. Die Praktikumsdauer beträgt acht bis zehn Wochen. Zwischenzeitlich sind es über 400 Betriebe in der Ortenau, die Praktikant/innen aus dem Integrationszentrum Lahr aufnehmen, da bereits viele sehr gute Erfahrungen mit den Rehabilitand/innen des Integrationszentrums gemacht wurden. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt in der Ortenau nahezu leergefegt ist und die Praktikumsgeber so die Möglichkeit haben, junge potenzielle Nachwuchskräfte unverbindlich kennenzulernen, ohne gleich mit einem Arbeitsvertrag einsteigen zu müssen. Für die Rehabilitand/innen stellt dieses Praktikum einen wichtigen ersten Schritt in die berufliche Reintegration dar und häufig auch die Chance auf einen festen Arbeitsplatz. Zwischen 50 und 65 Prozent aller Praktikant/innen des Integrationszentrums Lahr erhalten ein Angebot zur direkten Übernahme nach Beendigung der Adaptionsbehandlung. Zahlreichen Rehabilitand/innen wird auch ein Ausbildungsvertrag in Aussicht gestellt.

    Krise trotz Arbeit

    In der Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, dass viele Klient/innen zwar gerne das Arbeitsplatzangebot annehmen, dies aber zu Lasten der suchttherapeutischen Nachbetreuung geht. Im Fokus steht der Arbeitsplatz, die Drogenabhängigkeit wird als überwunden angesehen. Die Klient/innen sind überzeugt, den Ausstieg aus der Drogenabhängigkeit bewältigt zu haben. Doch hier begannen die Probleme:

    Manchmal bereits nach Wochen, in anderen Fällen nach einigen Monaten, kam es zu persönlichen Krisensituationen, Rückfälligkeit und Problemen am Arbeitsplatz. Gerade bei Rückfälligkeit wurde dies von den Betroffenen so lange wie möglich verheimlicht, bis dann letztlich nach Fehlzeiten, Abmahnungen etc. der Arbeitsplatz weg und der Wiedereinstieg in den Drogenkreislauf nahezu unvermeidlich war. In seltenen Fällen wandten sich die ehemaligen Rehabilitand/innen oder auch die Arbeitsgeber frühzeitig hilfesuchend an das Integrationszentrum Lahr. Im einen oder anderen Fall gelang es so, durch Kriseninterventionen, Entgiftungen, Auffangbehandlungen oder durch andere Maßnahmen den Wiedereinstieg in die Abhängigkeit zu vermeiden und den Arbeitsplatz zu erhalten. Viel zu häufig kam jedoch jede Unterstützung zu spät, und der Arbeitsplatz war verloren.

    Die Entwicklung von BISS

    Auf der Basis dieser Erfahrungen stellten die Leitungen der Rehaklinik Freiolsheim und des Integrationszentrums Lahr den Kontakt zur Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg – dem Hauptkostenträger der Rehabilitationsmaßnahmen – her, und ein Modellprojekt zur Unterstützung der beruflichen Reintegration im ersten Jahr nach Therapieabschluss wurde entwickelt. Es entstand das Modellprojekt „BISS“ (Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation), das in einer dreijährigen Modellphase von 2010 bis 2012 vom Rehabilitationswissenschaftlichen Lehrstuhl der Universität Freiburg evaluiert wurde.

    Allen regulär entlassenen Rehabilitand/innen, die sich nach der Therapie in der Ortenau niederließen, wurde angeboten, am BISS-Modell teilzunehmen. Allen Betrieben, die ehemaligen Rehabilitand/innen einen Arbeitsplatz anboten, wurde ebenfalls eine Teilnahme offeriert.

    Zielsetzungen des Projektes

    Die Zielsetzungen des Projektes lassen sich wie folgt zusammenfassen:

    • Förderung der langfristigen Integration in den ersten Arbeitsmarkt von ehemals Suchtmittelabhängigen nach regulärem Abschluss einer Rehabilitationsbehandlung
    • Unterstützung und Begleitung ehemaliger Rehabilitand/innen während des ersten Arbeitsjahres nach der Therapie (im Falle einer begonnenen Berufsausbildung bis zum Abschluss der Ausbildung)
    • Unterstützung der Arbeitgeber, die bereit sind, ehemalige Suchtmittelabhängige in ein reguläres Arbeitsverhältnis einzustellen

    Von Beginn an war das Interesse der Rehabilitand/innen sehr groß, an diesem Modellprojekt teilzunehmen. Viele sahen darin die Chance, noch über die Therapie hinaus Unterstützung zu erfahren und während der beruflichen Reintegration begleitet zu werden. Die mit dem Modellprojekt verbundenen regelmäßigen Alkohol- und Drogenscreenings wurden nicht als Kontrolle oder Lebenseinschränkung erlebt, sondern von den meisten als Unterstützung und Absicherung einer langfristigen Abstinenz.

    Sehr erfreulich war, dass auch die Arbeitgeber das BISS-Angebot von Beginn an sehr gerne annahmen. Zum einen waren sie froh und dankbar, im Krisenfall einen kompetenten Ansprechpartner zu haben, zum anderen sahen sie durch das Projekt eine Risikominimierung im Falle der Einstellung von ehemaligen Drogenabhängigen, da diese noch einer gewissen Kontrolle unterlagen. Immer wieder kam es auch dazu, dass Arbeitgeber die Teilnahme am BISS-Projekt zur Bedingung für eine Einstellung machten.

    Angebote für die Klient/innen

    Die Angebote für die Klient/innen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

    • Unterstützung einer langfristigen Abstinenz durch die monatlich stattfindende BISS-Gruppe
    • Angebot von Einzelgesprächen auf Wunsch der BISS-Teilnehmer/innen
    • Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Vermittlung von Praktika für Teilnehmer/innen, die aus der Adaptionsbehandlung heraus keinen Arbeitsplatz gefunden haben
    • Krisenintervention und rasche Organisation von Hilfen im Falle von Rückfälligkeit
    • Unterstützung und Förderung von Ausgleichsmaßnahmen im Freizeitbereich zur Kompensation von Arbeitsbelastungen
    • Durchführung von unangekündigten Alkohol- und Drogenscreenings zur Absicherung der Suchtmittelabstinenz

    Angebote für die Arbeitgeber

    Den Arbeitgebern werden folgende Angebote gemacht:

    • Regelmäßige Besuche am Arbeitsplatz mit Gesprächsangeboten für Arbeitgeber und Projektteilnehmer/innen
    • Ansprechpartner bei Rückfallverdacht, erhöhten Fehlzeiten oder sonstigen betrieblichen Auffälligkeiten
    • Angebot von Mediation mit Arbeitgebern und Projektteilnehmer/innen in Konfliktsituationen

    Prävention und rasche Hilfemaßnahmen bei Rückfälligkeit

    Einmal monatlich treffen sich alle BISS-Teilnehmer/innen zu einem Gruppengespräch zum allgemeinen Austausch und zur Planung gemeinsamer Aktivitäten. Auf der Basis einer Schweigepflichtsentbindung und eines Dreieckvertrages zwischen Klient/in, Arbeitgeber und Integrationszentrum hat jede/r Beteiligte jederzeit die Möglichkeit, das Integrationszentrum und die BISS-Mitarbeiter/innen zu kontaktieren. Auf diese Weise werden Rückfallkrisen, aber auch sich kumulierende psychosoziale Problemlagen und Konflikte zwischen Arbeitergeber und ehemaligen Klient/innen frühzeitig aufgegriffen und können im Idealfall Rückfälligkeit verhindern und Krisen lösen.

    Ist ein/e BISS-Teilnehmer/in nun tatsächlich rückfällig, können rasche Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Diese reichen von Kriseninterventionen und hochfrequenten ambulanten Angeboten über eine Einweisung in eine Entgiftungseinrichtung bis hin zur erneuten stationären Kurzzeitrehabilitation zur Stabilisierung. Die getroffenen Maßnahmen werden zwischen Arbeitgeber, Integrationszentrum und Klient/in abgestimmt und verhindern so im Regelfall, dass der Arbeitsplatz verloren geht. Da die BISS-Teilnehmer/innen um diese Unterstützungsmöglichkeiten wissen, ist die Bereitschaft, über Rückfälligkeit zu sprechen, durchaus groß.

    Ergebnisse der Modellphase

    Der im Frühjahr 2013 vorgelegte Evaluationsbericht dokumentierte hervorragende Ergebnisse der Modellphase. So zeigte sich eine hohe Zufriedenheit sowohl bei den BISS-Teilnehmer/innen als auch bei den beteiligten Arbeitgebern. Diese berichteten von einer Absicherung und Ermutigung, die durch das BISS-Projekt gegeben wird. Auch die weiteren Beteiligten wie das kommunale Jobcenter und die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg waren von den geringen Abbruchquoten und den katamnestischen Erfolgsquoten begeistert. So zeigten die BISS-Teilnehmer/innen nach einem Jahr durchweg höhere Abstinenzquoten als die Vergleichsgruppe, die im Rahmen der Studie untersucht wurde. Ebenfalls signifikant war die deutlich höhere Zahl an Ausbildungsverhältnissen in der BISS-Gruppe.

    Die Evaluationsergebnisse und die positiven Rückmeldungen aller Beteiligten motivierten die DRV Baden-Württemberg dazu, das BISS-Modell ab 1. Januar 2014 in eine Regelförderung zu überführen. Für alle bei der DRV Baden-Württemberg versicherten BISS-Teilnehmer/innen erhält das Integrationszentrum Lahr einen Pauschalbetrag, der die Begleitung während des ersten Jahres nach der Therapie finanziert und somit möglich macht. Angeregt durch die Erfolge des BISS-Programms eröffnete die DRV Baden-Württemberg darüber hinaus allen Suchtberatungsstellen die Möglichkeit, eine zweite Nachsorgepauschale speziell zur Begleitung der Berufsintegration abzurechnen, d. h., neben der klassischen Nachsorgepauschale können Suchthilfeeinrichtungen nun, wenn sie ehemalige Rehabilitand/innen bei ihrer Berufsintegration begleiten, eine zweite Förderung durch die DRV Baden-Württemberg abrechnen.

    Erfahrungen mit BISS als Regelangebot

    Seit der Einführung von BISS als Regelangebot ab 1. Januar 2014 haben 133 Klient/innen am BISS-Programm teilgenommen. 104 dieser Teilnehmer/innen konnten in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, und 39 Teilnehmer/innen absolvierten eine Berufsausbildung. Mit insgesamt 54 BISS-Teilnehmer/innen wurde ein Bewerbertraining durchgeführt.

    Das wohl beeindruckendste Ergebnis ist der hohe Anteil der regulären BISS-Beender. So haben von allen 133 Teilnehmer/innen, die bisher das Projekt beendet haben, 102 Teilnehmer/innen (77 Prozent) regulär mit laufendem Arbeitsverhältnis abgeschlossen. Lediglich 31 Teilnehmer/innen (23 Prozent) haben das Projekt vorzeitig abgebrochen. Darunter sind auch einige, die sich beruflich an anderen Orten neu orientiert haben und aufgrund der Entfernung nicht mehr teilnehmen konnten. Gemessen an Katamnese-Ergebnissen für Drogenabhängige sind diese Zahlen beachtlich.

    Bei 38 BISS-Teilnehmer/innen mussten Kriseninterventionen durchgeführt werden. Über die Hälfte dieser Kriseninterventionen waren so erfolgreich, dass die BISS-Teilnahme regulär beendet werden konnte und der Arbeitsplatz erhalten blieb. Bei ca. 40 Prozent der Kriseninterventionen waren der Abbruch der Maßnahme und meist auch der Arbeitsplatzverlust bzw. die Kündigung nicht vermeidbar. Insbesondere frühzeitige Interventionen durch hochfrequente ambulante Betreuungen waren erfolgsversprechend. War die Rückfälligkeit bereits so weit fortgeschritten, dass eine Entgiftung und eine Auffangbehandlung erforderlich waren, so konnte trotz großen Aufwands die langfristige Berufsintegration bei mehr als der Hälfte dieser Fälle nicht fortgesetzt werden.

    Auch als Regelangebot ist das BISS-Projekt sowohl für die Rehabilitand/innen als auch für die Arbeitgeber attraktiv. Teilweise entscheiden sich Drogenabhängige für die Durchführung der Adaption im Integrationszentrum Lahr, weil sie wissen, dass dort das BISS-Programm angeboten wird. Mit durchschnittlich 30 Teilnehmer/innen ist das BISS-Projekt ein wichtiger Baustein in der Angebotspalette des Integrationszentrums Lahr.

    Kontakt:

    Wolfgang Indlekofer
    Rehaklinik Freiolsheim
    Max-Hildebrandt-Str. 55
    76571 Gaggenau-Freiolshiem
    Tel. 07204/9204-0
    wolfgang.indlekofer@agj-freiburg.de
    www.rehaklinik-freiolsheim.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Indlekofer, Dipl.-Psych. und Psychologischer Psychotherapeut, ist Therapeutischer Gesamtleiter der Rehaklinik Freiolsheim, Gaggenau.

  • Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai

    Nur 16 Prozent der Menschen mit einem riskanten oder abhängigen Konsum von Alkohol holen sich Hilfe im Versorgungssystem. Dabei gehen fast alle von ihnen mindestens einmal im Jahr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wie können diese Menschen erreicht werden, damit sie besser von Hilfeangeboten für die Suchtproblematik profitieren können? An der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg wurde untersucht, welche Auswirkungen die Einführung eines Suchtkonsils zeigt. Bei einem Suchtkonsil handelt es sich um eine spezifische Suchtberatung durch einen erfahrenen Suchttherapeuten, die von der Krankenhausstation (Ärzte, Pflegepersonal) gezielt angefordert wird. Nach zweieinhalb Jahren wurden die Ergebnisse dieser Beratung (z. B. Vermittlung in die Entzugsbehandlung) ausgewertet.

    Handlungsbedarf bei Früherkennung und Frühintervention

    Im Jahr 2015 formulierte die Bundesrepublik Deutschland „Alkoholkonsum reduzieren“ als Nationales Gesundheitsziel (http://gesundheitsziele.de/). Darin wird die Bedeutung von Früherkennung und Frühintervention betont:

    „Trotz hoher gesellschaftlicher Folgekosten des problematischen Alkoholkonsums und alkoholbezogener Erkrankungen ist in Deutschland eine Unterversorgung insbesondere in den Bereichen der Früherkennung und Frühintervention bekannt und belegt. Andererseits wurde in Studien die Wirksamkeit von Frühinterventionen insbesondere in Hausarztpraxen (Kaner et al., 2007) und unter bestimmten Voraussetzungen auch im Allgemeinkrankenhaus nachgewiesen (McQueen, Howe, Allan, Mains, & Hardy, 2011). Durch Frühinterventionen beispielweise über die ärztliche Praxis oder im Krankenhaus kann eine breite Gruppe von Personen mit problematischem Alkoholkonsum erreicht werden. So weisen 80 Prozent der Alkoholabhängigen jährlich mindestens einen Kontakt zur hausärztlichen oder einer vergleichbaren Praxis auf; 24,5 Prozent mindestens einen Krankenhausaufenthalt und insgesamt 92,7 Prozent irgendeinen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin oder Krankenhaus (Rumpf, Hapke, Bischof, & John, 2000). Von riskant Alkohol Konsumierenden finden sich 75 Prozent beim Hausarzt/Hausärztin ein, 70 Prozent hatten beim Zahnarzt/Zahnärztin, 58 Prozent beim Facharzt/Fachärztin und 15 Prozent im Krankenhaus Berührungspunkte zum Gesundheitswesen; lediglich sieben Prozent der Alkohol-Risikokonsumenten nimmt in zwölf Monaten keinerlei medizinische Angebote in Anspruch (Bischof, John, Meyer, Hapke, & Rumpf, 2003). Dies unterstreicht die Bedeutung der primärärztlichen Versorgung im Bereich der Früherkennung und Frühintervention. Zudem sollte die Qualifikation und Kompetenz bezüglich der Früherkennung auch durch die verschiedenen Berufsgruppen im Sozial- und Bildungswesen gewährleistet sein.“ (Nationales Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“, 2015, S. 11, http://gesundheitsziele.de/)

    Auch in der gültigen S3-Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung“ finden sich entsprechende Empfehlungen: „Generell ist Screening auf riskanten Alkoholkonsum oder schädlichen Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit in Settings sinnvoll, in denen proaktiv auf Patienten zugegangen wird. Das betrifft häufig Frühinterventionsmaßnahmen in Settings der medizinischen Grundversorgung.“ (Langfassung vom 28.02.2016, S. 15)

    Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) geht in „Psyche im Fokus“ (1/2016, S. 2–3) ebenfalls auf die Früherkennung und Frühintervention bei Suchterkrankungen ein und gibt ein richtungsweisendes Statement ab: „Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplan vorgesehen.“

    Pilotprojekt: Einführung eines Suchtkonsils

    Im deutschen Krankenhausalltag findet ein systematisches Alkohol-Screening auf somatischen Stationen in vielen Fällen nicht statt. Der psychiatrische Konsiliardienst (Begleitdiagnostik durch einen angeforderten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) kann aufgrund der begrenzten Ressourcen nur einen geringen Teil der zu erwartenden Fälle erfassen. Wie viele Patienten durch die Einrichtung eines zusätzlichen Suchtkonsils erreicht werden können, wurde an zwei Standorten der Vivantes-Kliniken in Berlin Tempelhof-Schöneberg im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.

    Im Bezirk leben etwa 330.000 Menschen, die Prävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 7.840 und für den schädlichen Konsum von Alkohol bei rund 12.420. Nach der Studie von Rumpf, Hapke, Bischof & John (2000) sind bis zu 5.000 Fälle an Folgeerkrankungen von Alkoholkonsum pro Jahr an den beiden Vivantes-Standorten auf den verschiedenen Stationen zu erwarten. Dabei handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, da die Zahlen eines dritten Krankenhauses im Bezirk von einem anderen Träger nicht berücksichtigt werden konnten.

    Zusätzlich zum psychiatrischen Konsiliardienst der Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie in den beiden Krankenhäusern wurde von 11/2013 an ein Suchtkonsil der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit angeboten, das entweder vom Oberarzt der Klinik oder einem approbierten Diplom-Psychologen durchgeführt wurde. Das Suchtkonsil wurde in der Klinikkonferenz beschlossen und auf den somatischen Stationen im Rahmen von Besprechungen oder Abteilungsfortbildungen bekannt gemacht. Die Reaktionen auf den Dienst waren in dieser Phase sehr vielfältig. Sie reichten von Zustimmung („höchste Zeit bei den vielen Fällen, die wir sehen“) bis hin zu Ablehnung („spielt bei uns keine Rolle“). Das Konsil musste von den Stationen standardisiert über die elektronische Patientendokumentation ausgelöst werden wie jede andere fachärztliche Untersuchung auch. Die durchgeführten Gespräche waren sehr differenziert. Es gab erste Informationsgespräche, bei denen das Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick zum Einsatz gebracht wurde, und es gab Gespräche zur gezielten Vorbereitung weiterführender suchtmedizinischer Maßnahmen (Kontakt zur Beratungsstelle, Verlegung zur Entzugsbehandlung und Antragstellung für eine Entwöhnungstherapie).

    Von 11/2013 bis 5/2016 wurden insgesamt 185 Konsile angefordert. Von diesen 185 Fällen erschienen in der Folge 24 Fälle (13 Prozent) zu einem Vorgespräch in der Entwöhnungsklinik, in den meisten Fällen nach einer vorangegangenen Entzugsbehandlung in der psychiatrischen Nachbarabteilung. In insgesamt 17 Fällen (neun Prozent) konnte die Aufnahme zur Entwöhnungsbehandlung realisiert werden. Nicht systematisch erfasst wurde die Akzeptanz für die Gespräche, gerade auch bei den angesprochenen Patienten, die zunächst keine Hilfe annahmen. Ein Interview mit den durchführenden Ärzten und Psychologen erbrachte die Einschätzung einer recht hohen Akzeptanz für die Gespräche. Dies würde die Ergebnisse der Studie von Freyer et al. (2006) in Greifswald bestätigen. Dort reagierten rund 66 Prozent der angesprochenen Patienten mit einer Alkoholproblematik auf somatischen Stationen positiv auf die Intervention mit Beratung.

    Das Stigma der Sucht

    Neben der Ausstattung und den Ressourcen der Klinik ist auch das Phänomen „Stigma der Sucht“ zum großen Teil dafür verantwortlich, dass so wenig Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in den somatischen Abteilungen eines Krankenhauses erreicht werden. Studien wie die von Schomerus, Matschinger & Angermeyer (2006 und 2013 ) belegen eine Ablehnung von Abhängigkeitserkrankungen in unserer Gesellschaft und eine nach wie vor vorhandene Einschätzung, dass Sucht selbst verschuldet ist (siehe Abbildungen 1 und 2).

    Abb. 1: Anhand von Fallbeispielen, ohne Kenntnis der Diagnose, beurteilten Studienteilnehmer, ob die jeweiligen Betroffenen an einer psychischen Krankheit im medizinischen Sinne leiden. Das Krankheitsbild Alkoholismus wurde deutlich seltener als Krankheit angesehen als z. B. Depression oder Schizophrenie. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2013. Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Res 209, 665-669.
    Abb. 2: Per Telefoninterview wurde gefragt, bei welchen Krankheiten bei der Versorgung von Patienten am ehesten Geld eingespart werden könnte. Zur Auswahl gestellt wurden neun Krankheiten, drei Antworten waren möglich. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2006. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 41, 369-377.

    Dies führt dazu, dass Betroffene lange Zeit versuchen, die Erkrankung zu verbergen aus Furcht vor der negativen Bewertung des Umfeldes. Wird eine Suchterkrankung bekannt, fühlt sich aber auch häufig das Umfeld unwohl und schaut reflexhaft, mit einer Art von falschem Taktgefühl, weg. Auch auf somatischen Stationen oder auf Rettungsstellen ist dieses Phänomen zu beobachten: Ein Patient wird mit einer akuten Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) in das Krankenhaus gebracht. Recht rasch wird anhand des klinischen Befundes und der Laborkonstellation deutlich, dass die Krankheit durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstanden ist (alkoholtoxische Genese). Bei Konfrontation mit den Befunden reagiert der Patient bagatellisierend und beschämt, lehnt auch per Mimik und Gestik Gespräche darüber ab. An dieser Stelle wirken Zeitnot und das (falsche) Taktgefühl des Arztes unheilvoll zusammen. Der Arzt spürt die Not seines Patienten und den Wunsch, nicht weiter beschämt oder auch ‚belästigt‘ zu werden, und respektiert ihn. Selbst wenn ihm bewusst wird, dass dieser Zustand überwunden werden sollte, spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dem Arzt ist klar, dass ein Gespräch über den Alkoholkonsum nicht ‚zwischen Tür und Angel‘ geführt werden sollte, also zeitlichen und empathischen Aufwand bedeutet. Häufig sind die personellen Ressourcen so knapp, dass diese Gespräche dann gar nicht stattfinden. Die Hoffnung des Patienten, dass der Konsum „noch nicht so schlimm ist“, wird damit indirekt bestätigt.

    Das Stigma der Sucht wirkt aber auch auf eine andere Weise. Die Extremformen des Konsums von Substanzen, die Abhängigkeit erzeugen, werden gesellschaftlich recht breit abgelehnt. Konsum, der ohne die extremen Anzeichen von Missbrauch und Abhängigkeit auftritt, wird dagegen sehr lange toleriert, obwohl er bereits mit Schäden behaftet sein kann. Es ist eine heikle Frage, ab wann und wie Betroffene auf ihren Konsum angesprochen werden sollten.

    Für das medizinische Personal kann der risikoreiche Alkoholkonsum eines Patienten auch noch ein ganz anderes Problem aufwerfen, nämlich die Frage nach dem eigenen Konsum. Dieser wird möglicherweise konflikthaft erlebt und wirft Unsicherheiten auf. Diese Gefühlslage kann sich mit der Situation des Patienten zu einer unausgesprochenen Übereinkunft darüber vermengen, nicht über das Thema zu sprechen. Entsprechende Zusammenhänge thematisiert die Psychotherapeutin Agnes Ebi in ihrem Buch „Der ungeliebte Suchtpatient“ (1998). Neben vielen anderen Aspekten der Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten beschreibt sie dabei auch die unbewusste Furcht vor der Nähe zum Süchtigen.

    Sucht als Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung verankern

    Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem ableiten? Ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stigmatisierung der Sucht wird einen langen Zeitraum erfordern. Erwähnt sei an dieser Stelle der bekannte historische Umstand, dass die Definition der Alkoholabhängigkeit durch die WHO von 1952 in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später, 1968, zu einer sozialrechtlichen Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit führte. Vor 1945 wurde ein Teil der Alkoholabhängigen umgebracht oder der Zwangssterilisierung zugeführt. Dies scheint im transgenerativen Prozess noch nicht vollständig verarbeitet zu sein, und ein Teil der Menschen sieht eine Abhängigkeitserkrankung immer noch als einen selbstverschuldeten Zustand an.

    Die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff in den öffentlichen Räumen unserer Gesellschaft wird notwendig sein, um die Akzeptanz für die Erkrankung auf einen Stand zu bringen, der z. B. mit dem beim Diabetes mellitus vergleichbar ist. Schulen, Betriebe, Vereine, Institutionen, aber auch die Medien, sind Kommunikationsorte, an denen entsprechende Prozesse in Gang gebracht werden müssen. Anfangen können diese Prozesse jedoch im Krankenhaus, das mit gutem Beispiel vorangeht und systematisch daran arbeitet, den Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen ‚salonfähig‘ zu machen. Ein routineartig durchgeführtes Suchtkonsil stellt das wichtigste Signal in diesem Zusammenhang dar. Die Widerstände gegen die Einführung dieses Konsils sind zunächst groß, weil ein direkter betriebswirtschaftlicher Nutzen für das Krankenhaus zunächst nicht berechnet werden kann. Das DRG-System liefert je nach Lesart (Controlling-Haltung) Anreize, einen Abhängigkeitserkrankten mit mehreren Folgeerkrankungen als eine Art ‚Cash-Cow‘ zu betrachten, die erlösorientiert ausgeschlachtet wird. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen und eine Motivierung zur Entzugsbehandlung stellen möglicherweise ein unternehmerisches Risiko dar. Die Endrechnung wird der Gesellschaft an anderer Stelle präsentiert und belastet Kommunen und Rentenversicherungen.

    Beim Deutschen Suchtkongress im September 2016 in Berlin referierte PD Dr. Georg Schomerus über das Stigma der Sucht und gab einen Überblick über den Forschungsstand. Dabei scheute er nicht die Frage, ob ein Stigma positive Folgen habe, zum Beispiel durch eine Form der Abschreckung. Die Ergebnisse sind bislang eindeutig: Das Stigma führt vielmehr zu einer Aufrechterhaltung von Heimlichkeit und Wegschauen. Im September 2016 fand eine Klausurtagung mit verschiedenen Experten in Greifswald statt, die sich mit dem Thema „Stigma der Sucht“ beschäftigten. Auftraggeber war das Bundesministerium für Gesundheit. Als Ergebnis dieses Expertentreffens liegt nun das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ vor, das den Versuch unternimmt, das Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Suchtkrankheiten zu erklären und Wege für einen stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten aufzuzeigen. Für den klinischen Bereich ist zu hoffen, dass das Suchtkonsil zum Standard in deutschen Krankenhäusern wird.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai
    Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
    Rubensstraße 125
    12157 Berlin
    Tel. 030/13 020-86 00
    Darius.ChahmoradiTabatabai@vivantes.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg.

  • Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren

    Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Kurzversion des gleichlautenden Beitrags, der in SuchtAktuell 01.17, 15-33, publiziert wurde. Zur besseren Lesbarkeit wird die männliche Schreibweise verwendet. Damit sind Männer und Frauen gemeint.

    Dr. Volker Weissinger

    1. Ausgangslage: Suchterkrankungen in Deutschland

    Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen – mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Sie verlaufen häufig chronisch und weisen zudem eine hohe Komorbidität auf (vgl. Trautmann & Wittchen 2016). Zudem sind sie weit verbreitet. So rechnet man – ohne Berücksichtigung der Tabakabhängigkeit – in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen mit 4,61 Millionen Menschen, die unter einer stoffgebundenen Abhängigkeit leiden (s. Abb. 1). Hinzu kommen abhängige Menschen von stoffungebundenen Suchtformen wie pathologischem Glücksspiel oder pathologischem PC-/Internetgebrauch.

    2. Politischer Handlungsbedarf zur Förderung der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel alkoholbezogener Störungen

    Im Verlauf einer Suchterkrankung kommt es meist zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen der Teilhabe sowie zu einem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen und frühzeitige Mortalität. Suchterkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit der höchsten individuellen Krankheitslast.

    Schädlicher Alkoholkonsum verursacht beispielsweise in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, diese werden auf 39,3 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und unterteilen sich in 9,15 Milliarden Euro direkte und 30,15 Milliarden Euro indirekte Kosten (Effertz 2015). Zu den direkten Kosten gehören vor allem die Ausgaben für medizinische Behandlungen, Medikamente, Rehabilitationsmaßnahmen und Pflegeleistungen. Zu den indirekten Kosten gehören die alkoholbedingten Produktionsausfälle in der Volkswirtschaft, Kosten durch Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und vorzeitigen Tod. Zusätzlich zu diesen Kosten entstehen durch schädlichen und abhängigen Alkoholkonsum auch erhebliche psychosoziale Belastungen, welche das Leid, den Schmerz und den Verlust an Lebensqualität der betroffenen Menschen sowie von deren Angehörigen beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz gehört „Alkoholkonsum reduzieren“ zu den zentralen Gesundheitszielen in Deutschland (Gesundheitsziele.de, Bundesanzeiger, 19.05.2015), denn die negativen gesundheitlichen Folgen von zu hohem Alkoholkonsum sind eines der gravierendsten und vermeidbaren Gesundheitsrisiken in Deutschland.

    Im Gesundheitsziel „Alkohol reduzieren“ heißt es: „Alkoholkranke Menschen sehen sich oft erst nach vielen Jahren der Abhängigkeit dazu veranlasst, sich wegen der Grundstörung in Behandlung zu begeben. Versorgungsanlässe sind häufig allgemeine somatische Krisen, bei deren Abklärung die Alkoholbezogenheit als ursächlicher Faktor identifiziert werden kann. Das gleiche gilt für psychische Krisen, in denen das psychiatrische, psychosomatische und psychotherapeutische Hilfesystem aus unterschiedlichen Beweggründen konsultiert wird. Es kann aber auch zu psycho-sozialen Krisen kommen, in deren Folge nicht nur die Partnerin oder der Partner bzw. die Familie, sondern auch Behörden (z. B. Jobcenter) oder die Betriebe gefordert sind. Nur ein kleiner Teil der Menschen mit alkoholbezogenen Problemen bzw. einer Alkoholabhängigkeit findet ohne Umwege und zeitnah Zugang zum suchtspezifischen Versorgungssystem.“

    Ein grundlegendes Problem besteht demnach darin, dass nur ein geringer Teil der Betroffenen in Deutschland auf seine Suchterkrankung angesprochen wird und professionelle Hilfe im Gesundheitssystem erhält. Trautmann & Wittchen (2016, S. 11) stellen hierzu fest: „Die Behandlungsraten betragen zwischen 5 und 33% (Kraus, Pabst, Gomes de Matos und Piontek 2014; Mack et al. 2014), mit den niedrigsten Raten für Alkohol (5-16%) und Cannabisstörungen (4-8%) (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). Damit gehören Suchterkrankungen zu den psychischen Störungen mit der größten Behandlungslücke (…). Zudem werden Betroffene häufig erst dann erreicht, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist und erste psychische und körperliche Folgeschäden bereits eingetreten sind (Hildebrand et al. 2009; Trautmann et al. – in Druck -). Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da inzwischen zahlreiche ambulante und stationäre Interventionsbehandlungen von Suchterkrankungen verfügbar sind (insbesondere für die o. g. Alkohol- und Cannabisstörungen) (Bottlender & Soyka 2005; Hoch et al. 2012) und eine rechtzeitige Behandlung nachweislich die psychische und körperliche Morbidität senken kann (Rehm et al. 2014).“

    Eine Auswertung des Fachverbandes Sucht e.V. zeigt, dass bis zur Erstbehandlung in einer Fachklinik für alkohol-/medikamentenabhängige Menschen im Durchschnitt 12,9 Jahre vergehen. Darüber hinaus fanden durchschnittlich über drei Entzugsbehandlungen im Vorfeld der stationären Entwöhnungsbehandlung statt (s. Abb. 2).

    Eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssituation speziell für abhängigkeitskranke Menschen erfordert ein Maßnahmenbündel auf verschiedenen Ebenen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Früherkennung und Frühintervention in den unterschiedlichen Handlungsfeldern, welche mit abhängigkeitskranken Menschen zu tun haben, ebenso gestärkt werden wie ein sektorenübergreifendes Fallmanagement und die engere Vernetzung zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit psychischen und insbesondere mit Suchterkrankungen zu fördern. „Sowohl Bagatellisierung als auch Stigmatisierung sind trotz wichtiger Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten nach wie vor weit verbreitet. Diese tragen nicht nur zu einem reduzierten Hilfesuchverhalten, sondern auch – gemessen an den hohen individuellen gesellschaftlichen Kosten – zu sehr geringen Investitionen in Forschung und Versorgung von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und Suchterkrankungen im Speziellen bei (…)“ (Trautmann & Wittchen 2016, S. 12).

    Bereits im Jahr 1992 sprach Wienberg bezogen auf Suchtkranke aufgrund der vergleichsweise geringen Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfen von der „vergessenen Mehrheit“. In Abb. 3 ist der Bereich des spezialisierten Suchthilfesystems als Sektor 1 an der Spitze der Pyramide zu finden.

    Abb. 3: Das Hilfesystem – wie es aussieht (Wienberg 1992)

    Demgegenüber befindet sich eine deutlich höhere Anzahl suchtkranker Menschen im Sektor II, d. h. der psychosozialen und psychiatrischen Basisversorgung. Hierzu zählen neben psychiatrischen Einrichtungen auch Angebote zur Förderungen der beruflichen Teilhabe, der Wohnungslosenhilfe, der Straffälligenhilfe und vieles mehr. Ebenso findet man Suchtkranke vergleichsweise häufig im Sektor III der medizinischen Primärversorgung, wozu insbesondere niedergelassene Ärzte und Allgemeinkrankenhäuser gehören. Die Sektoren stehen in diesem Modell relativ unverbunden nebeneinander, dies verdeutlicht, dass nur eine relativ geringe Anzahl betroffener Menschen Zugang zu den hoch qualifizierten Angeboten der Suchtberatung und -behandlung erhält.

    Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die aktuelle Situation feststellen, dass Deutschland über ein differenziertes und qualifiziertes System der Suchthilfe und -behandlung verfügt, das Hilfesystem jedoch nur einen vergleichsweise geringen Teil der behandlungsbedürftigen Menschen erreicht, die meisten suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aber Kontakt zur medizinischer Versorgung und/oder sozialen Hilfen haben. Daraus folgt, dass Screening, Früherkennung und frühzeitige Intervention sowie die Optimierung einer sektorenübergreifenden Vernetzung zentrale Zukunftsaufgaben darstellen, um den frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu passgenauen Hilfsangeboten zu fördern.

    3. Entwicklungspotentiale und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung eines frühzeitigen und nahtlosen Zugangs

    Im Weiteren werden entsprechende Entwicklungspotenziale, welche einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, beispielhaft dargestellt (vgl. Fachverband Sucht e.V. 2012; Missel 2016). Eingegangen wird hierbei auf folgende Bereiche:

    • Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten
    • Qualifizierter Entzug
    • Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung
    • Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung
    • Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    • Betrieblicher Bereich
    • Routinedaten der Leistungsträger
    • Jobcenter/Agenturen für Arbeit
    • Fallmanagement und Fallbegleitung
    • Nutzung moderner Informationstechnologien

    Von zentraler Bedeutung ist es generell, an den Übergängen der unterschiedlichen Versorgungsbereiche Brücken zu bilden durch ein entsprechendes Fallmanagement. Zudem können auch durch die gezielte Nutzung moderner Informationstechnologien Zugänge erleichtert und verbessert werden.

    Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

    Ein früher, fachlich wie persönlich bedeutsamer Kontaktpartner von Menschen mit Suchtproblemen ist der niedergelassene Arzt. Er kann somit eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, frühzeitig suchtgefährdete und suchtkranke Menschen gezielt anzusprechen. Deshalb wird seine Bedeutung auch im Rahmen der der AWMF-S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen besonders hervorgehoben (Mann et al. 2016). Bislang ist allerdings eine flächendeckende Umsetzung entsprechender Frühinterventionsansätze zum Umgang des Arztes mit substanzbezogenen Störungen noch weit entfernt. Bestandteil einer solchen Umsetzung müsste sein, dass Ärzte in eigener Praxis dahingehend geschult sind, mittels geeigneter Screening-Verfahren riskante Konsumenten sowie suchtgefährdete und abhängige Personen zu erkennen und das Ergebnis als Einstieg in das Gespräch mit dem Patienten zu nutzen. In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen werden zur Früherkennung und Frühintervention durch niedergelassene Ärzte folgende Einzelempfehlungen gegeben:

    Die im AUDIT-C-Fragebogen enthaltenen Fragestellungen sind beispielsweise gut in allgemeine Gesundheitsuntersuchungen zu Risikofaktoren oder Patientengespräche integrierbar.

    „Bezogen auf die unterschiedlichen Konsumformen von Alkohol ergeben sich verschiedene Interventionsziele, welche mit den Betroffenen im Rahmen einer individualisierten Beratung bzw. Therapiezielplanung abzustimmen und zu modifizieren sind.“ (Günthner, Weissinger et al. 2016) Falls sich ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung ergibt, können weitere diagnostische Schritte zur Feststellung erfolgen, ob ein riskanter, schädlicher oder abhängiger Konsum vorliegt. Während bei riskantem Konsum Kurzinterventionen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung im Sinne einer Konsumreduktion im Vordergrund stehen, würde bei Abhängigkeit die Vermittlung in eine spezialisierte Suchtberatung und -behandlung im Mittelpunkt der Interventionen stehen (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Differenzielle Interventionsangebote nach Schweregraden (s. DSM 5)

    Bei denjenigen Patienten, die einer umfassenderen suchtspezifischen Beratung und Behandlung bedürfen, ist eine enge Kooperation von Seiten des Arztes mit den Angeboten der Suchtkrankenhilfe und Suchtbehandlung erforderlich. Gestützt auf den Austausch mit Suchtfachkräften sollte der Hausarzt begründete Behandlungsempfehlungen aussprechen. Nach wie vor bestehen allerdings hinsichtlich einer breiteren Umsetzung aus Sicht der Hausärzte erhebliche Probleme, die folgende Aspekte betreffen: die suchmedizinische Qualifikation, die Integration von entsprechenden Leistungen in den Praxisalltag, die Kooperation mit suchttherapeutischen Einrichtungen wie auch die Vergütung der niedergelassenen Ärzte (vgl. Liegmann 2015).

    Von daher sollten entsprechende Grundlagen, welche einen flächendeckenden Einsatz von Screening- und Diagnostikverfahren sowie von Frühinterventionen fördern, von der Ärzteschaft und den gesetzlichen Krankenversicherungen ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte die Umsetzung durch Qualifizierungsmaßnahmen begleitet und durch die Vernetzung mit suchtspezifischen Spezialeinrichtungen unterstützt werden.

    Auch zwischen niedergelassenen Psychotherapeuten und dem Suchthilfe-/Suchtbehandlungssystem bedarf es einer verbesserten Kooperation, welche insbesondere die Früherkennung, Diagnostik und Vermittlung in Suchtberatungs- und Suchtbehandlungseinrichtungen wie auch die ambulante Weiterbehandlung durch Psychotherapeuten nach der Rehabilitationsleistung betrifft.

    Angesichts der häufigen Komorbidität von psychischen Störungen mit einer Abhängigkeitserkrankung sollte im Rahmen der Früherkennung und Diagnostik eine Sucht- und Medikamentenanamnese bei neu aufgenommenen Patienten oder im Rahmen der diagnostischen Abklärung der neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunde zwingender Bestandteil sein. Derzeit plant der Gemeinsame Bundesausschuss, Psychotherapeuten auch eine Verordnungsbefugnis für medizinische Rehabilitationsleistungen zu erteilen. Die Verordnungsbefugnis medizinischer Rehabilitationsleistungen sollte aus Sicht des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) psychische und psychosomatische Rehabilitationsleistungen für Erwachsene und Kinder ebenso umfassen wie den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen. Um möglichst nahtlos eine Entwöhnungsbehandlung einleiten zu können, würde es sich empfehlen, einen speziellen Befundbericht für Psychotherapeuten vorzusehen, der die wesentlichen Angaben enthält, die aus Sicht des Leistungsträgers erforderlich sind. Die verbindliche Einforderung eines zusätzlichen Sozialberichts einer Suchtberatungsstelle durch die Krankenkassen, um über einen Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entscheiden zu können, sollte bei der Verordnung durch Vertragspsychotherapeuten entfallen.

    Eine Verschlankung des Antragsweges, welche auch mit einer deutlich kürzeren Entscheidungszeit des zuständigen Leistungsträgers hinsichtlich der Bewilligung einer entsprechenden Leistung einhergeht, wäre ein wichtiges Element, um den nahtlosen Zugang zu unterstützen (Martin 2016).

    Qualifizierter Entzug

    Die Qualifizierte Entzugsbehandlung enthält im Unterschied zur körperlich orientierten Entgiftung zusätzlich Leistungen zur Förderung der Motivation, Einzel- und Gruppengespräche sowie eine psychosoziale Betreuung und sollte auch die Vermittlung der Betroffenen in weiterführende Behandlung umfassen. Sie bedarf von daher auch einer entsprechenden Behandlungsdauer (bei alkoholbezogenen Störungen i. d. R. 21 Tage gemäß S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen). Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Qualifiziertem Entzug und allgemeiner Entgiftung/Entzugsbehandlung ergeben sich auch unterschiedliche Handlungsstrategien für die Früherkennung und Frühintervention.

    In Entwicklung befindet sich infolge der Initiative der Unterarbeitsgruppe (UAG) „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“, an der Vertreter der Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) und der Suchtverbände (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Fachverband Sucht e.V.) beteiligt waren, ein Nahtlosverfahren der GKV und DRV aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnungsbehandlung. Dieses Verfahren soll beinhalten:

    • Nahtlose Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung
    • Kurzfristige Bearbeitung des Reha-Antrags durch die Reha-Träger
    • Enge Abstimmung zwischen Krankenhaus und Entwöhnungseinrichtung
    • Organisierter und begleiteter Transport, vorzugsweise durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung
    • Fahrtkostenregelung nach § 53 SGB IX

    Entsprechende Rahmenempfehlungen der DRV/GKV befinden sich derzeit noch in Abstimmung. Deren Umsetzung wird dann mit entsprechenden Akteuren (z. B. Deutsche Krankenhausgesellschaft, Suchtkrankenhilfe) auf Landesebene erfolgen (geplant in 2017). Diese Initiative ist aus Sicht der Patienten und der Suchtverbände zu begrüßen. Kritisch angemerkt sei aber, dass nach derzeitigem Stand die Leistungsträger mehrheitlich beim Nahtlosverfahren am bestehenden umfangreichen Antragsverfahren (inkl. bisherigem Sozialbericht) festhalten werden. Bereits bestehende Nahtlosverfahren in einzelnen Bundesländern (z. B. Mitteldeutschland) sollen dadurch allerdings nicht berührt werden.

    Entgiftung/Entzugsbehandlung sowie Krankenhausbehandlung

    Gemäß der AWMF-S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen sollen postakute Interventionsformen generell im Anschluss an die Entzugsphase als nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Dies impliziert, dass eine entsprechende Motivierung, Beratung und Vermittlung Bestandteil der Entzugsphase ist und dies nicht nur im Rahmen des Qualifizierten Entzugs erfolgt.

    Angesichts der kürzeren Behandlungsdauer einer körperlich orientierten Entgiftung-/Entzugsbehandlung im Vergleich zum Qualifizierten Entzug und der damit verbundenen geringeren Personalausstattung ist das Nahtlosverfahren aus dem Qualifizierten Entzug nicht einfach auf diesen Bereich übertragbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauspatienten mit alkoholbezogenen Störungen derzeit nicht aufgrund der F10-Diagnose, sondern aufgrund der somatischen Folgeerkrankungen behandelt wird, die Grunderkrankung der Suchtstörung hierbei häufig unberücksichtigt bleibt und eine Ansprache der Patienten auf den schädlichen oder abhängigen Konsum i. d. R. nicht erfolgt. Suchtspezifische Handlungskonzepte und Interventionsstrategien fehlen in Krankenhäusern weitgehend, Vermittlungen in Suchtfacheinrichtungen erfolgen nur zu einem geringen Teil. Angesichts des Erlebens der körperlichen Folgeerkrankungen ist bei vielen Betroffenen allerdings gerade während eines Krankenhausaufenthalts mit einer erhöhten Sensibilität und Offenheit für die zugrunde liegenden Substanzprobleme zu rechnen.

    Die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsstrategien erfordert den Einsatz entsprechender personeller Ressourcen, welche in den Krankenhäusern i. d. R. nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies betrifft auch die Kapazitäten der Sozialen Dienste in den Krankenhäusern.

    Verschiedene Modellvorhaben zur Verbesserung der sekundärpräventiven Versorgung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Menschen, z. B. in Lübeck, Bielefeld, Erlangen, Boppard und im Rems-Murr-Kreis, zeigen, dass im Krankenhausbereich durch den Einsatz qualifizierten Personals im Rahmen von Konsiliar-/Liaisondiensten die (Früh-)Erkennung und Inanspruchnahme einer suchtspezifischen Behandlung von alkoholgefährdeten und -abhängigen Patienten deutlich verbessert werden kann (Görgen & Hartmann 2002; Schneider et al. 2005; Rall 2012).

    Problematisch ist auch hier generell die Frage, wie dieser Mehraufwand finanziert werden kann. Dienstleistungen der Frühintervention, welche i. d. R. mit dem vorhandenen Krankenhauspersonal (inkl. Sozialer Dienst) nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden können, bedürfen einer verbindlichen Finanzierungsgrundlage. Was die Frage der Vermittlung angeht, könnten die Regelungen zum Entlassmanagement im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes die Möglichkeit bieten, Qualitätskriterien zu definieren, die auch eine Verbesserung der Kooperation mit dem Suchthilfe- und Suchtbehandlungssystem umfassen.

    Integrierte stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sowie Motivationsbehandlung

    Das Modell der „Integrierten stationären Behandlung Abhängigkeitskranker“ (ISBA) wurde von den AHG Kliniken Daun und der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See gemeinsam entwickelt. Dabei handelt es sich um eine stationäre Kombi-Leistung, welche sowohl die Entgiftungs- wie auch die Entwöhnungsphase umfasst. Dieses Verfahren wurde speziell in einer Rehabilitationsklinik für Patienten mit Antragstellung auf eine Rehabilitationsleistung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. Es beinhaltet einen Abholdienst am Wohnort zu Lasten der DRV Knappschaft-Bahn-See als Leistungsträger, der zugleich gesetzliche Krankenversicherung wie auch Rentenversicherung unter einem Dach ist.

    Aus Sicht der DRV Knappschaft-Bahn-See lässt sich folgendes Resümee zu diesem Verfahren ziehen (vgl. Kirchner 2016):

    • Die Entgiftung in der Rehabilitationsfachklinik ist erfolgreich (planmäßige Entlassungen, katamnestische Erfolgsquote).
    • Die Antrittsquote zur Entwöhnung beträgt 99,3 Prozent.
    • Die Entfernung zwischen Wohnort und Rehabilitationsfachklinik kann überbrückt werden.
    • Schnittstellen unter den Sozialversicherungsträgern können überwunden werden.
    • Deutliche Kostenersparnis entsteht durch die Entgiftung in der Rehabilitationsklinik.

    Durch den nahtlosen Übergang von Patienten mit anschließender Entwöhnungsbehandlung können somit Mehrfachentgiftungen vermieden, Arbeitsunfähigkeitszeiten reduziert und das Schnittstellenmanagement über Sektorengrenzen hinweg überwunden werden. Es zeigen sich zudem deutliche Kosteneinsparungseffekte.

    Einen anderen Ansatz, der ebenfalls auf der Verknüpfung zwischen Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung beruht, stellt die stationäre Motivierungsbehandlung bzw. Reha-Abklärung dar. Dieses Verfahren wird langjährig insbesondere in Rehabilitationskliniken in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für Versicherte von Betriebskrankenkassen angeboten. Die stationäre Motivierungsbehandlung zu Lasten der GKVen bietet die Möglichkeit, eine bis zu vierwöchige Motivierungsbehandlung durchzuführen und, sofern indiziert, im unmittelbaren Anschluss daran eine Rehabilitationsbehandlung durchzuführen, bei der i. d. R. die Rentenversicherung Kostenträger ist.

    Beide Verfahren dienen insbesondere dazu, bei vorhandener Motivation den unmittelbaren Zugang zu den erforderlichen Leistungen zu ermöglichen und auf diesem Wege auch die Nichtantrittsquote – welche durch Wartezeiten und Lücken der Versorgung entsteht – zu reduzieren.

    Somatische und psychosomatische Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

    Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Interventionen bei Rehabilitanden mit Suchtproblemen einzusetzen, betrifft auch die somatische und psychosomatische Rehabilitation, da Suchtprobleme als Komorbidität neben der ursprünglichen Hauptdiagnose (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Störungen) vorliegen können. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat deshalb Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation mit Suchtexperten, Vertretern der Wissenschaft und Patienten aus somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen entwickelt

    Bislang finden sich nur wenige Konzepte von somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen, in denen der Umgang mit komorbiden Suchtproblemen konkret beschrieben wird. Die Praxisempfehlungen sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine möglichst hohe Zufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern zu erreichen.

    Übertragbar sind diese Handlungserfordernisse auch auf den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. So können Suchtprobleme beispielsweise auch bei Rehabilitanden in Berufsförderungswerken auftreten und den Erfolg einer beruflichen Teilhabemaßnahme bedrohen. Spezifische Konzepte zum Umgang mit abhängigkeitskranken Menschen oder spezifische Beratungsangebote sind hier ebenfalls bislang eher die Ausnahme. Ein frühzeitiger Zugang zu suchtspezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten für suchtkranke Rehabilitanden sollte in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen gefördert werden, um damit auch berufliche Teilhabemöglichkeiten langfristig und nachhaltig zu unterstützen. Ein entsprechendes Positionspapier haben der Bundesverband der Deutschen Berufsförderungswerke und der FVS entwickelt (s. SuchtAktuell 01.17).

    Betrieblicher Bereich

    In der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (01.08.2014) wird die Zielsetzung formuliert, dass Anzeichen eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe frühzeitig erkannt werden sollen. Das Erkennen solcher Anzeichen wird als gemeinsame Aufgabe der Rehabilitationsträger sowie aller potenziell am Rehabilitationsprozess beteiligten Akteure gesehen. So hat beispielsweise die Rentenversicherung ein hohes Interesse daran, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Versicherten zu erhalten. Hierzu dient auch der neu etablierte Firmenservice der Rentenversicherung (RV), der insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen bei dieser Zielsetzung unterstützen soll. In diesem Kontext sollen die Mitarbeiter des Reha-Beratungsdienstes der RV, welche hinsichtlich von Suchterkrankungen entsprechend geschult sind, auch auf abhängigkeitsspezifische Auffälligkeiten (etwa im Arbeits-, Sozial-, Gesundheitsverhalten bzw. im Erscheinungsbild) hinweisen, im Bedarfsfall den Kontakt zu Suchtberatungsstellen herstellen oder ggf. Rehabilitationsleistungen auch direkt einleiten (vgl. Gross 2016). Eine bundesweite Telefonhotline der Rentenversicherung wurde hierzu ebenfalls eingerichtet.

    Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die betriebliche Gesundheitsförderung ein prioritäres Handlungsfeld der Prävention dar. Die Krankenkassen unterstützen Betriebe hierbei auch hinsichtlich der frühzeitigen Erkennung von Suchtproblematiken, bei der Schaffung von entsprechenden Strukturen und der Inanspruchnahme entsprechender Hilfsangebote.

    Ein Ansatzpunkt, das frühzeitige Erkennen einer Suchtproblematik zu fördern, bietet darüber hinaus der § 132 f SGB V des Präventionsgesetzes. Danach können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit Betriebsärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Abs. 1 SGB V schließen. Ziel ist es, erwerbstätigen Versicherten damit einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen zu ermöglichen. Hierbei sollte auch routinemäßig ein Screening hinsichtlich suchtbezogener Störungen integriert werden.

    Routinedaten der Leistungsträger

    Ein weiterer Ansatzpunkt für eine frühzeitige Bedarfsfeststellung besteht in der gezielten Analyse der Routinedaten der Leistungsträger.

    Routinedaten der Krankenversicherung
    Als Anlass für einen möglichen Rehabilitationsbedarf wird in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation beispielsweise genannt:

    • „Länger als 6 Wochen ununterbrochene oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit innerhalb der letzten 12 Monate,
    • Gesundheitsstörung, der vermutlich eine psychische Erkrankung, eine psychosomatische Reaktion oder eine Suchtmittelabhängigkeit zugrunde liegt.“

    Entsprechende Analysen sind – unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen – von Seiten der Krankenkassen möglich. Diese müssten routinemäßig mit einem Fallmanagement verknüpft werden, dessen Aufgabe in einer Ansprache des Versicherten mündet, bei Bedarf Beratungen leistet und ggf. Vermittlungen in Absprache mit dem Versicherten einleitet.

    Routinedaten der Rentenversicherung
    Auf Basis ihrer vorhandenen Routinedaten hat die Rentenversicherung festgestellt, dass nahezu jeder zweite Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM) ohne eine vorherige medizinische Rehabilitationsleistung erfolgt ist (Gross 2016). Vor diesem Hintergrund wurde geprüft, ob eine sich abzeichnende Gefahr für die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit frühzeitig ermittelt werden kann, um darauf aufbauend sofort konkrete Angebote unterbreiten zu können. In einem durch die DRV Bund geförderten Forschungsprojekt, „Risikoindex Erwerbsminderungsrente“, konnte gezeigt werden, dass die zur Verfügung stehenden Routinedaten der Rentenversicherung einen hohen Vorhersagewert für das Risiko eines zukünftigen EM-Rentenzugangs besitzen. So kann eine zu 75 Prozent korrekte Vorhersage hinsichtlich eines EM-Rentenzugangs in den fünf folgenden Jahren getroffen werden. Zudem beschäftigte sich eine weitere Untersuchung, „Sozialmedizinisches Panel von Erwerbspersonen“, mit der Frage, wie sich die gesundheitliche und berufliche Situation von Versicherten entwickelt, die zwar Krankengeldempfänger sind, bislang jedoch noch keine Rehabilitationsleistung der Rentenversicherung in Anspruch genommen hatten (Gross 2016).

    Zielsetzung ist es, proaktiv auf potentielle EM-Rentenantragssteller zuzugehen und diese über die zur Verfügung stehenden Rehabilitationsleistungen zu informieren und zu einer Antragsstellung zu motivieren. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Teil dieses Personenkreises auch substanzbezogene oder substanzungebundene Störungen eine Rolle spielen. Unterstützt werden soll die Förderung einer frühzeitigen Inanspruchnahme auch über die Internetseite www.reha-jetzt.de, welche über die entsprechenden Schritte aufklärt und informiert.

    Jobcenter/Agenturen für Arbeit

    Arbeitslose Menschen leiden im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich häufiger an psychischen und psychosomatischen Belastungen und Erkrankungen wie etwa depressiven Symptomen, Angststörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Suchterkrankungen. So belegen Auswertungen der Krankenkassen, dass psychische Störungen unter Arbeitslosen deutlich erhöht sind. Darauf weist auch ein IAB-Forschungsbericht (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) hin (Schubert et al. 2013).

    Das Beispiel des Jobcenters Essen verdeutlicht, wie eine gesundheitliche Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung zusammen mit lokalen Partnern des Gesundheitswesens so ausgebaut werden kann, dass ein umfangreiches Angebot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Patienten mit psychischen, somatischen und Suchterkrankungen vorgehalten werden kann (Mikoteit 2016). Grundlage bildet ein Konzept des Jobcenters zur integrierten Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der seelischen Gesundheit, substanzbezogene Störungen bei Langzeitarbeitslosen werden dabei berücksichtigt. Spezialisierte, in der Führung von motivierten Gesundheitsgesprächen geschulte Fachkräfte des Jobcenters stehen an allen zehn Standorten des Jobcenters Essen zur Verfügung. Eine wichtige Zielsetzung der Gespräche der Fallmanager ist es, so genannte ‚Verdachtsfälle‘ zu identifizieren und bei diesen Menschen eine Motivation z. B. für die Inanspruchnahme einer professionellen Fachberatung aufzubauen. Diese Inanspruchnahme von Beratungsleistungen ist grundsätzlich freiwillig.

    Um den Zugang zu erleichtern, wurde in den Räumlichkeiten des Jobcenters eine ‚Zweigstelle‘ der Institutsambulanz des Klinikums der Psychiatrie eingerichtet. Neben einer psychiatrischen wird auch eine suchtmedizinische Sprechstunde im Jobcenter selbst angeboten. Damit ist es möglich, dass die Jobcenter-Fachkräfte direkt den Kontakt zu Spezialisten für psychische oder suchtbezogene Störungen herstellen. Gemeinsam werden von den Jobcenter-Fachkräften, den Klinikmitarbeitern und den Kunden die weiteren Schritte abgestimmt, und es wird auch Unterstützung, z. B. bei den Zugängen zu einer erforderlichen stationären Rehabilitation, geleistet. Hierzu gibt es Verfahrensabsprachen mit entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen.

    Ein weiterer Ansatz zur Förderung eines nahtlosen Zugangs aus dem Jobcenter in eine Suchtrehabilitation stellt das kooperative Modellprojekt „Magdeburger Weg“ der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland für ALG II-Empfänger dar. Ziel dieses Ansatzes ist ebenfalls die frühzeitige Intervention, um aktuelle Vermittlungshemmnisse bezüglich eines regulären Beschäftigungsverhältnisses zu beseitigen und einem vorzeitigen krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken (Ueberschär et. al 2017). Die Antragsstellung erfolgt nach § 145 SGB III mit einem Rehabilitationsantrag und dem sozialmedizinischen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit ohne zusätzlichen Sozialbericht (seit 01.09.2007). In diesem Zusammenhang hat die DRV Mitteldeutschland 2010 auch einen Kooperationsvertrag mit den beiden Regionaldirektionen Sachsen und Sachsen-Anhalt/Thüringen geschlossen. Aus Sicht der DRV Mitteldeutschland hat sich gezeigt, dass die Öffnung der Zugänge – welche auch weitere Bereiche wie Entzugsbehandlungen, niedergelassene Ärzte, Justizvollzugsanstalten betrifft – richtig war. Die Erfolgsaussichten hinsichtlich der Rückfallquote unterscheiden sich bei den bisherigen Verfahren und den neuen Zugangswegen nicht, die betroffenen Menschen kommen aber früher und sicherer im Hilfesystem an (ebd.).

    Fallmanagement und Fallbegleitung

    In der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen wird darauf hingewiesen, dass das Versorgungssystem für Menschen mit alkoholbezogenen Störungen in Deutschland sehr differenziert ist, eine Vielzahl von Angeboten umfasst und aufgrund historisch gewachsener Strukturen und den Zuständigkeiten der Kostenträger auch stark fragmentiert ist (Günthner, Weissinger et al. 2016). Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen ist es aufgrund der hohen Rückfallgefahr der betroffenen Menschen umso notwendiger, die Nahtlosigkeit zwischen den Leistungserbringern durch Brückenbildungen herzustellen. Erhebungen der Suchtfachverbände wie auch der Deutschen Rentenversicherung Bund belegen, dass eine vergleichsweise hohe Anzahl an Personen eine bewilligte stationäre Suchtrehabilitation nicht antritt (s. Abb. 5).

    Die DRV Rheinland-Pfalz hat gemeinsam mit den Universitäten Freiburg und Koblenz/Landau ein Modellprojekt zur Reha-Fallbegleitung durchgeführt. Teilnehmer waren Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige mit arbeitsplatzbezogenen Problemen bzw. Arbeitslosigkeit, welche in der Vergangenheit bereits eine Entwöhnungsbehandlung absolviert oder nicht angetreten hatten und im regionalen Umkreis der vorgesehenen Entwöhnungsklinik wohnten. Die Reha-Fallbegleiter waren in diesem Projekt an den 15 beteiligten Fachkliniken angesiedelt, vorgesehen waren bis zu 20 Kontakte, insbesondere in der Prä- und Postphase der Entwöhnungsbehandlung.

    Als wichtiges Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Antrittsquote der Entwöhnungsbehandlung bei den Teilnehmern im Vergleich zu Nichtteilnehmern deutlich höher war (92,6 Prozent im Vergleich zu 60,8 Prozent). Ferner war auch die Quote der planmäßigen Beender deutlich erhöht.

    Fallmanagement bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Prozesse auf eine stärkere Personenzentrierung hin zu optimieren, und erfordert, dass die Prozessverantwortung festgelegt ist. Festzuhalten ist aber, dass Fallmanagement zeit- und personalintensiv ist und eine entsprechende Finanzierung der damit verbundenen Leistungen im gegliederten System erforderlich ist, um diesen Ansatz flächendeckend in der Versorgung zu implementieren.

    Nutzung moderner Informationstechnologien

    Zunehmend spielt der Einsatz neuer Medien in den Bereichen Prävention, Frühintervention sowie Beratung, Therapie und Nachsorge eine wichtige Rolle. Über entsprechende Informationskanäle lassen sich Betroffene, deren Angehörige wie auch Multiplikatoren gezielt ansprechen. Zukünftig werden die elektronischen Medien deutlich an Einfluss gewinnen, während die traditionellen Printmedien (z. B. Zeitschriften, Broschüren) mit einer rückläufigen Erreichungsquote der Bevölkerung zu rechnen haben.

    Die kommerziellen Anbieter von Apps und Programmen, die sich mit der Gesundheit beschäftigen, entwickeln laufend neue Programme. Hier ist ein enormer Wirtschaftsmarkt entstanden. Laut Deutschem Ärzteblatt umfasst in den USA der App-Store von Apple bereits über 100.000 Apps zur Lebensqualität, zu Fitness und Gesundheit. Das Marktvolumen mobiler Gesundheitsangebote (mhealth 2016) umfasste ca. 20 Milliarden US-Dollar (Beerheide 2016). Zudem weisen Gesundheits-Apps wenig Evidenz auf, es gibt keine Standards und Qualitätskriterien dafür, auch ist die Frage eines Zulassungsverfahrens ungeklärt (ebd.).

    Hier stellt sich die Frage, ob es beispielsweise im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie in Deutschland möglich wäre, zertifizierte und anerkannte Angebote zu schaffen, die wissenschaftlich abgesichert, interessensneutral und kostenfrei zugänglich sind. Denkbar wäre es, spezifische Apps für Betroffene, Multiplikatoren und Angehörige zu entwickeln, die als Wegweiser für die jeweiligen Nutzer eine Chance bieten, sich umfassend zu informieren über entsprechende Erkrankungsbilder, Behandlungsangebote, Antragsverfahren etc. Über Gesundheits-Apps lassen sich Gesundheitsthemen lebendig, anschaulich und zielgruppenspezifisch aufbereiten. Suchtbezogene Themen lassen sich hierbei zum einen in allgemeine Gesundheitsthemen integrieren, zum anderen aber auch sehr spezifisch darstellen.

    Der Ausbau von bundesweit abgestimmten, interessensneutralen und anerkannten Angeboten ist auch im Bereich der Online-Beratung oder der Telefonserviceangebote denkbar.

    4. Schlussbemerkungen und Ausblick

    Es gibt zwar einen breiten Konsens hinsichtlich der allgemeinen Zielsetzung, einen frühzeitigen und nahtlosen Zugang zu einer bedarfs- und leitliniengerechten Therapie und Rehabilitation bei Suchterkrankungen sicherzustellen. Allerdings bestehen in der Realität erhebliche Hürden und Schnittstellenprobleme, die nicht zuletzt auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Leitungsträgern und Leitungserbringern beruhen. Aus Sicht der betroffenen Menschen wäre es erforderlich, dass ein integriertes, berufsgruppenübergreifendes und bedarfsgerechtes Versorgungs- und Hilfesystem existiert, das einen möglichst nahtlosen Zugang zu den erforderlichen Leitungen ermöglicht. Dies ist auch eine wesentliche Zielsetzung des Bundesteilhabegesetzes, des Flexirentengesetzes und des Präventionsgesetzes. Gefragt sind somit Brückenkonzepte und sektorenübergreifende Interventionsstrategien.

    Angesichts des zum Krankheitsbild einer Abhängigkeit gehörenden vergleichsweise geringen Problembewusstseins der Betroffenen und der bestehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen ist es besonders wichtig, dass alle in den verschiedenen Versorgungssektoren Tätigen (z. B. niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhaus- und Pflegepersonal) ihre Aufmerksamkeit für substanzgebundene und -ungebundene Störungen systematisch erhöhen (Günthner, Weissinger et al. 2016).

    Darüber hinaus sind – so entsprechende Kernpunkte zur Implementierung der S3-Leitlinie Alkoholbezogene Störungen (ebd., S. 202 f.) – folgende Erfordernisse zu beachten:

    • niedrigschwelle wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten Beratungs- und Behandlungseinrichtungen vorzuhalten,
    • zeitnah personenzentrierte und passgenaue Hilfen für Menschen mit einer suchtbezogenen Störung wie auch für deren Angehörige zur Verfügung zu stellen,
    • Maßnahmen zum Screening/zur Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, in allen Einrichtungen der Versorgung mit geeigneten Instrumenten durchzuführen.

    Dort, wo es erforderlich ist, sollten die Leistungserbringer durch Fallmanager (z. B. Konsil- und Liaisondienste in Krankenhäusern) systematisch unterstützt werden. Durch das systematische Zusammenwirken der beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer sollten entsprechende Leistungen wie aus einer Hand erbracht werden.

    Kontakt:

    Dr. Volker Weissinger
    Geschäftsführer
    Fachverband Sucht e.V.
    Walramstraße 3
    53175 Bonn
    Tel. 02 28/26 15 55
    sucht@sucht.de

     

     

    Angaben zum Autor:

    Dr. Volker Weissinger ist Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS), Bonn.

    Literatur:

    • Bachmeier, R. et al. (2015): Basisdokumentation 2014 – Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, in: Fachverband Sucht e.V. (Hg.): Basisdokumentation 2014 – Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e.V., 6-30
    • Beerheide, R., (2016): Gesundheits-Apps – Viele Chancen, wenig Evidenz, Deutsches Ärzteblatt Jg. 113, Heft 26, 1. Juli 2016, A 1242 f.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2016): Komorbide Suchtprobleme – Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation, Berlin
    • Effertz, T. (2015): Die volkswirtschaftlichen Kosten gefährlichen Konsums – eine theoretische und empirische Analyse für Deutschland am Beispiel Alkohol, Tabak und Adipositas, Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaft, Frankfurt a.M.
    • Fachverband Sucht e.V. (2012): Leitbild und Positionen zur Suchtkrankenhilfe und -behandlung, SuchtAktuell 02.12
    • Gesundheitsziele.de (2015): Alkoholkonsum reduzieren, Bundesanzeiger 19.05.2015, 15-20
    • Görgen, W., Hartmann, R. (2002): Neue Wege in der Behandlung Suchtkranker in der frühen Sekundärprävention, Geesthacht
    • Gross, B. (2016): „Sucht bewegt, Zugangswege erweitern“ aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung Bund, SuchtAktuell 02.16, 14-17
    • Günthner, A., Weissinger, V. et al. (2016): Versorgungsorganisation, in: Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg, 191-210
    • Kainz, B., Schröder, A., Glattacker, M., Wenzel, D., Hoffmann, S., Kulick, B., Jäckel, W. H. (2011): Inanspruchnahme und Akzeptanz des Modells „Reha-Fallbegleitung bei Alkohol-, Medikamenten und Drogenabhängigen mit erwerbsbezogenen Problemen“, SuchtAktuell 02.11, 40-46.
    • Kirchner, P. (2016): „Nahtloser Zugang zu Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung am Beispiel von ISBA“ – Vortrag anlässlich des 29. Heidelberger Kongress des FVS, 15.06.2016
    • Liegmann, K. (2015): Risiko Alkohol? Früherkennung und Intervention in der Hausarztpraxis, Bremen
    • Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hg.) (2016): S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen, Heidelberg
    • Martin, H. (2016): Neue Zugangswege – eine Herausforderung auch für Kostenträger?, SuchtAktuell 02.16, 18-20
    • Mikoteit, T. (2016): Spezielle Angebote für (Sucht)kranke im Jobcenter Essen, SuchtAktuell 02.16, 24-29
    • Missel, P. (2016): Zugangswege erweitern! … aus Sicht der Suchtbehandler, SuchtAktuell 02.16, 36-38
    • Rall, P. (2012): Liaisondienst Rems-Murr Klinik Schorndorf – ein Modell der Frühintervention im Allgemeinkrankenhaus, SuchtAktuell 01.12, 54-59
    • Schneider, B., Götz, H., Groos, J. (2005): Kooperation und Vernetzung von Akutbehandlung und Rehabilitation: Auf dem Weg zur Integrierten Versorgung, SuchtAktuell 02.05, 28-31
    • Schubert, M., Partier, K., Kupka, P., Krüger, U., Holke, J., Fuchs, Ph. (2013): Menschen mit psychischen Störungen im SGB II, IAB-Forschungsbericht 12/2013 (Aktualisierte Fassung vom 04.11.2013), Nürnberg
    • Trautmann, S., Pieper, L., Kuitunen-Paul, S., Manthey, J., Wittchen, H.-U., Bühringer, G., Rehm, J. (2016): Prävalenz und Behandlungsraten von Störungen durch Alkoholkonsum in der primärärztlichen Versorgung in Deutschland, Sucht (2016), 62 (4), 233-243
    • Trautmann, S., Wittchen., H.-U. (2016): Häufigkeit und Versorgungssituation von Suchterkrankungen in Deutschland, SuchtAktuell 02.16, 11-13
    • Ueberschär, I., Kampschick, U., Schmidtke, B., Retzlaff, R. (2017): Die Notwendigkeit eines einfachen Zugangs in die Rehabilitation Suchtkranker, SuchtAktuell 01.17, 11-14
    • Wienberg, G. (1992): Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen, Bonn
  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.

  • Aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Mit dem vorliegenden Beitrag werden die aktuellen Entwicklungen der Anträge und Bewilligungen sowie die Änderungen in der Statistik im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung dargestellt. Zunächst wird der Verlauf der Antrags- und Bewilligungszahlen für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker in den letzten zehn Jahren betrachtet. Diese Daten für den Bereich der gesamten Rentenversicherung stammen aus der Antrags- und Erledigungsstatistik gemäß § 3 RSVwV (Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Statistik in der Rentenversicherung).

    Entwicklungen von 2005 bis 2014

    Die Statistik zeigt, dass die Antragszahlen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker für den Bereich der gesamten Rentenversicherung bis zum Jahr 2007 gestiegen sind und seitdem kontinuierlich zurückgehen. Ausgenommen hiervon ist das Jahr 2009 (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Diese Situation spiegelt sich vergleichbar bei den Bewilligungen wider. Hier ist eine Steigerung der Bewilligungen bis zum Jahr 2009 zu sehen und seitdem ein kontinuierlicher Rückgang bis zum Jahr 2013 zu verzeichnen. Im Jahr 2014 steigen die Bewilligungen wieder leicht an (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2
    Abbildung 2

    Die möglichen Gründe für den seit Jahren zu verzeichnenden Antragsrückgang sind ausführlich in Gesprächen zwischen der Rentenversicherung und den Suchtfachverbänden sowie in der aus Suchtfachverbänden und Vertretern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Deutschen Rentenversicherung (DRV) gebildeten gemeinsamen Unterarbeitsgruppe „Frühzeitiger und nahtloser Zugang“ erörtert worden. Im Ergebnis wird angenommen, dass nicht ein Grund allein, sondern eine Reihe von Gründen zusammen den Rückgang der Antragszahlen bewirkt. Einen Grund für den Rückgang der Antragszahlen im Bereich der Rentenversicherung stellt beispielsweise die zum 1. Januar 2011 erfolgte Aufhebung der Versicherungspflicht für Arbeitslosengeld-II-Bezieher in der Rentenversicherung dar.

    Wie sehen die aktuellen Zahlen aus?

    Gehen die Anträge seit 2014 weiter zurück? Die Beantwortung dieser Fragen ist durch statistische Änderungen erschwert. Zum 1. Januar 2015 ist die Statistik von Rehabilitationsanträgen dahingehend geändert worden, dass nur noch Hauptleistungen dargestellt werden. Nachsorgeleistungen und Adaptionen werden nur nachrichtlich ausgewiesen. Das bedeutet, dass die Darstellung in separaten Tabellen erfolgt, da es sich bei Adaptionen und Nachsorgeleistungen um Folgeleistungen zu einer Hauptleistung handelt. Ebenso sind Kombinationsbehandlungen und andere Mischfälle (ambulante Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen Phase oder ganztägig ambulante Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit Verkürzung der vorherigen stationären Phase) betroffen. Für die Antragsstatistik zählt damit künftig nur noch der Antrag für die erste Phase der Kombinationsbehandlung bzw. des Mischfalles.

    Die Vorteile der statistischen Änderungen sind u. a., dass konsequent zwischen Haupt- und Folgeleistungen unterschieden wird und die statistische Behandlung aller Folgeleistungen einheitlich erfolgt.

    Gleichwohl ergibt sich ein Bruch in der Zeitreihenkontinuität der Auswertungsergebnisse der Reha-Antragsstatistik der DRV. Die Mengengerüste der Hauptleistungen der Entwöhnungsbehandlungen vor und nach der Umstellung sind systematisch deshalb nicht vergleichbar. Dies soll zunächst anhand der Daten zu den Bewilligungen für die Jahre 2014 und 2015 verdeutlicht werden.

    Im Jahr 2014 wurden unter Berücksichtigung von Suchtnachsorgeleistungen und Adaptionen in der gesamten Rentenversicherung 81.710 Anträge in der Indikation der Abhängigkeitserkrankungen bewilligt. Für das Jahr 2015 werden ohne die Berücksichtigung von Folge- bzw. Teilleistungen 59.057 bewilligte Anträge ausgewiesen. Adaptionsleistungen wurden im Jahr 2015 im Umfang von 4.917 Leistungen bewilligt, Suchtnachsorgeleistungen im Umfang von 15.816. Unter Berücksichtigung von Suchtnachsorgeleistungen und Adaptionen würde sich somit eine Gesamtanzahl von Bewilligungen in Höhe von 79.790 ergeben. Hieraus berechnet sich ein Rückgang bei den Bewilligungen von rund einem Prozent. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass nunmehr die einzelnen Phasen von Kombinationsleistungen nicht mehr statistisch zählen. Das bedeutet, dass sich der Rückgang der Bewilligungen weiter abschwächen würde. Da die Anzahl aller Kombinationsphasen, die bisher mehrfach gezählt wurden, nicht erfasst werden kann, lässt sich eine genauere Aussage zum Rückgang der Bewilligungen in 2015 leider nicht treffen.

    Letztlich führen die statistischen Änderungen zu einer besseren Vergleichbarkeit und Transparenz der Daten in der Rentenversicherung. Gleichwohl muss in Kauf genommen werden, dass ein Vergleich der Daten aus 2014 (vor der Änderung) mit Daten aus 2015 (nach der Änderung) nicht, beziehungsweise nur eingeschränkt möglich ist.

    Vergleichbar miteinander sind jedoch wieder die Jahre 2015 und 2016. In Tabelle 1 wird jeweils das erste Halbjahr dargestellt.

    Tabelle 1
    Tabelle 1

    Die Daten zeigen, dass sich der Antragsrückgang leider weiter fortsetzt. Dagegen ist bei den Bewilligungszahlen der Rückgang geringer ausgeprägt. Es bleibt uns allen zu wünschen, dass die Ergebnisse der gemeinsamen Unterarbeitsgruppe in den nächsten Jahren Wirkung zeigen und auch dazu führen werden, den Abwärtstrend bei den Anträgen zu stoppen.

    Abschließend der Hinweis, dass für Daten aus der Rentenversicherung ein neues Portal eingerichtet wurde. Jeder kann Zahlen unter https://statistik-rente.de erhalten. Für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind Daten zu den abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen seit 2010 enthalten. Schauen Sie doch mal rein!

    Hinweis zur Bedienung des Statistikportals:

    https://statistik-rente.de > Rehabilitation > Medizinische Rehabilitation > Entwöhnungsbehandlungen für Erwachsene > Link zum interaktiven Bericht. Klicken Sie im interaktiven Bericht mit der rechten Maustaste auf den Datenbereich der Tabelle. Im DropDown-Menü können Sie dann eine Aktion auswählen (z. B. Filtern nach Berichtsjahr).

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Barbara Müller-Simon
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Rehabilitationsrecht (0450)
    im Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Ruhrstraße 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-39362
    barbara.mueller-simon@drv-bund.de

    Thomas Bütefisch
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    GB 0700 – Finanzen und Statistik
    Bereich 0760 – Statistische Analysen
    Ruhrstraße 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-89555
    thomas.buetefisch@drv-bund.de
    http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de

  • Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Komorbide Suchtprobleme in der medizinischen Rehabilitation

    Dr. Joachim Köhler
    Dr. Joachim Köhler

    Problematischer Suchtmittelkonsum (riskanter Konsum, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit) macht vor somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen nicht Halt. Er fällt dort aber eher selten auf, und es bestehen Unsicherheiten, wie damit umgegangen werden soll. Dabei bietet die Rehabilitation gute Voraussetzungen für die Diagnostik möglicher Suchtprobleme sowie für Beratung und ggf. Vorbereitung einer weiterführenden Behandlung. Konkrete Empfehlungen für das Vorgehen in der Praxis liegen nun in Form der Broschüre „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ vor. Sie beschreiben einen mehrstufigen Prozess für Screening und Diagnostik, der gut in die Klinikabläufe integriert werden kann, und zielen auch auf die Sensibilisierung der Mitarbeiter/innen ab.

    Entstehung der Praxisempfehlungen

    Die Praxisempfehlungen für komorbide Suchtprobleme sind als Folgeprojekt nach ersten Praxisempfehlungen für psychologische Interventionen in der Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen und koronarer Herzerkrankung entstanden. Die DRV Bund verbindet mit der Förderung dieses Projekts den Wunsch, die im Zusammenhang mit Suchterkrankungen in somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen bestehenden Unsicherheiten und Schwierigkeiten zu thematisieren. Es werden einfache Maßnahmen aufgezeigt, die den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen als evidenzbasierte Entscheidungshilfe bei Screening, Diagnostik, Intervention und Dokumentation dienen. Sie sollen die Rehabilitationseinrichtungen dabei unterstützen, bei diagnostischen und therapeutischen Interventionen eine klare Vorgehensweise, einen effizienten Personaleinsatz, eine gute Wirksamkeit sowie eine hohe Zufriedenheit bei Patient/innen und Mitarbeiter/innen zu erreichen.

    Entwickelt wurden die Empfehlungen von einer multiprofessionellen Expertengruppe im Rahmen des Projektes „Praxisempfehlungen zum Umgang mit komorbiden Suchtproblemen in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation“ am Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS) des Universitätsklinikums Freiburg. Das Projekt wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund von 2014 bis 2016 gefördert und ist nun mit der Vorlage der Ergebnisse abgeschlossen. Die Praxisempfehlungen liegen als Kurz- und Langfassung vor und werden durch einen Materialband ergänzt. Alle Dokumente stehen als PDF-Dateien auf der Homepage des AQMS www.severa-fr.de > Praxisempfehlungen zum Download zur Verfügung.

    Inhalt und Aufbau

    Die Praxisempfehlungen richten sich an alle Mitarbeiter/innen in somatischen und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen für Erwachsene, die nicht auf Abhängigkeitserkrankungen spezialisiert sind, und sollen dazu beitragen, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Dies steht auch im Einklang mit der aktuellen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, die eine systematische Erhöhung des Problembewusstseins in allen Versorgungsbereichen, den Ausbau von Konsil- und Liaisondiensten sowie die Intensivierung von Maßnahmen zur Früherkennung fordert.

    Die Praxisempfehlungen beziehen sich auf alle stoffgebundenen Suchtprobleme (Alkohol, Medikamente und illegale Drogen) mit Ausnahme von Tabak. Sie wurden in mehreren Schritten entwickelt. Neben einer umfassenden, systematischen Recherche nach relevanten Übersichtsarbeiten und Leitlinien wurden bundesweit stationäre Reha-Einrichtungen aller Indikationsbereiche (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen) zur gegenwärtigen Praxis ihres Umgangs mit dem Thema befragt. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde im Rahmen eines Expertenworkshops eine Konsultationsfassung der Praxisempfehlungen formuliert, die schließlich mit der Bitte um Kommentierung an die ärztlichen Leitungen von stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen (mit Ausnahme von Fachkliniken für Abhängigkeitserkrankungen und reinen Kinder- und Jugendlichen-Einrichtungen) verschickt wurde. Außerdem wurde im Rahmen von Fokusgruppen mit Rehabilitand/innen über zentrale Aspekte der Praxisempfehlungen diskutiert. Die Anmerkungen und Kommentare wurden ausgewertet und bei der abschließenden Konsentierung der Praxisempfehlungen durch die Experten berücksichtigt.

    Die Praxisempfehlungen gliedern sich in drei Teile A, B und C:

    • Teil A umfasst allgemeine Vorbemerkungen.
    • Teil B enthält allgemeine Informationen zu diagnostischen Kriterien, Definitionen zu risikoarmem und riskantem Konsum, Informationen zu den verschiedenen Suchtstoffen und dem Suchthilfesystem.
    • Teil C ist der eigentliche Empfehlungsteil. Er enthält Empfehlungen zu Einrichtungsstandards, zu Screening und Diagnostik, möglichen Interventionen und zur Dokumentation sowie Empfehlungen zu Sondersituationen. Grundtenor der Empfehlungen zu möglichen Interventionen ist, dass hier realistische Ziele gesetzt werden sollten. Ziel ist nicht die eigenständige Behandlung der Suchtproblematik in nicht-spezialisierten Einrichtungen. Im Rahmen der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation geht es vielmehr um die Bewusstmachung der Problematik bei den betroffenen Rehabilitand/innen, die Vermittlung von Informationen über Risiken und die Motivierung für weiterführende Maßnahmen. In Einrichtungen der psychosomatischen Rehabilitation kann bei entsprechender personeller Ausstattung auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik erfolgen. Dabei ist eine Fortführung der psychosomatischen Rehabilitation bei gesicherter Diagnose einer substanzbezogenen Störung denkbar. Wenn Rehabilitationsfähigkeit besteht und die Rehabilitationsziele zumindest teilweise erreichbar sind, kann die Rehabilitationsmaßnahme – ggf. unter Auflagen – fortgeführt und die Zeit für eine weitere Motivierung der Rehabilitand/innen, ihre Suchtproblematik behandeln zu lassen, genutzt werden.

    Ausblick

    cover_r-broschuere-komorbide-suchtproblemeEs ist zu hoffen, dass somatische und psychosomatische Rehabilitand/innen mit komorbiden Suchtproblemen zukünftig eher auf ihre Suchtproblematik angesprochen werden und weitere diagnostische und therapeutische Schritte eingeleitet werden können. Dies kann auch die konkrete Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstellen und ambulanten und stationären Entwöhnungseinrichtungen verbessern und den Zugang in die Suchtrehabilitation erleichtern. Entwöhnungseinrichtungen können die Broschüre aktiv nutzen, um die Kooperation mit somatischen und psychosomatischen Reha-Einrichtungen zu verbessern.

    Am 26.09.2016 fand eine Einführungsveranstaltung für somatische und psychosomatische Kliniken in Berlin statt. Mehr Informationen hierzu unter: www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozialmedizin_forschung/01_sozialmedizin/06_publikationen_veranstaltungen/2016_09_26_praxisempfehlungen.html

    Die Langfassung der Praxisempfehlungen steht auch als Broschüre der DRV Bund zur Verfügung und kann bei Bedarf zugeschickt werden bzw. unter dem oben angegebenen Link heruntergeladen werden.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. med. Joachim Köhler
    Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
    Sozialmedizin, Magister Public Health
    Deutsche Rentenversicherung Bund
    Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation
    Referat 0441 Grundsatzaufgaben der Sozialmedizin
    R 6207
    Ruhrstr. 2
    10709 Berlin
    Tel. 030/865-35751
    drmed.joachim.koehler@drv-bund.de

  • Einführung ins Titelthema

    Einführung ins Titelthema

    Seit einigen Jahren sind deutliche Veränderungen für die Arbeit in der Suchtrehabilitation zu beobachten: Neue Konsumgewohnheiten der Klientel machen die Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten erforderlich. Die Antragszahlen gehen – mit deutlichen regionalen Unterschieden – zurück und führen zu gemeinsamen Überlegungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern, wie der Zugang in die Reha erleichtert werden kann oder neue Zugangswege erschlossen werden können. Zusätzlich wird die Finanzierungssituation der Einrichtungen immer schwieriger. Die Notwendigkeit, Kooperationen zu schließen – insbesondere mit der ambulanten Suchthilfe –, nimmt zu, denn die Betreuungs- und Behandlungsverläufe werden komplexer und die Segmentierung der unterschiedlichen sozialrechtlichen Leistungsbereiche in der Suchthilfe bleibt weiterhin bestehen. Diese Faktoren haben erhebliche Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Reha-Einrichtungen. Mit dem aktuellen Titelthema wollen wir einige dieser Entwicklungen näher beleuchten. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Aspekte erscheint das Titelthema in drei Teilen.

    Der erste Teil befasst sich mit den konzeptionellen Herausforderungen, die durch die veränderten Konsumgewohnheiten von Suchtkranken (zunehmender Mischkonsum), die Verschiebung bei den zuständigen Leistungsträgern (steigender GKV-Anteil) und auch durch die verstärkte berufliche Orientierung in der Suchttherapie (Umsetzung der BORA-Empfehlungen) entstanden sind. Zwei neu eröffnete Fachkliniken aus Norddeutschland haben darauf mit innovativen Konzepten reagiert. In zwei Artikeln schildern sie ihre ersten praktischen Erfahrungen mit stoffübergreifenden Bedarfsgruppen.

    Im zweiten Teil des Titelthemas geht es um veränderte Rahmenbedingungen der Suchtrehabilitation aus Sicht der Leistungsträger. Barbara Müller-Simon und Thomas Bütefisch erläutern die neue statistische Darstellung der Maßnahmen in der Suchtrehabiliation und den Rückgang der Anträge. Dr. Joachim Köhler berichtet über die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu komorbiden Suchterkrankungen in der somatischen und psychosomatischen Reha. Klaus Gerkens stellt die Überlegungen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zur bundesweiten Etablierung eines ‚Nahtlosverfahrens’ für den Übergang aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnung dar.

    Der dritte und letzte Teil des Titelthemas greift zwei wichtige Entwicklungen aus der Perspektive der Einrichtungen auf. Stefan Bürkle setzt sich mit der Kooperation zwischen  ambulanter und stationärer Suchthilfe auseinander. Dr. Theo Wessel und Prof. Andreas Koch erläutern anhand von aktuellen Zahlen und konkreten Beispielen die teilweise dramatische Finanzierungssituation für viele Einrichtungen.