Schlagwort: Medizinische Rehabilitation

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems

  • Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    Dr. Matthias Brecklinghaus

    Die letzten beiden Jahrzehnte waren geprägt von einem Boom der Hirnforschung und der Neurowissenschaften. In einer fast schon euphorischen Aufbruchsstimmung wurde die Hoffnung genährt, bald die komplexen Hirnfunktionen besser verstehen zu können. Berechtigt zu dieser Hoffnung sah man sich u. a. durch moderne bildgebende Verfahren wie der Magnetresonanztomographie. Mit dieser Technik können nicht nur die Strukturen des Gehirns, sondern auch – in Verbindung mit bestimmten Blutmarkern – seine Funktionen detailliert dargestellt und erforscht werden. Man glaubte, durch ein vertieftes und umfassendes Verständnis der Hirnfunktionen schließlich auch krankhafte Zustände des Gehirns besser behandeln zu können. Insbesondere in der Neurologie und Psychiatrie erwartete man zahlreiche neue (medikamentöse) Behandlungsmöglichkeiten, z. B. bei Demenz, Depression, Psychosen sowie bei Suchterkrankungen.

    Grenzen der Neurowissenschaften

    Zwischenzeitlich ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Die Wissenschaft hat zwar eine enorme Menge an neuem Detailwissen hervorgebracht. Jedoch taten sich mit jedem Wissenszuwachs auch wieder zahlreiche neue Fragen auf. Und so bleibt die Erkenntnis, dass es eher schwieriger als einfacher wird, die Komplexität der Hirnfunktionen umfassend zu begreifen, je tiefer man in die Materie eindringt.

    Für die Sucht beispielsweise werden oft und gerne die Modelle vom ‚Belohnungssystem‘ und vom ‚Suchtgedächtnis‘ bemüht, um bestimmte Phänomene der Abhängigkeitserkrankung verständlich zu machen. Und in der Tat haben diese Modelle durchaus einen didaktischen Wert. Da sie jedoch nur eine starke Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit darstellen, bleibt es eine Illusion, zu glauben, man könne mit ihnen eine Suchterkrankung umfassend erklären. Beispiel: Man kann mit dem ‚Belohnungssystem‘ und ‚Suchtgedächtnis‘ zwar plausibel machen, wie ein Suchtmittelverlangen getriggert wird. Jedoch erklären diese Modelle nicht, wieso jemand bei gleichem Suchtmittelverlangen in einer Situation widerstehen kann, in einer anderen jedoch nicht.

    Bei der Sucht handelt es sich um eine Erkrankung, die in einem vielschichtigen Bedingungsgefüge von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren entsteht. Angesichts dieser Tatsache erscheint es grundsätzlich unrealistisch, dass Suchterkrankungen allein medikamentös erfolgreich behandelt bzw. überwunden werden können. Denn wie soll ein Medikament, das sich biologischer Wirkmechanismen bedient, die psychosozialen Faktoren beeinflussen können? Es liegt auf der Hand, dass ein Medikament dazu nicht in der Lage ist. Dennoch hält sich hartnäckig die Hoffnung, man könne vielleicht in Zukunft die Suchterkrankung mit einem Medikament heilen.

    Medikamente zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

    Derzeit sind fünf Medikamente auf dem Markt, die zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit – genauer gesagt zur Rückfallvorbeugung und/oder zur Trinkmengenreduktion – zur Verfügung stehen:

    • Disulfiram (Handelsname z. B. Antabus®)
    • Acamprosat (Handelsname z. B. Campral®)
    • Naltrexon (Handelsname z. B. Adepend®)
    • Baclofen (Handelsname z. B. Lioresal®)
    • Nalmefen (Handelsname z. B. Selincro®)

    Im Folgenden sollen die genannten Medikamente im Detail dargestellt und bewertet werden.

    Disulfiram

    Die Substanz wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in der Gummiherstellung benutzt. Es ist zu lesen, dass bei den Arbeitern der Gummiherstellung eine gewisse ‚Alkoholunverträglichkeit‘ festgestellt und so die Wirkung des Disulfiram entdeckt worden sei. Fakt ist, dass Disulfiram durch enzymatische Hemmung den Abbau von Acetaldehyd – ein Abbauprodukt des (Ethyl)Alkohols – blockiert. So kommt es bei Alkoholkonsum und gleichzeitiger Medikation mit Disulfiram zu einer inneren Vergiftung mit Acetaldehyd, was sich in Symptomen wie Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzrhythmusstörungen und Kollapsneigung äußert. Diese Symptome sind äußerst unangenehm. Betroffene, die das Medikament erhalten, werden über die Wirkung bei gleichzeitigem Alkoholkonsum aufgeklärt. Behandler und Betroffene erhoffen sich über den abschreckenden Effekt der unangenehmen Wirkung (bei gleichzeitigem Alkoholkonsum) ein Vermeiden des Alkoholkonsums.

    1949 wurde der Wirkstoff erstmals in der Schweiz als Medikament eingesetzt. Breite Anwendung fand er vor allem in den USA, in Frankreich, Großbritannien und in Osteuropa, dort vor allem auch in Form eines unter die Haut eingesetzten Medikamentendepots mit Langzeitwirkung. In Deutschland blieb der Einsatz auch unter Experten umstritten und hat sich bis heute nicht etabliert. Lediglich in einzelnen Zentren wurde mit dem Medikament gearbeitet, zum Teil auch in Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung. Ein Teil der Zurückhaltung mag darin begründet sein, dass es in den 50er und 60er Jahren vereinzelt Todesfälle unter hochdosierter Disulfiram-Medikation gab. Ein weiterer Grund für den zögerlichen Einsatz sind wohl auch grundsätzliche Bedenken, inwiefern das Prinzip der Abschreckung mit dem Ziel eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung vereinbar ist.

    Sollte man sich trotz dieser grundsätzlichen Bedenken für eine Behandlung mit diesem Medikament entscheiden, ist – allein schon aufgrund der potenziellen medizinischen Gefahren – auf jeden Fall ein engmaschiger Kontakt des Patienten zum behandelnden Arzt erforderlich. Kritiker dieser Medikation argumentieren auch damit, dass ein Teil des nachgewiesenen abstinenzstabilisierenden Effektes wohl eher auf den engen Arzt-Patienten-Kontakt als auf die eigentliche Wirkung des Medikamentes zurückzuführen sei. Befürworter dieser Medikation argumentieren, dass nicht für alle Betroffenen das Ideal eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung zu erreichen sei und dass für diese Gruppe von Betroffenen das Medikament – bei sorgfältiger ärztlicher Führung – eine durchaus hilfreiche Option darstellen könne.

    Wie auch immer man sich als Behandler hier positionieren will: Die Herstellerfirma hat zwischenzeitlich die Produktion für den deutschen Markt eingestellt. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass 2011 die Zulassung für Disulfiram in Deutschland nicht mehr verlängert wurde. Zwar ist das Medikament nach wie vor über internationale Apotheken erhältlich, jedoch stellen die beschriebenen Umstände naturgemäß eine deutliche Hürde für die Verordnung dar.

    2015 wurde erstmals eine S3-Leitlinie – eine S3-Leitlinie ist die qualitativ hochwertigste Form einer Leitlinie – mit dem Titel „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ veröffentlicht. Sie entstand in einem aufwendigen, methodisch festgelegten und von einer neutralen Person moderierten Verfahren unter Beteiligung von Fachgesellschaften, Experten sowie von Selbsthilfe- und Angehörigenverbänden. Die in der Leitlinie enthaltenen Empfehlungen stellen somit keine Einzelmeinung dar, sondern sind wissenschaftlich fundiert und im Konsens der Beteiligten formuliert und können somit als derzeit gültiger Orientierungsrahmen für eine ‚kunstgerechte‘ Behandlung gelten. Dabei wird auch eine Empfehlung zur Medikation mit Disulfiram abgegeben. Sie lautet:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken kann bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Disulfiram im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden, wenn andere zugelassene Therapieformen nicht zum Erfolg geführt haben.“

    In der Terminologie der Leitlinien ist die „kann“-Formulierung eine offene Empfehlung. Genau genommen handelt es sich nicht um eine Empfehlung, sondern um die Feststellung einer Option unter definierten Voraussetzungen. Somit bleibt die Empfehlung zum Einsatz von Disulfiram insgesamt recht zurückhaltend und eben begrenzt auf Situationen, in denen andere Behandlungsformen ausgereizt sind.

    Acamprosat

    Acamprosat wurde in Frankreich entwickelt und 1989 zugelassen. In Deutschland kam es 1995 mit der gezielten Indikation „Rückfallprophylaxe nach Alkoholentgiftung“ auf den Markt. Der genaue Wirkmechanismus der Substanz im Gehirn ist noch nicht vollständig verstanden, zumal sie Einfluss auf mehrere Rezeptorsysteme hat. Bei Markteinführung des Medikamentes wurde von der Herstellerfirma behauptet, das Medikament verhindere oder reduziere das Suchtmittelverlangen. Dies ließ sich in den hierzu durchgeführten Studien jedoch nicht belegen.

    Studienergebnisse zur Häufigkeit von Rückfällen unter Medikamenteneinnahme waren widersprüchlich, d. h. manche Studien zeigten eine Minderung der Rückfallhäufigkeit, andere nicht. Die widersprüchliche Datenlage wird heute so erklärt, dass Acamprosat offenbar doch einen nachweisbaren Effekt auf die Rückfallhäufigkeit hat, aber dass von diesem Effekt nicht alle Behandelten profitieren. Zwischenzeitlich bemüht sich die Forschung um Klärung der Frage, welche Kriterien Einfluss darauf haben, ob das Medikament in der gewünschten Weise wirkt oder nicht. Darauf stützt sich die Hoffnung, das Medikament in Zukunft passgenauer einsetzen zu können. Die Erwartungen dürfen jedoch nicht sehr hoch geschraubt werden, da selbst die Studien, die die gewünschte Wirkung nachgewiesen haben, keinen besonders großen Effekt zeigen konnten. Eine Kennzahl, die dies zum Ausdruck bringt, ist die NNT (number needed to treet), die mit 9 angegeben wird. Das heißt, dass durchschnittlich neun Patienten mit Acamprosat behandelt werden müssen, bis einer der Behandelten vom gewünschten Effekt profitiert.

    Trotz dieser sehr ernüchternden Zahlen gibt die S3-Leitlinie immerhin eine (einfache) Empfehlung ab, die Möglichkeiten des Medikamentes zu nutzen; allerdings unter klar formulierten Voraussetzungen und Einschränkungen:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken sollte bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Naltrexon

    Naltrexon wird schon seit den 90er Jahren unterstützend in der Entwöhnung Opiatabhängiger eingesetzt. Seit 2010 ist es in Deutschland auch zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zugelassen. Chemisch gesehen ist die Substanz dem Opium ähnlich und kann daher auch die im Gehirn befindlichen Opiatrezeptoren besetzen. Dies tut die Substanz allerdings, ohne die weiteren Wirkungen des Opiums auszulösen. Medizinisch gesehen wird die Substanz daher als Opiatrezeptor-Antagonist (Antagonist = Gegenspieler) bezeichnet. Die gewünschte Wirkung als Medikament kann man sich in etwa so vorstellen: Naltrexon besetzt die Opiatrezeptoren, dadurch können die körpereigenen Opioide, die für den angenehmen, rauschartigen Effekt des aktivierten ‚Belohnungssystems‘ verantwortlich sind, nicht mehr zur Geltung kommen. Daher spürt der Alkoholkonsument auch nicht mehr die sonst so positiv und angenehm erlebte Alkoholwirkung. Der ausbleibende ‚Belohnungseffekt‘ soll dafür sorgen, dass der Betroffene nicht mehr so ein starkes Verlangen nach Alkohol verspürt und im Idealfall daher keinen Alkohol mehr trinkt.

    Soweit die Theorie. Die Praxis zeigt allerdings – wie so oft – ein komplizierteres und uneinheitlicheres Bild. Ähnlich wie bei Acamprosat nämlich sind die Studienergebnisse kontrovers. Effekte im Hinblick auf eine aufrechterhaltene Abstinenz wurden kaum gefunden, wohl aber Effekte bezogen auf eine Vorbeugung übermäßigen Trinkens bzw. eine Trinkmengenreduktion. Aber selbst diese Effekte sind nicht sehr stark ausgeprägt. Es müssen neun Patienten mit Naltrexon behandelt werden, um bei einem Patienten einen gewünschten Effekt festzustellen (NNT = 9). Und ebenso wie bei Acamprosat bemüht sich die Forschung derzeit, Kriterien herauszufinden, mit denen man ein ‚Ansprechen‘ auf das Medikament besser vorhersagen kann. Bei so viel Ähnlichkeit bezüglich der wissenschaftlichen Evidenz erstaunt es nicht, dass die S3-Leitlinie für beide Medikamente in einem Atemzug dieselbe Empfehlung gibt (s. o.).

    Baclofen

    Die Geschichte der Entdeckung von Baclofen als Medikament zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit ist eine außergewöhnliche. Als Medikament wurde es erstmals 1962 als Mittel gegen Krampanfälle eingesetzt. Dabei war das Medikament jedoch nicht sehr erfolgreich. Später entdeckte man seine Wirksamkeit gegen eine Erhöhung des Muskeltonus, z. B. bei einer Spastik. Mit dieser Indikation wurde es jahrzehntelang in der Behandlung bestimmter neurologischer Erkrankungen angewendet.

    2009 machte ein französischer Arzt, Oliver Ameisen, in einem Selbstversuch die Erfahrung, dass ihm das Medikament bei der Überwindung seiner Alkoholabhängigkeit half. Nach erfolgreichem Eigenversuch setzte er das Medikament schließlich auch bei seinen Patienten zur Behandlung von Alkoholproblemen ein und war dabei – nach seiner Darstellung – ebenfalls erfolgreich. Er schrieb darüber ein Buch („Das Ende meiner Sucht“, Verlag Kunstmann), das viel Aufmerksamkeit erntete. In der Folge wurde das Medikament in Frankreich (und inzwischen auch außerhalb Frankreichs) vermehrt nachgefragt und eingesetzt. Überzeugende wissenschaftliche Belege der Wirkung bei Alkoholabhängigkeit stehen jedoch noch aus. Drei bisher durchgeführte Studien zeigen widersprüchliche Ergebnisse: Während zwei von ihnen eine geringere Rückfallhäufigkeit (im Vergleich zu Placebo) zeigen konnten, ließ eine dritte Studie dieses Ergebnis vermissen. Insgesamt fehlen noch aussagekräftige Studien mit ausreichend vielen Teilnehmern.

    Da Baclofen nicht offiziell zur Behandlung bei Alkoholabhängigkeit zugelassen ist, entstehen für den behandelnden Arzt, der das Medikament bei Alkoholabhängigkeit einsetzen will (so genannter Off-Label-Use), mögliche Haftungsprobleme. Schon aus diesem Grund ist – ungeachtet der noch ausstehenden wissenschaftlichen Belege der Wirksamkeit – von ärztlicher Seite her Zurückhaltung geboten. In der S3-Leitlinie wird Baclofen gar nicht erst erwähnt.

    Nalmefen

    Nalmefen ist chemisch gesehen dem Naltrexon sehr ähnlich und wirkt auch als Opiatrezeptor-Antagonist. Dementsprechend ist der Wirkmechanismus identisch: fehlender ‚Genuss- bzw. Belohnungseffekt‘ bei Alkoholkonsum durch besetzte Opiatrezeptoren. Im Vergleich zu Naltrexon hat Nalmefen allerdings ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und wirkt sich insbesondere nicht schädigend auf die Leber aus. Das Medikament wurde bereits in den 70er Jahren entwickelt, jedoch erst 2014 in Deutschland für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen.

    Neu ist, dass bei diesem Medikament erstmals als Ziel die Trinkmengenreduktion angegeben wird. Dies schlägt sich auch in der Art der Einnahme nieder. Nalmefen soll nicht regelmäßig eingenommen werden, sondern nur in Situationen, in denen der Betroffene ein verstärktes Trinken befürchtet bzw. vorhersieht. Das Medikament soll dann bei Bedarf ein bis zwei Stunden vor dem erwarteten Trinken eingenommen werden.

    Die wissenschaftliche Evidenz ist bislang noch recht dürftig: Es liegen drei Studien mit insgesamt 2.000 Teilnehmern vor. Untersucht wurden die Anzahl der Trinktage sowie die durchschnittlich konsumierte Alkoholmenge pro Tag. Die Ergebnisse der Studien sind nicht einheitlich. Wenn statistisch signifikante Ergebnisse (im Sinne einer Trinkmengenreduktion) vorlagen, dann waren die Effekte im Vergleich zur Placebo-Gruppe insgesamt nur gering ausgeprägt (z. B. pro Monat 1,6 Trinktage weniger bzw. pro Tag 6,5 Gramm Alkohol weniger als die Kontrollgruppe). Dementsprechend zurückhaltend ist die Empfehlung der S3-Leitlinie:

    „Wenn das Ziel die Trinkmengenreduktion ist, kann nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Nalmefen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Wie die „kann“-Formulierung zu verstehen ist, wurde oben bereits erläutert. Bei den Empfehlungen der S3-Leitlinie fällt auf, dass alle medikamentösen Behandlungsoptionen nur „außerhalb der stationären Entwöhnung“ empfohlen werden. Diese Formulierung ist so zu verstehen, dass der Entwöhnungsbehandlung – nach vorliegender wissenschaftlicher Evidenz und Expertenkonsens – der Vorrang vor einer möglichen medikamentösen Behandlung gegeben wird.

    Lebenszyklus neuer Medikamente

    Medikamente, die neu auf den Markt kommen (egal, in welchem medizinischen Fachgebiet), unterliegen generell einem gesetzmäßig ablaufendem Zyklus. Die Markteinführung stellt die erste Phase dar. In dieser Phase betreibt die Pharmaindustrie einen großen Werbeaufwand. Systematisch werden bei Behandlern und Behandelten Hoffnungen und Erwartungen geweckt, und in der Folge wird das Medikament häufig verordnet. In einer zweiten Phase kommen Zweifel an der (behaupteten) Wirksamkeit auf, es werden eventuell noch nicht bekannte Nebenwirkungen festgestellt und der (zusätzliche) Nutzen des neuen Medikamentes wird zunehmend in Frage gestellt. In dieser Phase streiten die Experten über die wissenschaftliche Evidenz, da es hierzu in aller Regel widersprüchliche Daten gibt. Es werden schließlich aufwendige und methodisch anspruchsvolle Studien durchgeführt, um die Widersprüche zu klären. Dieser Prozess benötigt oft etliche Jahre. In der dritten Phase ist die wissenschaftliche Evidenz weitgehend geklärt und die Mehrzahl der Experten einigt sich auf eine gemeinsame Bewertung. Diese Bewertung fällt dann in aller Regel deutlich ungünstiger aus als die anfangs propagierten Hoffnungen und Erwartungen. Eine Ernüchterung tritt ein, und die Bedeutung des Medikamentes relativiert sich. Manche Medikamente werden in dieser Phase wieder vom Markt genommen oder in ihrer Indikation eingegrenzt, und etliche Medikamente werden aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr so häufig verordnet, da der zusätzliche Nutzen in keinem Verhältnis zu dem (bei neuen Medikamenten regelhaft) hohen Preis steht. Bis es soweit kommt, vergehen meist fünf bis zehn Jahre. In dieser Zeit hat die Pharmafirma gut an dem Medikament verdient, so dass die dann rückläufigen Verordnungen in aller Regel gut verkraftet werden bzw. schon einkalkuliert sind.

    Hier sollen beispielhaft die monatlichen Behandlungskosten der fünf besprochenen Medikamente in der Reihenfolge ihrer Markteinführung genannt werden:

    • Disulfiram (Markteinführung 1949): 15 Euro/Monat
    • Baclofen (Markteinführung 1962): 13 Euro/Monat
    • Acamprosat (Markteinführung 1989): 71 Euro/Monat
    • Naltrexon (Markteinführung 2010): 125 Euro/Monat
    • Nalmefen (Markteinführung 2014): 80 Euro/Monat

    Vor dem Hintergrund des beschriebenen Lebenszyklus neuer Medikamente ist es nicht verkehrt, neu auf den Markt gebrachten Medikamenten generell mit einer gewissen Skepsis zu begegnen und im Zweifel die Phase 3 abzuwarten, bevor man sich als Behandler für oder gegen den Einsatz des Medikamentes entscheidet.

    Rolle der Pharmaindustrie

    Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Medikamente kommt nicht ohne die Betrachtung der Rolle der Pharmaindustrie aus. Die Unternehmen präsentieren sich zwar (durch Werbung und ihr Auftreten) als Organisationen im Dienste der Gesundheit, aber die Triebfeder ihres Handelns ist nicht primär der gesundheitliche Nutzen, sondern vor allem der ökonomische Erfolg, was für Wirtschaftsunternehmen auch ganz selbstverständlich ist. Die Wirksamkeit eines Medikamentes muss vom Hersteller gegenüber den nationalen Gesundheitsbehörden nachgewiesen werden. Wirksamkeitsnachweise durch klinische Studien sind aufwändig und teuer, sie lohnen sich nur, wenn mit einem Medikament ein entsprechender Gewinn erzielt werden kann. Dabei spielen vor allem betriebswirtschaftliche Überlegungen des Herstellers eine Rolle und nicht eine volkswirtschaftliche bzw. gesundheitsökonomische Kosten-Nutzen-Betrachtung.

    Rolle der Forschung

    Schnelle Ergebnisse

    Nicht nur die Pharmaindustrie gehört auf den Prüfstand, sondern auch die Forschung. Wie andere gesellschaftliche Bereiche auch, ist sie von einem harten Konkurrenzkampf geprägt. Die Expertise eines Wissenschaftlers wird gemessen an der Zahl seiner Veröffentlichungen. Wer nicht fleißig Ergebnisse produziert, ist sehr schnell ‚out‘ und gehört nicht mehr zur Elite. Dieses Prinzip führt – das liegt auf der Hand – zu Masse statt Klasse. Qualitativ hochwertige und methodisch anspruchsvolle Forschung braucht jedoch viele Studienteilnehmer und Mitarbeiter und damit viel Zeit und Geld sowie ein hohes Maß an Koordinationsarbeit und Durchhaltevermögen.

    ‚Positive‘ Ergebnisse

    Ein weiteres Phänomen ist psychologischer Natur. Die menschliche Wahrnehmung ist so gestrickt, dass ‚positive‘ Studienergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“) aufmerksamer registriert werden und interessanter wirken als ‚negative‘ Ergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nicht nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“). Dies führt dazu, dass ‚positive‘ Studienergebnisse auch viel lieber veröffentlicht werden als ‚negative‘. Letztere landen daher häufig in der Schublade. Damit kommt es bei Literaturrecherchen zu einer systematischen Verzerrung zugunsten ‚positiver‘ Studienergebnisse. Dieses Phänomen ist schon länger bekannt. Man versucht dem entgegenzuwirken, indem die Forscher aufgefordert werden, alle begonnenen und laufenden Studien zu listen und auch alle Ergebnisse zu veröffentlichen. Damit diese Bemühungen Früchte tragen, müsste diese Aufforderung allerdings zur Pflicht und international umgesetzt und kontrolliert werden. Offen bleibt, wie das realisiert werden kann.

    Interessegeleitete Auftraggeber

    Schon der Volksmund weiß: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dies bei von der Pharmaindustrie bezahlter Forschung anders ist. Die Möglichkeiten, die Ergebnisse einer Studie so darzustellen, dass sie dem gewünschten Ergebnis entsprechen, sind zahlreich und für den Nicht-Eingeweihten kaum zu entdecken. Aus diesem Grund wird in Deutschland zunehmend gefordert, dass die Auftraggeber einer Studie von den Autoren benannt werden müssen, ebenso wie ggf. vorhandene Interessenskonflikte der Autoren. Auch hier wäre es dringend anzuraten, diesen Anspruch zu einem international gültigen (und kontrollierten) Standard zu machen. Wünschenswert – aber utopisch – wäre es, die Forschung ausschließlich durch weitgehend neutrale Auftraggeber (z. B. Hochschule, Staat) zu finanzieren.

    Komplexität des Forschungsgegenstandes

    Ein grundlegendes Dilemma der Therapieforschung besteht darin, dass psychotherapeutische Fragestellungen generell schwierig zu untersuchen sind. Das liegt in der Natur der Psychotherapie, deren Wirkung ja nicht nur allein von der Methode, sondern auch von der Persönlichkeit des Therapeuten und der daraus resultierenden Therapeuten-Patienten-Beziehung abhängt. Gegenstand der Untersuchung ist somit ein sehr komplexes System von sich gegenseitig beeinflussenden Variablen. Dadurch ist es fast unmöglich, trennscharf eine einzige Variable aus dem System herauszulösen und gezielt zu untersuchen. Bei der Medikamentenforschung hingegen wird ein deutlich weniger komplexes System untersucht. Zudem können bestimmte Variablen, die das System verkomplizieren (z. B. bestimmte psychologische Effekte einer medikamentösen Behandlung) durch Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung teilweise herausgefiltert werden. Es handelt sich also um eine vergleichsweise einfache Fragestellung mit einem (vermeintlich) klaren Ergebnis. Das ist der Grund, weshalb es auch in der Suchttherapieforschung ein Ungleichgewicht zugunsten medikamentenbezogener Fragestellungen gibt. Die innerhalb der Forschung generierte Dynamik wirkt sich schließlich auch auf die Wahrnehmung der (Fach)Öffentlichkeit aus. Indem gehäuft neue Erkenntnisse aus der Medikamentenforschung bekannt gemacht werden, entsteht der Eindruck, dass Suchttherapie immer mehr Medikamententherapie sei.

    Psychologische Effekte in der Medikamentenforschung

    Es wird allgemein anerkannt, dass jede Medikation auch psychologische Wirkungen mit sich bringt, so z. B. den Placebo-Effekt. Dieser hat dazu geführt, dass Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung (zur Trennung der psychologischen von den biologischen Wirkungen) zum Standard wissenschaftlicher Medikamentenforschung geworden sind. Ein anderer, vermutlich genauso Einfluss nehmender psychologischer Effekt einer Medikation hingegen wird in der Forschung grundsätzlich außer Acht gelassen: die Auswirkung der Medikation auf die Selbstwirksamkeitserwartung des Behandelten. Selbstwirksamkeitserwartung ist die Überzeugung, die Erkrankung mit den eigenen Möglichkeiten bewältigen und überwinden zu können. Gerade bei Sucht- und psychischen Erkrankungen trägt eine positive Selbstwirksamkeitserwartung in starkem Maße zum Erfolg einer Behandlung bei. Zum Zeitpunkt, an dem Sucht- und psychisch Erkrankte in Behandlung kommen, ist ihre Selbstwirksamkeitserwartung in aller Regel stark beschädigt. Schließlich haben die meisten von ihnen zahlreiche vergebliche Selbstheilungsversuche hinter sich. Daher gehört es regelhaft zu den therapeutischen Zielsetzungen, die beschädigte Selbstwirksamkeitserwartung wieder aufzubauen. Eine Medikamentenbehandlung kann dies allerdings kaum leisten. Denn im Grunde signalisiert sie dem Hilfesuchenden genau das Gegenteil von Selbstwirksamkeit, nämlich dass er angewiesen ist auf eine chemische Substanz, weil die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Unter diesem Aspekt ist es fraglich, ob ein Medikament hilfreich ist oder den Betroffenen nicht vielmehr festschreibt auf seine Rolle als Hilfe- und Behandlungsbedürftiger mit der Folge einer Aufrechterhaltung der beschädigten Selbstwirksamkeitserwartung. Aber das wird von der Medikamentenforschung nicht untersucht.

    Fazit

    Es versteht sich von selbst, dass die Erforschung und Weiterentwicklung medikamentöser Behandlungsoptionen in der Suchttherapie grundsätzlich sinnvoll und gewünscht sind. Aus dem Gesagten ergeben sich hierfür als Fazit aber folgende Ansprüche:

    • Die Erwartungen an medikamentöse Behandlungsstrategien sollten realistisch bleiben. Es ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, dass eine Suchterkrankung medikamentös geheilt werden kann.
    • Die Suchttherapieforschung sollte sich nicht einseitig auf medikamentöse Fragestellungen fokussieren, sondern mit mindestens ebenso großer Anstrengung nicht-medikamentöse (z. B. psychotherapeutische) Fragestellungen untersuchen.
    • Die Forschung sollte auch psychologische Nebenwirkungen von medikamentösen Maßnahmen untersuchen und in die Gesamtbeurteilung von Medikamenteneffekten einbeziehen.
    • Die Forschung sollte vermehrt der Frage nachgehen, welche Patienten von einer bestimmten Medikation profitieren und welche nicht.
    • Bei nur geringen Effekten einer Medikation sollte von neutraler Seite festgelegt werden, wie stark ein nachgewiesener Effekt mindestens sein muss, damit eine Behandlung zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten berechtigt ist.
    • Vor einer Einführung grundsätzlich neuer Behandlungsziele und -strategien sollte ein Expertendiskurs über deren Sinnhaftigkeit erfolgen – und nicht umgekehrt!

    Literatur beim Verfasser

    Der Text wurde als Vortrag verfasst, den der Autor im September 2015 bei der Jubiläumsveranstaltung der Suchtberatung der Diakonie in Lübbecke gehalten hat.

    Kontakt:

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    m.brecklinghaus@ak-neuss.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Matthias Brecklinghaus, Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“, war von 1999 bis 2016 ärztlicher Leiter der Fachklinik Curt-von-Knobelsdorff-Haus und seit 2009 auch Klinikleiter. Seit April 2016 arbeitet er im „Memory-Zentrum“ der St. Augustinus-Kliniken Neuss.

  • Belegungsumfrage des buss

    Belegungsumfrage des buss

    DruckDie aktuelle Belegungsumfrage des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) wurde zum Stichtag 30. September 2015 durchgeführt. Mit 127 Rückmeldungen konnte ein Rücklauf von rund 84 Prozent erreicht werden. 54 Prozent der Rückmeldungen stammen aus Alkohol-Einrichtungen und 43 Prozent aus Drogen-Einrichtungen. Drei Prozent der Rückmeldungen konnten keiner Indikation zugeordnet werden.

    Belegung 2015

    Die kumulierte Belegung in Alkohol-Einrichtungen hat sich gegenüber der letzten Befragung im Juli 2014 verschlechtert: Der Anteil an Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent ist leicht rückläufig (zwei Prozent geringer), die Anzahl an Alkohol-Einrichtungen mit einer Belegung zwischen 70 und 90 Prozent ist im Vergleichszeitraum um sechs Prozent gesunken, stattdessen gibt es deutlich mehr Einrichtungen mit einer Belegung von unter 70 Prozent. Von den Drogen-Einrichtungen hat rund ein Drittel eine unveränderte Auslastung von 70 bis 90 Prozent. Der Anteil an Drogen-Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent ist um vier Prozent gesunken, der Anteil an Einrichtungen mit einer Auslastung von unter 70 Prozent ist im gleichen Maße angestiegen (vgl. Tabelle 1).

    Tabelle 1: Belegung 2015 in Alkohol- und Drogeneinrichtungen und in der Gesamtstichprobe
    Tabelle 1: Belegung 2015 in Alkohol- und Drogeneinrichtungen und in der Gesamtstichprobe

    Insgesamt ergibt die Analyse der Gesamtstichprobe eine Verschlechterung der Belegung von 2014 auf 2015. Der Anteil an Einrichtungen, die eine Belegung von unter 70 Prozent aufweisen, hat gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent zugenommen. Hingegen ist bei Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent und Einrichtungen mit einer Belegung zwischen 70 und 90 Prozent ein Rückgang von drei bzw. vier Prozent zu verzeichnen. Die absolute Zahl der Einrichtungen mit einer sehr schlechten Belegung (< 70 Prozent) schwankt im Jahresvergleich: 2015 = 14 / 2014 = 5 / 2013 = 9 / 2012 = 16.

    Belegungsentwicklung im Jahresvergleich

    Betrachtet man die Belegung im Jahresvergleich, so ist der Anteil der Kliniken mit einer ‚guten‘ Belegung von über 90 Prozent seit dem Jahr 2008 insgesamt um zwölf Prozent (von rund 70 Prozent auf 58 Prozent) zurückgegangen. Der Anteil der Kliniken mit über 95 Prozent Auslastung liegt nur bei 39 Prozent und ist in den letzten sechs Jahren ebenfalls um 13 Prozent gesunken. Diese Auslastung wird i.d.R. für die Kalkulation der Vergütungssätze zugrunde gelegt. In Abbildung 1 ist der Verlauf der Belegungsanteile über 90 Prozent bzw. über 95 Prozent dargestellt, und zu den einzelnen Jahren wird auch die Zahl der Rückläufer bei der verbandsinternen Belegungsumfrage angegeben.

    Abbildung 1: Belegung > 90% und > 95 % im Jahresverlauf 2005 bis 2015
    Abbildung 1: Belegung > 90% und > 95 % im Jahresverlauf 2005 bis 2015

    Die Frage zur Belegungsentwicklung im Vergleich zum Vorjahr wurde von rund einem Drittel aller Einrichtungen als positiv beantwortet. Fast die Hälfte aller Einrichtungen berichtet von einer schlechteren Auslastung, und rund 20 Prozent der Einrichtungen berichten von gleichbleibender Auslastung gegenüber dem Vorjahr. Hier ist zu beachten, dass diese individuellen Aussagen zur Veränderung der Belegung von den o.g. Zahlen zur Auslastung im Jahresvergleich abweichen können, weil auch negative Veränderungen innerhalb einer Kategorie (bspw. > 90 Prozent) eine Verschlechterung der Belegung bedeuten. Im Hinblick auf die Ursachen für eine schlechtere Belegung waren Mehrfachnennungen möglich, Tabelle 2 zeigt die entsprechenden Anteile.

     Tabelle 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung
    Tabelle 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung

    Ähnlich wie im Vorjahr sehen über die Hälfte der Alkohol-Einrichtungen die Gründe für eine schlechtere Belegung darin, dass weniger Anträge gestellt wurden. Diese Beschreibung deckt sich mit Berichten vieler Träger der Deutschen Rentenversicherung über teilweise erhebliche Rückgänge bei den Anträgen für die Sucht-Rehabilitation. In Drogen-Einrichtungen stehen vor allem andere Ursachen im Vordergrund. Allerdings gilt es zu beachten, dass ein direkter Vergleich mit den Vorjahreswerten nicht unmittelbar möglich ist. Seit 2014 wurde in der Belegungsumfrage die Therapieverkürzung nicht mehr abgefragt, weil es keine entsprechenden Maßnahmen der Leistungsträger gab. Somit verschiebt sich das Verhältnis der Antworten. In Abbildung 2 sind die Anteile der kategorisierten Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe dargestellt.

    Abbildung 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe
    Abbildung 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe

    Neben den zwei Hauptursachen (weniger Bewilligungen, weniger Anträge) konnten in der Umfrage weitere Ursachen angegeben werden. Der mit Abstand am häufigsten genannte Aspekt war die abnehmende Verbindlichkeit seitens der Patienten (Nichtantritt, Abbruch) mit 23 Nennungen, fast doppelt so viele wie im letzten Jahr.

    Jahresergebnis 2014

    Eine wichtige Erkenntnis ergibt sich auch aus der Frage nach dem finanziellen Ergebnis. Da die Angaben zur kumulierten Belegung und zur Veränderung der Belegung sehr individuell interpretiert werden können (für manche Einrichtungen sind 90 Prozent schon eine wirtschaftlich gute Belegung, für manche reichen erst 98 Prozent zur Kostendeckung), wurde nach dem realisierten Betriebsergebnis für das Jahr 2014 gefragt (vgl. Abbildung 3).

    Abbildung 3: Jahresergebnis 2014
    Abbildung 3: Jahresergebnis 2014

    Mehr als die Hälfte aller Einrichtungen kann also nach den Ergebnissen der Belegungsumfrage nicht kostendeckend arbeiten. Als Ursache der Unterfinanzierung geben rund 47 Prozent der Gesamtstichprobe eine schlechte Belegung an. 39 Prozent der Einrichtungen sehen die Ursache in den zu geringen Vergütungsätzen. Weitere 14 Prozent gaben andere Ursachen an. Wie im vorhergehenden Jahr werden hier insbesondere gestiegene Personal- und Investitionskosten zur Erfüllung der Strukturanforderungen angegeben (acht Nennungen). In Abbildung 4 ist die Finanzierungssituation der Einrichtungen im Zeitverlauf seit 2011 dargestellt.

    Abbildung 4: Finanzierungssituation im Jahresvergleich
    Abbildung 4: Finanzierungssituation im Jahresvergleich

    Zusammenfassung

    Die wirtschaftliche Situation der Mitgliedseinrichtungen im Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe hat sich seit 2014 weiter verschlechtert. Neben den finanziellen Belastungen durch die Umsetzung der strukturellen und personellen Anforderungen der Leistungsträger sowie den überwiegend nicht kostendeckenden Vergütungssätzen ist als weiteres Problem der in vielen Regionen Deutschlands zu verzeichnende Rückgang von Anträgen für die Suchtrehabilitation hinzugekommen. Viele Kliniken können nur noch am Markt bestehen, weil sie Quersubventionierungen des Trägers erhalten. Andere müssen dauerhaft eine Belegung über 100 Prozent realisieren, um eine Kostendeckung zu erreichen, oder Kürzungen bei den Personalausgaben im Rahmen der Tarifbindung (Streichung von Jahressonderzahlungen) vornehmen.

    Einzelne Träger mussten inzwischen feststellen, dass unter den aktuellen Bedingungen die meisten Suchtreha-Einrichtungen nicht mehr wirtschaftlich geführt werden können. Weitergehende Analysen der Belegungszahlen zeigen, dass auch voll ausgelastete Einrichtungen kein positives Betriebsergebnis erzielen können. Insbesondere in Bayern und Nordrhein-Westfalen wurden daher schon erste Einrichtungen geschlossen, für weitere Kliniken sind ähnliche Entscheidungen zu befürchten. Dabei kann nicht von einer ‚Marktbereinigung‘ aufgrund mangelnder Nachfrage die Rede sein, denn zum einen waren diese Einrichtungen teilweise gut belegt und zum anderen sind stationäre Einrichtungen wichtige Pfeiler im Suchthilfesystem. Mit ihrer Schließung werden in den betroffenen Regionen auch andere Angebote wegbrechen. Die Aufmerksamkeit für Suchtprobleme und die Erreichbarkeit von Suchtkranken, die generell problematisch ist, werden dadurch weiter abnehmen. Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation sind daher aufgefordert, ihre Strukturverantwortung wahrzunehmen und die vorhandenen finanziellen Spielräume dazu zu nutzen, den Einrichtungen einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zu ermöglichen. Erfreulicherweise haben einige Träger der Deutschen Rentenversicherung den Ernst der Lage erkannt und einen entsprechenden Dialog mit den Einrichtungen bzw. den Verbänden begonnen.

    Kontakt:

    Iris Otto
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    iris.otto@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Der Science Circle

    Der Science Circle

    Dr. Jens Hinrichs
    Dr. Jens Hinrichs
    Dr. Anne-Kathrin Exner
    Dr. Anne-Kathrin Exner
    Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann. Foto: Wilfried Gerharz
    Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann. Foto: Wilfried Gerharz

    Der Science Circle wurde 2012 unter dem damaligen Namen „Zukunftsworkshop“ durch Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann und Dr. Anne-Kathrin Exner ins Leben gerufen, um die Vernetzung und den Austausch zwischen Forschenden aus verschiedenen Disziplinen und Praktikern verschiedener Professionen aus der Rehabilitation zu fördern. Mittlerweile hat sich die Gründungsidee bestätigt: Die Qualität der Rehabilitationsforschung wird mithilfe des Science Circles durch gezielte Projektentwicklungen und die Nutzung gemeinsamer Ressourcen und Potenziale verbessert (Menzel-Begemann & Exner 2013). Seit 2014 ist die Innovationswerkstatt offiziell eine Arbeitsgruppe des Nordrhein-Westfälischen Forschungsverbundes Rehabilitationswissenschaften.

    Was führte zu der Idee?

    sc_logoDas Feld der Rehabilitationswissenschaften ist im Vergleich zu anderen Wissenschaftsdisziplinen überschaubar. Viele forschende Kollegen (im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei jeweils beide Geschlechter impliziert sind) kennen und schätzen sich mitunter schon über Jahre, jedoch findet Forschung häufig relativ unverbunden im Rahmen von Projekten und an unterschiedlichen Standorten statt. Zu welchen Themen geforscht wird oder welche Kompetenzen und Forschungsschwerpunkte die Kollegen mitbringen, bleibt vage, und ein Austausch findet meist nur auf Fachtagungen statt. Besonders unter den Kollegen, die auch regional im Einzugsbereich der Deutschen Rentenversicherungen (DRV) Westfalen, Rheinland und Knappschaft-Bahn-See zusammenarbeiten, wurde dieser Umstand oft als unbefriedigend erlebt.

    Neben der Vernetzung der Forschenden untereinander war von Beginn an auch wichtig, dass Praktiker aus der medizinischen und beruflichen Rehabilitation und Vertreter der Rentenversicherung von einer gemeinsamen ‚Ideenwerkstatt‘ angesprochen werden. Der Grund hierfür ist einfach: Über die Jahre haben sich zum Teil gute Kontakte zu Praktikern entwickelt, die Interesse haben, Themen mit den Forschenden zusammen anzustoßen. Und gerade die Impulse derjenigen, die direkt mit Rehabilitanden im Versorgungssystem arbeiten, sind besonders wichtig, da sie neue Forschungsbedarfe anhand eigener Erfahrungen aufzeigen. Zusammen mit Forschenden und Vertretern der Leistungsträger können diese Beobachtungen im Science Circle diskutiert und konkretisiert und gemeinsam in Projekte umgesetzt werden.

    Welchen Nutzen hat der Science Circle für die Beteiligten?

    Vernetzung

    Das persönliche Kennenlernen der Teilnehmer, die aus verschiedenen Berufsgruppen kommen und in unterschiedlichen Funktionen an gemeinsamen Forschungsideen arbeiten, ist sicherlich einer der wichtigsten Zugewinne im Rahmen des Science Circles. Die dabei entstehenden neuen Kontakte schaffen Vernetzung zwischen Universitäten, Fachhochschulen, Instituten, Rehabilitationseinrichtungen (Leistungserbringern) und Leistungsträgern. Diese Vernetzung bildet die Grundlage einer guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit innerhalb der Projekte, die auch außerhalb des Science Circles geschätzt und genutzt wird.

    Gestaltungsmöglichkeiten

    Die Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Praktikern bietet einen Gestaltungsraum für bedarfs- und bedürfnisgerechte Forschung, d. h., es können Themen aufgezeigt werden, die unmittelbar an der Versorgungsrealität der Kliniken, ihren Mitarbeitern und nicht zuletzt den Patienten liegen. Es eröffnen sich so Möglichkeiten, Forschungsbedarfe aus Sicht der Leistungserbringer zu formulieren, und diese bilden eine ideale Ergänzung zu den Trendvorgaben der DRV und den Themenschwerpunkten beteiligter Forschungseinrichtungen. Jeder Teilnehmer, ob aus Forschung oder Praxis, kann die Federführung innerhalb einer Projektentwicklung übernehmen. Außerdem gilt, dass unkonventionelle, vielleicht auch noch unklare Ideen in die Gruppe eingebracht und aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden können. Diese Gedankenfreiheit innerhalb eines relativ engen Rahmens, den die vorgegebenen Rehabilitationsstrukturen mit sich bringen, macht den besonderen Reiz des Science Circles aus.

    Transfer

    Die Beteiligung an Forschung beinhaltet – besonders aus Sicht der Praktiker – einen zusätzlichen Aufwand an Zeit und Personal. Jedoch können erfolgreich durchgeführte Projekte und die resultierenden Ergebnisse einen wertvollen Beitrag für die Praxis leisten. Mitarbeiter aus teilnehmenden Kliniken erhalten je nach Art des Projektes Einblicke in neue Verfahren und Methoden in der Rehabilitation und Rehabilitationsforschung. Die Erfahrungen und Erkenntnisgewinne können nützlich bei der Gestaltung und Verbesserung eigener Klinikprozesse (z.  B. im Sinne von Qualitätssicherung) sein oder auch Antworten auf Grundsatzfragen in der Rehabilitation geben (z. B. bei Fragen der Zugangs- und Therapiesteuerung).

    Beispiel eines gelungenen Transfers ist der Fragebogen „Diagnostik von Arbeitsmotivation“ (DIAMO; Fiedler et al. 2005). Er wurde in einer gemeinsamen Studie der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, der Deutscher Orden Ordenswerke, Suchthilfe, Weyarn und der Klinik am Park, Medizinisches Zentrum für Gesundheit Bad Lippspringe auf die Anwendbarkeit in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten untersucht. Die Studienfrage wurde von den Praktikern aufgeworfen, die nach Alternativen in der Eingangsdiagnostik der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) von Suchterkrankten suchten. Die Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e. V. NRW folgte der Forschungsfrage und förderte das Projekt nach positiver Begutachtung (GfR 2014). Bereits während der Durchführung des Projekts konnten die Mitarbeiter der teilnehmenden Kliniken und Einrichtungen praktische Erfahrungen mit dem Instrument sammeln und diese bewerten. Durch die Aufnahme des DIAMO-Fragebogens in die BORA-Empfehlungen fand ein erfolgreicher Transfer in die Praxis der Suchtrehabilitation statt. Die geplante Publikation der Forschungsergebnisse wird den wissenschaftlichen Transfer abschließen.

    Abbildung 1: Bereiche, die durch den DIAMO-Fragebogen abgefragt werden
    Abbildung 1: Bereiche, die durch den DIAMO-Fragebogen abgefragt werden

    Wie sind die Treffen organisiert?

    Die Treffen des Science Circles finden dreimal im Jahr an unterschiedlichen Standorten in Nordrhein-Westfalen statt. Sie starten in der Regel donnerstagvormittags und enden samstagmittags. Diese Zeit wird intensiv dafür genutzt, in moderierten Gruppen und im Plenum an rehabilitationsbezogenen Themen und Projekten zu arbeiten. Es werden hierzu regelmäßig Experten als Gastredner eingeladen, die zu ausgewählten Themen Impulsreferate halten und mit den Teilnehmern diskutieren.

    Wer wirkt am Science Circle mit?

    Der Science Circle ist ein offenes Angebot, an dem alle Interessierten, die mit Reha befasst sind, nach rechtzeitiger Anmeldung mitwirken können. Die Veranstaltungen des Science Circles haben bereits zu einer guten Resonanz geführt, die Teilnehmer setzen sich mittlerweile aus Rehabilitationsforschern der Universitäten Bielefeld, Hannover und Chemnitz, des Universitätsklinikums Münster, der Fachhochschulen Münster und Bielefeld, der Deutschen Sporthochschule Köln und des Instituts für Rehabilitationsforschung Norderney sowie aus Mitarbeitern verschiedener medizinischer und beruflicher Rehabilitationseinrichtungen und den Forschungsreferenten der Deutschen Rentenversicherungen Westfalen und Rheinland zusammen.

    Arbeitsgruppen und Projekte aus dem Science Circle

    Eine Arbeitsgruppe bearbeitet übergeordnete Themenfelder, die in der Rehabilitation bedeutsam sind, aber nicht direkt in ein Projekt münden sollen. Folgende Arbeitsgruppen haben sich bisher gebildet:

    • der „Inner Circle“ als ein Gremium, das die regelmäßig Teilnehmenden umfasst und die fortlaufende Diskussion und Bearbeitung von speziellen Themen ermöglicht, z. B. die Gestaltung eines gelungenen wechselseitigen Transfers zwischen Forschung und Praxis in der Rehabilitation,
    • die Arbeitsgruppe „Relevante Effekte und Signifikanzen in der Rehabilitationsforschung“, die sich mit der Frage befasst, wann Forschungsergebnisse eine für die Praxis klinische Relevanz haben (Leitung: Dr. Odile Sauzet),
    • die Arbeitsgruppe „Transferförderung – Veranstaltung“, die sich mit der Gestaltung und Organisation eines Veranstaltungsformates zur Förderung von Transfer befasst, in dem ein aktiver Austausch zwischen Forschenden, Trägern und Praktikern stattfinden kann (Leitung: Jochen Heuer, Philipp Pressmann).

    Soll die Bearbeitung von Themen über eine geordnete Antragstellung in ein drittmittelgefördertes Projekt münden, werden Projektarbeitsgruppen gebildet, an denen sich jeder Interessierte beteiligen kann. Folgende geförderte Projekte sind aus dem Science Circle hervorgegangenen:

    • Verfügbarkeit und Verwendung von Arbeitsplatzbeschreibungen in der Rehabilitation (OpAA) (Projektleitung: Jochen Heuer; Förderer: Verein zur Förderung der Rehabilitationsforschung e. V. Norderney)
    • Bedeutung von Umweltfaktoren in der medizinischen Rehabilitation zur Förderung von Teilhabe (UfaR) (Projektleitung: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann, Prof. Dr. Thorsten Meyer; Förderer: Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften NRW e. V.)
    • Resilienzförderung im Reha-Prozess: Entwicklung einer verhaltens- und verhältnisorientierten Intervention (InResPro) (Projektleitung: Dr. Jens Hinrichs, Prof. Dr. Thomas Altenhöner; Förderer: Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften NRW e. V.)

    Folgende Vorhaben sind in Vorbereitung auf eine Antragstellung zur Drittmittelförderung:

    • Verhaltens- und verhältnisorientierte Nachsorge (Projektleitung: Dr. Andrea Schaller)
    • Qualitative Analyse von Faktoren des Erfolgs einer medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (QAFE-MBOR) (Projektleitung: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann, Prof. Dr. Thorsten Meyer)
    • Spezifizierung von MBOR-Bedarfen (Projektleitung: Dipl.-Psych. Johanna Frieler)
    • Wissenschaftsnetzwerk „Internationale Rehabilitationsforschung“ (Projektleitung: Jun.-Prof. Dr. Patrick Brzoska)

    Wie können Interessierte am Science Circle mitwirken?

    Für die Mitwirkung am Science Circle wird Freude am Austausch und an der Zusammenarbeit mit anderen Forschungsinteressierten zur (Weiter-)Entwicklung von Themen und Projekten vorausgesetzt. Eine personelle Einbindung in Forschungsprojekte, die bei der Rentenversicherung zur Förderung vorgelegt werden, ist nicht zwingend, aber möglich. Wer Interesse zur Mitwirkung im Science Circle hat, kann Kontakt zu den Autoren dieses Beitrags aufnehmen. Ebenso besteht die Möglichkeit, den Newsletter zu abonnieren, der über die Aktivitäten des Science Circles und Veranstaltungstermine informiert.

    Weitere Informationen über den Science Circle finden Sie unter: http://www.sciencecircle.de/

    Kontakt und Angaben zu den Autor/-innen:

    Dr. rer. medic. Jens Hinrichs, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    jens.hinrichs@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de
    http://zazo-i.de

    Dr. Jens Hinrichs (*1972) schloss 2005 das Studium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Osnabrück ab. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster. Er promovierte zum Thema berufsspezifischer Belastungen von Polizeibeamten in NRW. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Ressourcen- und Motivationsdiagnostik und in der Entwicklung von Interventionen zur Förderung von beruflicher Motivation und Resilienz.

    Dr. Anne-Kathrin Exner, M.Sc. PH
    Fakultät für Gesundheitswissenschaften
    AG3: Epidemiologie und International Public Health
    Universität Bielefeld
    Postfach 100131
    33501 Bielefeld
    aexner@uni-bielefeld.de
    http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag3/projekte/05a_reha.html

    Dr. Anne-Kathrin Exner (*1982) schloss 2005 den Bachelorstudiengang Ökotrophologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und 2008 das Masterstudium Public Health an der Universität Bielefeld ab. Seit 2009 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Methodenberatung des NRW-Forschungsverbunds Rehabilitationswissenschaften an der Universität Bielefeld. Sie promovierte zum Thema Ernährungs- und Sportverhalten bei Frauen mit Brustkrebs nach Abschluss einer medizinischen Rehabilitation. Interessen in den Rehabilitationswissenschaften sind der Forschungs-Praxis-Transfer und regionale Vernetzung.

    Prof. Dr. rer. nat. Anke Menzel-Begemann, Dipl.-Psych.
    Fachhochschule Münster
    Fachbereich Pflege und Gesundheit
    Lehr- und Forschungsgebiet Rehabilitationswissenschaften
    Leonardo-Campus 8
    48149 Münster
    menzel-begemann@fh-muenster.de

    Anke Menzel-Begemann (*1972) studierte Psychologie an der Universität Bielefeld mit dem Schwerpunkt Neuropsychologie, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der psychologischen (2002–2006) und gesundheitswissenschaftlichen (2010–2014) Fakultät sowie in der neurologischen Abteilung einer Rehabilitationsklinik. In ihrer Promotion entwickelte sie Diagnoseverfahren für Planungs- und Organisationsstörungen nach Hirnschädigungen. Seit 2015 ist sie Professorin für Rehabilitationswissenschaften an der Fachhochschule Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Förderung von Teilhabe und Selbstmanagement, was u. a. in Konzepte zur medizinisch-beruflichen Orientierung und zur Vorbereitung auf die häusliche Pflege mündete.

    Literatur:
    • GfR e.V. NRW (2014) Förderprojekt: Diagnostik von Arbeitsmotivation: Eine indikationsspezifische Validierung des DIAMO-Fragebogens im Bereich der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten (FKZ: 13005)
    • Fiedler R.G., Ranft A., Schubmann C., Heuft G., Greitemann B. (2005) Diagnostik von Arbeitsmotivation in der Rehabilitation – Vorstellung und Befunde zur faktoriellen Struktur neuer Konzepte. Psychother Psych Med, 55: 476-482. (Online-Demo: http://diamo.zazo-i.de/)
    • Menzel-Begemann A., Exner A.-K. (2013) Rehabilitationsforschung in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse aus dem Zukunftsworkshop des NRW-Forschungsverbundes Rehabilitations-wissenschaften am 28.06.2012 in Bielefeld und 19.10.2012 in Münster (Westfalen). Rehabilitation, 52: 424-427
  • Verbandsauswertung des buss

    Verbandsauswertung des buss

    DruckDer Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel (buss) hat seine jährliche Auswertung von Basis- und Katamnesedaten aus den Mitgliedseinrichtungen vorgelegt. Die Basisdaten werden jedes Jahr als Gesamtauswertung und getrennt für die Einrichtungsarten stationäre Reha Alkohol, stationäre Reha Drogen, Adaption und Tageskliniken in kommentierten Tabellenbänden dargestellt. Die Katamnesedaten werden getrennt für Alkohol- und Drogeneinrichtungen ausgewertet. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der Basisdaten 2014 und der Katamnesedaten 2013 zusammengefasst. Die vollständigen Tabellenbände stehen allen Interessierten auf der Website des buss unter www.suchthilfe.de > Informationen > Statistik zur Verfügung.

    Basisdaten 2014

    Die Auswertung der Basisdaten des Entlassungsjahrgangs 2014 umfasst insgesamt 18.623 Fälle aus 105 Einrichtungen. Das durchschnittliche Alter liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, und in Tageskliniken mit 44,6 bzw. 44,5 Jahren am höchsten. Nach wie vor bilden Drogenabhängige die jüngste Gruppe mit durchschnittlich 29 Jahren. Das durchschnittliche Alter der Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen liegt bei 37,7 Jahren.

    Der Anteil der Frauen liegt in Suchthilfeeinrichtungen bei rund einem Viertel. So sind in Adaptionseinrichtungen und Drogenfachkliniken weniger als 18 Prozent der Behandelten Frauen. In Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Frauenanteil bei 27,4 Prozent, in Tageskliniken sind mit 29,1 Prozent die meisten Frauen vertreten. Tabelle 1 fasst wesentliche Items aus den Basisdaten 2014 zusammen.

    Tabelle 1: Basisdaten 2014
    Tabelle 1: Basisdaten 2014

    Berufliche und soziale Integration

    Große Unterschiede bestehen je nach Einrichtungsart in Bezug auf die berufliche und soziale Integration der Rehabilitanden. Rehabilitanden in Tageskliniken sind am besten integriert, sie weisen mit 33,4 Prozent die geringste Arbeitslosenquote auf, und circa ein Drittel der Gruppe ist alleinstehend. In Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, beträgt der Anteil an Alleinstehenden 46,2 Prozent, die Arbeitslosenquote liegt bei 41,5 Prozent. In Drogenfachkliniken beträgt der Anteil an Alleinstehenden 62,1 Prozent, die Arbeitslosenquote 55,7 Prozent. Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen weisen die problematischsten Daten auf: 71,2 Prozent sind alleinstehend und 79,2 Prozent sind arbeitslos.

    Behandlungsdauer

    Die planmäßige Behandlungsdauer ergibt sich aus den jeweiligen Bewilligungen und Standardtherapiedauern der Leistungsträger sowie den individuellen Therapieverläufen. Die Behandlungsdauer bei planmäßiger Beendigung liegt in Alkoholfachkliniken bei durchschnittlich 91,6 Tagen (= 13 Wochen). In Adaptionseinrichtungen werden im Schnitt 95,1 Tage (13 bis 14 Wochen) erreicht. Die planmäßige Behandlung dauert in Drogenfachkliniken am längsten mit 137,8 Tagen (= 20 Wochen). Die Behandlungsdauer in Tageskliniken ist mit 85,3 Tagen (= 12 Wochen) am kürzesten. Zudem ist zu beachten, dass in der ganztägig-ambulanten Rehabilitation üblicherweise an Sonn- und Feiertagen keine Therapieleistungen erbracht werden. Die angegebene Dauer bezieht sich auf Kalendertage (Zeitraum zwischen Aufnahme und Entlassung) und nicht auf Behandlungstage.

    Haltequote

    Die Haltequote für den Entlassungsjahrgang 2014 liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, sowie in Tageskliniken bei über 84 Prozent. Die Haltequote in Adaptionseinrichtungen beträgt 75,7 Prozent. In Drogenfachkliniken beendet etwas mehr als die Hälfte der Rehabilitanden die Behandlung planmäßig. In Tabelle 2 und Abbildung 1 sind die Vergleichsdaten der letzten Jahre dargestellt.

    Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014
    Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014
    Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014
    Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014

    Katamnesedaten 2013

    Die Katamnesedaten für den Indikationsbereich Drogen stammen aus elf Rehakliniken, es wurden nur Einrichtungen mit mindestens zehn Prozent Rückläuferquote berücksichtigt. Von insgesamt 1.251 entlassenen Rehabilitanden haben 224 Rehabilitanden geantwortet. Die mittlere Rückläuferquote liegt bei 17,9 Prozent.

    Von insgesamt 10.461 planmäßig entlassenen Rehabilitanden aus 47 Alkoholeinrichtungen (mindestens 25 Prozent Rückläuferquote) konnten die Daten von 4.059 Antwortern für die Katamnese berücksichtigt werden. Die mittlere Rückläuferquote beträgt 40,4 Prozent. Die Rückläuferquote ist in beiden Indikationsbereichen über die letzten fünf Jahre relativ konstant (s. Abbildung 2).

    Abbildung 2: Katamnesedaten - Rückläuferquote 2009 bis 2013
    Abbildung 2: Katamnesedaten – Rückläuferquote 2009 bis 2013

    Vergleich der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten 2013

    In Tabelle 3 werden für den Entlassungsjahrgang 2013 die Daten der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten verglichen. Für das Jahr 2013 wurden die Basisdaten von 12.630 entlassenen Rehabilitanden aus Einrichtungen für Alkohol- und Medikamentenabhängige ausgewertet, davon haben 4.059 bei der Katamnese geantwortet. An der Katamnese in Drogeneinrichtungen nahmen 224 ehemalige Rehabilitanden teil, die Gesamtstichprobe, für die Basisdaten für 2013 vorliegen, umfasst 2.828 Fälle.

    Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013
    Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013

    Das durchschnittliche Alter bei Betreuungsbeginn betrug in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen 44,5 Jahre, die Antworter sind mit durchschnittlich 47,9 Jahren etwas älter. In Drogeneinrichtungen ist das Durchschnittsalter mit knapp 30 Jahren zu Behandlungsbeginn und bei den Antwortern nahezu identisch.

    Antworter, die in Kliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige behandelt wurden, waren durchschnittlich 88,9 Tage in stationärer Behandlung. In der Gesamtstichprobe liegt die Behandlungsdauer mit 90,1 Tagen etwas höher. Die durchschnittliche Behandlungsdauer in Drogeneinrichtungen liegt bei Antwortern bei 138,6 Tagen und in der Gesamtstichprobe bei 136,1 Tagen.

    Von allen Rehabilitanden in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen wurden 84,0 Prozent planmäßig entlassen. Bei den Antwortern lag der Anteil an planmäßig Entlassenen bei 93,7 Prozent und damit deutlich höher. In Drogeneinrichtungen liegt die Haltequote bei den Katamnese-Antwortern mit 79,5 Prozent ebenfalls deutlich über der Haltequote in der Gesamtstichprobe (55,7 Prozent).

    Unter den ehemaligen Rehabilitanden aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen antworten eher diejenigen, die einer Arbeit nachgehen und in einer Beziehung leben: Der Anteil Alleinstehender in der Gesamtstichprobe beträgt 50,2 Prozent, bei den Antwortern 46,7 Prozent. Von den Antwortern sind 36,2 Prozent arbeitslos, in der Gesamtstichprobe liegt der Anteil bei 43,0 Prozent. Die Gesamtstichprobe aus Drogeneinrichtungen weist einen Anteil von 58 Prozent Alleinstehenden und 58,2 Prozent Arbeitslosen aus. Interessanterweise ist der Anteil der Alleinstehenden unter den Antwortern höher (65,6 Prozent). Der Anteil der Arbeitslosen ist bei den Katamnese-Antwortern aus Drogeneinrichtungen ebenso wie bei den Antwortern aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen niedriger (48,7 Prozent).

    Katamnestische Erfolgsquoten

    Die katamnestische Erfolgsquote errechnet sich aus den Patienten/-innen, die in der Katamnese ‚abstinent‘ und ‚abstinent nach Rückfall‘ angeben. Die Berechnungsform DGSS 1 umfasst alle planmäßig entlassenen Antworter (positive Sichtweise = Überschätzung der tatsächlichen Quote), die Berechnungsform DGSS 4 umfasst alle – auch die nicht planmäßig – entlassenen Rehabilitanden und wertet die Nicht-Antworter als ‚definiert rückfällig‘ (negative Sichtweise = Unterschätzung der tatsächlichen Quote). Tabelle 4 und Abbildung 3 zeigen einen Überblick über DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013.

    Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013

    Im Indikationsbereich Alkohol sind beide katamnestischen Erfolgsquoten über die letzten fünf Jahre relativ stabil: DGSS 1 = etwas über 80 Prozent, DGSS 4 = rund 40 Prozent. Die Quote DGSS 4 wird wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 45 Prozent berechnet, d. h., es werden nur Einrichtungen bei der Auswertung berücksichtigt, bei denen die Rückläuferquote mindestens 45 Prozent beträgt.

    Die Werte im Indikationsbereich Drogen schwanken im selben Zeitraum: DGSS 1 = zwischen 66 Prozent und 53 Prozent, DGSS 4 = zwischen neun Prozent und 18 Prozent. Dieser Effekt kann im Wesentlichen durch die Veränderungen der Stichprobe und die unterschiedliche Zahl der teilnehmenden Einrichtungen erklärt werden (2012 = 15 Kliniken / 1.591 Fälle / 274 Antworter). Außerdem wird die Quote DGSS 4 ab 2013 wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 25 Prozent berechnet, was den deutlichen Anstieg erklärt.

    Kontakt:

    Iris Otto
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    iris.otto@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Wofür brauchen wir BORA?

    Wofür brauchen wir BORA?

    Dr. Andreas Koch
    Dr. Andreas Koch

    Die Entwicklung der „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ ist durch zwei wesentliche Ausgangspunkte geprägt: Zum einen hat die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eine lange Tradition. Schon in den Trinkerheilstätten des 19. Jahrhunderts spielten Arbeit und Beschäftigung eine zentrale Rolle in der Therapie und Tagesstrukturierung. Dieser Schwerpunkt ist in vielen Konzepten in der modernen Suchtrehabilitation bis heute erhalten, er wurde im Laufe der Jahrzehnte weiterentwickelt und den aktuellen Anforderungen angepasst. Im Jahr 2000 veranstaltete der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe ein Projektforum mit dem Titel „Therapie und Arbeit“, bei dem es vor allem um die Weiterentwicklung der arbeitstherapeutischen Angebote ging. Die Ergebnisse sind in dem entsprechenden Tagungsband veröffentlicht (Heidegger et al. 2002). 2010 wurden im Rahmen des Fachtages der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen „Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation“ der aktuelle Stand und die Entwicklungsperspektiven in diesem Bereich diskutiert (DHS 2010). Und schließlich veröffentlichte der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe im Jahr 2011 unter dem Titel „Arbeitsmarktintegration – Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!“ Vorschläge für die Strukturierung der Zielgruppen und der entsprechenden Maßnahmen im Hinblick auf das vorhandene Integrationspotential (Heinsohn et al. 2011).

    Zum anderen hat die Deutsche Rentenversicherung nach umfangreichen Vorarbeiten 2012 das MBOR-Konzept (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) veröffentlicht, um in den somatischen und psychosomatischen Indikationsbereichen die Fokussierung auf die Aspekte Arbeit und Beruf zu stärken, insbesondere, wenn bei den Rehabilitanden besondere berufliche Problemlagen (BBPL) vorliegen. Aufgrund des traditionell hohen fachlichen und zeitlichen Stellenwertes arbeitsbezogener Maßnahmen im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen wurde dieser Indikationsbereich von der Umsetzung des MBOR-Konzeptes ausgenommen. Zudem sind besondere erwerbsbezogene Problemlagen bei Suchtkranken eher die Regel als die Ausnahme, und es existieren bereits besondere Leistungsformen in der Suchtrehabilitation zur gezielten Förderung der beruflichen Integration (Adaption als letzte Phase der medizinischen Reha).

    Gemeinsame Arbeitsgruppe BORA

    Vor diesem Hintergrund wurde die gemeinsame Arbeitsgruppe BORA (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) aus Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtfachverbände eingesetzt, die Empfehlungen zur Arbeits- und Berufsorientierung ausschließlich für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickeln sollte. Der Arbeitsprozess erstreckte sich über insgesamt sechs Sitzungen und war von einem außerordentlich hohen fachlichen Niveau sowie einer zielorientierten und konstruktiven Gesprächsatmosphäre geprägt. Damit konnte auch gezeigt werden, dass wichtige konzeptionelle Weiterentwicklungen für den Indikationsbereich Sucht mit hoher Qualität und Effizienz in einer paritätisch besetzen Expertengruppe (Leistungsträger und Leistungserbringer) erarbeitet werden können und durch ein gutes Projektmanagement sowie eine transparente Vorgehensweise auch die Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit verbessert werden kann.

    Die gemeinsam erarbeiteten „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ sind auf der Internetseite der Deutschen Rentenversicherung zu finden. Auf der letzten Seite sind die Koordinatoren und Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA aufgeführt. Die BORA-Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe am 15. April 2015 in einer gemeinsamen Informationsveranstaltung bei der DRV Bund in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung wurden verschiedene Aspekte der Empfehlungen und ihre Auswirkungen auf die Praxis mit Vertreterinnen und Vertretern von Suchtreha-Einrichtungen diskutiert.

    Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA bei der Auftaktveranstaltung am 15.04.2015: Barbara Müller-Simon/DRV Bund, Dr. Volker Weissinger/FVS, Denis Schinner/Fachklinik Release/DHS, Gerhard Eckstein/DRV Schwaben, Peter Missel/AHG Kliniken Daun/FVS, Georg Wiegand/DRV Braunschweig-Hannover, Uwe Hennig/DRV Bund, Dr. Theo Wessel/GVS/DHS, Dr. Andreas Koch/buss/DHS, Dr. Dietmar Kramer/salus klinik Friedrichsdorf/FVS, Dr. Joachim Köhler/DRV Bund (v.l.n.r.) – Fotos©Bildarchiv DRV Bund/Terbach
    Mitglieder der Arbeitsgruppe BORA bei der Auftaktveranstaltung am 15.04.2015: Barbara Müller-Simon/DRV Bund, Dr. Volker Weissinger/FVS, Denis Schinner/Fachklinik Release/DHS, Gerhard Eckstein/DRV Schwaben, Peter Missel/AHG Kliniken Daun/FVS, Georg Wiegand/DRV Braunschweig-Hannover, Uwe Hennig/DRV Bund, Dr. Theo Wessel/GVS/DHS, Dr. Andreas Koch/buss/DHS, Dr. Dietmar Kramer/salus klinik Friedrichsdorf/FVS, Dr. Joachim Köhler/DRV Bund (v.l.n.r.) – Fotos©Bildarchiv DRV Bund/Terbach

    Relevanz der Empfehlungen für die Praxis

    Bei den BORA-Empfehlungen handelt es sich ausdrücklich um Empfehlungen zur Weiterentwicklung der bestehenden Therapiekonzepte und nicht um zwingend umzusetzende konzeptionelle Vorgaben (wie beispielsweise beim MBOR-Konzept). Sie enthalten zahlreiche Hinweise und Anregungen für die Weiterentwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen im Hinblick auf die Förderung der beruflichen Integration. Die Empfehlungen beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen von Rehabilitanden, für die jeweils sehr unterschiedliche Maßnahmen erforderlich sein können. Dabei sind die beschriebenen Zielgruppen weniger als Fallgruppen zu verstehen, denen die Rehabilitanden im Rahmen der Eingangsdiagnostik als Grundlage für die weitere Therapieplanung und Therapiesteuerung zugeordnet werden sollen. Mit der Unterscheidung der Zielgruppen sollen vielmehr die möglichen therapeutischen Leistungen während der Entwöhnungsmaßnahme strukturiert und übersichtlich dargestellt werden. Die individuelle Indikationsstellung und die Identifikation des spezifischen Unterstützungsbedarfs der einzelnen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sind weiterhin maßgeblich für den Verlauf der Reha.

    Aktuelle Titelbeiträge auf KONTUREN online

    In dem Beitrag von Jörg Heinsohn innerhalb dieses Titelthemas von KONTUREN online werden in Ergänzung zu den BORA-Empfehlungen und mit Bezug zu den fünf Zielgruppen weiterführende Maßnahmen nach der medizinischen Rehabilitation vorgestellt. Gerade in diesem Bereich treten häufig ‚Schnittstellenprobleme‘ mit anderen Sozialleistungsbereichen auf, daher enthalten die BORA-Empfehlungen auch einige Hinweise zur Gestaltung von Kooperationen und Netzwerken.

    Für den Bereich der Drogenrehabilitation stellt sich die Frage, ob die fünf beschriebenen Zielgruppen die Rehabilitandenstruktur angemessen abbilden und die bisherigen Empfehlungen für die Gestaltung der therapeutischen Angebote passend und ausreichend sind. Andreas Reimer stellt in seinem Titelbeitrag einige Überlegungen dazu an und geht näher auf die Zielgruppe der Rehabilitanden mit Abhängigkeit von illegalen Drogen ein, die häufig jünger und ohne wesentliche Arbeits- und Berufserfahrungen sind.

    Für die spezifische Gestaltung des Reha-Verlaufs ist eine sorgfältige und aussagefähige Eingangsdiagnostik erforderlich. In den BORA-Empfehlungen werden einige Instrumente für Screening und Assessment vorgestellt und deren Nutzen erläutert. Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung, eines der genannten Instrumente einzusetzen, auch andere oder in den Einrichtungen selbst entwickelte Verfahren können zum Einsatz kommen. Allerdings muss jede Einrichtung für diesen Bereich der Diagnostik über ein strukturiertes und dokumentiertes Vorgehen verfügen. Diesen Aspekt greift auch der Fachausschuss Arbeit und Rehabilitation des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten e.V. (DVE) in seiner Stellungnahme im Titelthema auf.

    Alle weiteren wesentlichen Aspekte aus den BORA-Empfehlungen wie Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung werden im Titelbeitrag von Dr. Andreas Koch und Denis Schinner zusammengefasst. Als Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA waren die beiden Autoren an dem Entwicklungsprozess beteiligt.

    Klinikinterne Dienstleistungen

    Eine hilfreiche Klarstellung ist in den BORA-Empfehlungen zu den so genannten klinikinternen Dienstleistungen zu finden. In den vergangenen Jahren wurde von einzelnen Leistungsträgern gefordert, die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden nicht mehr innerhalb der Einrichtung in den entsprechenden Arbeitsbereichen (beispielsweise Küche, Hauswirtschaft, Garten) einzusetzen, da befürchtet wurde, dass hier der Arbeitsbedarf der Einrichtung und nicht die individuelle Indikationsstellung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im Vordergrund steht. Das hat dazu geführt, dass Beobachtungs- und Erprobungsfelder für einfache Tätigkeiten und Trainingsfelder für die bei vielen Suchtkranken vernachlässigte Selbstversorgung in vielen Einrichtungen weggefallen sind. Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden, wenn eine entsprechende individuelle Indikationsstellung und Zielsetzung vorliegt und eine professionelle therapeutische Begleitung erfolgt.

    Erforderliche Rahmenbedingungen

    Die BORA-Empfehlungen sollen vor allem Anregungen für die konzeptionelle Weiterentwicklung der Einrichtungen geben, beispielsweise wären die eingesetzten diagnostischen Instrumente oder das therapeutische Leistungsspektrum im Hinblick auf den vorhandenen Zielgruppenmix zu überprüfen. Bei diesen Überlegungen sollte jede Einrichtung den federführenden Leistungsträger aktiv mit einbeziehen. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich zu unterstützen und den möglichen Mehraufwand in den Vergütungssätzen abzubilden. Für die Umsetzung von BORA in der Praxis müssen durch die Leistungsträger und Leistungserbringer gemeinsam die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.

    Literatur:
    • Heidegger et al. (2002): Therapie und Arbeit. Suchtspezifische Ansätze, buss-Diskussionsforum Band 1, Gesthacht 2001
    • DHS (2010): Arbeitsbezogene Maßnahmen in der stationären Suchtrehabilitation – Stand und Entwicklungsperspektiven, Dokumentation DHS Fachtag, Hamm/Westfalen 2010
    • Heinsohn et al. (2011): Arbeitsmarktintegration. Eine Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker?!, in: KONTUREN. Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen, 5-2011, Jg. 32
  • BORA kompakt

    BORA kompakt

    Denis Schinner
    Denis Schinner
    Dr. Andreas Koch

    In diesem Beitrag werden alle wesentlichen Aspekte der BORA-Empfehlungen zusammengefasst. Dazu gehören Zielgruppen, Diagnostik, Therapie, spezielle Leistungsformen, Kooperationen sowie Dokumentation und Qualitätssicherung. Die Autoren Dr. Andreas Koch und Denis Schinner waren selbst Mitglieder der gemeinsamen Arbeitsgruppe BORA und haben die Empfehlungen mitentwickelt.

    Zielgruppen

    Um die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der Suchtrehabilitation“ praxisnah strukturieren zu können, wurde eine Unterscheidung von Zielgruppen vorgenommen, an der sich die weiteren Ausführungen zur Diagnostik und insbesondere zur Therapie orientieren. Grundsätzlich werden dabei Rehabilitanden mit Arbeit von arbeitslosen Rehabilitanden unterschieden. Bei den Erstgenannten geht es im Rahmen der Behandlung um den Erhalt des Arbeitsplatzes und die konkrete berufliche Wiedereingliederung. Bei der zweitgenannten Gruppe stehen eher die Entwicklung einer allgemeinen erwerbsbezogenen Perspektive sowie das Training der entsprechenden Kompetenzen im Vordergrund. Ein weiteres Kriterium zu Differenzierung der Zielgruppen ist das Vorhandensein von besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen, die durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren gekennzeichnet sind:

    • lange oder häufige Fehlzeiten
    • eine negative subjektive Prognose hinsichtlich der eigenen beruflichen Zukunft
    • drohender Arbeitsplatzverlust
    • Arbeitslosigkeit
    • eine sozialmedizinische Notwendigkeit für berufliche Veränderungen

    Auf dieser Grundlage wurden fünf Zielgruppen definiert:

    • BORA-Zielgruppe 1 = Rehabilitanden mit Arbeit ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 2 = Rehabilitanden mit Arbeit mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
    • BORA-Zielgruppe 3 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB III (ALG I). Dieser Zielgruppe werden auch Erwerbstätige zugeordnet, die während einer Krankschreibung arbeitslos geworden sind, und Erwerbstätige, die langzeitarbeitsunfähig sind und nach 18 Monaten von der Krankenkasse ausgesteuert werden (Arbeitsplatz noch vorhanden, Bezug von ALG I oder II).
    • BORA-Zielgruppe 4 = Arbeitslose Rehabilitanden nach SGB II (ALG II)
    • BORA-Zielgruppe 5 = Nicht-Erwerbstätige

    Diagnostik

    Analyse und Diagnostik der beruflichen Ausgangsbedingungen erhalten durch die BORA-Empfehlungen einen herausragenden Stellenwert, sie werden nunmehr der Analyse und Diagnostik des suchtbezogenen Krankheitsverlaufes gleichgestellt. Es geht nicht mehr nur um die Erfassung anamnestischer Daten zur schulischen und beruflichen Situation des Rehabilitanden, sondern vielmehr um den Gesamtkontext des Erwerbsbezuges. Die BORA-Empfehlungen bieten den Praktikern in den Rehabilitationseinrichtungen einen umfangreichen Baukasten für Screening-, Diagnostik- und Assessmentverfahren sowie die Therapie- und Teilhabeplanung bezogen auf die oben genannten BORA-Zielgruppen.

    Vorliegende oder neu erhobene Erkenntnisse können und müssen mittels einer ergänzenden Diagnostik untermauert werden. Der diagnostische Fokus richtet sich u. a. auf die Aspekte Gedächtnisleistung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Planungs- und Problemlösefunktionen, Impulskontrolle, Persönlichkeitsfaktoren sowie komorbide Störungen.

    In den Empfehlungen wird angeregt, dass das zu Beginn der Rehabilitation erfolgende Screening und die daraus resultierende Zuordnung zu den BORA-Zielgruppen durch die Leistungserbringer erfolgen. Dies soll einer einseitigen Zuweisungspraxis durch die Leistungsträger entgegenwirken. Dabei steht außer Frage, dass es bereits heute Einrichtungen mit einer vorherrschenden Gruppe von Rehabilitanden (spezifischer Zielgruppenmix) und damit einhergehenden besonderen Anforderungen und Leistungsangeboten gibt.

    Werden durch das Screening Risiken hinsichtlich der Entwicklung von arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen entdeckt, sollen diese durch eine anschließende ausführlichere Diagnostik spezifiziert werden. Ausführliche Informationen zu den meisten Diagnostikinstrumenten sind auf der Internetseite www.medizinisch-berufliche-orientierung.de zu finden. An Screening-Instrumenten können die folgenden zum Einsatz kommen: Das Würzburger Screening ist ein Fragebogen für den Einsatz in Rehabilitationseinrichtungen mit neun Fragen zu den Themenbereichen „Subjektive Erwerbsprognose“, „Berufliche Belastung“ und „Interesse an berufsbezogenen Therapieangeboten“. SIBAR (Screening-Instrument für Beruf und Arbeit) ist ein kurzer Fragebogen mit elf Items. SIMBO-C (Screening-Instrument zur Erkennung des Bedarfs an Medizinisch-beruflich orientierter Rehabilitation) berücksichtigt sieben Indikatoren beeinträchtigter beruflicher Teilhabe

    Es können weitere Instrumente und Verfahren zur Analyse der Ausgangsbedingungen in Frage kommen und genutzt werden. Hierzu gehören Assessmentverfahren wie die FCE-Systeme (functional capacity evaluation). Diese messen die individuelle Fähigkeit (capacity) eines Rehabilitanden, Anforderungen einer bestimmten Arbeitstätigkeit zu erfüllen, und beinhalten standardisierte körperlich orientierte Testaufgaben. Zu den FCE-Systemen gehört z. B. EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit). WorkPark-Therapiegeräte können ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden.

    Weiterführend können neben MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit) auch IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und/oder Ida (Instrumentarium zur Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten) zum Einsatz kommen.

    Nicht alle diese Verfahren sollen in allen Rehabilitationseinrichtungen eingesetzt werden, es können auch andere Instrumente genutzt werden. Bei konzeptionellen Veränderungen sollen sich die Einrichtungen jedoch der in den BORA-Empfehlungen vorgestellten Instrumente bedienen.

    Therapieplanung

    Wenn die Ergebnisse der Analyse der beruflichen Ausgangsbedingungen und der Eingangsdiagnostik vorliegen, erfolgt die an dem individuellen Integrationspotential und Rehabilitationsbedarf ausgerichtete Entwicklung von Therapiezielen (unter Berücksichtigung der ICF). Die Therapieziele müssen gemeinsam mit dem Rehabilitanden und interdisziplinär in Abstimmung mit den unterschiedlichen Berufsgruppen im therapeutischen Team festgelegt werden. Bei Bedarf werden sie im Laufe der Behandlung angepasst. Primäres Ziel einer medizinischen Leistung zur Rehabilitation ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Ergänzt wird dies um die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Seiten der Rehabilitandin/des Rehabilitanden.

    In der klinikinternen Prozesssteuerung der beruflichen Orientierung sind alle therapeutischen Leistungen als Rehabilitationsmodule untereinander zu vernetzen. So ist bei der Psychotherapie die berufliche Teilhabeplanung stets als fester Bestandteil zu integrieren. Zudem werden in diesem Kontext entsprechende Erfahrungen aus anderen Therapiebereichen (z. B. Arbeits-, Ergo- und Sporttherapie) reflektiert und gegebenenfalls vertieft. Alle im Rahmen der Rehabilitation angebotenen Therapiebausteine müssen einen Beitrag zur Teilhabe und zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leisten. Weiterführend ist die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker nicht mehr nur Psychotherapeut/-in, sondern auch Koordinator/-in der Gesamtrehabilitation und der beruflichen Teilhabeplanung.

    Mit der Arbeits- und Ergotherapie, der klinischen Sozialarbeit und weiteren Interventionen zur beruflichen Wiedereingliederung besteht in den Einrichtungen ein oft seit Jahrzehnten etabliertes Therapieangebot, das eine Verknüpfung zum Arbeitsleben herstellt. In den Einrichtungen werden medizinisch-arbeitsorientierte Leistungen unter Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Einschränkungen gezielt eingesetzt. Hierbei kann es auch um das Training von Grundarbeitsfähigkeiten in individuell bestimmten teilhabebezogenen Handlungsfeldern gehen. Die teilhabeorientierten Handlungsfelder werden in drei Bereiche unterteilt:

    • Grundarbeitsfähigkeiten: Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Flexibilität, Arbeitstempo, Konzentration und Merkfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten: Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit, Umgang mit Autoritäten, Umgang in der Gruppe
    • Selbstbild: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Selbsteinschätzung, Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit

    Grundsätzlich dürfen die erwerbsbezogenen Behandlungsanteile in allen Phasen der medizinischen Rehabilitation nicht mehr nachrangig sein, sondern sind – wie die medizinische und psychotherapeutische Behandlung – von zentraler Bedeutung. Die Teilnahme an entsprechenden Angeboten muss verbindlichen Charakter haben. Die Inhalte, Auffälligkeiten, Schwierigkeiten und Ergebnisse dieses Bereichs müssen in die Gesamtrehabilitation einfließen und vom gesamten therapeutischen Team professionsübergreifend berücksichtigt werden.

    Therapieleistungen

    Folgende Therapieleistungen, ausgehend von der KTL 2015, sind grundsätzlich sinnvoll und sollten in den Einrichtungen angeboten werden: Problembewältigung am Arbeitsplatz, Motivierung zur Wiederaufnahme einer Arbeit, Umgang mit Ängsten, Gespräche mit Vertretern des Arbeitgebers sowie dem Reha-Fachberater, interne und externe Belastungserprobung (auch am bisherigen Arbeitsplatz), PC-Schulungskurse, Bewerbungstraining und Sozialberatung. Weiterhin gehören die Arbeitstherapie, die Ergotherapie und die Einleitung weiterführender Maßnahmen zu den im Einrichtungskonzept zu beschreibenden relevanten therapeutischen Leistungen. Die BORA-Empfehlungen enthalten außerdem eine ausführliche Darstellung, welche therapeutischen Leistungen für welche Zielgruppen besonders sinnvoll sein können.

    Bei jungen Rehabilitanden erschwert häufig ein fehlender Schulabschluss die weitere berufliche Integration. Parallel zur Rehabilitation durchgeführte Beschulungsprojekte oder Maßnahmen mit dem Ziel, einen schulischen Abschluss zu erlangen, ob integriert oder in Kooperation, sind grundsätzlich sinnvoll.

    Bezüglich der so genannten klinikinternen Dienstleistungen konnte mit BORA Klarheit geschaffen werden: Zukünftig können wieder alle internen Arbeitsfelder genutzt werden. Zu beachten ist dabei aber stets, dass dieser Einsatz sich am primären Ziel der medizinischen Rehabilitation orientieren muss. Dazu bedarf es einer gezielten Indikation, einer therapeutischen Zielsetzung und Begleitung. Zudem ist eine zeitliche Begrenzung zu beachten.

    Bei der personellen und räumlich-apparativen Ausstattung der medizinischen Rehabilitationseinrichtungen gelten die Strukturanforderungen der Deutschen Rentenversicherung. Darin sind Zielgrößen für einzelne Berufsgruppen beziehungsweise Funktionsgruppen beschrieben, die konzeptionell begründet auch nach oben und unten abweichen können. Sie stellen somit kein Dogma dar, sondern lassen Raum für regionale Besonderheiten und konzeptionelle Einrichtungsschwerpunkte. In konzeptionelle Weiterentwicklungen durch die Einrichtungen und Einrichtungsträger sollen die Leistungsträger aktiv einbezogen werden. Die Leistungsträger sind aufgefordert, die Entwicklungsprozesse fachlich und auch durch Abbildung in den Pflegesätzen zu unterstützen.

    Spezielle Leistungsformen

    BORA muss in allen Leistungsformen Anwendung finden, nicht nur in der stationären Entwöhnung. Für die ambulante Rehabilitation gilt dies genauso wie für die adaptive Behandlung oder die Nachsorge.

    Bereits das gemeinsame Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 3. Dezember 2008 bezeichnet die ambulante Rehabilitation als ein Instrument zum Erhalt bzw. zur Erreichung der Eingliederung in Arbeit und Beruf. Für die Zielgruppen BORA 1 bis 4 kommt ein unterschiedlich umfangreiches Leistungsspektrum in Betracht. Die Leistungen umfassen beispielsweise sozialrechtliche Beratung, Berufsklärung unter Einbeziehung geeigneter Screening-Instrumente, soziale Gruppenarbeit (insbesondere Umgang mit beruflichen Themen), Training sozialer Kompetenzen und Belastungserprobung.

    Eine Adaptionsbehandlung als Spezifikum in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten kann die letzte Phase der stationären Rehabilitation bilden. In den Adaptionseinrichtungen wird seit jeher der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und einem zu erreichenden Erwerbsbezug eine besondere Bedeutung beigemessen. Viele Leistungen und Erfahrungen aus den adaptiven Behandlungen finden heute Einzug in die Konzepte der Entwöhnungen. Man kann also vereinfacht formulieren: Adaption ist BORA. Adaptionsbehandlungen werden v. a. von Rehabilitanden der BORA-Zielgruppe 4 (vereinzelt auch 2, 3 und 5) in Anspruch genommen. Die Leistungen umfassen u. a. die Fortsetzung der medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung, die externe Arbeits- und Belastungserprobung, die Festigung der Abstinenz sowie die persönliche Stabilisierung bei auftretenden Krisen im privaten und beruflichen Alltag. All diese Leistungen zielen insgesamt auf die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration ab. Die Adaptionseinrichtungen erbringen den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Praxis und berücksichtigen den Lebensalltag der Rehabilitanden.

    Auch in den Nachsorgeangeboten müssen und werden im Zuge der Implementierung der BORA-Empfehlungen die erwerbsbezogenen Interventionen einen wachsenden Anteil an den Beratungs- und Unterstützungsprozessen ausmachen. Auch bei geringer Kontaktfrequenz zu den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden muss der (Re-)Integration in das Erwerbsleben bzw. dem Erhalt erwerbsbezogener Strukturen eine größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.

    Kooperationen

    Eine frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der medizinischen Reha ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitanden, die arbeitsbezogenen Ressourcen, die individuellen Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten. Im Verlauf der Rehabilitation können diese Kontakte dafür genutzt werden, dass die Rehabilitanden praktische Erprobungen oder berufliche Orientierungsmaßnahmen absolvieren. Möglichst frühzeitig sollte ein zeitnaher Übergang zu weiteren Leistungen sichergestellt werden – z. B. in eine Adaption, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, in eine berufliche Wiedereingliederung – oder zumindest die erforderlichen Vermittlungsbemühungen. Abhängig vom Einzelfall kommen u. a. folgende Kooperationspartner in Betracht:

    • Arbeitgeber, Werks- und Betriebsärzte, betriebliche Sozial- und Mitarbeiterberatung
    • Arbeitsagenturen, Jobcenter
    • behandelnde Ärzte, Hausärzte, Psychotherapeuten
    • berufliche Rehabilitationseinrichtungen, Bildungsträger, Betriebe
    • gemeinsame Servicestellen der Rehabilitationsträger
    • Integrationsämter, Integrationsfachdienste
    • Reha-Fachberater der Rentenversicherungsträger
    • sozialmedizinischer Dienst der Rentenversicherungsträger
    • Suchtberatungsstellen, Fachstellen, (Sucht-)Selbsthilfegruppen

    Konkrete Kooperationsvereinbarungen sollen neben einer Zielformulierung möglichst auch feste Ansprechpartner enthalten. Rahmenbedingungen der Kooperation sollen so konkret wie möglich benannt werden, z. B. wie der Austausch zwischen den Partnern erfolgt und ob es Evaluations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt. Nur wenn Kooperationen gepflegt werden, können sie erfolgreich sein.

    Zukünftig werden Steuerungsmodelle im Sinne eines Case Management gefragt sein, die Leistungen aus unterschiedlichen Segmenten koordinieren. Erste Pilotprojekte gibt es dazu. Ziel muss sein, dass alle Bemühungen – von der Erstberatung über die Vermittlung in ambulante und stationäre Hilfen und nachsorgende Angebote – vernetzt und zielführend gestaltet werden. Eine Anamnese muss nicht viermal erhoben werden, aber berufliche Erprobungen können mehrfach durchgeführt werden und so die Rehabilitanden in ihrer Motivation und ihrem Durchhaltevermögen stärken.

    Dokumentation und Qualitätssicherung

    Daten zum Bereich Arbeit, Beruf und Erwerbstätigkeit werden in verschiedenen Systemen dokumentiert:

    • In der Basisdokumentation werden zu Beginn der Behandlung verschiedene Informationen erfasst und am Ende der Behandlung erste Ergebnisindikatoren festgehalten.
    • Die dokumentierten Ergebnisse der Eingangs- und Abschlussdiagnostik stellen eine Grundlage für die Therapieplanung und die Veränderungsmessung dar.
    • In der Patientenakte werden alle wesentlichen Informationen zum Behandlungsverlauf dokumentiert.
    • Die einrichtungsinterne Leistungserfassung erfolgt mit der KTL, deren neue Version 2015 durchaus verbesserte Möglichkeiten zur Dokumentation der arbeits- und berufsbezogenen therapeutischen Leistungen bietet.
    • Im Reha-Entlassungsbericht (neuer Leitfaden der DRV vom September 2014) werden alle wesentlichen Informationen zum Verlauf und zum Ergebnis der Reha zusammengefasst. Von zentraler Bedeutung ist hier die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, die im freien Text (Blatt 2) möglichst gut begründet werden soll.

    Die in der medizinischen Rehabilitation etablierten Systeme für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beinhalten verschiedene Vorgaben für die Leistungsgestaltung und die Struktur von Ergebnisindikatoren. Die externe Qualitätssicherung erfolgt im Rahmen des Reha QS-Programms der Deutschen Rentenversicherung und umfasst folgende Instrumente:

    • Rehabilitandenbefragung mit einzelnen Fragen zur Arbeits- und Berufsorientierung (insbesondere zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit)
    • Peer Review-Verfahren (Checkliste und Manual in neuer Version vom Dezember 2014) zur Überprüfung der inhaltlichen Qualität der Reha-Entlassungsberichte mit dem Fokus Reha-Prozess und Reha-Ergebnis
    • Therapeutische Versorgung (KTL) mit Kennzahlen zu Häufigkeit, Dauer und Differenziertheit der dokumentierten Leistungsdaten (Leistungsverteilung, Leistungsmenge, Leistungsdauer) und einer gesonderte Auswertung der therapeutischen Leistungen im Bereich Arbeits- und Berufsorientierung
    • Reha-Therapiestandards (RTS) mit Anforderungen in einzelnen ETMs (Evidenzbasierte Therapiemodule) mit speziellen therapeutischen Anforderungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit
    • Visitationen nach einer einheitlichen Checkliste, die auch die Aspekte „arbeitsbezogene Leistungen“, „Sozialmedizin“ und „Sozialdienst“ umfasst
    • Rehabilitandenstruktur mit soziodemografischen (z. B. Alter, Bildungsniveau, Erwerbsstatus) und krankheitsbezogenen Merkmalen (z. B. Diagnosen, Leistungsfähigkeit)
    • Sozialmedizinischer Verlauf zum Verbleib der Rehabilitanden im Erwerbsleben mit Bezug zur Beitragszahlung an die gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur aus Erwerbstätigkeit resultieren kann (Ab 2011 haben sich die gesetzlichen Grundlagen für Hartz-IV-Empfänger geändert, d. h., es werden für diese Personengruppe keine RV-Beiträge mehr gezahlt, was aufgrund der hohen Langzeitarbeitslosigkeit im Indikationsbereich Sucht zu einer deutlichen Verschlechterung dieser Kennzahlen führen kann.)

    Zu den genannten Instrumenten und Indikatoren werden regelmäßig einrichtungsspezifische QS-Berichte erstellt, die Grundlage für einen Qualitätsvergleich der Einrichtungen und deren Qualitätsentwicklung sein sollen.

    Im Bereich der internen Qualitätssicherung werden von den Reha-Einrichtungen verschiedene Instrumente zur Analyse von Indikatoren und Kennzahlen im Zeitverlauf und zum Einrichtungsvergleich eingesetzt. Dazu zählen insbesondere:

    • Patientenbefragungen zur Erhebung der Zufriedenheit am Behandlungsende oder am Stichtag, u. a. mit Fragen zu den Leistungen im Bereich Arbeits- und Ergotherapie
    • Basisdokumentation mit Erhebung des Erwerbsstatus vor und nach der Rehabilitation. Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen und in der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS).
    • Katamnesen nach dem Standard des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) nach einem Jahr zum Behandlungserfolg (insbesondere Abstinenz, Erwerbstätigkeit und Kontextfaktoren). Die einrichtungsübergreifende Darstellung erfolgt im Rahmen von Verbandsauswertungen.

    Zum internen Qualitätsmanagement besteht für alle stationären Reha-Einrichtungen eine Zertifizierungspflicht nach § 20 Abs. 2a SGB IX (BAR-Vereinbarung von 2009). Der entsprechende Anforderungskatalog umfasst auch Qualitätskriterien, die die Struktur- und Prozessqualität im Bereich arbeits- und berufsbezogene Leistungen betreffen. Für die relevanten Kernprozesse ist ein Prozessmanagement zu etablieren, die Teilnahme an einem Verfahren der externen QS ist vorgeschrieben, und es müssen Verfahren für die interne Messung und Analyse von Ergebnissen eingesetzt werden.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den bestehenden QM- und QS-Systemen bislang nur wenige oder eher globale Indikatoren zur Analyse der Arbeits- und Berufsorientierung enthalten sind. Verschiedene Weiterentwicklungen im QS-Programm der DRV wären denkbar: Im Rahmen der Rehabilitandenbefragung könnten die Leistungen in der Einrichtung, die sich auf Beruf und Arbeit beziehen, differenzierter abgefragt werden. Bei der Analyse der Rehabilitandenstruktur könnten die BORA-Zielgruppen explizit dargestellt werden. Und bei der im Jahr 2015 laufenden Überarbeitung der Reha-Therapiestandards könnten die ETMs, die die Arbeits- und Berufsorientierung betreffen, zusammengefasst und stärker an den BORA-Empfehlungen ausgerichtet werden.

    Aktuell wird auch die Erhebung einer ‚Integrationsquote‘ diskutiert, die den Anteil der konkret in Erwerbstätigkeit gebrachten Rehabilitanden (für jede Reha-Einrichtung) messen soll. Auch wenn das auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, ist Vorsicht geboten, denn der Auftrag der Reha-Einrichtungen bezieht sich primär auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Bei der Integration in eine Erwerbstätigkeit spielen viele Einflussfaktoren und Leistungen außerhalb bzw. vor und nach der medizinischen Rehabilitation eine große Rolle. Zudem kann eine einzelne Einrichtung weder für ihr regionales Umfeld und die entsprechende Arbeitsmarktsituation verantwortlich gemacht werden noch alle Schwierigkeiten ausgleichen, die aufgrund der konzeptionell bedingten Rehabilitandenstruktur (Zielgruppenmix) bestehen.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Denis Schinner
    Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption
    Merschstraße 49
    59387 Ascheberg-Herbern
    dschinner@netzwerk-suchthilfe.org
    www.netzwerk-suchthilfe.org
    www.facebook.com/fachklinik.release

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Denis Schinner ist Verwaltungsleiter der Fachklinik Release – Entwöhnung und Adaption, Ascheberg-Herbern.