Schlagwort: Opioide

  • Synthetische Opioide auf dem europäischen Drogenmarkt

    Synthetische Opioide auf dem europäischen Drogenmarkt

    Prof. Dr. Heino Stöver ©B. Bieber Frankfurt UAS

    Dem Europäischen Drogenbericht 2022 zufolge ist Heroin zwar nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid in Europa und die Droge, die für die meisten drogenbedingten Todesfälle verantwortlich ist. Doch geben synthetische Opioide im Hinblick auf das Drogenproblem in Europa zunehmend Anlass zur Sorge.

    Synthetische Opioide werden im Gegensatz zu Opiaten (Morphin) und halbsynthetischen Opioiden (Heroin) vollständig aus Chemikalien synthetisiert. Sie sind mit pharmazeutischen Grundkenntnissen leicht herzustellen. Es handelt sich um Substanzen mit einer schmerzlindernden Wirkung, die der von Heroin und Morphin ähnelt. Die Wirkung ist allerdings viel stärker und potenter als die von Heroin und Morphin, sodass das Risiko einer Überdosierung höher ist.

    Synthetische Opioide werden in der Medizin häufig zur Behandlung starker Schmerzen sowie bei der Palliativversorgung eingesetzt. Es gibt zwei separate Lieferketten für synthetische Opioide, die auf den unterschiedlichen Drogenmärkten verkauft werden: Abzweigung und Missbrauch innerhalb der legalen Lieferkette der medizinischen und veterinärmedizinischen Versorgung sowie Synthetisierung der synthetischen Opioide in illegalen Laboren für die illegale Lieferkette.

    Fentanylderivate sind laut Europäischem Drogenbericht aufgrund der zentralen Rolle, die sie im nordamerikanischen Opioid-Problem spielen, besonders besorgniserregend. Weiter heißt es, es gebe jedoch auch Anzeichen dafür, dass in einigen Ländern andere synthetische Opioide vorherrschend bei den Drogenproblemen sein könnten. Die derzeitigen Überwachungssysteme dokumentierten die Trends des Konsums von synthetischen Opioiden möglicherweise nicht ausreichend, die Beobachtungskapazitäten müssten verbessert werden (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 36).

    Weiter heißt es im Europäischen Drogenbericht, dass in Europa in den Jahren 2020 und 2021 keine neuen Fentanylderivate nachgewiesen wurden, in diesem Zeitraum jedoch 15 neue synthetische Opioide entdeckt wurden, die nicht unter die Regelung zur Kontrolle von Fentanylderivaten fallen. Dazu gehörten neun potente Benzimidazol-Opioide. Hergestellt worden seien z. B. gefälschte Arzneimittel wie Oxycodon-Tabletten, die erwiesenermaßen potente Benzimidazol-Opioide enthalten. Auch gefälschte Xanax- und Diazepam-Tabletten mit neuen Benzodiazepinen wurden sichergestellt. Die Konsumierenden könnten, ohne es zu wissen, starken Substanzen ausgesetzt sein, die das Risiko tödlicher oder nicht tödlicher Überdosierungen erhöhen können (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 38).

    Toolkit für das Gesundheitswesen

    Das europäische Forschungsprojekt „Stärkung der Reaktionsbereitschaft von Gesundheitssystemen auf den potenziellen Anstieg der Prävalenz und des Konsums von synthetischen Opioiden“ (Strengthening Synthetic Opioids Health Systems‘ Preparedness to respond to the Potential Increases in Prevalence and Use of Synthetic Opioids) hat ein Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen (SO-PREP) entwickelt. Ziel des Projektes ist, den Verantwortlichen im öffentlichen Gesundheitswesen Angebote, Informationen und praktische Hilfen an die Hand zu geben, um den spezifischen Herausforderungen im Umgang mit synthetischen Opioiden zu begegnen. Das Toolkit enthält Empfehlungen und Anleitungen zu sieben Schlüsselstrategien:

    1. Frühwarnsysteme
    2. Internet-Monitoring
    3. E-Health
    4. Drug-Checking
    5. Drogenkonsumräume
    6. Naloxon
    7. Opioid-Agonisten-Therapie

    Frühwarnsysteme

    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) und die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden (Europol) arbeiten seit 1997 mit Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der Europäischen Kommission (EK) zusammen, um das Risiko neu aufkommender Drogen auf dem europäischen Drogenmarkt zu überwachen und zu bewerten und ein Frühwarnsystem einzurichten. Ende 2020 überwachte die EBDD rund 830 Neue psychoaktive Substanzen (NPS), von denen 67 zu den synthetischen Opioiden gehörten. Doch in vielen europäischen Ländern gibt es Defizite beim zeitnahen Austausch aktueller Informationen. Daher besteht die größte Herausforderung darin, die Zusammenarbeit sowie die systematische Datenerfassung und den Informationsaustausch zwischen allen relevanten Partnern sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene zu stärken (vgl. Abbildung 1). Für einen schnellen Datenaustausch werden nationale Datenbanken und digitale Plattformen benötigt. Auch die Koordination, Implementierung und Evaluierung von Daten sowie die Berichterstattung darüber sollten für ein funktionierendes Frühwarnsystem zu synthetischen Opioiden optimiert werden.

    Abb. 1: Voraussetzungen für ein funktionierendes Frühwarnsystem

    Internet-Monitoring

    Die Überwachung im Internet beinhaltet das Monitoring von Daten zu

    • Suchverhalten
    • Austausch über Drogen
    • Nutzererfahrungen
    • Drogenmärkte und Drogenangebot

    sowohl im Clearnet (öffentliches Internet) als auch im Deep-Web (nur mit Anonymisierungssoftware zugängliches Web, darunter das Darknet). Für den Handel mit synthetischen Opioiden werden Kanäle wie Google Trends, Instagram, Twitter, Facebook, Chatrooms, Kryptomärkte sowie Diskussionsforen im Clearnet und Darknet genutzt. Mithilfe eines Online-Monitorings können Mechanismen innerhalb dieser Plattformen sowie die Entwicklung von Angebot und Nachfrage überwacht werden. Das liefert Erkenntnisse, die durch traditionellere Forschungsmethoden wie z. B. Umfragen nicht gewonnen werden können.

    E-Health

    Obwohl das Forschungsinteresse zu E-Health-Angeboten bei Substanzstörungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat, sind digitale Informations- und Kommunikationstechnologien wie Telemedizin und Apps für Drogenkonsumierende noch relativ begrenzt. Realisierbar sind geeignete E-Health-Maßnahmen für die drei Säulen der Drogenpolitik

    • Prävention,
    • Therapie und
    • Schadensminimierung.

    Wie wirksam digitale Präventionsmaßnahmen für Konsumierende von synthetischen Opioiden sein können, zeigt das finnische Online-Portal Päihdelinkki (https://paihdelinkki.fi/) mit seinem Informationsangebot zu Drogenkonsum und Drogenentwöhnung. E-Health-Apps können als alternativer Ansatz genutzt werden, um Klient:innen zu einer Therapie zu bewegen und langfristig zu motivieren. In der Telemedizin ist MySafeRx (https://www.c4tbh.org/program-review/mysaferx/) eine Plattform für Mobilgeräte, die Text- und Videokommunikation anbietet und es den Patient:innen ermöglicht, ein Medikament unter Aufsicht einzunehmen.

    E-Health-Angebote können nicht nur den Zugang zu bereits existierenden Maßnahmen wie Drug-Checking und Drogenkonsumräumen vereinfachen, sondern auch den Weg für neue, innovative Methoden der Schadensminimierung ebnen. So bietet die app-gestützte Begleitung von Konsumierenden via Telefonbetreiber oder Biofeedback eine Art virtuellen Drogenkonsumraum, in dem sich die Drogengebraucher:innen sicherer fühlen können.

    Drug-Checking

    Drug-Checking ist ein Angebot an Drogenkonsumierende. Anonym können sie Proben von illegal erworbenen Drogen chemisch analysieren lassen, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen. Sobald die Ergebnisse der Analyse vorliegen, werden die Informationen zu den Inhaltsstoffen und zur Reinheit der Drogenprobe übermittelt. In der Regel gehören Hinweise zur Schadensminimierung, eine Beratung und Kurzinterventionen zu dem Angebot dazu. In Deutschland ist Drug-Checking inzwischen durch Träger der Jugend- und Drogenhilfe in Kooperation mit zur Betäubungsmittelanalyse befähigten Laboren rechtlich abgesichert. Der Deutsche Bundestag hat am 23. Juni 2023 im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) die gesetzlichen Grundlagen für das Drug-Checking-Modellvorhaben geschaffen. Das im BtMG verankerte Verbot von Drug-Checking in Drogenkonsumräumen wurde aufgehoben. Berlin macht seit April 2023 erste Erfahrungen in einem Modellprojekt. Hessen und Baden-Württemberg wollen folgen, andere Bundesländer beraten noch.

    Da der illegale Drogenmarkt äußerst dynamisch ist, müssen Drug-Checking-Dienste sich kontinuierlich weiterentwickeln, um neuen Bedrohungen wie synthetischen Opioiden gewachsen zu sein. Möglich sind sowohl stationäre Angebote an festen Standorten als auch mobile Angebote, z. B. bei Festivals oder großen Partys. Um mit Drug-Checking gute Ergebnisse zu erzielen, empfehlen sich Handlungsleitfäden. Darin sollten die Zuständigkeiten des Personals, die Qualitätsanforderungen und vor allem die standardmäßigen Schutz- und Sicherheitsvorschriften beim Umgang mit Drogenproben, insbesondere mit hochpotenten Substanzen wie Fentanyl und seinen Analoga, beschrieben werden. Die Laborergebnisse aus dem Drug-Checking können wichtige Informationen für das Frühwarnsystem liefern.

    Drogenkonsumräume

    Seit 1986 wirken sich Drogenkonsumräume positiv auf Gesundheit und Lebensqualität drogenkonsumierender Menschen aus. Hinsichtlich Prävention und Intervention haben sie eine Schlüsselrolle. Sie bieten eine überwachte, hygienische und sichere Umgebung für den Konsum – auch von synthetischen Opioiden. Mitarbeitende klären über Substanzen und sichere Konsumpraktiken auf. Sie entwickeln Strategien für den Umgang mit Überdosierungen und setzen diese um. So tragen Drogenkonsumräume dazu bei, die Selbstfürsorge und Selbstregulierung von Konsumierenden zu verbessern.

    Bei einem starken Anstieg des SO-Konsums müssen die Maßnahmen, Ressourcen und Regelungen in Drogenkonsumräumen angepasst werden. Die Mitarbeitenden müssen sich zusätzliches Fachwissen und Kompetenzen aneignen, um die Sicherheit zu fördern. Fentanyl und andere synthetische Opioide, die zum Strecken von Substanzen verwendet werden, können nicht nur in Opioiden, sondern auch in Stimulanzien vorkommen. Wichtig ist auch, dass Kenntnisse über die Risiken verschiedener Substanzkombinationen vermittelt werden.

    Mitarbeitende der Drogenkonsumräume können für das Frühwarnsystem Echtzeit-Daten zur Überwachung des Drogenmarktes liefern. So können Konsumierende, Anbieter von Diensten zur Schadensminimierung, Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens, Wissenschaftler:innen und Strafverfolgungsbehörden zeitnah über hochpotente oder verunreinigte Drogenchargen informiert und davor gewarnt werden.

    Naloxon

    Der Konsum hochpotenter synthetischer Opioide kann sehr schnell und völlig unvorhergesehen zu einer lebensbedrohlichen Überdosierung, irreversiblen gesundheitlichen Schäden und zum Tode führen. Naloxon ist ein einfacher und sicherer selektiver Opioidrezeptor-Antagonist, der die Wirkung eines Opioids am Rezeptor blockiert und dadurch die Intoxikation aufhebt. Das synthetische Opioid Fentanyl ist schätzungsweise 100-mal stärker als Morphium. Eine Dosis von zwei Milligramm reicht bereits aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Angesichts dieser Wirkstärke ist eine viel höhere Naloxondosis erforderlich, um eine Überdosis von synthetischen Opioiden zu bekämpfen, als z. B. bei einer Heroinüberdosis.

    Naloxon muss breiter verfügbar gemacht werden, da es eine der Schlüsselstrategien zum Schutz vor der wachsenden Bedrohung durch synthetische Opioide ist (siehe hierzu das Positionspapier „Naloxon rettet Leben. Empfehlungen zu Take-Home-Naloxon“). Bisher ist das Medikament in Deutschland rezeptpflichtig. Doch sollte es rezeptfrei erhältlich sein oder zumindest von entsprechend befugten Drogendiensten rezeptfrei abgegeben werden. Es ist wichtig, dass Fachkräfte und Laien wie z. B. Drogenkonsumierende in Schulungen lernen, wie sie im Fall einer Überdosis reagieren sollten und wie das Naloxon zu verabreichen ist. Besonders wichtig sind dabei Peer-to-Peer-Programme.

    Die Peer-Schulungen zum Umgang mit Opioidüberdosierungen können Folgendes beinhalten:

    • Ursachen und Risikofaktoren für eine Überdosierung
    • Erkennen von Anzeichen und Symptomen einer Überdosierung (einschließlich der Unterschiede zwischen einer Überdosierung durch Stimulanzien, Heroin, Fentanyl oder andere synthetische Opioide)
    • Begutachtung und Behandlung von Betroffenen
    • adäquate lebenswichtige Unterstützung, einschließlich Wiederbelebung und Beatmung
    • Informationen zur Wirkung von Naloxon
    • Nebenwirkungen und Überwachung nach der Verabreichung von Naloxon
    • mögliches Risiko aggressiven Verhaltens
    • häufige Fehlannahmen zur Überdosisprävention
    • rechtlicher Rahmen zum Umgang mit Naloxon für die Zielgruppen: Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und der Strafverfolgung (Polizei)

    Auch sollte sichergestellt sein, dass Naloxon Ersthelfer:innen wie Polizei oder Krankenwagenpersonal und in Notaufnahmen zur Verfügung steht und angemessen eingesetzt wird.

    Opioid-Agonisten-Therapie

    Mit der Opioid-Agonisten-Therapie (OAT) – auch Opioid-Substitutionstherapie (OST) bzw. medikamentengestützte Therapie genannt – werden Opioidabhängige behandelt. Zwei der am häufigsten verwendeten Medikamente sind Methadon und Buprenorphin. Diese morphinähnlichen Substanzen wirken wie natürliche Opiumextrakte. Sie werden je nach Bedarf der behandelten Person für kurze oder lange Behandlungszeiträume verschrieben. Die Therapie hat dann die größte Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit Maßnahmen wie Beratung, soziale Unterstützung, Überwachung des Substanzkonsums sowie Aufklärung und Rückfallprävention kombiniert wird.

    Zu den operativen Risiken der OAT für Menschen, die synthetische Opioide konsumieren, gehören Rückfälle, Abzweigung und Missbrauch der Medikamente sowie Überdosierungen. Bei der Umsetzung der OAT für Konsumierende von synthetischen Opioiden sind eine routinemäßige Kontrolle und Evaluierung, qualifiziertes ärztliches Personal und Take-Home-Medikation wichtig. Gleichzeitig muss auf schwere Infektionskrankheiten und die Lebensqualität der behandelten Personen geachtet werden. Ein gut funktionierendes OAT-System kann einen wirksamen Schutzmechanismus im Kampf gegen den illegalen Opioidmarkt bieten. Die OAT ist nach wie vor der wichtigste Ansatz zur Behandlung von Konsumstörungen im Zusammenhang mit Opioiden und synthetischen Opioiden.

    Fazit

    Um die komplexen Herausforderungen im Kontext von synthetischen Opioiden zu bewältigen, reichen ein einzelner Ansatz sowie herkömmliche Maßnahmen nicht aus. Neue und innovative Ansätze wie Drug-Checking, E-Health und Internet-Monitoring sind notwendig, um etablierte Maßnahmen wie die OAT zu ergänzen. Da jede Maßnahme ihre Schwachstellen hat, liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Kombination und Integration verschiedener Ansätze.

    Anmerkung des Autors: Für die textliche Unterstützung danke ich Wissenschaftsjournalistin Ursula Katthöfer (textwiese.com) sehr herzlich.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Heino Stöver, Dr. Babak Moazen
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Institut für Suchtforschung (ISFF)
    hstoever(at)fb4.fra-uas.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Heino Stöver leitet den Studiengang „Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe“ des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences.

    Literatur:
    • Institut für Suchtforschung an der FRA-AUS (ISFF) und akzept e.v. (Hg.): SO-PREP, Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen, Frankfurt 2023, www.akzept.eu/publikationen
    • Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2022), Europäischer Drogenbericht 2022: Trends und Entwicklungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg 2022, doi:10.2810/541855
    • Deutscher Bundesstag: Bundestag stimmt für Frühwarnsystem gegen Medikamentenmangel. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw25-de-arzneimittellieferengpass-954384
  • Substitution und medizinische Reha

    Substitution und medizinische Reha

    Thomas Hempel

    Die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger ist eine hochwirksame, etablierte und gut evaluierte medikamentöse Standardbehandlung in der Suchtmedizin. Besonders im Zusammenspiel mit einer suffizienten psychosozialen Betreuung (PSB) stellt sie eine wichtige, auf allen Ebenen der ICF wirksame Behandlungsmethode für opiatabhängige Menschen dar. Diese multiprofessionelle Behandlung sollte, wenn möglich, in eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) münden. Das Setting der medizinischen Rehabilitation bietet optimale Kontextfaktoren für die Behandlung komplexer Abhängigkeitserkrankungen und der häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen, psychosomatischen und somatischen Erkrankungen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass rehabilitative Behandlungen unter Substitution grundsätzlich möglich sind! Die Substitutionsbehandlungen in der Reha sollten auf die individuellen Bedarfe und auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Rehabilitand:innen ausgerichtet sein. Ein Zwang zur Abdosierung sollte nicht mehr gefordert werden.

    Ausgangslage

    Diese Erkenntnisse schlagen sich aktuell in der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger nieder. Die Entwicklung dieser Leitlinie stellt einen wichtigen Schritt dahingehend dar, dass die substitutionsgestützte Behandlung zunehmend als gängige und normale Behandlungsmethode wahrgenommen wird. Die Bewertung der Wirksamkeit der Substitutionsbehandlung wurde in den letzten Jahrzehnten oft durch ideologisch geprägte Sichtweisen bestimmt. Dies ist auch heute noch häufig der Fall. Die vertretenen Positionen liegen weit auseinander, dazu gehören zum Beispiel: „Ich bin doch nicht der Dealer meiner Patient:innen“, „Nur die abstinente Lebensführung führt zur Linderung der Sucht“, „Reha ist nur unter abstinenten Bedingungen erfolgreich“, „Abdosierung gleich Tod des Substituierten“, „Substitutionsbehandlung ist der Goldstandard in der Behandlung von Opiatabhängigen“ etc.

    Diese Ideologisierung führte zu Schnittstellenproblemen und Behandlungshemmnissen, die die multiprofessionelle und multifaktorielle Planung und Durchführung einer auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Betroffenen abzielende Behandlung erheblich erschweren.

    Eine schwierige Schnittstelle ist z. B. der Zugang für Substituierten in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Die Schwierigkeiten liegen unter anderem darin begründet, dass ein Großteil der niedergelassenen substituierenden Ärzt:innen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker skeptisch gegenübersteht. Sie gehen davon aus, dass es nur wenige Fachkliniken gibt, die Substituierte behandeln, und dass in der Rehabilitation zwangsläufig eine Abdosierung der Substitutionsmedikation erfolgt, die dann mit einer erheblichen Gefährdung ihrer Patient:innen einhergehen würde. Diese Annahmen finden sich auch bei vielen Zuweisenden, insbesondere aus dem niedrigschwelligen und akzeptierenden Bereich.

    Aber auch, wenn eine Reha angestrebt und beantragt wird, entstehen häufig Probleme, da die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker nur bedingt bekannt sind. Das Bild der medizinischen Rehabilitation ist häufig noch von der Vorstellung einer „therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt. Die Vorstellung, dass ein wesentliches Behandlungsziel der Rehabilitation die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ist, ist vielen der substituierenden Ärzt:innen und Zuweisenden eher fremd, da Substitutionsbehandlungen primär als Hilfe zum Überleben und unter Harm Reduktion-Aspekten betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund werden häufig medizinische Rehabilitationen für Menschen beantragt, die noch nicht rehabilitationsfähig sind und eigentlich erst einmal z. B. im BTHG-Bereich betreut werden müssten. Es werden medizinische Rehabilitationen für Patient:innen beantragt, die noch nicht über die notwendige Mitwirkungsfähigkeit verfügen und in der Folge an den Anforderungen der Rehabilitationsbehandlung scheitern. Dieses Muster führte dazu, dass sowohl bei den zuständigen Leitungsträgern als auch bei Leistungserbringern der Reha ein negatives Bild der substituierten Rehabilitand:innen tradiert und Substitution während der Reha sehr kritisch gesehen wurde. In Anlage 4 zur „Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen“ von GKV und DRV wurde z. B. formuliert, dass während der Rehabilitation eine Abdosierung zu erfolgen hat.

    bus.-Umfrage: „Substitution in der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen“

    Vor dem Hintergrund der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger, der oben beispielhaft skizierten Problemlagen und der Zunahme der Anfragen bezüglich einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker unter Substitutionsbehandlung sowie mit dem Wissen um die dynamische Entwicklung im Bereich dieses Behandlungsangebotes führte der bus. im September 2021 eine Online-Abfrage unter seinen Mitgliedseinrichtungen durch. Gefragt wurde, welche ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe Substitution während der Rehabilitation anbieten und unter welchen Bedingungen dies geschieht (z. B. mit oder ohne Zwang zur Abdosierung, mit welchem Substitutionsmedikament etc.).

    Umfang des Angebots

    Es haben 66 Einrichtungen unterschiedlicher Einrichtungstypen an der Umfrage teilgenommen: Fachkliniken für Alkohol und Medikamente, Drogenfachkliniken, Adaptionen, Tageskliniken und Beratungsstellen. Von insgesamt 3.454 angegebenen Behandlungsplätzen entfallen 301 Plätze auf Substitution. Die Verteilung der Behandlungsplätze ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Jedem Behandlungsplatz für Substitution stehen auf Bundesebene rund 11 Behandlungsplätze für die reguläre Behandlung von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung gegenüber. Die größte Dichte an Behandlungsplätzen für Substitution hat Berlin mit 1:2, gefolgt von Rheinland-Pfalz mit 1:3 Behandlungsplätzen. Schleswig-Holstein bietet 1:6 Behandlungsplätze. Die wenigsten Behandlungsplätze für Substitution (relativ zur Gesamtzahl an Behandlungsplätzen) weisen Baden-Württemberg (1:23) und Nordrhein-Westfalen (1:20) auf.

    Überraschend war die hohe Zahl der teilnehmenden Einrichtungen. Diese hohe Zahl lässt die Interpretation zu, dass das Thema „Substitution und Rehabilitation“ eine hohe Aufmerksamkeit erzeugt und viele Einrichtungen sich diesem Behandlungsangebot zugewandt haben.

    Abdosieren oder Weiterführen der Substitution

    Interessant ist, dass 45,5 Prozent der an der Umfrage beteiligten Einrichtungen medizinische Rehabilitation und Substitution anbieten. 26 dieser 30 Einrichtungen führen keine Abdosierung während der Rehabilitation durch (86,7 Prozent). Lediglich drei Einrichtungen dosieren grundsätzlich während der stationären Behandlung ab.

    Diese Ergebnisse können als überraschend positiv bewertet werden, da es deutlich mehr Behandlungsmöglichkeiten für Substituierte gibt als erwartet. Kritisch anzumerken ist die ungleiche Verteilung der Behandlungsangebote auf die zuständigen DRVen und Bundesländer. Hier zeigt sich ein deutliches Missverhältnis.

    Substitutionsmedikamente

    Ein heterogenes Bild zeigt sich bei den eingesetzten Substitutionsmedikamenten. Dies mag zum einen an den persönlichen Erfahrungen in der Substitutionsbehandlung der zuständigen leitenden Ärzt:innen liegen. Zum anderen zeichnet sich auch eine Individualisierung der medikamentösen Behandlung ab. Dies steht mit Sicherheit auch damit im Zusammenhang, dass in den letzten Jahren weitere Medikamente für die Substitutionsbehandlung zugelassen wurden.

    Ausblick

    Zusammenfassend kann man feststellen, dass die medizinische Rehabilitation die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger als eine wichtige und normale suchtmedizinische Behandlungsmethode wahrnimmt. Es sind in den letzten Jahren mehr Behandlungsangebote entstanden und individualisiert worden.  Diese positive Entwicklung gilt es zu verstetigen. Insbesondere sollte diese Entwicklung bei den Zuweisenden und den substituierenden Ärzt:innen bekannt gemacht werden.

    Kontakt:

    Thomas Hempel
    Therapiehilfe gGmbH
    Geschäftsstelle Hamburg
    Thomas-Hempel(at)therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Thomas Hempel gehört zur Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH und ist Ärztlicher Gesamtleiter des Therapiehilfeverbundes. Er ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Suchthilfe e. V.

  • Cannabis weiterhin prominenteste illegale Droge

    Workbook Drogen
    Kurzbericht

    Am 7. Dezember 2018 wurde der aktuelle Jahresbericht der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), ehemals bekannt unter dem Namen „REITOX-Bericht“, veröffentlicht. Er liefert umfangreiches Zahlenmaterial und Hintergrundinformationen zur Drogensituation in Deutschland.

    Cannabis

    Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen nimmt Cannabis unter den illegalen Drogen weiterhin die prominenteste Rolle ein. Im Vergleich zu anderen Drogen dominiert Cannabis mit einer 12-Monats-Prävalenz von 7,3 Prozent unter 12- bis 17-Jährigen und 6,1 Prozent unter 18- bis 64-Jährigen deutlich. Der Anteil der Jugendlichen und Erwachsenen, die im gleichen Zeitraum irgendeine andere illegale Droge konsumiert haben, liegt bei 1,2 Prozent bzw. 2,3 Prozent. Insgesamt zeigt die Cannabisprävalenz bei Jugendlichen und Erwachsenen bei wellenförmigem Verlauf einen zunehmenden Trend.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Cannabiskonsum ist und bleibt ein Thema, sowohl bei den Jugendlichen, als auch bei den Erwachsenen. Das ist keine gute Entwicklung! Wer in jungen Jahren regelmäßig kifft, schädigt sich fürs ganze Leben: Merkfähigkeit, Konzentration und Leistungsfähigkeit lassen nach, Depressionen und Schizophrenie können die Folge sein. Daher werden wir ab 2019 eine halbe Million Euro mehr für den Ausbau einer bundesweiten Cannabisprävention mit dem starken Fokus auf Schulen in die Hand nehmen. Damit machen wir klar und deutlich: „Cannabis kann abhängig machen, ist nicht harmlos und hip, sondern eine Droge mit immensen gesundheitlichen Nebenwirkungen!“

    Basierend auf den aktuellsten Bevölkerungsumfragen des Jahres 2015 haben in Deutschland etwa 14,4 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren sowie 479.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren zumindest einmal in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Dies entspricht einer Lebenszeitprävalenz von 28,2 beziehungsweise 10,2 Prozent.

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen-und Drogensucht: „Die uns vorliegenden Daten zu Sicherstellungen und zum Konsumverhalten in der Bevölkerung weisen nicht immer in die gleiche Richtung – dennoch können uns beide Informationsquellen wertvolle Hinweise zu verschiedenen Aspekten des Marktgeschehens liefern, die unter Einbeziehung weiterer Informationen zu einem Gesamteindruck beitragen.“

    Sicherstellungen

    Die Sicherstellungsmenge von Kokain ging verglichen mit dem Vorjahr um 337 Prozent nach oben, damit ist bei Kokain der bedeutendste Anstieg im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Sicherstellungsmenge von Marihuana stieg um 30 Prozent an, was auf beträchtliche Einzelsicherstellungen zurückzuführen ist. Der stärkste Rückgang mit 693.668 sichergestellten Tabletten ist für Ecstasy, nach einer Rekordsicherstellungsmenge in 2016, zu verzeichnen  (-69 Prozent). Der starke Rückgang ist durch drei große Sicherstellungen im Jahr 2016 zu erklären, die die Rolle Deutschlands als Transitland zwischen den Niederlanden und der Türkei belegen. Sicherstellungen dieser Größenordnung wurden 2017 nicht verzeichnet. Im Vergleich zum Vorjahr wurde 10 Prozent weniger Heroin und 30,9 Prozent weniger Haschisch sichergestellt.

    Wirkstoffgehalt

    Während der Wirkstoffgehalt bei Cannabisblüten mit durchschnittlich 13,1 Prozent einen neuen Höchststand erreicht und sich dieser beim Kokain im Straßenhandel seit 2011 mehr als verdoppelt hat (2017 bei 78,4 Prozent), ist bei den Amphetaminen ein markanter Rückgang zu verzeichnen. Nach einem Peak im Jahr 2016 (42,1 mg/Konsumeinheit (KE)) hat sich der Wirkstoffgehalt wieder deutlich auf 18 mg/KE reduziert.

    Der vorliegende Jahresbericht wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks und der zehnseitige Kurzbericht finden Sie unter www.dbdd.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und der DBDD, 07.12.2018

  • Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Länder der Region Zentralasien – Kasachstan, die Kirgisische Republik, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – umfassen mehr als 60 Millionen ethnisch, kulturell und religiös vielfältige Menschen und ein geografisches Gebiet, das doppelt so groß ist wie das von Kontinentaleuropa. Im Zentrum des eurasischen Kontinents befinden sich diese Binnenländer, die im Jahre 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, unabhängig wurden. Seit der Unabhängigkeit haben sie sich großen Herausforderungen gestellt. Eine davon ist der Handel mit Opiaten (vor allem Heroin) und die Opiatabhängigkeit von hunderttausenden Menschen (vgl. Abb. 1). Die Europäische Kommission unterstützt die fünf Partnerländer durch das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (Central Asia Drug Action Programme, CADAP) seit mehreren Jahren in dem Versuch, die negativen Folgen des Drogenkonsums zu lindern. CADAP befürwortet eine ausgewogene Drogenpolitik im Hinblick auf die Drogennachfrage und das (illegale) Drogenangebot im Einklang mit der EU-Drogenstrategie 2013–2020 und dem EU-Zentralasien-Drogenaktionsplan 2014–2020. CADAP zielt darauf ab, folgende Maßnahmen zu unterstützen:

    • Weitere Qualifizierung der Behandler und Schulung in psychotherapeutischen Methoden für Kurzinterventionen
    • Motivational Interviewing (MI)
    • Rückfallverhütung und soziale Rehabilitation
    • Opioidgestützte Behandlung (Opioid Substitution Treatment, OST)

    Mehr als 2.000 Experten und Regierungsvertreter wurden bereits zwischen 2010 und 2012 geschult. Der Zugang zu OST konnte in Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan (leicht) erhöht werden. In der laufenden 6. Phase des Programms wird eine bessere Institutionalisierung des Behandlungssystems angestrebt, und die Implementierung der Internationalen Standards der WHO/UNODC für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen wird unter Verwendung von Best Practices der EU geschult und systematisiert.

    Abb. 1: Drogensituation in Zentralasien – geschätzte Zahl von Heroinkonsumenten

    Das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (CADAP) verfolgt eine bessere Verbreitung von und Zugänglichkeit zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung bei Drogenabhängigkeit, sowohl pharmakologisch als auch abstinenzorientiert, und ihre Kombination mit sozialer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung (wie Beratung, kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung). Das Programm soll die Schadensbegrenzung (Harm Reduction) verstärken, um die nachteiligen Konsequenzen des Drogenkonsums für Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes zu verringern, wobei es nicht nur um die Vermeidung von Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C (vgl. Abb. 2) und Tuberkulose geht. Ziel ist es, ein offizielles Netzwerk von Fachleuten zu etablieren. Aber das stellt eine große Herausforderung dar, denn regionale Kooperation ist in den postsowjetischen Staaten weniger gewollt als ‚nationale‘ Selbständigkeit.

    Abb. 2: Prävalenz von HIV und Hepatitis C unter den (injizierenden) Drogenkonsumenten (in Prozent)

    Methoden des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms CADAP

    Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich führen zwei- bis viertägige Trainings mit Expertinnen und Experten aus der zentralasiatischen Region durch. Die Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich kommen überwiegend selbst aus Zentralasien oder Osteuropa, sprechen Russisch, kennen die Kultur der Länder und bringen langjährige Expertise aus ihrer Arbeit im deutschen und österreichischen Sucht- und AIDS-Hilfesystem mit. Es wird in unterschiedlichen Bereichen trainiert:

    1. Schulungen für Fachpersonal

    Training mit Suchtmediziner/innen in Bishkek: Oleg Aizberg (vorne Mitte) und Irina Zelyeni (vorne Zweite von rechts)

    Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte erhalten Schulungen zu folgenden Themen:

    • Psychosoziale Beratung und Behandlung Drogenabhängiger im Rahmen von ambulanter und stationärer Rehabilitation
    • Reintegration Drogenabhängiger in die Gesellschaft
    • Entwicklung von regionalen und überregionalen Suchthilfenetzwerken

    Es werden außerdem aktuelle Kenntnisse der Suchtmedizin vermittelt:

    • Allgemeine Prinzipien medizinischer Ethik
    • Besonderheiten der medizinischen Ethik bei der Behandlung von Suchtkranken und Besprechung verschiedener Beispielsituationen
    • Alkoholabhängigkeit als Begleiterkrankung bei Drogenabhängigen
    • Komorbide Störungen
    • Umgang mit Neuen psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • Notfallzustände bei Suchtkranken und psychisch Erkrankten
    • Sexuelle Störungen bei Suchtpatientinnen und Suchtpatienten

    2. Schulungen im Justizbereich

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    Für das Personal von Strafanstalten, für Richter, Staatsanwälte, NGOs und Fachleute, die auf dem Gebiet der Behandlung von Drogenabhängigen tätig sind, finden Schulungen statt. Dazu gehören auch Schulungen über Gesundheitsprogramme in Gefängnissystemen zur Verhütung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) und zur Opiat-Substitutionsbehandlung (OST) in Gefängnissystemen.

    Die zweitägigen Workshops, die in allen zentralasiatischen Ländern mit Unterstützung der jeweiligen Gefängnisverwaltungen für Gefängnismitarbeiter durchgeführt wurden, bestanden aus Präsentationen und Gruppenarbeit. Interessen und Vorlieben der Teilnehmer wurden dabei berücksichtigt. Als Ergebnis der Workshops ergab sich eine Liste priorisierter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von drogenabhängigen Gefangenen. Diese Liste soll als Roadmap für die zukünftige Entwicklung dienen.

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    In der Kirgisischen Republik und in Tadschikistan wird im Gegensatz zu den anderen Ländern offen (an)erkannt, dass es injizierenden Drogenkonsum auch im Gefängnis gibt und dass deshalb sowohl Nadel- bzw. Spritzenaustauschprogramme als auch OST sinnvoll sind. Allerdings werden hier Infektionsschutzprogramme nur auf niedrigem Niveau und unter scharfen Kontrollmechanismen (die den Verlust der Anonymität bedeuten) angeboten. Substitutionsbehandlungen im Strafvollzug werden in Kirgistan gut umgesetzt, in Tadschikistan wurde damit gerade erst begonnen, nach jahrelanger Diskussion.

    3. Schulungen für NGOs

    Training mit Ludger Schmidt und NGO-Vertreter/innen in Kirgistan

    Ein weiteres Arbeitspaket wird in enger Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) durchgeführt, um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu erreichen. NGOs spielen in Zentralasien eine zentrale Rolle bei der niedrigschwelligen Erreichbarkeit von Drogenabhängigen, bei der Infektionspräventionsarbeit, bei der Psychosozialen Betreuung (PSB) nach Entzugsbehandlungen und bei der Substitutionsbehandlung (OST). Die Hauptakteure von NGOs werden geschult, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern, ein unterstützendes Umfeld für die Klienten zu entwickeln und ihnen zu helfen, sich behandeln zu lassen und in der Behandlung zu bleiben. NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Programmen niedrigschwelliger Arbeit.

    Schwerpunkte der Trainings

    Training mit Inga Hart und Gerhard Eckstein

    Das theoretische Wissen über psychiatrische Erkrankungen und Suchterkrankungen ist bei den meisten Teilnehmern gut bis sehr gut. Gleichwohl zeigte sich bei den Trainings auch, dass wenige Grundkenntnisse in der Praxis der Psychiatrie vorliegen, u. a. weil Narkologie (= Suchtmedizin) und Psychiatrie getrennt sind und wenig kooperieren. Die praktische Umsetzung und Erfahrung ist zudem immer noch sehr unterschiedlich. Zudem war die Zeit für die Trainings sehr knapp bemessen.

    Es geht in den Trainings u. a. um die Vertiefung von Behandlungsmethoden der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, des Motivational Interviews, der Rückfallprophylaxe sowie der psychosozialen Beratung, vor allem des Case Managements. Im Mittelpunkt der Seminare stehen weiterhin die Überprüfung, ob die westlichen Beratungs- und Behandlungskonzepte in der konkreten zentralasiatischen Praxis angewendet werden können, und die damit zusammenhängende Sicherung des Behandlungserfolges.

    In den Trainings werden die von den Seminarteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, Anregungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer effektiven therapeutischen Arbeit sowie den Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehung stellt für die Teilnehmer einen Rahmen für berufliche Selbstreflektion dar. Beim Betrachten der Interaktionsbeiträge der Angehörigen und der möglichen therapeutischen Interventionen wurde deutlich, dass der kulturelle Hintergrund die Aufrechterhaltung sowohl der Abhängigkeit als auch der Co-Abhängigkeit unterstützt. Dies macht es den Experten schwer, passende Interventionen einzuleiten und sich von den Erwartungen der Angehörigen abzugrenzen.

    Herausforderungen in der Arbeit mit den NGOs

    Die NGO-Gruppen in Kirgistan und Tadschikistan sind sehr engagiert und interessiert, dabei aber nicht unkritisch. Die Skepsis gegenüber internationalen Trainingsmaßnahmen wird offen angesprochen und diskutiert. Die Erwartung gegenüber solchen Maßnahmen scheint mehrheitlich gedämpft zu sein. Ähnlich wie in Ländern Westeuropas oder Australiens, wo NGOs eine lange Tradition haben und Unterstützung auch von Regierungen erhalten, arbeiten viele Organisationen mit Wurzeln in der Selbsthilfe überraschend ‚professionell‘, sind kompetent und reflektiert in ihrem Arbeitsfeld.

    Überlegungen, wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wissen, das sie im unmittelbaren Klientenkontakt benötigen, pragmatisch vermittelt werden kann, führte zur Idee der Adaption von „J Key Cards“ der dänischen NGO „Gadejuristen“ (Street Lawyers) an zentralasiatische Verhältnisse (insbesondere in Kirgistan und Tadschikistan). Die J Key Cards funktionieren nach dem Prinzip der FAQ (frequently asked questions) und beinhalten jeweils eine Frage mit einer Antwort zu häufig auftauchenden Themen und Problemen aus den Lebenswelten von Drogengebrauchenden. Die Karten sind thematisch in die Gebiete physische und psychische Gesundheit, Infektionsprävention, Substanzaufklärung, Safer Use und Recht unterteilt und werden kulturspezifisch und landestypisch illustriert. Als Vorteil für die ‚Ausbildung‘ von Peers wurde die leichte Handhabbarkeit des Formats, der spielerische statt verschulte Umgang mit Wissensinhalten (insbesondere angesichts der Ungeübtheit vieler Peers mit längeren Texten), die Konzentration auf eine konkrete Frage statt auf einen ganzen Wissensbereich sowie der unmittelbare Praxisbezug hervorgehoben. Die J Key Cards können überdies als Unterrichtsmaterial im Rahmen von Ausbildung/Qualifizierung genutzt werden.

    In Kirgistan und Tadschikistan werden entsprechende Kartensets hergestellt, um sie in der Straßensozialarbeit zu benutzen (vgl. Abb. 3 und 4).

    Abb. 3: Beispiel Kartenset Kirgistan
    Abb. 4: Beispiel Kartenset Tadschikistan

    Hauptergebnisse der Trainings

    In einigen Ländern und Regionen Zentralasiens ist das Suchthilfesystem gut entwickelt (etwa in Kasachstan, Usbekistan und auch in Kirgistan), sodass sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sowie die poststationäre Weiterversorgung für die Abhängigen umfassend und auf einem hohen professionellen Niveau angeboten werden. Die Effektivität der Behandlung beruht aber auf einem vernetzten System, das in vielen anderen Regionen und Ländern noch sehr ausbaufähig ist, vor allem in Turkmenistan, Tadschikistan und den ländlichen Regionen von Kirgistan. Im Beratungs- und Behandlungssystem sind Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Ex-User und andere Fachkräfte verantwortlich integriert. Es existiert eine Übereinstimmung über Ziele und Konzepte der Resozialisierung. 

    In der Kirgisischen Republik, in Tadschikistan und Kasachstan wurden nationale Arbeitsgruppen gegründet mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Narkologie, Psychologie, Sozialarbeit und Selbsthilfe. Im Rahmen der Arbeitsgruppen fanden Vorlesungen und Diskussionen über folgende Themen statt:

    • Prinzipien der Behandlung von Drogenabhängigkeit
    • Prinzipien der Diagnose und Therapie der Opioidsucht
    • Leitlinien zur Opioidsubstitution
    • Opioidsubstitution in besonderer Situation (Schwangerschaft, komorbide psychiatrische Störungen, komorbides HIV-Syndrom)
    • abstinenzorientierte Therapie (Entgiftung, Psychotherapie, psychosoziale Hilfe, Opioid-Antagonisten)
    • aktuelle Situation bei Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • aktuelle Situation bei psychopathologischen und somatischen Erkrankungen

    Insgesamt scheint die Implementierung von Maßnahmen zur Motivierung und Behandlung und damit die Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Zentralasien durch die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie durch die kulturellen Hintergründe (starke Co-Abhängigkeitsstrukturen) deutlich erschwert zu werden. Bei den meisten Experten besteht ein Konsens über den Sinn und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Suchthilfesystems im Hinblick auf Weiterqualifizierung und Vernetzung.

    Die praxisorientierte Gestaltung der Seminare und die Möglichkeit, die Anliegen aus dem Alltag in die Seminare einzubringen, werden von den Seminarteilnehmern besonders positiv bewertet. 

    Weitere Zielsetzungen

    Bei der Commission on Narcotic Drugs (CND) im März 2016 wurde eine Entschließung zur Entwicklung und Verbreitung der internationalen Standards für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen verabschiedet. Darin wird gefordert, dass der „Zugang zu einer angemessenen wissenschaftlichen evidenzbasierten Behandlung von Drogenkonsumstörungen, auch für Personen, die von Drogenkonsum im Gefängnissystem betroffen sind, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften, zu gewährleisten (ist)“.

    Im April 2016 wurden im Rahmen der UNGASS Special Session (United Nations General Assembly on the World Drug Problem) in New York die „WHO/UNODC International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders“ offiziell eingeführt. Aufgabe ist nun, die Umsetzung der internationalen Standards zu unterstützen. Dies geschieht jetzt in Trainings in allen zentralasiatischen Ländern in Kooperation mit dem UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime).

    Alle Länder in Zentralasien teilen die gemeinsame Auffassung der UN-Organe (UN-Drogenübereinkommen 1961, Art. 38, und Politische Erklärung 2009), dass alle praktikablen Maßnahmen zu Prävention und Früherkennung und zur Behandlung, Bildung, Rehabilitation und Nachsorge sowie zur sozialen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen umgesetzt werden sollen. In Zusammenarbeit mit dem WHO- und dem UNODC-Hauptsitz in Genf und Wien wird diskutiert, wie die Zentralasien-Staaten in dieser Umsetzung durch Schulungen unterstützt werden können. Es wurde z. B. eine russischsprachige Version der Standards erstellt, um als Trainingsmaterial verwendet zu werden.

    Mit dem Ziel, die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin im Bereich der Behandlung von Drogenkonsumstörungen zu unterstützen, richtete die Frankfurt University of Applied Sciences (Fachhochschule Frankfurt am Main) an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Vorschlag, mit Hochschulen in Zentralasien, die Sozialarbeiter ausbilden, intensiver zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit soll mit folgenden Hochschulen stattfinden:

    • Eurasische Nationale Gumiljow-Universität (Abteilung für Soziale Arbeit), Astana, Kasachstan
    • Tadschikische Nationaluniversität (Fakultät für Phliosophie, Abteilung für Soziale Arbeit), Duschanbe
    • Universität für Humanwissenschaften Bischkek (Abteilung für Soziale Arbeit und Psychologie), Kirgisische Republik

    Die Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen der Mitarbeitenden und Studierenden sowie zur Erstellung von Schulungs- und Ausbildungsunterlagen (Projekt InBeAIDS, Laufzeit bis Ende 2019) dienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stimmte Anfang März 2017 dem Vorschlag der Frankfurter Universität zu, so dass nun die Kooperation vorbereitet wird. Eine erste „fact finding Mission“ fand dazu in den drei Partnerländern im Mai 2018 statt. Da die Unterstützung und die Ausbildung der Sozialarbeit ein wichtiger Bestandteil der Component 4-Aktivitäten des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms (CADAP) ist, passt dieses Projekt gut in die CADAP-Ziele und unterstützt die Leistungen des Programms.

    Fazit

    Es gibt in Zentralasien einige grundlegende strukturelle Probleme im Hilfesystem für suchtkranke Menschen, insbesondere für opiatabhängige Menschen. Dazu gehören:

    • der Ausschluss von injizierenden Drogenkonsumenten (IDUs) aus dem (öffentlichen) Gesundheitssystem außerhalb der Narkologie
    • ein nur begrenzter Zugang von IDUs zur Behandlung der Drogenabhängigkeit oder zur Prävention von Drogenabhängigkeit
    • ein nur begrenzter Zugang zur Behandlung von IDUs mit HIV oder Hepatitis C
    • eine nur begrenzte Anzahl von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychotherapeuten
    • das Fehlen eines Akkreditierungssystems für Psychotherapie
    • ein nur sehr beschränkter Zugang zur Substitutionsbehandlung (OST)
    • eine begrenzte Kooperation im Hinblick auf die Prävention und Behandlung von HIV und Hepatitis bei Drogenkonsumenten in (narkologischen) Rehabilitationszentren

    Schulungen zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten sind wirksam und effizient. Dennoch verlangen alle Partner auch finanzielle und technische Unterstützung. Es wird die Notwendigkeit für weitere Qualifikationen und Schulungen in den Bereichen psychotherapeutische Methoden für Kurzzeitinterventionen, Motivationsbefragung, Rückfallverhütung, soziale Rehabilitation, medikationgestützte Behandlung und Behandlung von HIV gesehen.

    Die Trainings wurden durchgeführt von einer Gruppe erfahrener Trainerinnen und Trainer:

    Heino Stöver, Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main

    Gerhard Eckstein, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Suchtreferent Deutsche Rentenversicherung Schwaben, Psychotherapeutische Praxis, Augsburg

    Inga Hart, Dipl.-Sozialpädagogin (M.A., M.Sc.), stellvertretende Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz, München

    Oleg Aizberg, Assistenzprofessor, Belarussische Medizinische Akademie, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Minsk, Belarus

    Irina Zelyeni, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik am Kronsberg STEP, Hannover

    Katharina Schoett, Fachärztin für Psychiatrie / Psychotherapie, Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen

    Ludger Schmidt, Erziehungswissenschaftler, Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), Berlin

    Jörg Pont, Professor, Medizinische Universität Wien, Österreich

    Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit; Internationaler Koordinator für CADAP (Behandlungsfragen)

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Ingo Ilja Michels
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Nibelungenstraße1
    60318 Frankfurt am Main
    ingoiljamichels@gmail.com
    michels.ingo@fit.fra-uas.de

  • Europäischer Drogenbericht 2018

    Der am 7. Juni 2018 in Brüssel vorgestellte Europäische Drogenbericht 2018: Trends und Entwicklungen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) zeigt, dass die Verfügbarkeit von Kokain zugenommen hat. Hintergrund dieser Entwicklung ist ein dynamischer Drogenmarkt, der in der Lage ist, sich rasch auf Maßnahmen zur Drogenbekämpfung einzustellen. Die Agentur untersucht in ihrem jährlichen Überblick zudem, welche Herausforderungen Neue psychoaktive Substanzen (NPS) und die Verfügbarkeit neuer synthetischer Opioide (insbesondere hochpotenter Fentanyl-Derivate) sowie der Konsum synthetischer Cannabinoide in marginalisierten Bevölkerungsgruppen (unter anderem bei Gefängnisinsassen) mit sich bringen. Die im Bericht vorgelegten Daten beziehen sich auf das Jahr 2016 bzw. das jeweils letzte Jahr, für das Daten verfügbar sind. Außerdem erschienen sind 30 Länderberichte (in englischer Sprache) mit den jüngsten Analysen zur Drogensituation in den einzelnen Ländern.

    Laut dem Bericht der EMCDDA ist eine durchweg hohe Verfügbarkeit von Drogen zu beobachten, die in einigen Regionen sogar anzusteigen scheint. Den jüngsten Zahlen zufolge wurden in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) 2016 mehr als eine Million Sicherstellungen illegaler Drogen gemeldet. Über 92 Millionen in der EU lebende Erwachsene (im Alter von 15 bis 64 Jahren) haben im Verlauf ihres Lebens schon mindestens einmal irgendeine illegale Droge konsumiert, während schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen in der EU-28 im Jahr 2016 wegen des Konsums illegaler Drogen in Behandlung waren.

    Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, erklärt hierzu: „Es ist zu beobachten, dass in Europa derzeit mehr Drogen produziert und angeboten werden. Hinzu kommt, dass der Markt für illegale Drogen sehr dynamisch und anpassungsfähig – und daher umso gefährlicher – ist. Wenn wir nicht ins Hintertreffen geraten wollen, müssen wir uns verstärkt darum kümmern, die Widerstands- und Reaktionsfähigkeit zu erhöhen, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Bedeutung von Online-Marktplätzen und der Entwicklung neuer Drogenarten. Bis zum Jahresende werden neue Vorschriften hinsichtlich neuer psychoaktiver Substanzen in Kraft treten, die Europa zusätzliche, gute Instrumente an die Hand geben werden, um die Herausforderungen wirksamer angehen zu können und den Schutz der Bürger und Bürgerinnen in Europa vor gefährlichen Drogen zu erhöhen.“

    Kokain: Erhöhte Verfügbarkeit und höchster Reinheitsgrad seit zehn Jahren

    Kokain ist das am häufigsten konsumierte illegale Stimulans in Europa. Etwa 2,3 Millionen junge Erwachsene (zwischen 15 und 34 Jahren) haben diese Droge in den vergangenen zwölf Monaten konsumiert (EU-28). Die aktuelle Analyse zeigt, dass angesichts der Hinweise auf einen steigenden Koka-Anbau und eine erhöhte Kokainproduktion in Lateinamerika der Kokainmarkt in Europa floriert. Einige Indikatoren deuten gegenwärtig darauf hin, dass die Verfügbarkeit der Droge in einer Reihe von Ländern angestiegen ist. Obwohl der Kokainpreis stabil geblieben ist, erreichte die Reinheit der Droge 2016 im Straßenverkauf den höchsten Grad seit zehn Jahren. Auch die Zahl der Beschlagnahmungen von Kokain hat zugenommen. In der EU wurden 2016 rund 98 000 Sicherstellungen der Droge gemeldet (2015 waren es 90 000). Insgesamt wurden 70,9 Tonnen beschlagnahmt).

    Auf städtischer Ebene zeigte eine kürzlich durchgeführte Untersuchung, dass die Kokainrückstände im Abwasser von 26 der 31 Städte, zu denen Daten für diesen Zeitraum vorliegen, zwischen 2015 und 2017 angestiegen sind. Die meisten Rückstände wurden in Städten in Belgien, den Niederlanden, Spanien und im Vereinigten Königreich verzeichnet, während in den untersuchten osteuropäischen Städten niedrige Werte gemessen wurden.

    Der Bericht zeigt auch, dass die Zahl der lebenszeitbezogenen Erstbehandlungen im Zusammenhang mit Kokain zugenommen hat. Im Jahr 2016 begaben sich 30 300 Personen aufgrund von Problemen mit dieser Droge erstmals in Behandlung – über ein Fünftel mehr als 2014. Insgesamt unterzogen sich 2016 mehr als 67 000 Personen einer auf Kokainprobleme zugeschnittenen Spezialbehandlung. Besonders besorgniserregend sind die schätzungsweise 8 300 Personen, die sich 2016 wegen des primären Konsums von Crack in Behandlung begaben. Zudem war Kokain 2016 die zweithäufigste Droge, die bei drogenbedingten Notfällen in den Krankenhäusern des 19 Beobachtungsklinken umfassenden Euro-DEN-Netzes nachgewiesen wurde (Euro-DEN Plus).

    Auch die Schmuggelmethoden und Schmuggelrouten scheinen sich zu ändern. Die Iberische Halbinsel – bislang Haupteinfuhrort für Kokain, das auf dem Seeweg nach Europa gelangt – ist in dieser Hinsicht zwar weiterhin von Bedeutung, steht den Daten von 2016 zufolge jedoch nicht mehr unangefochten an erster Stelle, da auch von den Containerhäfen weiter nördlich große Sicherstellungen gemeldet wurden. 2016 wurden in Belgien 30 Tonnen Kokain sichergestellt (43 % der geschätzten jährlichen Gesamtmenge des in der EU beschlagnahmten Kokains).

    Anzeichen für eine gestiegene Drogenproduktion innerhalb Europas

    Europa ist ein wichtiger Markt für illegale Drogen, die aus verschiedenen Teilen der Welt, etwa aus Lateinamerika, Westasien und Nordafrika eingeschleust werden. In dem Bericht wird jedoch auch auf die Rolle Europas als Ort der Herstellung von Drogen hingewiesen: Bei einer Vielzahl von Substanzen waren im Berichtsjahr besorgniserregende Anzeichen dafür zu beobachten, dass die Herstellung von Drogen in Europa zunimmt.

    Die Produktion findet aus mehreren Gründen näher an den Verbrauchermärkten statt, etwa aus praktischen Erwägungen heraus, wegen des geringeren Risikos, an der Grenze entdeckt zu werden, und weil die Grundsubstanzen für die Produktion je nach Droge verfügbar und kostengünstig sind. Der Bericht führt mehrere Beispiele für eine höhere Drogenproduktion in Europa und für innovative Produktionsmethoden auf. Dazu zählen Hinweise auf illegale Labore, die Kokain verarbeiten, die zahlenmäßige Zunahme entdeckter MDMA- bzw. Ecstasy-Labore, die Ausweitung der Methamphetamin- produktion unter höherer Beteiligung organisierter Banden, die Produktion von Amphetaminen in der Endphase im Land des Konsums sowie die Entdeckung einer geringen Zahl an Laboren zur Herstellung von Heroin. Einige der in der EU hergestellten synthetischen Drogen sind für Auslandsmärkte, etwa für den amerikanischen Kontinent, Australien, Nah- und Fernost sowie die Türkei, bestimmt.

    Die vermehrte Produktion von hochpotentem Cannabis innerhalb Europas hat offenbar auch Auswirkungen auf die Aktivitäten von Cannabisproduzenten außerhalb der EU, was sich daran ablesen lässt, dass Cannabisharz mit höherem Wirkstoffgehalt aus Marokko nach Europa geschmuggelt wird. Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass neue psychoaktive Substanzen, die gewöhnlich in China hergestellt und zur Verpackung nach Europa geliefert werden, bisweilen auch innerhalb Europas produziert werden.

    Cannabis: Verfügbarkeit und Konsum sind weiterhin hoch

    Cannabis ist auch weiterhin die am meisten konsumierte illegale Droge in Europa. Dies zeigen die Daten zur Prävalenz, zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, zu Sicherstellungen und zum gestiegenen Behandlungsbedarf. Etwa 17,2 Millionen junge Europäer (zwischen 15 und 34 Jahren) haben in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert (EU-28), und rund ein Prozent aller erwachsenen Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) verwenden die Droge täglich oder fast täglich (EU-28).

    Cannabis war bei mehr als drei Viertel (77 Prozent) aller 2016 in der EU gemeldeten 800 000 Verstöße gegen die Vorschriften über den Drogenbesitz oder -konsum, bei denen die Primärdroge bekannt ist, beteiligt. Zudem ist Cannabis die am häufigsten beschlagnahmte Droge: Im Jahr 2016 wurden in der EU 763 000 Sicherstellungen von Cannabisprodukten gemeldet. Der größte Anteil (45 Prozent) von Erstbehandlungen aufgrund von Drogenproblemen in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) geht auf den Konsum von Cannabis zurück. Die Zahl der Erstpatienten, die sich wegen Cannabisproblemen behandeln ließen, stieg in den 25 Ländern, für die Daten zu beiden Jahren vorliegen, von 43 000 im Jahr 2006 auf 75 000 im Jahr 2016.

    Kürzlich vorgenommene gesetzliche Änderungen in Bezug auf Cannabis in Teilen Amerikas, etwa die Legalisierung in einigen Ländern, haben dazu geführt, dass sich dort schnell ein kommerzieller Cannabismarkt für den Freizeitkonsum entwickelt hat. Dies führt derzeit zu Innovationen bei den Abgabesystemen und bei der Entwicklung von Cannabisprodukten (z. B. E-Liquids, essbare Produkte und hochpotente Stämme).

    Noch ist unklar, welche Folgen es für Europa haben wird, wenn in Teilen Amerikas ein großer legaler Markt für diese Droge entsteht, allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich dies auf die Angebots- oder Konsummuster in Europa auswirken wird. Die EMCDDA beobachtet die internationalen Entwicklungen im Bereich der Cannabis-Regulierung aufmerksam, um die sich vollziehenden Änderungen erfassen und verständlich darstellen zu können und mögliche Auswirkungen auf die Situation in Europa zu ermitteln. Ein Bereich, der infolge der sich weltweit ändernden Einstellungen zur Cannabis-Regulierung größere politische Aufmerksamkeit erhält, ist der Cannabiskonsum in Verbindung mit dem Fahren unter Drogeneinfluss. Dieses Thema steht im Mittelpunkt eines kürzlich veröffentlichten EMCDDA-Berichts, der sich auf die Erkenntnisse internationaler Experten stützt.

    Geringere Zahl neuer psychoaktiver Substanzen, aber mehr Hinweise auf Schädigungen

    Neue psychoaktive Substanzen (NPS/„neue Drogen“) stellen in Europa nach wie vor ein gravierendes Problem für die Politik und die öffentliche Gesundheit dar. Diese Substanzen, die nicht vom internationalen Drogenkontrollsystem erfasst werden, umfassen ein breites Spektrum, zu dem synthetische Cannabinoide, Opioide, Cathinone und Benzodiazepine gehören. Im Jahr 2017 wurden 51 neue psychoaktive Substanzen erstmals in das EU-Frühwarnsystem aufgenommen, dies entspricht einer Quote von etwa einer Substanz pro Woche. Auch wenn die jährliche Gesamtzahl neu auf dem Markt erscheinender Substanzen die der Spitzenjahre unterschreitet – 2015: 98, 2014: 101 –, ist die Zahl der verfügbaren neuen psychoaktiven Substanzen insgesamt weiterhin hoch. Ende 2017 überwachte die EMCDDA mehr als 670 neue psychoaktive Substanzen (gegenüber etwa 350 im Jahr 2013). Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit neuen synthetischen Cannabinoiden und neuen synthetischen Opioiden, darunter akute Vergiftungen und Todesfälle, veranlassten die EMCDDA dazu, 2017 insgesamt neun Risikobewertungen durchzuführen, so viele wie noch nie davor.

    Die größte von der EMCDDA beobachtete Gruppe chemischer Stoffe sind neue synthetische Cannabinoide, von denen seit 2008 179 nachgewiesen wurden (10 davon im Jahr 2017). Die häufig als „Kräutermischungen“ verkauften synthetischen Cannabinoide waren 2016 mit knapp über 32 000 gemeldeten Beschlagnahmungen (gegenüber 10 000 im Jahr 2015) die am häufigsten sichergestellten neuen psychoaktiven Drogen. Damit machten sie fast die Hälfte aller beschlagnahmten neuen psychoaktiven Substanzen aus, die der Agentur 2016 gemeldet wurden. Vier synthetische Cannabinoide wurden 2017 einer Risikobewertung unterzogen: AB-CHMINACA, ADB-CHMINACA, 5F-MDMB-PINACA und CUMYL-4CN-BINACA.

    Es werden zunehmend mehr hochpotente neue synthetische Opioide (insbesondere Fentanyl-Derivate) entdeckt, die die Wirkung natürlich gewonnener Opiate (wie Heroin und Morphin) imitieren. Gelegentlich sind sie in neuartiger Form erhältlich (z. B. als Nasensprays), oder sie werden mit illegalen Drogen wie Heroin oder Kokain gemischt oder als solche verkauft. Seit 2009 wurden insgesamt 38 neue synthetische Opioide auf den europäischen Drogenmärkten nachgewiesen (13 davon im Jahr 2017). Fentanyl-Derivate, die wichtigsten Substanzen in der derzeitigen Opioidkrise in den USA, sollten in Europa weiter mit Besorgnis und Wachsamkeit verfolgt werden. Diese hochpotenten Substanzen – manche sind um ein Vielfaches potenter als Morphin – machten mehr als 70 Prozent der schätzungsweise 1 600 neuen synthetischen Opioide aus, die 2016 beschlagnahmt wurden. Im Jahr 2017 wurden zehn neue Fentanyl-Derivate über das EU-Frühwarnsystem gemeldet, fünf davon wurden einer Risikobewertung unterzogen (Acryloylfentanyl, Furanylfentanyl, 4-Fluorisobutyrylfentanyl, Tetrahydrofuranylfentanyl und Carfentanil).

    Haftanstalten: Konzentration auf Gesundheitsfürsorge und neue Drogen

    Haftanstalten sind relevante Settings, wenn es um die medizinische Versorgung von Drogen- konsumierenden geht. Eine gute intramurale Versorgung kann auch der Allgemeinheit zugutekommen (etwa indem Überdosierungen nach der Entlassung vermieden oder die Übertragung drogenbedingter Infektionskrankheiten wie HIV und HCV verringert werden). Der diesjährige Bericht zeigt die Interventionsmöglichkeiten in Gefängnissen und die unterschiedlichen Versorgungsleistungen in den einzelnen Ländern auf.

    In einer neuen länderübergreifenden Studie, die gemeinsam mit dem heute vorgestellten Bericht veröffentlicht wird, untersucht die Agentur die zunehmenden Gesundheits- und Sicherheitsprobleme, die sich aus dem Konsum neuer psychoaktiver Substanzen in Haftanstalten ergeben. „Der Konsum neuer psychoaktiver Substanzen und die damit einhergehenden Schäden sind für das Strafvollzugs- system in Europa eine neue wichtige Herausforderung“, heißt es in der Studie. Unter den vier Haupttypen der in Haftanstalten entdeckten neuen psychoaktiven Substanzen stehen synthetische Cannabinoide an erster Stelle. Wichtige Faktoren, die ihren Konsum in Gefängnissen ermöglichen, sind die Leichtigkeit, mit der sie eingeschleust werden können (etwa in flüssiger Form auf Papier oder auf Textilien aufgesprüht), sowie die Schwierigkeit, sie in Drogentests nachzuweisen.

    Verkauf im Internet und das Aufkommen neuer Benzodiazepine 

    Mengenmäßig wird der Verkauf von Drogen nach wie vor von traditionellen Offline-Märkten dominiert, allerdings scheint die Bedeutung von Online-Marktplätzen zuzunehmen, was die Drogenbekämpfung vor neue Herausforderungen stellt. In einer kürzlich veröffentlichten EMCDDA/Europol-Studie wurden über 100 globale Darknet-Marktplätze ermittelt, rund zwei Drittel aller Käufe auf diesen Plattformen betrafen Drogen. Auch das sichtbare Web und die sozialen Medien spielen offenbar eine immer wichtigere Rolle, vor allem beim Angebot neuer psychoaktiver Substanzen und beim Zugang zu missbräuchlich verwendeten Arzneimitteln.

    In dem Bericht wird auch auf das besorgniserregende Aufkommen neuer Benzodiazepine – sowohl auf der Straße als auch im Internet – hingewiesen, die in der EU nicht als Arzneimittel zugelassen sind. Die EMCDDA überwacht derzeit 23 neue Benzodiazepine (drei davon wurden 2017 erstmals in Europa nachgewiesen). Einige werden unter ihrem Eigennamen verkauft (z. B. Diclazepam, Etizolam, Flubromazolam, Flunitrazolam, Fonazepam). In anderen Fällen werden diese Substanzen zur Herstellung von Fälschungen häufig verschriebener Benzodiazepine (z. B. Diazepam, Alprazolam) verwendet, die dann auf dem Schwarzmarkt angeboten werden. Im Jahr 2016 wurden mehr als eine halbe Million Tabletten sichergestellt, die neue Benzodiazepine oder ähnliche Stoffe enthielten – rund zwei Drittel mehr als noch 2015.

    In einer zusammen mit dem Bericht veröffentlichten Analyse untersucht die EMCDDA den Benzodiazepinmissbrauch bei Hochrisiko-Opioidkonsumierenden in Europa. Obwohl die Verschreibung dieser Arzneimittelgruppe an Hochrisiko-Drogenkonsumierenden größtenteils legitime therapeutische Ziele verfolgt, kommt es durchaus vor, dass sie weitergegeben und missbraucht werden, was zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität in dieser Gruppe führt. Rund 40 Prozent aller Personen, die sich wegen des primären Konsums von Opioiden in Behandlung begaben, nannten Benzodiazepine als ihre sekundäre Problemdroge. Die Studie enthält auch eine Zeitleiste, an der sich die Meldung neuer Benzodiazepine an die EMCDDA ablesen lässt.

    Anstieg der Todesfälle durch Überdosierung und die Rolle von Naloxon bei der Prävention

    Der Bericht unterstreicht die Besorgnis über die hohe Zahl an Todesfällen durch Überdosierung in Europa, welche in den letzten vier Jahren stetig angestiegen ist. Laut Schätzungen starben in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) 2016 mehr als 9 000 Menschen an einer Überdosis, hauptsächlich in Verbindung mit Heroin und anderen Opioiden, die jedoch häufig in Kombination mit anderen Substanzen, insbesondere Alkohol und Benzodiazepinen, konsumiert wurden.

    Die mit alten und neuen Opioiden verbundenen Probleme rücken erneut die Rolle des Opioid-Gegenmittels Naloxon bei Maßnahmen zur Verhinderung von Überdosierungen in den Fokus. Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass es dringend notwendig ist, „die derzeitige Naloxonpolitik zu überprüfen und die Ausbildung und Sensibilisierung sowohl der Drogenkonsumierenden als auch der Fachleute, die mit der Droge in Berührung kommen könnten, zu verstärken“.

    Die Vorsitzende des Verwaltungsrates der EMCDDA, Laura d’Arrigo, bemerkt abschließend: Die Gefahren, die von Drogen für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit in Europa ausgehen, machen nach wie vor eine gemeinsame Reaktion erforderlich. Der 2017 verabschiedete EU-Drogenaktionsplan bildet den Rahmen für die europäische Zusammenarbeit. Es ist äußerst wichtig, dass unser Überwachungssystem mit den sich verändernden Drogenproblemen und neu aufkommenden Entwicklungen Schritt hält.“

    Pressestelle der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 07.06.2018

  • Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität 2017

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, und der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, haben am 23. Mai das Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität 2017 in Wiesbaden vorgestellt.

    Im siebten Jahr in Folge ist die Anzahl der Rauschgiftdelikte angestiegen. Insgesamt wurden 2017 330.580 Rauschgiftdelikte registriert. Die meisten Fälle gab es mit 198.782 Straftaten im Bereich Cannabis, dies entspricht einem Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 11,8 Prozent. Die Entwicklung der Rauschgiftkriminalität in Deutschland war im Jahr 2017 zudem insbesondere durch einen starken Anstieg der Kokaindelikte um rund 18 Prozent bei einer gleichzeitigen Vervierfachung der Sicherstellungsmenge gekennzeichnet.

    Neben den klassischen Drogen stellen zudem Neue psychoaktive Stoffe, kurz NPS, nach wie vor eine Gefahr dar. Ihre Wirkung ist für den Nutzer unberechenbar, da nicht klar ist, welche Substanzen sie in welcher Wirkstoffkonzentration enthalten. Durch Inkrafttreten des „Neue psychoaktive Stoffe Gesetzes“ im November 2016 hat der Gesetzgeber auf diese Problematik reagiert. Das Gesetz sieht ein weitreichendes Verbot des Erwerbs, Besitzes und Handels mit NPS und eine Strafbewehrung der Weitergabe von NPS vor. Dabei bezieht sich das Verbot in Ergänzung zum einzelstofflichen Ansatz des BtMG erstmals auf ganze Stoffgruppen.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Rauschgiftkriminalität ist nach wie vor eine sehr ernste Herausforderung für unseren Rechtsstaat. Die Einnahmen bieten vielen weiteren kriminellen Bereichen erst die Grundlage, sind Quelle für Leid und Ausbeutung. Im Fokus behalten müssen wir auch den Handel über das Internet und das Darknet – es kann nicht sein, dass Drogen einfach bestellt und per Post versendet werden. Aber auch beim Thema Cannabis müssen wir achtsam bleiben, eine Legalisierung wäre das falsche Signal. Es geht nicht darum, Statistiken zu verschönern, sondern darum, einer gefährlichen Droge entgegenzutreten.“

    Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch: „Drogenhandel ist ein lukratives, internationales Geschäft – auch für die Organisierte Kriminalität. Wachsende Anbauflächen und finanzkräftige Absatzmärkte mit hohen Gewinnmargen in Deutschland und Europa treiben den Rauschgifthandel an. Wir als BKA engagieren uns in verschiedenen internationalen Projekten, und unsere Verbindungsbeamte leisten in vielen Ländern einen wichtigen Beitrag bei der Bekämpfung des internationalen Rauschgifthandels. Auch den Vertriebsweg über das Internet haben wir fest im Blick. Ermittlungserfolge unserer Cyberkriminalisten und Cyberanalysten im Darknet belegen das. Die Polizei leistet damit ihren Beitrag bei der Rauschgiftbekämpfung – diese ist jedoch auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“

    Das Rauschgiftlagebild 2017 sowie weitere Informationen finden Sie unter www.bka.de und auf www.drogenbeauftragte.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und des Bundeskriminalamtes, 23.05.2018

  • Drogenindizierte Todesfälle im Jahr 2017

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, hat am 15. Mai in Berlin die neuen Zahlen der an illegalen Drogen verstobenen Menschen vorgestellt. Waren es 2016 noch 1.333, verstarben im vergangenen Jahr 1.272 Personen. Demnach sind 2017 fünf Prozent weniger Menschen als 2016 an den Folgen ihres Drogenkonsums verstorben. Die größte Gruppe bilden wie in den vorherigen Jahren Männer, das durchschnittliche Alter der Verstorbenen betrug 39 Jahre.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Erstmals seit 2012 gibt es einen leichten Rückgang bei den an illegalen Drogen verstorbenen Menschen. Allerdings steht auch diese aktuelle Zahl für großes Leid von Betroffenen und deren Angehörigen. Wir brauchen weiterhin eine engagierte Suchtprävention, passgenaue Hilfen und ein entschlossenes Vorgehen gegen Drogenkriminalität. Es gilt, suchtkranke Menschen noch deutlich früher zu erreichen als bisher – das Stichwort lautet Frühintervention. Damit verbunden ist die Stärkung der kommunalen Suchthilfe durch eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung. In den letzten zehn Jahren stagnierten hier die Mittel – das muss sich ändern!“

    Prof. Dr. Ludwig Kraus, Leiter des IFT Institut für Therapieforschung München, stellte erste Ergebnisse einer Begleitstudie zur „Analyse drogenindizierter Todesfälle in Deutschland“ vor. In dieser untersucht er den Zeitraum 2012 bis 2016 anhand der Obduktionsergebnisse der Länder, um Rückschlüsse auf Todesursachen, Konsumverhalten und Substanzen geben zu können.

    „Nach wie vor sind es Opioide, die die überwiegende Mehrheit tödlicher Überdosierungen verursachen“, so Prof. Dr. Kraus. „Überdosierungen durch Neue psychoaktive Stoffe sind nach einem Anstieg zwischen 2012 und 2016 deutlich zurückgegangen. Die auch europaweit zunehmende Verbreitung synthetischer Opioide erfordert wegen des hohen Risikopotentials verstärkt präventive Maßnahmen; unter anderem sollten Abhängige und Angehörige in der Anwendung von Naloxon zur Ersthilfe trainiert werden.“

    Die ersten Ergebnisse der Studie sowie weitere Informationen finden Sie auf der Webseite der Bundesdrogenbeauftragten www.drogenbeauftragte.de

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und des IFT – Institut für Therapieforschung München, 15.05.2018

  • Kaum Heroin in Heroin

    Nachgewiesene Streckmittel und Begleitstoffe. Quelle: Substanzmonitoring in Konsumräumen – Analysenergebnisse der Untersuchungen des Jahres 2017, Universitätsklinikum Freiburg

    Was ist eigentlich in illegalen Drogen enthalten? Das wollte die Stadt Frankfurt wissen und hat Proben aus drei Drogenkonsumräumen untersuchen lassen. Vor allem der Wirkstoffgehalt von Heroin war deutlich geringer als erwartet.

    Von der Herstellung bis zum Konsum gehen illegale Drogen wie Heroin und Kokain durch viele Hände. Händler strecken die Drogen, um ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Was letztlich bei Konsumierenden ankommt, das wollte die Stadt Frankfurt genauer wissen und ließ erstmals Rückstände aus Drogenverpackungen und Spritzen analysieren. Gesundheitsdezernent Stefan Majer erklärt: „Der Handel und Konsum von illegalen Drogen stellt nach wie vor ein großes Dunkelfeld dar. Niemand kann sagen, was genau er oder sie gerade konsumiert.“

    Die Proben stammen aus Drogenkonsumräumen, in denen sich Abhängige ihre Drogen unter hygienischen Bedingungen spritzen können und schnell Hilfe bekommen, falls ein Notfall eintritt. Mehr als 400 Heroin- und Kokainproben wurden an das Institut für Rechtsmedizin der Universität Freiburg geschickt und unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Auwärter analysiert. Bei der Analyse von Heroinproben zeigte sich ein auffälliges Ergebnis: Der durchschnittliche Reinheitsgehalt betrug nur neun Prozent. Sicherstellungen von Heroin in der Europäischen Union legen jedoch Reinheitsgehalte von etwa 19 Prozent auf der untersten Handelsebene nahe.

    Heroin, das in Frankfurt von Konsumierenden erworben wird, enthält somit überwiegend andere Substanzen. Darunter sind Begleitstoffe, die bei der Herstellung der Droge entstehen, und Streckmittel, die von Händlern zwecks Gewinnmaximierung hinzugefügt werden. Häufige Streckmittel in Heroin waren Paracetamol und Coffein. Das scheinbar harmlose Schmerzmittel Paracetamol kann gefährlich sein, weil es bei Überdosierungen schwere Leber- und Nierenschäden verursachen kann. Aufhorchen ließ, dass an zwei Verpackungen Spuren des synthetischen Opioids Fentanyl gefunden wurden. Regina Ernst, Leiterin des Frankfurter Drogenreferats, betont: „Fentanyl spielte 2017 bei mindestens drei Frankfurter Drogentoten eine Rolle.“ Fentanyl wird als besonders gefährlich eingestuft, weil es etwa 100-mal stärker wirkt als Heroin und die Gefahr einer lebensbedrohlichen Überdosierung besonders hoch ist.

    Das Problem der Dosierung kann auch auftreten, wenn Straßenheroin ausnahmsweise mal einen höheren Wirkstoffgehalt als üblich aufweist. So schwankte der Heroingehalt der analysierten Proben zwischen einem und 58 Prozent. Gifte wie Strychnin wurden hingegen nicht in den untersuchten Heroinproben gefunden.

    Der Reinheitsgehalt von Kokain lag hingegen mit durchschnittlich über 70 Prozent etwa auf dem Niveau, das auch in anderen europäischen Ländern beobachtet wird. Ein häufiges Streckmittel war das Medikament Levamisol, das normalerweise gegen Darmparasiten in der Tiermedizin eingesetzt wird. Der Konsum von mit Levamisol verschnittenem Kokain kann eine lebensgefährliche Bluterkrankung verursachen und die Gefäße schädigen, was zum Absterben von Gewebe führt.

    Auwärter und sein Team schreiben in der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, dass sie entgegen den Erwartungen von Konsumierenden in keiner Kokainprobe Amphetamine wie Crystal Meth oder neue synthetische Drogen wie Badesalz gefunden haben.

    Weitere Informationen:

    Quelle: www.drugcom.de, 20.04.2018

  • Kulturdrogen – Drogenkultur

    Kulturdrogen – Drogenkultur

    Jost Leune

    Drogenkonsum ist kein neuzeitliches Phänomen. Drogen begleiten die Menschheit seit ihren Anfängen. Rauschmittel waren stets präsent und nie unumstritten. Mit der industriellen Herstellung von Wirkstoffen und dem daraus zu erzielenden Profit entwickelten sie sich sowohl zu einem unverzichtbaren Heilmittel als auch zu einem im Extremfall gesundheitsgefährdenden Konsumgut. Nicht zuletzt deshalb ist Gesundheitsförderung im Sinne von Prävention eine gesellschaftliche Aufgabe, der aber die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um dem Angebotsdruck der Drogenproduzenten standzuhalten.

    Entdeckungen und Erfindungen – Drogen im Lauf der Jahrtausende

    Bis zum 16. Jahrhundert blieben die Gewohnheiten einzelner Völker in der Verwendung von Drogen aufgrund der geographischen Isolation erhalten, und Drogenmissbrauch wurde gewöhnlich durch soziale und religiöse Kontrolle in Grenzen gehalten. Im klassischen Altertum (ca. 3500 v. Chr. bis 600 n. Chr.) wurden Cannabis und Opium zu medizinischen Zwecken und die Cannabispflanze als Fasertyp zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs verwendet. Es gibt keine Hinweise auf einen bedeutsamen Konsum von Cannabis und Opium als Genuss- und Rauschmittel im Mittelmeerraum. Die einzige Droge, die soziale Probleme verursachte, war und ist Alkohol. Zweifellos geht das Trinken von Bier und Wein bis in prähistorische Zeiten zurück. Zeugnisse, die die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Bier und Wein sowie die Bemühungen, ihren Genuss zu kontrollieren, diskutieren, reichen bis in das alte Ägypten und Mesopotamien zurück. Das klassische griechisch-römische Schrifttum ist angefüllt mit kritischen Schilderungen von Trinkexzessen und voller Lob der Tugend der Mäßigkeit (Legarno 1982).

    Bereits in der Geschichte des Alten Ägyptens (vor 4000 v. Chr. bis 395 n. Chr.) finden wir Belege für alkoholische Getränke. Bier ist schon 3000 v. Chr. bezeugt. Bei der Herstellung war das Brotbacken als Vorstadium des Brauens wichtig. Da man weder das Destillieren noch den Gebrauch von Hopfen kannte, wurde Brotteig, vermischt mit gegorenem Dattelsaft oder Honig, als Maische verwendet. Bier war ein gebräuchliches Heil- oder Nahrungsmittel, aber es war auch das Hauptgetränk in den verrufenen Bierhäusern und Schenken, wo leichte Mädchen junge Männer von ihrem Studium abhielten, so dass die Moralprediger mahnten: „Du verlässt die Bücher und Du gehst von Kneipe zu Kneipe, der Biergenuss allabendlich, der Biergeruch verscheucht die Menschen (von Dir)!“ (von Cranach 1982). An anderer Stelle wird empfohlen: „Ein Napf Wasser stillt schon den Durst“ – eine frühe Präventionsbotschaft. Gegorene Fruchtsäfte waren in Ägypten schon in der Vorgeschichte (vor 4000 v. Chr.) bekannt, ebenso Dattel- und Granatapfelwein. Die ersten Rebsorten wurden vermutlich aus dem mesopotamischen Raum nach Ägypten gebracht (von Cranach 1982).

    Wein war für die Bewohner des antiken Griechenlands (1600 v. Chr. bis 146 v. Chr.) Grundnahrungs- und Genussmittel und damit auch Opfergabe sowie Mittel des sozialen Kontaktes. Beobachtungen und Urteile zum Weingenuss und seinen Folgen finden sich zu damaliger Zeit in allen Literaturgattungen in Fülle, dafür gibt es genügend Belege (Preiser 1982).

    Hanf ist wahrscheinlich ursprünglich in China in den Dienst des Menschen gestellt worden, und zwar als Faserpflanze, als nahrhafte Körnerfrucht und als Rauschmittel. Es wird vermutet, dass Reitervölker der Steppen Ostasiens die Anwendung von Hanf als Rauschmittel von den Chinesen gelernt und dann weitervermittelt haben. Herodot (450 v. Chr.) berichtet von den Skythen, einem Volk von Reiternomaden, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine besiedelten: „In die Hütte stellen sie ein flaches Gefäß mit glühenden Steinen gefüllt und werfen mitgebrachte Hanfsamen zwischen die Steine. Sofort beginnt es zu rauchen und zu dampfen, mehr noch als in einem griechischen Schwitzbad. Begeistert heulen die Skythen auf (…).“ (zit. n. Völger & von Welck 1982)

    Über die Germanen schreibt der römische Historiker und Senator Tacitus im Jahr 98 n. Chr.:

    22 Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. (…)
    23 Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. (…) Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
    24 Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. (zit. n. Reclam-Ausgabe 1972)

    Im Mittelalter spielte der Hexenglaube eine große Rolle. Die Herkunft des Wortes „Hexe“ verweist auf eine Frau mit okkultem oder Naturheilwissen, die unter Umständen einer Priesterschaft angehörte. Diese Zuschreibungen sind eine Übertragung der Fähigkeiten der Göttin Freya aus der nordischen Mythologie und vergleichbarer Göttinnen in anderen Regionen (Heilen, Zaubern, Wahrsagen) auf die mittelalterlichen Priesterinnen, die im frühchristlichen Umfeld noch lange in der gewohnten Weise agierten. Mit dem Vordringen des Christentums wurden die heidnischen Lehren und ihre Anhänger dämonisiert. Der Begriff des Hexenglaubens ist im Übrigen doppeldeutig. Er bezeichnet nicht nur die Überzeugung, dass Hexen real und bedrohlich sind – eine Überzeugung, die im Volksglauben verwurzelt war und sich zum Hexenwahn steigern konnte. Sondern er kann heute auch die (naturreligiösen) Überzeugungen beschreiben, die sich auf ein vorchristliches Verständnis berufen, nach dem es Menschen beiderlei Geschlechts gibt, die über besondere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen und die als Hexen bezeichnet werden. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse bezogen sich mit Sicherheit auch auf Pflanzen, die unter den Sammelbegriff Drogen fallen.

    Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts beschrieben zuerst, dass in Südamerika ein weitverbreiteter Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen mit außergewöhnlichen, zu Weissagungen und Ekstasen führenden Wirkungen auf die Sinne zu beobachten ist. In den Überlieferungen wird dabei besonders auf Pilze, Peyote und Trichterwinde Bezug genommen (Völger & von Welck 1982).

    Die Weinproduktion erreicht in Europa im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, und die Berichte über ausgedehnte Saufgelage von Feudalherren und Bauern häufen sich in dieser Zeit. Dies nahm Luther 1534 zum Anlass, zu wettern: „Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben (…) unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauf heißen.“ (Völger & von Welck 1982)

    500 Jahre Drogen-Geschichte in Stichworten

    Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Publikationen von Günter Amendt (1984), Norman Ohler (2017) und Irmgard Vogt (1982). 

    1618–1648
    30-jähriger Krieg, Weinberge werden verwüstet, Branntwein wird in größeren Mengen produziert und ist das beliebteste alkoholische Getränk bei Soldaten.

    1677
    Die Holländer bekommen das Monopol für Opiumlieferungen nach China. Städte wie Macao, Hongkong und Shanghai werden als Handelsstützpunkte gegründet.

    1771
    Die importierten Konsumgüter Tabak, Kaffee und Tee sind so populär wie kostspielig. Dies erregt Ärger bei Kaufleuten und Regierung. Dieser Handel liegt außerhalb ihrer Kontrolle, er führt zu einer ungünstigen Handelsbilanz und bedroht andere wichtige Einnahmen. In Preußen förderte Friedrich der Große das Kaffeetrinken, bis er entdeckte, dass es seine Einkünfte aus dem Biermonopol schmälerte und – wie er in seinem 1771 erlassenen Kaffeemanifest feststellte – dazu führte, dass ein „abscheulich hoher Geldbetrag“ außer Landes ging. Der Konsum wurde auf heimische Produkte abgestellt – das sind in der Konsequenz Bier und Branntwein aus, wie man heute sagt, „regionaler Produktion“ (Austin 1982).

    1773
    Das Handelsmonopol für Mohnsaft liegt bei der englischen Ostindien-Kompanie.

    1780
    Kartoffeln werden zur Schnapsherstellung verwendet.

    1804
    Morphium (Morphin) wird erstmals von dem deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner in Paderborn aus Opium isoliert.

    19. Jahrhundert
    Technische Neuerungen verbessern die Schnapsproduktion, es entwickeln sich mittelgroße und Großfabriken.

    1850
    Die Injektionsspritze wird erfunden. Es beginnt der Siegeszug des Morphiums in Europa.

    1859/60
    Albert Niemann isoliert die aktiven Komponenten des Cocastrauches. Er gibt dem Alkaloid den Namen Kokain.

    1845
    Laut Friedrich Engels führen die schlechten Lebensbedingungen des Proletariats fast zwangsläufig zur Trunksucht. Auch Teile der SPD sehen den Alkoholismus vor allem als Hindernis im Klassenkampf an. Diese Position wird vehement vom 1903 gegründeten Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (DAAB) vertreten.

    1862
    Die Firma Merck produziert Kokain als Medikament – u. a. gegen Husten, Depressionen und Syphilis.

    1875
    Eine Morphiumwelle erreicht Europa als Folge des amerikanischen Bürgerkrieges und des deutsch-französischen Krieges.
    „Morphin ist der Absinth der Frauen.“ (Alexandre Dumas)

    1878
    20.000.000 Opiumabhängige in China

    1893
    Das Vereinigte Königreich erteilt der Regierung von Indien den Auftrag, in Bengalen Hanf anzubauen und die Gewinnung von Drogen, den Handel damit und die Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung sowie die Frage eines etwaigen Verbotes zu überprüfen. Ergebnis: Die Kommission stellt fest, dass die medikamentöse Anwendung von Hanfdrogen umfangreich ist und daher ein Verbot unzweckmäßig erscheint.

    1896
    Bayer entwickelt ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und lässt sich dafür den Markennamen „Heroin“ schützen.

    1912
    MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin) wird von Merck als Beiprodukt zur Herstellung von Hydrastinin (Blutstiller) patentiert.

    1920er Jahre
    Die Firmen Merck, Böhringer und Knoll beherrschen 80 Prozent des Weltmarktes für Kokain.

    1920er Jahre
    In München entsteht der Nationalsozialismus. München ist Gründungsort der NSDAP. Die Stadt wird zur „Hauptstadt der Bewegung“, weil es den wenigen nationalsozialistischen Gründungsaktivisten hier gelingt, ihre anfängliche Splitterpartei von ein paar versprengten Verwirrten zu einer Massenbewegung anwachsen zu lassen. Dabei spielen die großen Bierkeller in München eine zentrale Rolle. Hier werden nicht nur Volksfeste gefeiert, sondern auch die großen politischen Versammlungen abgehalten. Im Kindl-Bräu sah und hörte Ernst „Putzi“ Hanfstaengl Hitler zum ersten Mal reden. Er war es, der Hitler auch in den großbürgerlichen Kreisen salonfähig machte. Auf den Rednerbühnen des Bürgerbräukellers avancierte Hitler unter Johlen und Bierkrugschwenken seiner Anhänger allmählich zum Volksheld und schließlich zum Führer des Deutschen Reiches. Der Aufstieg Adolf Hitlers – der selbst keinen oder kaum Alkohol getrunken hat – ist ohne das Bier nicht denkbar. Bier, das in München auch bei politischen Versammlungen in rauen Mengen konsumiert wurde, verwandelte Hitlers Zuhörer regelmäßig in eine berauschte, betrunkene Masse, die fast beliebig zu steuern war. Die durch den Alkohol bewirkte Enthemmung schuf aus Hitlers kleinbürgerlichen Anhängern gefährliche, gewaltbereite Extremisten. Der NS-Terror auf Münchens Straßen in den Zwanziger Jahren ist ohne Alkohol nicht denkbar (Hecht 2013).

    1926
    Deutschland steht an der Spitze der Morphin produzierenden Staaten und ist Exportweltmeister bei Heroin: 98 Prozent der Produktion gehen ins Ausland. Zwischen 1925 und 1930 werden 91 Tonnen Morphin hergestellt.

    1926
    Die Firma Parke-Davis entwickelt Phencyclidin (Abkürzung PCP, in der Drogenszene bekannt als „Angel Dust“) als Arzneistoff der Klasse der Anästhetika.

    Berlin mutiert zur Experimentierhauptstadt Europas. 1928 gehen in Berlin 73 Kilogramm Morphin und Heroin legal auf Rezept in Apotheken über den Ladentisch. 40 Prozent der Berliner Ärzte sind angeblich morphinsüchtig.
    „Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversität!“ (Klaus Mann)

    1937
    Am 31. Oktober melden die Temmler-Werke Berlin das erste – an Potenz das amerikanische Benzedrin weit in den Schatten stellende – deutsche Methylamphetamin zum Patent an. Der Markenname: Pervitin. Der Tübinger Pharmakologe Felix Haffner schlägt die Verordnung des Pervitin sogar als „höchstes Gebot“ vor, wenn es um den „letzten Einsatz für das Ganze“ gehe: eine Art „chemischer Befehl“.
    Pervitin wird zum Symptom der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Selbst eine mit Methamphetamin versetzte Pralinensorte kam auf den Markt. Pro Genusseinheit waren stolze 14 Milligramm Methamphetamin beigemischt – beinahe das Fünffache einer Pervitin-Pille. „Hildebrand Pralinen erfreuen immer“, lautete der Slogan der potenten Leckerei. Die Empfehlung lautete forsch, drei bis neun Stück davon zu essen mit dem Hinweis, dies sei, ganz anders als Koffein, ungefährlich. Die Hausarbeit ginge dann leichter von der Hand, zudem schmelzen bei dieser außergewöhnlichen Süßigkeit sogar die Pfunde, da der Schlankmacher Pervitin den restlichen Appetit zügle (Ohler 2017).

    1938
    Albert Hofmann stellt Lysergsäurediethylamid (LSD) her.

    1940
    Weckmittelerlass der Reichswehr vom 17. April: „Die Erfahrung des Polen-Feldzuges hat gezeigt, dass in bestimmten Lagen der militärische Erfolg in entscheidender Weise von der Überwindung der Müdigkeit einer stark beanspruchten Truppe beeinflusst wird. Die Überwindung des Schlafes kann in besonderen Lagen wichtiger als jede Rücksicht auf eine etwa damit verbundene Schädigung sein, wenn durch den Schlaf der militärische Erfolg gefährdet wird. Zur Durchbrechung des Schlafes (…) stehen die Weckmittel zur Verfügung.“
    Pervitin wurde in der Sanitätsausrüstung planmäßig eingeführt. Daraufhin bestellte die Wehrmacht für Heer und Luftwaffe 35 Millionen Tabletten, die noch bis ca. 1950 im Umlauf waren.

    1945
    Der Zweite Weltkrieg endet, der Konsum von Aufputschmitteln geht weiter. Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.

    1949
    Die Firma Sandoz bringt LSD unter dem Namen „Delysid“ in den Handel. Es soll Psychiatrie-Ärzten ermöglichen, sich in die Wahrnehmungswelt psychotischer Patienten einzufühlen.

    1953
    Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.

    1954
    In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den ‚Raketentreibstoff‘ Pervitin eingeflößt zu haben.

    1954
    Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.

    1967
    Hippies in den USA berauschen sich an der ‚Liebesdroge‘ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.

    1968
    Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung sind Schlagworte der gesellschaftlichen Entwicklung der späten 1960er Jahre in Deutschland. Dazu muss man sich verdeutlichen, dass die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre in der BRD von denselben Personen, derselben Doppelmoral und denselben Ritualen beherrscht wird, die Deutschland in den 1930er Jahren eingeübt hatte. Als sich der Vietnamkrieg zum Völkermord entwickelt, in Bonn eine große Koalition gebildet wird und diese über Notstandsgesetze berät, die im Krisenfall das demokratische System außer Kraft setzen sollen, regt sich in der Gesellschaft ein lange angestauter Widerstand. Dabei geht es vor allem um eine Abgrenzung zur Elterngeneration und zum politischen System. Dazu gehören Provokation, Widerstand und Drogen. In Westdeutschland entwickelt sich daraus ein ‚hedonistischer Antifaschismus‘, während Ostdeutschland seinen moralischen Antifaschismus bewahrt: Die DDR erschafft sich einen perfekten Entstehungs- und Rechtfertigungs-Mythos, der sie gegen jede Kritik immunisiert. In der DDR sind Drogen nicht Teil des Widerstandes, sondern dienen den großen und kleinen Fluchten, mit denen man sich dem nicht minder spießigen System in der ‚Volksrepublik Preußen‘ entziehen kann.

    Drogen und ihre Kultur

    Alkoholkonsum

    Drogenkultur in Deutschland ist Alkoholkultur, genauer gesagt Bierkultur. Der Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland zeigt dies deutlich (Abbildung 1). 

    Abbildung 1: Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke in Deutschland (eigene Grafik)

    Während der jährliche Branntweinkonsum von einem Höchststand Anfang des 20. Jahrhunderts mit wenigen Schwankungen seit vielen Jahren bei fünf bis sechs Litern pro Kopf liegt, ist der Weinkonsum in über 100 Jahren von etwa fünf Litern auf fast 25 Liter gestiegen. Absoluter Spitzenreiter ist das Bier, das mit einem nicht erklärbaren Tiefpunkt in den späten 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Konsumhöhepunkt im Jahre 1975 erreichte und jetzt bei einem Durchschnittsverbrauch von etwas über 100 Litern pro Kopf und Jahr liegt. Der in Rein-Alkohol umgerechnete Verbrauch erreichte erst 1970 wieder die hohen Werte um 1900 und sank dann allmählich auf jetzt etwa 9,5 Liter pro Kopf ab (DHS 2017).

    Über die Schattenseite dieser Kultur informiert der Alkoholatlas Deutschland 2017:

    • 18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen riskante Mengen Alkohol zu sich, vor allem unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.
    • Der Anteil der Risikokonsumenten ist bei den Männern in Thüringen, Sachsen und Berlin (je 22 Prozent) am höchsten.
    • 2015 standen zehn Prozent aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss.
    • 2015 ereigneten sich rund 34.500 Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war. Bei über 13.000 dieser Unfälle wurden Personen verletzt oder getötet.

    Konsum illegaler Drogen

    An zweiter Stelle bei den konsumierten psychotropen Substanzen steht in Deutschland Cannabis. Bei Cannabis handelt es sich allerdings um eine illegale Droge, so dass die Ergebnisse von Konsument/innen-Befragungen sich nur in einer Grauzone abspielen können und die Realität abbilden können, aber nicht müssen. Nach den vorliegenden Daten (DBDD 2016) konsumieren bundesweit innerhalb einer Jahresfrist knapp über 4,5 Millionen Menschen Cannabis. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Werte für alle illegalen Substanzen:

    Abbildung 2. Konsum illegaler Drogen pro Jahr. *Aufgrund zu geringer Zellbesetzungen werden für einige Zellen keine Prozentwerte angegeben. Werte im niedrigen Prozentbereich sind mit großer Vorsicht zu interpretieren, da von einer erheblichen Unschärfe bei der Extrapolation der Messwerte auszugehen ist. Quelle: DBDD 2016

    Gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich

    Der Grund, Drogen zu nehmen, liegt nicht nur in wie auch immer gearteten Rauscherlebnissen. Fast jede Droge erzeugt eine gewünschte Wirkung im gesundheitlichen Bereich. Auch darüber muss im Zusammenhang mit verbotenen illegalen Substanzen immer wieder diskutiert werden.

    Alkohol
    Alkohol ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Ethanol. Die Vergärung von Zucker zu Ethanol ist eine der ältesten bekannten biochemischen Reaktionen. Ethanol wird als Lösungsmittel für Stoffe verwendet, die für medizinische oder kosmetische Zwecke eingesetzt werden, wie Duftstoffe, Aromen, Farbstoffe oder Medikamente. Außerdem dient es als Desinfektionsmittel. Die chemische Industrie verwendet Ethanol als Lösungsmittel sowie als Ausgangsstoff für die Synthese weiterer Produkte wie Carbonsäureethylester. Ethanol wird auch als Biokraftstoff, etwa als so genanntes Bioethanol, verwendet. 

    Die folgenden Informationen zu illegalen Drogen stützen sich auf die Publikation von Fred Langer et al. (2017). 

    Amphetamin
    Amphetamin wurde erstmals 1887 synthetisiert. Zunächst wurde es gegen Asthma und als Appetitzügler eingesetzt, heute findet es Anwendung bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Narkolepsie (Schlafsucht). Wegen seiner aufputschenden Wirkung ist es als Partydroge beliebt (Speed). 

    Barbiturate
    Barbitursäure wurde erstmals 1864 hergestellt. Barbiturate waren ab dem frühen 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte das Schlafmittel schlechthin. Sie werden als Narkosemittel, bei Epilepsie und auch in der Sterbehilfe eingesetzt. In den USA werden sie in Kombination mit anderen Präparaten zur Hinrichtung mittels Spritze verwendet. Abhängigkeit und Entzug verlaufen ähnlich wie beim Alkohol. 

    Cannabis
    Seit Jahrtausenden nutzen Heilkundige die Wirkstoffe der Hanfpflanze (Cannabinoide). Cannabis wird gegenwärtig in immer mehr Ländern für medizinische Zwecke freigegeben. Einsatz findet es u. a. in der Schmerztherapie, bei Multipler Sklerose, gegen Übelkeit und Erbrechen, unterstützend in der Therapie von Krebs und Aids. Als Drogen werden die getrockneten Blütentrauben und Blätter als Marihuana geraucht (‚Gras‘) oder extrahiertes Harz als Haschisch. Die Wirkung ist entspannend und stimmungsaufhellend.

    Kokain
    Kokain wird aus den Blättern des Cocastrauches extrahiert. Es ist das älteste Mittel zur örtlichen Betäubung und spielte früher eine wichtige Rolle in der Augenheilkunde. Bei Eingriffen am Kopf ist es heute noch zulässig. Als Droge wird Kokain wegen seiner euphorisierenden Wirkung geschnupft (Pulver) oder als Crack geraucht.

    Ketamin
    Ketamin wurde ab 1962 gezielt als Arzneimittel entwickelt und wird als Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) und Narkosemittel angewendet, vor allem in der Notfall- und Tiermedizin, neuerdings auch gegen schwere Depressionen. Als Rauschdroge (geschluckt, geschnieft oder gespritzt) löst es starke Wahrnehmungsveränderungen aus.

    LSD
    LSD wurde 1938 erstmals als Derivat der Lysergsäure hergestellt, die im Mutterkornpilz auch natürlich vorkommt. Früher wurde es zur psychotherapeutischen Behandlung von Krebspatienten und bei Alkoholismus eingesetzt. Vermutlich ist es wirksam gegen Cluster-Kopfschmerzen. LSD ist eine starke halluzinogene Droge (Acid) und löst einen intensiven psychedelischen Rausch aus.

    MDMA
    MDMA wurde 1912 synthetisiert und in den 1960er Jahren von US-Chemikern wiederentdeckt. Es ist ein viel versprechender Wirkstoff in der Therapie Posttraumatischer Belastungsstörungen. In Pillenform (Ecstasy) oder pulverisiert (Molly) ist es eine beliebte Partydroge.

    Opiate
    Opiate werden aus dem Saft geritzter Samenkapseln des Schlafmohns gewonnen. Durch Trocknen des Saftes entsteht Rohopium. Rohopium enthält u. a. die Wirkstoffe Morphin (eingesetzt als Schmerzmittel) und Codein (eingesetzt als gegen Hustenreiz). Das bekannteste Morphinderivat ist Heroin, ein sehr starkes Schmerzmittel, dessen therapeutische Anwendung heute in den meisten Ländern verboten ist aufgrund seines starken Abhängigkeitspotenzials. Opium ist nur noch zur Behandlung chronischen Durchfalls erlaubt. Gespritzt, geschnupft oder geraucht wirken Opiate euphorisierend und sedierend. 

    Psilocybin
    Psilocybin kommt in diversen Pilzarten vor (Magic Mushrooms) und wurde ab 1959 auch synthetisch hergestellt. Seit Jahrhunderten ist es Teil spiritueller Rituale. In der modernen Medizin wird es zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen, möglicherweise auch gegen Alkoholismus und Nikotinsucht eingesetzt. Es ruft einen bewusstseinsverändernden Rausch hervor, ähnlich wie bei LSD, aber kürzer.

    Schlussbemerkung

    Die Dosis macht das Gift: Drogen haben eine heilsame und eine unheilvolle Seite. Eine Ausnahme bildet Alkohol. Dieser ist vor allem als Lösungsmittel wirksam – zum Beispiel in menschlichen Beziehungen. Menschen aus anderen Kulturkreisen bringen andere Haltungen gegenüber Drogen und andere Konsumkulturen mit. Prävention muss sich einer Arbeit im Feld interkultureller Begegnung öffnen. Ein solcher Prozess ist angesichts der Zuwanderung in allen Bereichen erforderlich. Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Entwicklung kann nur als mittel- bis langfristiger Prozess gedacht werden, dessen Realisierung u. a. gezielte Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen erfordert. 

    „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, schreibt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach. In der Suchtprävention reicht es daher nicht aus, das Gefüge von Kultur und Drogen zu beschreiben und soweit möglich zu interpretieren, sondern es bedarf auch einer Handlungsanleitung für die Praxis. Für die Fachkräfte in der Suchtprävention könnte diese heißen, zu überprüfen, in welchem Umfeld ihre Arbeit stattfindet und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beeinflussen.

    Prävention ist Gesundheitsförderung und versucht die Wirkungen zu lindern, die von den Drogenproduzenten durch den Verkauf ihrer Produkte und die entsprechende Werbung dafür erzeugt werden. Für illegale Drogen finden Werbung und Verkauf auf dem Schwarzmarkt statt, über den naturgemäß keine Daten vorliegen. Bei legalen Drogen dagegen – und hier reden wir nur über Alkohol – liegen die Informationen offen vor. Abbildung 3 zeigt die Werbeausgaben für alkoholische Getränke. Bundesweit sind das 544 Millionen Euro.

    Abbildung 3: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke bundesweit (in Millionen Euro) (eigene Grafik, Quelle: DHS, Daten und Fakten)

    Abbildung 4 zeigt, wie sich die Situation umgerechnet auf Thüringen darstellt (Angaben in Millionen Euro). Aussagekräftig ist der Vergleich der Ausgaben für Werbung und für Prävention.

    Abbildung 4: Ausgaben für die Bewerbung alkoholischer Getränke in Thüringen (in Millionen Euro) (eigene Grafik)

    Auf Thüringen entfallen 14,62 Millionen Euro an Werbeausgaben. Präventionsangebote werden in Thüringen von den Kommunen und dem Land gefördert. Für die Kommunen liegen keine Zahlen vor. Für das Land finden sich Angaben im Haushaltsplan 2017 des Thüringer Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Titel: 684 71 314 (Freistaat Thüringen 2017). Es handelt sich um Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung, des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitshilfen, für die 1,7005 Millionen Euro aufgewendet werden. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Kommunen noch einmal eine Million Euro drauflegen, was wahrscheinlich sehr optimistisch ist, stünden dann diese 2,7 Millionen Euro Werbeaufwendungen der Alkoholindustrie in Höhe von 14,62 Millionen Euro gegenüber. Dieses als Ungleichgewicht zu bezeichnen, ist eine maßlose Untertreibung.

    Wenn Gesundheitsförderung in Form von Suchtprävention nicht so wirkt, wie wir uns das wünschen, liegt das nicht an der Qualifikation und dem Fleiß der Fachkräfte. Es liegt an dem Ungleichgewicht zwischen Angebotsdruck bei legalen und illegalen Drogen und den gesundheitsfördernden Leistungen, die die Gesellschaft diesem Druck entgegenstellt. Und da tut Thüringen Einiges. Das darf an dieser Stelle auch mal gelobt werden. Ein kulturverträglicher Drogenkonsum funktioniert nämlich nur, wenn die möglichen Risiken von Substanzen und Verhalten durch ein wirksames Konzept der Gesundheitsförderung ausgeglichen werden können. Dazu braucht man Geld und guten Willen, sonst kann der Genuss schnell zum Verdruss führen.

    Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor anlässlich der 5. Thüringer Jahrestagung Suchtprävention am 25. Oktober 2017 in Erfurt gehalten hat.
    Redaktion des Vortragsmanuskripts: Simone Schwarzer 

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    mail@fdr-online.info
    www.fdr-online.info

     Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

     Literatur:
    • Amendt, G. (2014), Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. Herausgegeben von Andreas Loebell, Rotpunktverlag
    • Amendt, G. (1984), SUCHT – PROFIT – SUCHT, Zweitausendeins Verlag Frankfurt
    • Austin, G. (1982), Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Cranach, D. von (1982), Drogen im alten Ägypten, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (Hg.) (2016), Bericht 2016 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2015/2016), Workbook 3 Drogen. Internet: http://www.dbdd.de/fileadmin/user_upload_dbdd/01_dbdd/PDFs/wb_03_drogen_2016_germany_de_2016.pdf (Zugriff am 23.11.2016)
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hg.) (2017), Jahrbuch Sucht 2017, Papst-Verlag Lengerich
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Daten und Fakten. Internet: http://www.dhs.de/datenfakten.html (Zugriff am 11.10.2017)
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hg.) (2017), Alkoholatlas Deutschland 2017. Internet: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf (Zugriff am 19.10.2017)
    • Freistaat Thüringen, Haushaltsplan 2017. Internet: https://www.thueringen.de/th5/tfm/haushalt/aktuell/index.aspx (Zugriff am 16.10.2017)
    • Hecht, M. (2013), Die Stadt, das Bier und der Hass. Der Zusammenhang von Politik und Alkohol in der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus. Vortrag gehalten vor dem 36. fdr-Kongress am 7. Mai 2013 in München. Internet: https://fdr-online.info/wp-content/uploads/file-manager/redakteur/downloads/veranstaltungen/36_fdrkongress/S29-3_Hecht.pdf (Zugriff am 10.09.2017)
    • Langer, F., Khazan, O., Hanske,P. (2017), Vom Segen der Drogen, in: Zeitschrift GEO, Ausgabe 06 2017 Seite 68-89
    • Legarno, A. (1982), Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Ohler, N. (20172), Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln
    • Preiser, G. (1982), Wein im Urteil der griechischen Antike, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Springer, A. (1997), Anthropologisch-gesellschaftliche Aspekte des Drogengebrauchs, in: Heckmann, W. (Hg.), Fleisch, E., Haller R., Suchtkrankenhilfe. Lehrbuch zur Vorbeugung, Beratung und Therapie, Beltz-Verlag Weinheim/Basel
    • Tacitus (1972), Germania, Reclam Ditzingen
    • Völger, G. & Welck, K. von (Hg.) (1982), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg
    • Vogt, I., Alkoholkonsum, Industrialisierung und Klassenkonflikte, in: Völger, G. & Welck, K. von (Hg.), Rausch und Realität – Drogen im Kulturvergleich, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • Bericht zur Drogensituation in Deutschland (REITOX) veröffentlicht

    Workbook Drogen
    Kurzbericht

    Seit 15. Dezember ist der jährlich erscheinende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“, früher unter dem Namen „REITOX-Bericht“ bekannt, online verfügbar. Das Standardwerk zur Situation illegaler Drogen in Deutschland liefert in acht thematisch in sich geschlossenen Kapiteln („Workbooks“) umfangreiche Informationen zu den verschiedenen Aspekten des Phänomens illegale Drogen in Deutschland.

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler: „Der heute vorgelegte Bericht zeigt, dass wir mit unseren Maßnahmen gegen den Konsum von illegalen Drogen zwar vieles, aber längst noch nicht alles erreicht haben. In weiten Teilen ist der Konsum illegaler Drogen in Deutschland stabil. Was wir in den kommenden Jahren aber ganz dringend brauchen, ist eine wirklich flächendeckende Präventionsarbeit in Sachen Cannabis. Keine andere illegale Droge ist so weit verbreitet, und keine andere führt so viele Menschen in ambulante und stationäre Therapieangebote. Ganz klar ist auch, dass die Versorgung suchtkranker Menschen in und nach der Haft besser werden muss und wir mehr gegen die Stigmatisierung suchtkranker Menschen tun müssen. Sucht ist eine Krankheit und als solche müssen wir sie behandeln.“

    Nach den Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurveys 2015 hat mehr als jeder vierte erwachsene Deutsche (zwischen 18 und 64 Jahren) bereits mindestens einmal im Leben illegale Drogen konsumiert. Cannabis ist dabei unverändert die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge: Unter den 12- bis 17-Jährigen gaben 7,3 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten wenigstens einmal Cannabis konsumiert zu haben, bei den 18- bis 64-Jährigen waren es 6,1 Prozent. Über die letzten 25 Jahre hinweg zeigt die Cannabisprävalenz mit Schwankungen einen insgesamt zunehmenden Trend. Der Wirkstoffgehalt des in Deutschland sichergestellten Cannabis steigt seit Jahren an und hat in diesem Jahr erneut einen Höchststand erreicht. Der markanteste Anstieg von Wirkstoffgehalten ist in diesem Jahr aber bei den Amphetaminen zu verzeichnen: von 2015 auf 2016 hat er sich vervierfacht. Für MDMA lässt sich eine Verdopplung des Wirkstoffgehaltes verzeichnen.

    Unter den Stimulanzien dominieren in Deutschland bei den 18- bis 64-Jährigen die Amphetamine mit einer 12-Monats-Prävaenz von einem Prozent. Während Indikatoren aus Strafverfolgung und Behandlung in den letzten Jahren auf eine steigende Bedeutung von Amphetamin und Methamphetamin hinweisen, zeichnet sich dieser Anstieg in den bundesweiten Erhebungen in der Allgemeinbevölkerung nicht ab.

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Leiter der DBDD: „Das Drogenangebot und die Konsumgewohnheiten verändern sich zunehmend. Dies erfordert im Sinne einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Drogensituation ein Bündel aus verschiedenen Maßnahmen, die dieser wachsenden Komplexität gerecht werden. Dazu gehören z. B. sowohl die Entwicklung weiterer Präventionsangebote insbesondere im Bereich der neuen psychoaktiven Stoffe (NPS) als auch der Einsatz des Medikamentes Naloxon, um tödliche Überdosierungen unter Konsumentinnen und Konsumenten von Opiaten – vor allem Heroin – zu verhindern. Auch die Erweiterung der Angebote zur Cannabisprävention liegt angesichts der Verbreitung dieser Droge nahe, um negative gesundheitliche und soziale Folgen des Konsums zu minimieren.“

    Maßnahmen zur Prävention des Konsums illegaler Drogen werden in Deutschland regelmäßig und zielgruppenspezifisch auf kommunaler, regionaler und Bundesebene durchgeführt. Im Jahr 2016 haben die kommunalen Fachkräfte mehr als 34.000 suchtpräventive Maßnahmen dokumentiert. Die am häufigsten thematisierte illegale Substanz war Cannabis, gefolgt von amphetaminartigen Stimulanzien. Mit seiner hohen Reichweite trägt das Informationsportal www.drugcom.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wesentlich zur Prävention des Konsums illegaler Drogen bei. Das BZgA-Portal bietet neben Wissens- und Selbsttests auch ein individualisiertes Verhaltensänderungsprogramm zur Reduzierung des Cannabiskonsums.

    Der vorliegende „Bericht zur Drogensituation in Deutschland“ wird jährlich durch die Deutsche Drogenbeobachtungsstelle (DBDD) als Beitrag zum Europäischen Drogenbericht erstellt. Die acht Workbooks, ein zehnseitiger deutschsprachiger Kurzbericht sowie die aktuellen Veröffentlichungen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) finden Sie unter www.dbdd.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Bundesdrogenbeauftragten und der DBDD, 15.12.2017