Schlagwort: Pathologisches Glücksspielen

  • Der Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland

    Der Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland

    Dr. Kai W. Müller

    Unter der Bezeichnung „Störung durch Glücksspielen“ wird die unkontrollierte und zu negativen Folgeerscheinungen führende Nutzung von unterschiedlichen Glücksspielangeboten erstmals als eine Variante einer substanzungebundenen Abhängigkeitserkrankung (Verhaltenssucht) im ICD-11 (International Classification of Diseases, Weltgesundheitsorganisation, 2019) aufgeführt. Die Definition des Störungsbildes richtet sich somit nach den gängigen Kriterien von Abhängigkeitserkrankungen allgemein. Als diagnostisches Gerüst gelten die Kriterien der Priorisierung der Glücksspielnutzung vor anderen Lebensbereichen und Aktivitäten, eine verminderte Kontrolle über Art und Umfang der Glücksspielteilnahme und deren Fortführung trotz damit in Zusammenhang stehender negativer Konsequenzen.

    Besagte negative Konsequenzen können sich auf alle Lebensbereiche Betroffener beziehen, wie aus zahlreichen epidemiologischen und klinischen Studien bekannt ist (z. B. PAGE-Studie, 2011). Dazu gehören beispielsweise finanzielle Probleme, die durch ein immer risikoreicheres und intensiviertes Spielverhalten in oftmals ganz erheblicher Form auftreten. Ebenso gehen nachhaltige Schwierigkeiten in der Lebensführung und ausgeprägte soziale Konflikte mit der Erkrankung einher. Daneben ergeben sich auch Folgen für die psychische, aber auch körperliche Gesundheit: Unter Betroffenen sind psychopathologische Symptome (wie etwa erhöhte Stressbelastung und depressive Symptome) und psychische Begleiterkrankungen (hier etwa erhöhte Komorbidität für Angststörungen, affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen) im Vergleich zur gesunden Allgemeinbevölkerung um ein Vielfaches erhöht, und auch Zusammenhänge mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten scheinen mittlerweile gesichert (vgl. z. B. Müller & Wölfling, 2019).

    Der Glücksspielstaatsvertrag: Glücksspielen in geordneten Bahnen

    Aus dieser knappen Ausführung wird ersichtlich, dass es sich bei Glücksspielen eben nicht um reine Unterhaltungsprodukte handelt, sondern sich aus ihrer Nutzung ernste Beeinträchtigungen ergeben können, zumindest wenn die bewusste Kontrolle über das Spielverhalten verloren gegangen ist. Dementsprechend existiert in Deutschland ein weites Netz an unterschiedlichen Anlaufstellen für Betroffene, welches Selbsthilfe, niederschwellige Beratungsangebote, ambulante Psychotherapien und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sowie Nachsorgeangebote umfasst. Hier finden Menschen Hilfe, die bereits eine problematische oder auch suchtartige Glücksspielnutzung entwickelt haben. Die Versorgung bereits Betroffener ist natürlich wichtig, der Vorbeugung von neuen Erkrankungsfällen muss jedoch eine ebenso hohe Bedeutung beigemessen werden. Ein wesentlicher Baustein hierzu ist im so genannten Glücksspielstaatsvertrag (Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland; GlüStV) zu sehen, in welchem bundeseinheitliche Regularien für das Betreiben und die Nutzung von Glücksspielen in Deutschland festgehalten werden. Die erste Fassung des Glücksspielstaatsvertrags trat bereits im Jahre 2008 in Kraft, es folgten verschiedene Novellierungen, bis schließlich der „Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland“ (GlüStV 2021) ratifiziert wurde und nun zum 1.7.2021 offiziell in Kraft treten wird.

    Der Grundgedanke des ursprünglichen Glücksspielstaatsvertrags bestand darin, verbindliche Rahmenbedingungen zu definieren, die das Betreiben und die Nutzung von Glücksspielen ermöglichen. Schon die erste Fassung des GlüStV berücksichtigte Fragen nach der Verhältnis- und Verhaltensprävention einer Störung durch Glücksspielen. Hierunter fallen beispielsweise die Regulierung der Angebotsdichte (Anzahl von zulässigen Spielbetrieben) und die Möglichkeit, eine Sperrung der Teilnahme am Spielbetrieb zu veranlassen. Mit der nun verabschiedeten Neuregulierung gehen im Vergleich zu den vorherigen Fassungen teils erhebliche Änderungen einher, deren Bedeutung speziell für den Spielerschutz im Folgenden umrissen und hinsichtlich ihrer Relevanz und potenziellen Auswirkungen kommentiert werden soll.

    Der Status des Internetglücksspiels

    Eine sehr wesentliche Veränderung bezieht sich auf den zuvor wenig regulierten Markt der internetbasierten Glücksspiele. Mit der zunehmenden Verbreitung des Internets geht schon seit vielen Jahren der Trend einher, dass sich auch das virtuelle Glücksspiel stark ausdifferenziert hat. So sind es längt nicht mehr nur Pokerportale und Sportwetten, die im virtuellen Raum zugänglich sind, sondern komplette virtuelle Casinos und Automatenspiele erweitern das Angebot. Die Neufassung des Glücksspielstaatsvertrags sieht nun vor, diesen Markt explizit zu berücksichtigen. Dies ist gleichbedeutend mit einer Zulassung von Online-Automatenspielen und berechtigt die Bundesländer auch dazu, Konzessionen für Online-Casinos zu vergeben. Da jene internetbasierten Glücksspielangebote natürlich unabhängig vom Glücksspielstaatsvertrag bereits im Internet verfügbar waren, wird durch diese Entscheidung das faktische Angebot an Glücksspielformen zwar nicht wirklich größer, es könnte aber präsenter und somit auch für weitere Zielgruppen interessant werden, die sich vorher aus dieser „Grauzone“ herausgehalten haben. Diese Neuregelung hat also nicht zur Folge, dass es mehr Glücksspiele geben wird, wohl aber, dass nun mehr legale Formen zur Verfügung stehen.

    Diese grundlegende Änderung ist aus suchtpsychologischer Sicht hoch relevant. Bei internetbasierten Glücksspielen, allen voran Online-Casinos und Online-Automatenspiele, handelt es sich um Varianten von Glücksspielen, die mit erhöhten Raten an Kontrollverlust und entsprechend hohen finanziellen Verlusten einherzugehen scheinen. In vielen Beratungsstellen und klinischen Versorgungseinrichtungen lässt sich eine steigende Anzahl von Betroffenen feststellen, die vornehmlich internetbasierte Glücksspiele suchtartig nutzen. Auch höhere finanzielle Verluste bei einer Präferenz für Internetglücksspiele wurden und werden immer wieder berichtet. Zumindest um den letzten Aspekt aufzufangen, sieht der neue Glücksspielstaatsvertrag die Einrichtung einer Art zentralen Registers, der so genannten Limitdatei, vor. Hintergrund für diese Datei ist, dass es bei der Teilnahme an Internetglücksspielen ein finanzielles Limit geben soll, welches sich auf die Höchstsumme von 1.000 Euro Einsatz pro Monat beläuft. Auch wenn für einen nicht unerheblichen Teil der Spielenden diese Summe bereits mehr als ausreichend sein dürfte, um sich bei gegebenem Kontrollverlust und anderen Symptomen einer suchtartigen Nutzung in ernsthafte finanzielle Nöte zu bringen, ist diese begrenzende Maßnahme doch grundsätzlich zu begrüßen.

    Der Stellenwert der Selbstsperre

    Eine weitere wesentliche Neuregelung betrifft das Instrument der Spielersperre. Die Möglichkeit, sich selbst von der Teilnahme an Glücksspielen ausschließen zu können (Selbstsperre), stellt ein ganz zentrales Element des Spielerschutzes dar. Diese Möglichkeit war bereits in den früheren Fassungen des Glücksspielstaatsvertrags gegeben, jedoch wurde sie nun um entscheidende Aspekte erweitert. Das neu definierte Spielersperrsystem sieht vor, dass eine Sperre spielformübergreifend erwirkt wird. Personen, die für sich eine Gefährdung erkannt haben, können im Falle einer erwirkten Sperre also beispielsweise nicht mehr nur in Spielbanken keine Glücksspiele mehr tätigen, sondern sind automatisch auch von Spielhallen, Sportwetten und allen Formen internetbasierter Glücksspiele ausgeschlossen.

    Technisch ermöglicht wird dies über eine so genannte zentrale Spielersperrdatei, für welche sich natürlich datenschutzrechtliche Fragen stellen. Inhaltlich ist der Schritt zu begrüßen, eine Sperre nicht wie zuvor nur auf einzelne Spielformen oder gar örtliche Spielstätten zu begrenzen. Ein „Drift“ gefährdeter Personen zu anderen Glücksspielformen ist hierdurch deutlich unwahrscheinlicher als zuvor. Kritisch zu bewerten ist hingegen die Neuregelung hinsichtlich einer Aufhebung der Sperre. Laut Glücksspielstaatsvertrag sind nunmehr keine besonderen Nachweise wie etwa psychologische Gutachten erforderlich, um eine Sperre zu beenden. Begründet wird dieser Umstand damit, dass subjektive Hürden für die Beantragung eine Sperre gesenkt werden sollen und dass darüber hinaus Personen, welche Gutachten über eine etwaige Spielsuchtgefährdung ausstellen, vor möglichen Regressansprüchen geschützt werden sollen.

    Grundsätzlich stellt eine externe Einschätzung des Gefährdungspotenzials einer Person eine schwierige Herausforderung dar. Eine bereits bestehende Störung durch Glücksspielen kann natürlich anhand der diagnostischen Kriterien von geschultem Fachpersonal zuverlässig beurteilt werden; eine prognostische Einschätzung im Vorfeld des Vollbildes der Erkrankung (beispielsweise in einem Frühstadium) hingegen ist äußerst anspruchsvoll. Nach Einschätzung des Autors ist dennoch zu bemängeln, dass eine Aufhebung der Sperre fortan ohne externe Einschätzung möglich sein wird. Trotz der oben angeführten Schwierigkeiten der Prognose kann eine externe Beurteilung hilfreich sein, und sei es lediglich, dass sie potenziell gefährdeten Personen die Chance zu einer Reflexion der Beweggründe für ihren Wunsch nach einer Entsperrung bietet.

    Ausblick

    Schließlich wurde im Glücksspielstaatsvertrag auch beschlossen, eine „Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder“ zu installieren, deren Sitz in Sachsen-Anhalt liegen wird. Als Anstalt des öffentlichen Rechts wird dieser Einrichtung die Aufsicht über die Einhaltung der im Glücksspielstaatsvertrag aufgeführten Regularien obliegen. Auch wird sie dafür zuständig sein, Forschungsaufträge zu vergeben, welche die Auswirkungen der nun beschlossenen Rahmenbedingungen des Glücksspielens auf den Markt und die Bevölkerung betreffen. Dies wird nötig sein, denn bei allem Positiven, was den neuen Glücksspielstaatsvertrag fraglos kennzeichnet, gibt es doch einige Punkte, deren Sinnhaftigkeit sich erst noch bewähren muss. Nur eine unabhängige und objektive Forschung kann perspektivisch zur Klärung dieser Unwägbarkeiten beitragen.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    kai.mueller@unimedizin-mainz.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Kai W. Müller, Dipl.-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz.

    Literatur:
    • Meyer, C., Rumpf, H. J., Kreuzer, A., de Brito, S., Glorius, S., Jeske, C., Kastirke, N., Porz, S., Schön, D., Westram, A., Klinger, D., Goeze, C., Bischof, G. & John, U. (2011). Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE): Entstehung, Komorbidität, Remission und Behandlung, Greifswald & Lübeck
    • Müller, K.W. & Wölfling, K. (2020). Glücksspielstörung. Stuttgart, Kohlhammer
  • „In einer Spirale nach oben“

    „In einer Spirale nach oben“

    Kurzinterventionen sind Maßnahmen zur Gesundheitsförderung oder Prävention und eignen sich bspw. bei riskantem Konsumverhalten oder ungesunden Verhaltensweisen. Das motivierende Interventionsangebot Spirale Nach Oben (kurz: SNO) bei glücksspielbezogenen Problemen zielt auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes und der individuellen Lebenslage. Es begleitet Glücksspielende beim Prozess der Verhaltensänderung, indem Ressourcen aktiviert werden, Problembewältigung gefördert und zum veränderten Handeln motiviert wird (vgl. NLS 2020; Majuntke 2013; Meyer & Bachmann 2017).

    Suchthilfeeinrichtungen verfolgen das Ziel, Menschen mit suchtbezogenen Problemen bei der Bewältigung ihrer gesundheitlichen Problemlagen zu unterstützen und auch Hilfe für deren Angehörige anzubieten. Betroffene werden von Fachkräften bei der Veränderung ihres Konsumverhaltens hin zu gesundheitsförderlichem Verhalten begleitet. Um Menschen mit glücksspielbezogenen Problemen fachlich beraten zu können, muss also die Frage gestellt werden, wie Menschen eine nachhaltige und für sie bedeutsame Veränderung erreichen. Eine Verhaltensänderung zu erwirken, ist oft kein leichter Prozess. Bei Suchterkrankungen gilt dies als besonders schwer, da zu Grunde liegende psychische Probleme oft schon länger bestehen und das schambesetzte Verhalten die Inanspruchnahme von Hilfe erschwert (vgl. NLS 2014; Meyer & Bachmann 2017; Hayer 2012; Wöhr & Wuketich 2019; Inglin & Gmel 2011).

    Pathologisches Glücksspielen zählt seit 1980 zu den Störungen der Impulskontrolle und ist seit 2001 von deutschen Kostenträgern als rehabilitationsbedürftige Erkrankung anerkannt. Als eigenständige Verhaltenssucht ist die Spielsucht jedoch erst seit 2013 in der neuen Fassung des DSM-5 kategorisiert (DSM-5, USA). Auch in der ICD-11, die am 1. Januar 2022 in Kraft treten soll, wird die Störung durch Glücksspielen als Verhaltenssucht eingeordnet. Auf neurologischer Ebene lassen sich bspw. Störungen des Belohnungssystems erkennen, die dazu führen können, dass das Verlangen nach dem Suchtmittel stärker ist als die Initiative zur Verhaltensänderung. Glücksspielen erzeugt vergleichbare Effekte wie der Konsum von Substanzen, weshalb gerade Kinder und Jugendliche gefährdet sind, eine Suchterkrankung zu entwickeln (vgl. Hayer 2012; BZgA 2018). Doch wie kann Einfluss auf das Verhalten genommen und dieses nachhaltig verändert werden? Diskutiert werden bspw. der Einfluss von Selbstreflexion und Selbstkontrolle sowie Selbstwirksamkeit und Veränderungsmotivation (vgl. Meyer & Bachmann 2017; Stetter 2000; Kushnir et al. 2016; NLS 2014; BZgA 2018).

    „Spielen macht seit Menschengedenken Alt und Jung Spaß und gehört zum menschlichen Verhaltensmuster. Wenn wir an kleine Kinder denken, verbinden wir Spielen mit Lernen und leuchtenden Augen. Bei Erwachsenen stellen wir uns fröhliche Runden mit Gesellschaftsspielen vor. Spielen heißt aber auch, Geld auf einen unkalkulierbaren Sieg in Spielhallen, Spielbanken, Lotterien und Internet zu setzen. […] Insbesondere gilt es, Jugendliche vor dem Abrutschen in glücksspielsüchtiges Verhalten zu bewahren sowie Menschen mit einem problematischen Glücksspielverhalten frühzeitig Hilfen anzubieten“ (NLS 2010: 4).

    Glücksspielsuchthilfe in Niedersachsen

    Im Mittelpunkt der niedersächsischen (Gesundheits-)Politik stehen auch die Prävention und Beratung bei Glücksspielsucht. Die niedersächsische Glücksspielsuchthilfe wird landesweit durch die Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) koordiniert. Das Land Niedersachen fördert seit 2008 den Ausbau der glücksspielsuchtspezifischen Prävention in der Region und unterstützt deren Weiterentwicklung. In enger Zusammenarbeit mit der NLS werden Präventionsansätze, Beratungsangebote und Interventionen gezielt für Risikogruppen konzipiert und fortgeschrieben. Um den spezifischen Bedürfnissen der betroffenen Personen sowie ihrer Angehörigen begegnen zu können, hält das Landesprojekt regionale Beratungsangebote an 24 Projektstandorten und speziell ausgebildete Glücksspielsuchtfachkräfte bereit (vgl. NLS 2013/2014; Majuntke 2013). Diese Beratungsangebote wie auch das Interventionsangebot „Spirale Nach Oben“ wurden speziell für den Glücksspielsuchtbereich angepasst. Die verpflichtenden Schulungen bzw. Fortbildungen der Fachkräfte erfolgen überregional und werden durch die NLS fachlich begleitet (vgl. NLS 2013/2014).

    Einen wichtigen Faktor in der Prävention und Behandlung von glücksspielbezogenen Problemen stellt die personelle Verstärkung der Suchthilfe dar. Durch die Fachkräfte, welche seitens der NLS ausgebildet wurden, konnten im Rahmen des Landesprojektes die präventiven und beratenden Aufgabenfelder verstärkt werden. Diese Aufgabenfelder verfolgen das Ziel der Vermeidung und der Abwehr glücksspielbezogener Suchtgefahren auf universeller und regionaler Ebene. Um dieses Ziel zu erreichen, führen die Fachkräfte sowohl kurzfristig angelegte, informationsorientierte als auch längerfristig angelegte, problemorientierte Beratungsarbeit durch (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; NGlüSpG §1 Abs. 5). Diese Beratungsarbeit ist angelehnt an den klientenzentrierten Beratungsprozess. Bei diesem werden durch Reflexion, Spiegelung und motivierende Gesprächsführung individuelle Lösungen und Bewältigungsmöglichkeiten entwickelt. Ggf. erfolgt die Weitervermittlung in eine spezialisierte Rehabilitationsmaßnahme (ambulant/stationär) und eine anschließende Betreuung zur Stabilisierung und Sicherung des Therapieerfolges (vgl. NLS 2014; Prochaska & DiClemente 1982; Majuntke 2013).

    Das für den Glücksspielbereich adaptierte Interventionsprogramm „Spirale Nach Oben“ (SNO) zur Reduzierung des problematischen Spielverhaltens dient den Fachkräften dabei als Arbeitshilfe. Diese Arbeitshilfe ist eine Adaption eines Manuals aus dem Hartdrogenbereich. Das ursprüngliche Kurzinterventionsprogramm „In einer Spirale nach oben. Mehr Selbstkontrolle über Drogengebrauch“ wurde in Deutschland und in anderen europäischen Ländern bereits in der Praxis erprobt und wissenschaftlich begleitet (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; Amsterdam Institute for Addiction Research, AIAR 2005). Die Arbeitshilfe SNO kommt in präventiven Arbeitsfeldern zur Erreichung eines reflektierten, veränderten Spielverhaltens zum Einsatz. In Therapie und Beratung wird sie in unterschiedlichen Settings eingesetzt, z. B. prozessbegleitend oder informativ ergänzend im Einzel-, Paar- oder Gruppengespräch (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; NGlüSpG §1 Abs. 5).

    Methodische Grundlagen der Arbeitshilfe „In einer Spirale nach oben“

    Das Interventionsprogramm wurde 2013 unter dem Titel „In einer Spirale nach oben – der Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten“ veröffentlicht (vgl. NLS 2013). Im Beratungskontext eingesetzt, werden kleine Veränderungen als Handlungsmöglichkeiten dargestellt, anhand derer der Weg zu mehr Selbstkontrolle und einem reduzierten Konsum aufgezeigt wird. Gezielte Fragen und praktische Lösungsansätze sollen eine aktive Auseinandersetzung mit dem (Spiel-)Verhalten bewirken. Die Arbeitshilfe unterstützt in zehn Schritten die Veränderung hin zu mehr spielfreier Lebensqualität. Fortschritte können gezielt erreicht werden: Sie zeigen sich in Absichtsbildung, Vorbereitung und Aktion. Das Programm SNO begleitet verschiedene Veränderungsstadien, so kann z. B. ein besseres Problemverständnis erlangt oder das Erkennen von Frühwarnsignalen unterstützt werden. Das Thema Glücksspielen wird schrittweise anhand von Beispielen und Arbeitsblättern thematisiert, z. B. werden alternative Beschäftigungen oder Strategien des Geldmanagements erarbeitet. Aufgabenstellungen sollen die Beurteilung und Reflexion des eigenen Spielverhaltens ermöglichen (vgl. NLS 2020; Prochaska & DiClemente 1992; Majuntke 2013).

    SNO basiert auf dem transtheoretischen Modell der Verhaltensänderung nach Prochaska und DiClemente. Bei diesem Modell verläuft die Veränderung in Stadien, in denen es von der Bildung einer Absicht bis zur eigentlichen Veränderung kommt. Die Verhaltensänderung wird strategisch durch Beratung begleitet, die sich zugleich am Tempo und der jeweiligen Phase der betroffenen Person orientiert und dadurch eine optimale Begleitung und prozessorientierte Unterstützung bietet (vgl. Prochaska & DiClemente 1982; Uhl & Lutz 2020; Maurischat 2001; Kushnir et al. 2016).

    Das transtheoretische Modell stellt die Verhaltensänderung als mehrstufigen Lernprozess dar. Oft müssen Veränderungsphasen mehrmals durchlaufen werden, bis sich das Erlernte verfestigt hat. Unterschieden wird zwischen Stufen, Prozessen und Ebenen der Veränderung: Das spiralförmige Durchlaufen der fünf bzw. sechs Veränderungsstufen, beschreibt die motivationalen Zustände. Die Prozesse können dabei in Schleifen ablaufen, bspw. durch Rückfälle auf eine niedrigere Stufe, die zum Lernprozess dazugehören. Unterschiedliche Stufen und Prozesse werden auf verschiedenen Ebenen der Veränderung wirksam, z. B. auf interpersoneller Ebene durch die Reduzierung von Konflikten oder auf der Ebene des Suchtverhaltens durch Reduktion der Spielhäufigkeit. Die Stufen, die im Verlauf der Verhaltensveränderung durchlaufen werden, finden sich als einzelne Schritten in der Arbeitshilfe wieder (vgl. Tab. 1).

    Tab. 1: Eigene Darstellung der Schritte der Arbeitshilfe SNO nach dem transtheoretischen Modell (vgl. Maurischat 2001; Majuntke 2013; NLS 2013; Prochaska & DiClemente 1982; Uhl & Lutz 2020)

    (Selbsthilfe-)Manuale verfolgen das allgemeine Ziel, in leichtverständlicher Weise spezifisches Wissen weiterzugeben und/oder Kompetenzen im Umgang mit (Bewältigungs-)Techniken zu vermitteln. Die Arbeitshilfe SNO bietet Ansätze zur Einschätzung, Beeinflussung und Stabilisierung des Spielverhaltens. Erste Reduktionsziele werden eigenverantwortlich erreicht, wodurch sich die Person wieder selbstwirksam erlebt. Die Arbeitshilfe SNO bietet mit einem zieloffenen Ansatz die Möglichkeit, einen niedrigschwelligen Zugang zu schaffen und somit auch jene Personen anzusprechen, die durch abstinenzorientierte Konzepte nicht erreicht werden. Dabei geht sie auf die Vielfältigkeit der Problemfelder von Glücksspielabhängigkeit ein. Die motivierenden Aspekte der Intervention bereiten den Weg zur Reduktion und zu mehr Selbstkontrolle über das eigene Spielverhalten. Die Betroffenen werden dabei unterstützt, selbstbestimmt gesundheitsförderlich zu handeln sowie Tempo und Umfang des Reduktionsbestrebens erfolgreich selbst zu bestimmen (vgl. NLS 2020; Meyer & Bachmann 2017.; Majuntke 2013; NLS 2014/2020).

    Konzept von SNO im Beratungskontext:

    • Krankheitseinsicht, Selbstreflexion und Absichtsbildung werden gefördert und können gesprächsbegleitend verfestigt werden.
    • Tempo und Ziele werden durch die betroffene Person selbst vorgegeben.
    • Verwendung von Arbeitsblättern ermöglicht die Dokumentation von Erfolgen und visualisieren den Fortschritt.
    • Aufbau der Arbeitshilfe strukturiert das Gespräch und den Beratungsprozess.
    • Aufgabenstellung und Hausaufgaben begleiten durch den spielfreien Alltag und unterstützen die Vorbereitung.
    • Keine Erzeugung von äußerem Druck oder Bevormundung bei der betroffenen Person durch Ergebnisoffenheit und kleine Schritte.
    • Akzeptanz, Respekt und Selbstbestimmung werden gefördert.

    Aktualisierung der Arbeitshilfe SNO

    Im Zeitraum von 2015 bis 2020 wurde die Arbeitshilfe evaluiert und bearbeitet. Unter Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking führte die Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, in enger Zusammenarbeit mit der NLS und mit Fachkräften der niedersächsischen Glücksspielsuchthilfe eine Untersuchung durch. Im Projektzeitraum wurden Arbeitsweise, Einsatzfelder und Verwendungsform der Arbeitshilfe untersucht sowie bisherige Erfahrungen ausgewertet. Nachfolgend wurde das Interventionsangebot weiterentwickelt und zielgruppenorientiert angepasst. Erfahrungen aus der Beratungspraxis und wissenschaftliche Erkenntnisse gingen in die Überarbeitung ein. Design, (An-)Sprache und Inhalt der Arbeitshilfe wurden verändert und Themenbereiche spezifisch für Glücksspielsucht mit Beispielen und Vorlagen angepasst. Auch wurden sprachliche Anpassungen vorgenommen, um einer Stigmatisierung von Glücksspielenden entgegenzuwirken. Negative Attribute wie ein Mangel an Selbstkontrolle, moralische Schwäche oder Impulsivität erschweren nicht nur den Betroffenen den Zugang zu Hilfeangeboten, sondern stellen auch Therapiehindernisse dar. Mitunter können entsprechende Stigmata zum Ausschluss von verschiedenen Versorgungsangeboten, vor allem von strikt abstinenzorientierten Einrichtungsangeboten, führen (vgl. Wöhr & Wuketich 2019; Goffman 1986; Orford & McCartney 1990; Inglin & Gmel 2011; Grunfeld et al. 2004; NLS 2013).

    Die aktuelle Fassung der Arbeitshilfe SNO kann über die NLS kostenlos als Download bezogen werden: http://www.nls-online.de/shop/index.php/online-shop/glückspielsucht/gluecksspielsucht-spirale-detail.html

    Ausblick

    Interventionsmaßnahmen wie das Angebot SNO der niedersächsischen Glücksspielsuchthilfe zielen auf die gesundheitsförderliche Verhaltensänderung. Das Programm SNO begleitet den beratenden Prozess angepasst an die Ziele, Änderungsbereitschaft und Motivation der jeweiligen Person. Der Programmaufbau ist einfach und bietet Ansätze für die motivierende Gesprächsführung und eine individualisierte Rückmeldung. Fachkundige Personen mit Bezug zum Thema Glücksspielsucht ohne suchtspezifische Ausbildung können die Umsetzung der Intervention schnell erlernen und in verschiedenen Settings (Suchthilfe- und Bildungseinrichtungen etc.) einsetzen. Damit können sie frühzeitig für die Risiken und Gefahren sensibilisieren und zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfen motivieren. Die Wirksamkeit motivierender Kurzinterventionen zeigt sich bei vielen Präventionsmaßnahmen zum gesundheitsgefährdenden Substanzkonsum, wie z. B. Tabak-, Drogen- oder Alkoholkonsum bei Jugendlichen (vgl. Reis et al. 2009; Majuntke 2013; Stolle et al. 2013; Wurdak et al. 2016).

    Das Kurzinterventionsangebot SNO setzt bei der Reduktion von Widerständen, Stigmatisierung und fremdbestimmter Zielsetzung an. Wie auch einige der anderen Gesundheitsprogramme (z. B. gegen Bewegungsmangel oder zur Stressbewältigung) soll das niedrigschwellige Angebot für weniger Abwehr bei der reflexiven Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhalten sorgen. Schriftliche Informationen, wie auch einfache Maßnahmen (Kurzberatung, Feedback usw.) bewirken zudem eine erste Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten. Kurzinterventionen bieten neben einer ersten Hilfe zur Selbstexploration vor allem Chancen für einen frühzeitigen Zugang von Menschen mit einem Gesundheitsproblem in die (suchtspezifische) Gesundheitsversorgung. Dies ist ein wichtiger Ansatzpunkt, denn eine Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfeangebote durch Risikokonsumierende ist eher gering und noch seltener frühzeitig.

    Die landes- und bundesweite Förderung solcher suchtspezifischen und gesundheitsförderlichen Interventionsangebote wie das Programm SNO ist bedeutsam für die erfolgreiche Prävention und frühzeitige Behandlung von Glücksspielsuchtproblemen. Gesundheitspolitische Bemühungen sollten daher die glücksspielbezogene Suchthilfe und Forschung bei den neuen Herausforderungen unterstützen, um die Bevölkerung effektiv vor den Gefahren und Risiken, auch von illegalem und simuliertem Glücksspiel, zu schützen (vgl. Majuntke 2013; NLS 2014; Stolle et al. 2013; Wurdak et al. 2016; Fleckenstein et al. 2019).

    Kontakt:

    Meike Panknin-Rah
    Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
    Hochschule Emden/Leer
    Constantiaplatz 4
    26723 Emden
    meike.panknin-rah@hs-emden-leer.de

    Angaben zu den Autor*innen:

    Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Bedeutung der Selbstkontrolle für die Reduzierung des eigenen Glücksspielverhaltens – Untersuchung am Beispiel des Manuals ‚In einer Spirale nach oben – der Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten‘“ (2015–2020). Christina Diekhof und Meike Panknin-Rah sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer.

    Literatur:
    • Amsterdam Institute for Addiction Research (AIAR) (2004): In einer Spirale nach oben. Wege zur mehr Selbstkontrolle und reduziertem Drogenkonsum. Stiftung Sirop: Amsterdam.
    • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2018): Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland 2017. Ergebnisbericht. Technical report. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Köln.
    • Fleckenstein, M./ Heer, M./ Leiberg, S./ Gex-Fabry, J./ Lüddeckens, T. (2019): Leistungssensible Suchttherapie: Vorstellung und Wirksamkeitsprüfung einer neuer Kurzintervention. Suchttherapie 20. 68-75.
    • Goffman, E. (1986): Stigma. Notes on the management of spoiled identity. Simon and Schuster: New York.
    • Grunfeld, R./ Zangenneh, M./ Grundfeld, A. (2004): Stigmatization Dialogue: Deconstruction and Content Analysis. INTERNATIONAL JOURNAL OF MENTAL HEALTH & ADDICTION, 1.Jg., Heft 2, 1–14.
    • Hayer T. (2012): Jugendliche und Glücksspielbezogene Probleme. In: Becker T. (Hrsg.). Schriftenreihe zur Glücksspielforschung. Peter Lang-Verlag. o. O.
    • Inglin, S./ Gmel, G. (2011): Beliefs about and attitudes toward gambling in French-speaking Switzerland. Journal of gambling studies, 27. Jg., Heft 2, 299–316.
    • Kushnir, V./ Godinho, A./ Hodgins, D./ Hendershot, C./ Cunningham, J. (2016): Motivation to quit or reduce gambling: Associations between Self-Determination Theory and the Transtheoretical Model of Change. In: J Addict Dis. 2016;35(1):58-65.
    • Maurischat, C. (2001): Erfassung der „Stage of Change“ im Transtheoretischen Modell Procháskas – eine Bestandsaufnahme. Psychologisches Institut, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Internetquelle: https://www.psychologie.uni-freiburg.de/forschung/fobe-files/154.pdf. Abgerufen am: 14.06.2020.
    • Majuntke, I. (2013): In einer Spirale nach oben. Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten. Internetquelle: http://www.gluecksspielsucht.de/files/19_majuntke_fags_2013.pdf. Abgerufen am 12.06.2020.
    • Meyer, G./ Bachmann M. (2017): Spielsucht. Ursachen, Therapie und Prävention von glücksspielbezogenem Suchtverhalten. Springer Verlag GmbH, Berlin.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2010): Gemeinsam gegen Glücksspielsucht. Zwischenbericht zum Projekt „Glücksspielsucht in Niedersachsen – Prävention und Beratung“. Hannover. Internetquelle: https://nls-online.de/home16/images/nls/Gl%C3%BCcksspiel/Gemeinsam_gegen_Gluecksspielsucht.pdf. Abgerufen am: 02.06.2020.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS 2013): In einer Spirale nach oben. Arbeitshilfe zur Reduktion des eigenen Glücksspielverhaltens. 1. Auflage. Internetquelle: http://nls-online.de/home16/images/nls/Glücksspiel/Spirale_nach_oben_Internet.pdf. Abgerufen am: 02.06.2020.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2014): Konzept zur Prävention und Beratung von Glücksspielsucht in Niedersachsen – Fortschreibung 2014. Internetquelle: https://nls-online.de/home16/index.php/downloads/cat_view/35-gluecksspielsuchtpraevention. Abgerufen am 01.06.2020.
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2016): Jahresbericht. NLS, Hannover
    • Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) (2020): In einer Spirale nach oben. Auf dem Weg zu einem anderen Glücksspielverhalten. Internetquelle: https://nls-online.de/shop/index.php/online-shop/gl%C3%BCckspielsucht/gluecksspielsucht-spirale-detail.html Abgerufen am 01.07.2020.
    • Orford, J./ McCartney, J. (1990): Is excessive gambling seen as a form of dependence? Evidence from the community and the clinic. Journal of gambling studies, 6. Jg., Heft 2, 139–152.
    • Prochaska, J. & DiClemente, C. (1982). Transtheoretical therapy: Toward a more integrative model of change. Psychotherapy: Theory, Research & Practice19 (3), 276–288.
    • Reis, O./ Papke, M./ Haessler, F. (2009): Ergebnisse eines Projektes zur kombinierten Prävention jugendlichen Rauschtrinkens. Sucht, 55, 347–356.
    • Stetter, F. (2000): Psychotherapie von Suchterkrankungen. In: Psychotherapeut 45:141–152 Springer-Verlag.
    • Stolle, M./ Sack, P.M./ Broening, S./ Baldus, C./Thomasius, R. (2013): Brief Intervention in alcohol intoxicated adolescent – a follow-up study in an access-to-care sample. Journal of Alcoholism & Drug Dependence, 1, 106. DOI:10.4172/2329-6488.1000106. Abgerufen am 01.06.2020.
    • Uhl, M./ Lutz, W. (2020): „Transtheoretisches Modell“ in: Wirtz, M.A. (Hrsg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. Internetquelle: https://portal.hogrefe.com/dorsch/transtheoretisches-modell-1/. Abgerufen am 24.06.2020.
    • Wöhr, A./ Wuketich, M. (2019): Stigmatisierung von Glücksspielern als Zuschreibungsprozess. In Wöhr, A./ Wuketich, M. (Hrsg.) (2019): Multidisziplinäre Betrachtung des vielschichtigen Phänomens Glücksspiel. Festschrift zu Ehren des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Tilman Becker. Springer VS: Wiesbaden.
    • Wurdak, M./ Wolstein, J./ Kuntsche, M. (2016): Effectiveness of a drinking-motive-tailored emergency-room intervention among adolescents admitted to hospital due to acute alcohol intoxication – A randomized controlled trial. Preventive Medicine Reports, 3, 83–89.
  • Dokumentationsstandard für eine vernetzte Versorgungslandschaft

    Dokumentationsstandard für eine vernetzte Versorgungslandschaft

    Karl Lesehr
    Dr. Barbara Braun

    Mitarbeiter/innen der Suchthilfe kennen den Kerndatensatz (KDS) als Standard für ihre eigene einrichtungsbezogene Dokumentation, die sie oft schon seit vielen Jahren nutzen – lange vor jeder EDV. Insofern war es nicht erstaunlich, dass in vielen Vorschlägen an die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zur Aktualisierung des KDS noch differenziertere Erfassungsmöglichkeiten für die jeweils spezifischen Zielgruppen der eigenen Einrichtung gefordert wurden.

    Tatsächlich will der Kerndatensatz schon immer die Basis für die Dokumentation in den verschiedensten Einrichtungen zur Versorgung suchtkranker Menschen sein: Wesentliche Daten und Aussagen sollen damit unabhängig von Arbeits- und Interventionsschwerpunkten einzelner Einrichtungen verglichen werden können. Bei der Aktualisierung des KDS 3.0 haben sich der Fachausschuss Statistik der DHS und die externen Expert/innen darum bemüht, die Erfassungsmöglichkeiten so weiterzuentwickeln, dass sie den Veränderungen in der Versorgungslandschaft Rechnung tragen. Insbesondere die stärkere Differenzierung und Vernetzung von Behandlungs- und Betreuungsangeboten und eine stärkere Orientierung aller Versorgungsleistungen auf eine umfassende Verbesserung der gesundheitlichen Situation sowie der sozialen und beruflichen Teilhabe der betreuten/behandelten Menschen sollen auch in der Dokumentation abgebildet werden können.

    Der KDS 3.0 soll nicht nur Charakteristika von und Maßnahmen für Hilfe suchende Menschen erfassen, sondern als einheitlicher Dokumentationsstandard auch die Analyse realer Versorgungsverläufe ermöglichen. Bei einer solchen auf die Abfolge eigenständiger Maßnahmen orientierten Dokumentation wird eine eindeutige Abgrenzung der für die einzelnen Maßnahmen erfassten Daten umso notwendiger. So ist es (bei konsequenter Umsetzung der Manualregelungen) künftig möglich, beispielsweise Maßnahmen der ambulanten Suchtrehabilitation oder der Reha-Nachsorge eigenständig auszuwerten, auch wenn solche Leistungen von einer ambulanten Suchtberatungsstelle erbracht werden, die diese Leistungen nicht unter einem eigenen Einrichtungstyp dokumentiert hat.

    Komplexe Maßnahmenmatrix

    Um Versorgungsverläufe möglichst konsistent abbilden zu können, wurde die bislang stark aufgefächerte Erfassung von 16 Einrichtungstypen durch eine ‚gröbere‘ Einordnung des Einrichtungstyps ersetzt, gleichzeitig wurden die einzelnen Angebote/Maßnahmen deutlich ausdifferenziert. Diese systematische ‚Leistungsmatrix‘ wird nun an mehreren Stellen im KDS 3.0 genutzt: 1. im KDS-E (Einrichtung) bei „Art der Dienste/Angebote“ (1.7.), vereinfacht bei „Kooperation und Vernetzung mit anderen Einrichtungen/Angeboten“ (1.10) und 2. im KDS-F (der frühere KDS Klienten wurde umbenannt in KDS Fall) bei „Vorbetreuungen/-behandlungen“ (2.2.3), „Art der Betreuung/Behandlung in der eigenen Einrichtung“ (2.5.1) sowie „Weitervermittlung“ (2.6.6). Die Komplexität dieser Matrix mag manchen Nutzer zunächst erschrecken; sie ist aber notwendige Voraussetzung, um künftig individualisierte Behandlungswege und Betreuungsformen umfassend darstellen und in der Folge auch steuern zu können. Insbesondere die regional teilweise doch recht unterschiedlichen Formen der Suchtrehabilitation können jetzt differenziert (unter Substitution, als Kombibehandlung) dokumentiert werden.

    Vereinfachung des KDS-E

    Eine Neuregelung im KDS-E soll künftig auch ein realistisches Bild der immer komplexeren Versorgungslandschaft ermöglichen: Dienste und Angebote einer Einrichtung können für ein Bezugsjahr nur noch dann dokumentiert werden, wenn in den mit diesem Einrichtungsdatensatz verbundenen Falldatensätzen die entsprechende Maßnahme mindestens einmal dokumentiert wurde. Die KDS-E-Auswertung ermöglicht so erstmals einen aktuellen Überblick über das real genutzte Leistungsspektrum der dokumentierenden Suchthilfeeinrichtungen. Gleichzeitig wurde der KDS-E aber auch deutlich vereinfacht: Es wurden Abfragen herausgenommen, bei denen nach der Erfahrung der letzten Jahre und auch aus strukturellen Gründen keine wirklich aussagekräftige Datenauswertung möglich war. Analysen beispielsweise der oft mehr als problematischen Finanzierungsstruktur ambulanter Suchtberatungsstellen brauchen andere eigenständige und der Komplexität der Thematik angemessene Erfassungsverfahren.

    Wichtige Anpassungen bestehender Items im KDS-F

    Im KDS-F wurde die bisherige Kategorie „Angehörige“ erweitert auf „Personen aus dem sozialen Umfeld“, und es ist nun auch eine differenziertere Erfassung der Probleme aus der Sicht dieser Personen möglich.

    Weiterhin fand eine Anpassung der Erhebung soziodemografischer Daten im KDS-F statt: Familienstand/Partnerbeziehung wurden ersetzt durch das Item „Lebenssituation“ (2.3.1); auf das bisherige Item zum Lebensunterhalt wurde verzichtet aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen mit dem Item „Erwerbssituation“ (2.3.7). Der insbesondere aus sozialpolitischer Sicht relevanten Risikosituation von Kindern wurde durch eine erweiterte Dokumentation Rechnung getragen, ebenso wurde die Dokumentation des Migrationsstatus neu geordnet.

    Die Erfassung des Kostenträgers wurde spezifiziert. Sie bezieht sich jeweils auf die aktuell dokumentierte Betreuung/Behandlung: Bei einem Wechsel des Kosten-/Leistungsträgers ist nach den Manualregeln ein neuer Falldatensatz zu öffnen (also z. B. beim Wechsel aus einer institutionell geförderten Betreuung in eine leistungsfinanzierte Maßnahme ambulanter Suchtrehabilitation).

    Die gesundheitspolitisch bedeutsame Dokumentation des HIV- bzw. Hepatitis-Status wurde auch aufgrund der bislang eher unzureichenden Dokumentationspraxis zweigeteilt: Zum einen werden Informationen zum Teststatus, zum anderen zum Infektionsstatus erfragt. Somit können die berechtigten Schutzinteressen des einzelnen Menschen berücksichtigt werden, gleichzeitig ist aber auch eine bessere Validität der erhobenen Daten möglich.

    Wesentliche konzeptionelle Neuerungen im KDS-F

    Neben der oben beschriebenen differenzierten Erfassungssystematik von Maßnahmen (und damit auch von Vorbehandlungen und Weitervermittlungen) bestehen die wesentlichen Neuerungen im aktualisierten KDS-F 3.0 in der differenzierten Erfassung psychosozialer Problembereiche, in der neuen Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik, in den (erweiterten) Dokumentationsmöglichkeiten für pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung und schließlich in der Dokumentation von Selbsthilfeanbindung.

    Psychosoziale Problembereiche

    Bislang ging der KDS implizit davon aus, dass Betreuungen in den Einrichtungen der Suchthilfe grundsätzlich durch eine Suchtproblematik ausgelöst sein und deshalb auch vorrangig eine Verbesserung/Behandlung dieser Suchtproblematik zum Ziel haben müssten. Während dies in Institutionen der medizinischen Behandlung unstrittig ist, stellen sich die Arbeitssituation der ambulanten Suchtberatungsstellen, aber auch die Angebote der Eingliederungshilfe vielschichtiger dar. Schon bei der letzten KDS-Überarbeitung war deshalb das Fehlen einer Einschätzung der psychosozialen Belastung kritisiert worden. Mit den Items 2.1.5 bzw. 2.6.7 zu Beginn und am Ende einer Falldokumentation bietet sich jetzt die Möglichkeit, aus Sicht der betreuenden Fachkraft die Probleme zu dokumentieren, die zur Kontaktaufnahme geführt haben bzw. die für eine angestrebte Veränderung zu berücksichtigen sind. Gleichzeitig wird über diese Item auch die Möglichkeit geschaffen, Entwicklungen im Lebensalltag der betreuten Menschen und damit potentielle Wirkungen von Betreuungsleistungen sichtbar zu machen. Zudem bieten diese Items die Option, vertiefte Wahrnehmungen einer komplexen Gesamtproblematik der betroffenen Menschen während der gesamten Betreuungszeit abschließend zu dokumentieren und damit auch für weitere Betreuungen aufgreifen zu können. Zusätzlich werden diese Items im Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) abgefragt, so dass dann grundsätzlich eine Drei-Punkt-Messung – wenn auch aus unterschiedlichen Quellen – möglich ist.

    Differenzierung zwischen Konsumdaten und medizinischer Diagnostik

    Bislang war der suchtbezogene Problembereich auf medizinische Diagnosen nach der IDC-10 und insbesondere auf eine Hauptdiagnose bezogen. Diese medizinische Diagnosesystematik ist im Bereich von Suchtbehandlungen weiter bedeutsam und unstrittig. Gleichzeitig sind aber in den vernetzten Versorgungsstrukturen auch die strukturellen Grenzen dieses Diagnosesystems deutlich geworden. So führt das Zeitkriterium von einem Jahr (die Diagnose substanzbezogener Störungen bezieht sich auf einen Ein-Jahres-Zeitraum) häufig dazu, dass gar keine aktuelle Diagnose vergeben werden kann. Auch sind relevante Konsummengenveränderungen im Diagnosesystem nicht oder nur unzureichend abbildbar. Mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten (z. B. 2.4.1 ff.) und Diagnosen (2.4.5) sind jetzt sehr viel differenziertere und damit auch wirklichkeitsnähere Dokumentationen möglich.

    Gleichzeitig wurde die Liste der dokumentierbaren Substanzgruppen deutlich erweitert und so gestaltet, dass bei Bedarf während der Gültigkeit des KDS 3.0 auch Ergänzungen möglich sind. Dokumentiert werden können für (maximal 15) Substanzen die Lebenszeitprävalenz und die aktuelle Bedeutung dieser Substanz (gemessen in Konsumtagen). Erhoben wird auch, ob bestimmte Substanzen nur und vollumfänglich aufgrund ärztlicher Verordnung konsumiert wurden – eine Möglichkeit, der angesichts der Grauzone des Medikamentenmissbrauchs erhebliche Bedeutung zukommt. Mithilfe der dokumentierten Konsumdaten kann künftig eine Konsummengenreduzierung festgestellt werden, sowohl als unmittelbare Auswirkung einer entsprechenden Behandlungsmaßnahme als auch als Teileffekt einer eigentlich abstinenzorientierten Behandlung. Und schließlich lassen sich über eine differenzierte Konsumdokumentation auch teilhaberelevante Risiken leichter identifizieren (z. B. täglicher Alkoholkonsum bei Substituierten).

    Dokumentation von pathologischem Glücksspielen und exzessiver Mediennutzung

    Der neue KDS 3.0 bietet in weitgehender Analogie zu den substanzbezogenen Störungen auch für die Störungsformen pathologisches Glücksspielen und exzessive Mediennutzung erweiterte bzw. neue Dokumentationsmöglichkeiten (2.4.8 bis 2.4.13). In Bezug auf Glücksspiele wurde die Liste an Spielformen (getrennt nach terrestrisch/stationär und online) erweitert.

    Selbsthilfeanbindung

    Und schließlich wurden in Zusammenarbeit mit den Verbänden der Sucht-Selbsthilfe zwei neue Items 2.6.3 und 2.6.4 in den KDS 3.0 eingebunden, die wirklichkeitsgerecht die Vernetzung mit den Aktivitäten der Sucht-Selbsthilfe abbilden können.

    Kontakt:

    Dr. Barbara Braun
    IFT Institut für Therapieforschung
    Parzivalstraße 25
    80804 München
    Tel. 089/36 08 04 34
    braunbarbara@ift.de
    www.ift.de

    Karl Lesehr, M.A.
    Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
    Hauptstraße 28
    70563 Stuttgart
    lesehr@paritaet-bw.de
    www.werkstatt-paritaet-bw.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Barbara Braun, Dipl.-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin (VT), leitet am IFT Institut für Therapieforschung in München den Bereich Therapie- und Versorgungsforschung sowie den Bereich Forschung Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern.
    Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).

  • Differenzierte Ergebnismessung zu Konsumverhalten und Teilhabe

    Differenzierte Ergebnismessung zu Konsumverhalten und Teilhabe

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Dr. Hans Wolfgang Linster

    Der Kerndatensatz Katamnese (KDS-Kat) stellt eine Ergänzung zum „Deutschen Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe (KDS)“ dar. Er ist zwar als separates Modul entwickelt worden, die Ausarbeitung erfolgte jedoch mit Bezug auf die Systematik und Zielsetzung, die bereits für die Entwicklung des KDS-E (Einrichtung) und KDS-F (Fall) maßgeblich waren. Der KDS-Kat entstand im Rahmen eines Konsensprozesses zwischen den beteiligten Institutionen und den Mitgliedern des Fachausschusses Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Der Fachausschuss setzte sich dabei das Ziel, Minimalstandards für die Durchführung von Katamnesen zu erarbeiten und im vorliegenden Katamnesemodul zur Verfügung zu stellen. Die vorgesehene Katamneseerhebung verfolgt zwei Hauptziele:

    a) Sie erfasst zum einen die Ausprägung relevanter Merkmale der Klient/innen und Patient/innen im Zeitfenster der Katamnese wie z. B. die Lebens- und Wohnsituation, den Konsum von Substanzen oder auch die Inanspruchnahme einschlägiger Hilfe und ist insofern Statusdiagnostik.

    b) Sie erfasst zum anderen im Sinne einer Verlaufsdiagnostik auch Veränderungen, die im Verlauf des Zeitfensters in relevanten Lebens- und Problembereichen aufgetreten sind.

    Vorher-Nachher-Vergleiche mit dem KDS-F und dem KDS-Kat

    Bei der Auswahl der Items für den Katamnesefragebogen wurde insbesondere darauf geachtet, die Strukturen und Items aufzunehmen, die im KDS-F enthalten sind (Lebenssituation, Wohnverhältnis, Erwerbssituation, erhaltene Hilfen, Veränderungen). Damit stehen die Angaben potentiell als Daten zur Verfügung, mit deren Hilfe Vorher-Nachher-Vergleiche vorgenommen werden können, um Veränderungen und insbesondere Behandlungserfolge zu erfassen.

    Die ausgewählten Fragen haben sich in Routine- und/oder Forschungskatamnesen bewährt. Alle Formulierungen der Items wurden im Konsens mit den Experten des Fachausschusses Statistik der DHS festgelegt. Die ausgewählten Items gelten als ‚Minimalstandard’, sie sollen in jedem Fall in der vorliegenden Form in die Katamnesefragebögen der Verbände, Träger und Einrichtungen aufgenommen werden. Es steht jedem Verband, Träger oder jeder Einrichtung jedoch frei, die vorliegenden Items um weitere Items zu ergänzen, damit spezifische, den Verband, Träger oder die Einrichtung interessierende Fragestellungen untersucht werden können.

    Um bei den Befragten eine möglichst hohe Akzeptanz für eine Beantwortung zu erhalten, wurde der Fragebogen so kurz und übersichtlich wie möglich gehalten. Allerdings lässt sich die komplexe Struktur der Abstinenzanalyse nur bedingt vereinfachen. Grundlegend für die Abfrage ist die Unterscheidung von durchgehender Abstinenz, Abstinenz nach Rückfall (also in den letzten 30 Tagen wieder abstinent) und durchgehender Rückfälligkeit, die sich aus den Standards für die Berechnung von katamnestischen Erfolgsquoten ergibt. Zunächst wird die durchgehende Abstinenz erfragt, anschließend die mögliche Abstinenz nach Rückfall. Erfasst werden außerdem Abstinenzphasen, die ‚vorwärts’ ausgehend vom Behandlungsende und ‚rückwärts’ ausgehend vom Katamnesezeitpunkt abgefragt werden. Falls keine durchgehende Abstinenz vorliegt, wird erfragt, welche Substanz konsumiert wurde, allerdings mit einer gegenüber dem KDS-Fall etwas vereinfachten Substanzliste. Erfragt wird auch der Substanzkonsum in den letzten 30 Tagen vor dem Katamnesezeitpunkt bzw. die Häufigkeit des Konsums in Tagen.

    Konsumveränderung und Verbesserung wesentlicher Teilhabeaspekte

    Neu im KDS 3.0 ist die Abfrage der Konsumveränderung, die in den KDS-Fall bei Behandlungsende und in den KDS-Kat in gleicher Form integriert wurde. Es wird ganz bewusst nach einer subjektiven Einschätzung zur Veränderung gegenüber der Zeit vor der Behandlung gefragt. Bewertet wird mit einer symmetrischen 5er-Abstufung (deutlich verringert – leicht verringert – gleich geblieben – leicht gesteigert – deutlich gesteigert). Mit dieser Ergänzung eröffnen sich bei der Bewertung von Behandlungserfolgen zwei zusätzliche Optionen:

    a) In der ambulanten Suchtberatung werden viele Angebote für Betroffene gemacht, die nicht nur die Abstinenz zum Ziel haben und deren Erfolg im Hinblick auf den Substanzkonsum (neben der Verbesserung anderer wesentlicher Teilhabeaspekte) somit differenzierter erfasst werden kann.

    b) Auch in der abstinenzorientierten Behandlung kann es von Interesse sein, das Ergebnis nicht nur im Hinblick auf die ‚klassischen‘ katamnestischen Erfolgsquoten, sondern auch im Hinblick auf die Veränderung des Substanzkonsums (falls keine Abstinenz erreicht werden konnte) zu erfassen. Damit können ggf. auch Vergleiche mit Behandlungsangeboten erfolgen, die nicht auf vollständige Abstinenz abzielen.

    Berücksichtigung nicht-substanzbezogener Suchtformen

    Eine weitere Neuerung im KDS 3.0 ist die deutlich umfassendere Erhebung von Daten und Informationen zu nicht-substanzbezogenen Suchtformen. Im KDS-Kat sind daher als Standard die Items für Glücksspiel und exzessive Mediennutzung vorgesehen. Analog zum KDS-F werden bei diesen Items die Begriffe „Spiel“ und „Nutzung“ in Abgrenzung zu den Begriffen „Konsum“ und „Substanz“ verwendet, um die Fragen für die Betroffenen verständlicher zu machen. Der KDS-Kat bietet allerdings eine vereinfachte Auswahl der Spiel- bzw. Nutzungsformen an.

    Grundsätzlich sollen bei allen Behandelten in der Katamnese alle Konsumformen abgefragt werden, unabhängig von der Hauptindikation der Behandlung. Hintergrund ist der erhebliche komorbide Zusammenhang bspw. zwischen Glücksspiel und Alkoholabhängigkeit oder zwischen Drogenabhängigkeit und Mediennutzung. Dadurch wird die Abstinenzabfrage zwar aufwändiger und umfangreicher, der Fachausschuss Statistik der DHS hält diese Sichtweise auf komplexe Suchtphänomene aber für relevant und zukunftsweisend.

    Durch die genannten Differenzierungen wirkt die Item-Liste des KDS-Kat auf den ersten Blick sehr kompliziert und ggf. für Betroffene schwer verständlich. Daher wird im Manual des KDS auch ein Vorschlag zur Darstellung der Items in einem Fragebogen gemacht. Es bleibt aber festzuhalten, dass sich das Spannungsfeld zwischen korrekter Erfassung komplexer Suchtphänomene und möglichst einfacher bzw. verständlicher Abfrage bei den Betroffenen (auch mit Blick auf die dadurch beeinflussten Rückläuferquoten) nicht vollständig auflösen lässt. Der Fachausschuss Statistik empfiehlt daher, schon während der Behandlung auf die Bedeutung der Katamnese hinzuweisen und das Vorgehen bzw. die Befragung im Rahmen einer ‚Katamneseschulung’ oder Informationsveranstaltung zu erklären und zu vermitteln.

    Kontakt:

    Dr. Hans Wolfgang Linster
    Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
    Institut für Psychologie
    Engelbergerstr. 41
    79106 Freiburg im Breisgau
    hans.linster@psychologie.uni-freiburg.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Hans Wolfgang Linster war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Jetzt ist er im Ruhestand und dort weiterhin als Lehrbeauftragter tätig.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Dieses Spiel muss ein Ende haben!

    Dieses Spiel muss ein Ende haben!

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Nach einer aktuellen Repräsentativerhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gelten in Deutschland über 200.000 Menschen als glücksspielabhängig. Zusätzlich zeigen 240.000 Menschen ein zumindest problematisches Spielverhalten. Als Risikofaktoren für eine Glücksspielproblematik gelten: männliches Geschlecht, Alter bis 25 Jahre, niedriger Bildungsstatus und Migrationshintergrund. 16 Prozent der glücksspielsüchtigen Klienten in Beratungsstellen haben eine Verschuldung von bis zu 25.000 Euro, zehn Prozent sogar bis 50.000 Euro. Die Suizidrate ist bei Glücksspielabhängigen im Vergleich zu anderen Suchterkrankungen signifikant höher.

    Das Glücksspiel mit dem höchsten Suchtrisiko

    Die Deutsche Suchthilfestatistik weist aus, dass ca. 75 Prozent der Menschen, die von Glücksspielen abhängig sind und sich in Behandlung begeben, durch Geldspielautomaten abhängig geworden sind. Das Spiel an Geldspielautomaten gilt als das Glücksspiel mit dem höchsten Suchtrisiko. Erst 2012 hat die Politik im Glücksspielstaatsvertrag das Automatenspiel als Glücksspiel definiert, nachdem es der Branche jahrzehntelang gelungen war, der Politik und der Öffentlichkeit Geldspielautomaten als „Unterhaltungsgeräte mit Geldgewinnmöglichkeiten“ zu verkaufen.

    Als im April 2014 Hessen als erstes Bundesland flächendeckend ein Spielersperrsystem für alle Spielhallen verpflichtend eingerichtet hatte, beschwerte sich der Hessische Münzautomatenverband schon vor Jahresablauf darüber, dass die Umsätze bereits um 26 Prozent zurückgegangen wären. In wenigen Monaten hatten sich in Hessen 7.000 Menschen als Eigenschutzmaßnahme vor den Folgen ihrer Glücksspielabhängigkeit selbst sperren lassen. Derzeit umfasst die Sperrdatei in Hessen ca. 12.000 Menschen. Der Anteil der dabei von Spielhallenbetreibern ausgesprochenen Fremdsperren ist dabei mit 120 äußerst gering.

    Die Universität Hamburg hat internationale Studien ausgewertet und ist zu dem Schluss gekommen, dass etwa 15 Prozent der Spieler in Spielhallen 70 Prozent der Umsätze generieren. Das heißt, das Geschäftsmodell der Spielhallen basiert auf wenigen Intensivspielern, die glücksspielabhängig und somit krank sind.

    Die Liberalisierung der Spielverordnung 2006 hat der Spielhallenbranche enorme Expansionsmöglichkeiten geboten. Die Anzahl der Spielhallen und deren Umsätze sind in der Folge regelrecht explodiert: von 2,4 Milliarden Euro (2005) auf 4,7 Milliarden Euro (2014). Inzwischen umfassen die Spielhallenbruttospielerträge fast die Hälfte des gesamten Glücksspielmarktes in Deutschland.

    Wirksame Präventionsmaßnahmen führen automatisch zu Umsatzrückgängen

    Eine Korrektur dieser Entwicklung sollten im Jahre 2012 der Glücksspielstaatsvertrag und entsprechende Länderspielhallengesetze erreichen. Darin wurde u. a. festgelegt, dass – nach einer Übergangszeit von fünf Jahren – zwischen zwei Spielhallen ein Mindestabstand liegen muss, je nach Bundesland zwischen 100 und 500 Metern. Darüber hinaus darf in einem Gebäude nur noch eine Spielhalle mit maximal zwölf Geräten existieren. Nach Ablauf der Übergangsfrist steht im Jahre 2017 in vielen Bundesländern nun die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben an. Dies führt seit geraumer Zeit in der Branche zu vielfältigen Aktivitäten im Rahmen der ‚politischen Landschaftspflege‘. Alle Register der politischen Lobbyarbeit werden gezogen, um die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zu verhindern: Der Politik wird mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen und Steuerausfällen gedroht, langwierige juristische Auseinandersetzungen werden angedeutet, aber auch Selbstverpflichtungen angeboten. Das „gemeinsame Ziel“, die Zahl der pathologischen Spieler in Deutschland gering zu halten, wird beschworen und das Bemühen der Branche um Prävention in den Mittelpunkt gestellt.

    Dabei ist klar, dass wirksame Präventionsmaßnahmen in Spielhallen automatisch zu massiven Umsatzrückgängen führen müssen: Würden die glücksspielsüchtigen Intensivspieler konsequent davon abgehalten zu spielen, wären viele Spielhallen nicht mehr überlebensfähig. Deshalb widersprechen effektive Präventionsmaßnahmen dem Gewinnstreben der Spielhallenbetreiber. Im Umkehrschluss kann man davon ausgehen, dass die Präventionsaktivitäten und Selbstverpflichtungen der Branche letztlich ineffektiv sind und nur dazu dienen, Imagepflege zu betreiben, Zeit zu gewinnen und möglichst weiter ungestört enorme Umsätze zu generieren.

    Rückendeckung für die Kommunalpolitik

    Vor allem die Kommunalpolitik ist jetzt gefragt, standhaft zu bleiben und für den Vollzug der anstehenden gesetzlichen Vorgaben vor Ort sorgen. Die damit verbundene Reduzierung von Spielstätten war mit den Änderungen der Gesetzgebung 2012 vom Gesetzgeber gewollt. Die damit verbundenen Rückgänge der kommunalen Steuereinnahmen stehen in keinem Verhältnis zu den jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten von 1,9 bis 3,6 Milliarden Euro durch den Ausfall von Arbeitskraft, durch Therapien, Behandlungen, Privatinsolvenz, Beschaffungskriminalität etc., die das gewerbliche Automatenspiel laut einer Bewertung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Universität Hamburg verursacht.

    Deshalb braucht die Kommunalpolitik Rückendeckung bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben durch starke und klare Haltungen der Landes- und Bundespolitik zur Glücksspielproblematik. Das Recht der Bevölkerung auf Schutz der Gesundheit darf nicht den Partikularinteressen eines auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftszweiges geopfert werden.

    Literatur beim Verfasser

    Dieser Artikel ist auch in der Frankfurter Rundschau vom 6./7. August 2016 erschienen.

    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Hessische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS)
    Zimmerweg 10
    60325 Frankfurt a. M.
    Tel. 069/71 37 67 77
    wsr@hls-online.org
    www.hls-online.org

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Erziehungswissenschaftler und Suchttherapeut. Seit 1998 ist er Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS).