Schlagwort: Personalmanagement

  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Robert Meyer-Steinkamp

    Wie hoch sind die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in der Suchthilfe? Die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) ermittelte mithilfe einer „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ die Situation der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In Teil I dieses Artikels (erschienen am 15. April 2019) berichtete Robert Meyer-Steinkamp über den Anstoß dazu und die Durchführung der ersten Phase, einer Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen. In Teil II stellt er die zweite Durchführungsphase dar, in der aufbauend auf den Befragungsergebnissen in Workshops Maßnahmepläne erarbeitet wurden.

    Psychische Belastung und psychische Beanspruchung

    Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua) bemängelt in ihrer Broschüre „Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben: Erkennen – Gestalten“ (2010) begriffliche Unklarheiten und gibt eine Definition für „psychische Belastung“ und „psychische Beanspruchung“ an. In Anlehnung daran lässt sich zusammenfassen:

    „Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.“ (DIN EN ISO 10075-1 (1a); baua 2010, S. 9)

    Psychische Belastung, ob beruflicher oder außerberuflicher Natur, wird dabei zunächst als wertneutral und nicht zwangsläufig als negativ betrachtet. Grundsätzlich ist psychische Belastung Teil aller Tätigkeiten und betrifft alle Menschen. Darüber hinaus ist sie notwendig, um die psychischen Funktionen aufrechtzuerhalten, analog den körperlichen Funktionen, die schwinden, wenn z. B. nach einem Beinbruch eine längere Ruhigstellung erfolgt und anschließend die Muskulatur erst wieder trainiert werden muss, bevor der Betroffene wieder regulär gehen oder womöglich sportlich aktiv sein kann.

    „Psychische Beanspruchung ist die unmittelbare (nicht langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.“ (DIN EN ISO 10075-1; baua 2010, S. 10)

    Die psychische Belastung durch einen aufregenden Film kann als beängstigend oder anregend erlebt werden und damit eine unterschiedliche Beanspruchung erzeugen. Zwei Teammitglieder in gleicher Funktion können auf die gleiche Belastung durch die Arbeitsumgebung sehr unterschiedlich reagieren und sich unterschiedlich beansprucht fühlen. Der eine fühlt sich im positiven Sinne herausgefordert und angespornt, führt Auseinandersetzungen, sucht Lösungen und bezieht Kollegen ein. Der andere fühlt sich überfordert, unter Druck, entwickelt Stresssymptome und zieht sich zurück. Zu einem anderen Zeitpunkt, ein Jahr später, könnte die Reaktion aufgrund veränderter individueller Voraussetzungen jeweils ganz anders ausfallen.

    Auswirkungen psychischer Beanspruchung

    Positive psychische Beanspruchung im Sinne von Anreiz und adäquater Herausforderung wird als ein Motor für die menschliche Entwicklung allgemein und auch im Hinblick auf arbeitsbezogene Kompetenzen gesehen. Gleichzeitig kann psychische Belastung die mit diesem Begriff eher assoziierten negativen Folgen wie Erschöpfung, somatoforme Erkrankungen, Burnout-Symptome oder weiterreichende psychische Erkrankungen auslösen. In diesem Fall spricht  man von Fehlbeanspruchung. Positive Beanspruchung führt tendenziell zu individueller Weiterentwicklung und Zufriedenheit sowie betrieblich zu höherer Produktivität und Geschäftserfolg. Fehlbeanspruchung führt tendenziell zu Stress und Krankheit  sowie auf betrieblicher Ebene zu Fehlern, Mehrkosten und geschäftlichem Misserfolg (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Modell für Zusammenhänge hinsichtlich psychischer Belastung und Beanspruchung

    Die Belastungen am Arbeitsplatz, das wird bei dieser Betrachtung deutlich, sind eine wesentliche, aber durchaus nicht die einzige Quelle möglicher psychischer Fehlbeanspruchung. Lebensgeschichtlich erworbene persönliche Stärken und Schwächen und aktuelle außerbetriebliche Belastungen können dazu führen, dass die ‚normale‘ Arbeitssituation bei einzelnen Mitarbeiter/innen in psychischer Fehlbeanspruchung mit all ihren Auswirkungen mündet, obwohl diese Situation bei 95 Prozent der Kolleg/innen keine negativen Auswirkungen hat. Außerbetriebliche oder in der Persönlichkeit liegende Quellen für Fehlbeanspruchung lassen sich durch eine Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen nicht erfassen und sind mit betrieblichen Mitteln auch nicht zu steuern. Somit ist es unwahrscheinlich, eine betriebliche Situation herstellen zu können, in der die psychische Fehlbeanspruchung und deren negative Auswirkungen bei null liegen. 

    Betriebliche Quellen psychischer Belastung

    Dennoch füllt Arbeit einen erheblichen Teil des Alltags  aus und stellt somit eine bedeutsame Quelle psychischer Belastung dar. Die baua (2010) differenziert diese Quelle in die Bereiche:

    • Arbeitsaufgabe (z. B. viel Verantwortung, schwierige Klientel, Monotonie)
    • Arbeitsumgebung (z. B. physikalisch: Lärm, Temperatur; oder sozial: Betriebsklima, Führungsverhalten)
    • Arbeitsorganisation/Arbeitsablauf (z. B. Informationsfluss, Dienstplanung)
    • Arbeitsmittel (z. B. allgemeine technische Ausstattung, Computersysteme)
    • Arbeitsplatz (z. B. direkte Arbeitsumgebung des Einzelnen)

    Alle Bereiche werden durch den in Teil I des Artikels beschriebenen Mitarbeiterfragebogen angesprochen und in den 13 Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit abgebildet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Phase 1: Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung

    Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung stehen in der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse, der Leitung und dem Betriebsrat in allen Details zur Verfügung. Außerdem erhalten die externen Moderatorinnen der Workshops – die Betriebsärztin (Hanseatisches Zentrum für Arbeitsmedizin hanza) sowie eine auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin (hanza ressources) – die Ergebnisse, um die Workshops vorzubereiten.

    Eine erste genauere Betrachtung der Befragungsergebnisse obliegt der Leitung und dem Betriebsrat mit dem Ziel, die zentralen Punkte auf einer Betriebsversammlung zu präsentieren und so den Kolleg/innen eine zeitnahe Rückmeldung zu ihrer Teilnahme an der Befragung zu geben. Dabei werden sowohl Stärken als auch Problemfelder, die sich abzeichnen, benannt.

    Hinsichtlich der allgemeinen Arbeitszufriedenheit ergab sich für die TGJ gesamt, auch im Benchmark mit sieben anderen Einrichtungen der Suchthilfe, ein sehr erfreuliches Bild. Unzufrieden waren nur ca. drei Prozent (s. Abb. 2).

    Abb. 2: „Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit Ihrem Arbeitsplatz?“

    Wir gehen davon aus, dass die Mitteilung dieses Stimmungsbildes im Rahmen der Ergebnispräsentation das Bewusstsein für die positiven Aspekte des Arbeitsplatzes weiter steigert und sich daraus wiederum positive Einflüsse auf das betriebliche Geschehen entwickeln.

    Auf der Ebene der Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit zeichnete sich dagegen beim Faktor PC-Arbeitsplätze eine deutliche Verschlechterung gegenüber der Befragung von 2014 ab. 2014 betrug die Problemhäufigkeit drei Prozent, 2017 waren es 16 Prozent (s. Abb. 3).

    Mit 16 Prozent Problemhäufigkeit steht die TGJ im Vergleich zu anderen Einrichtungen zwar gut da – eine deutliche Verschlechterung des eigenen Wertes, so hatten wir es in der AG Gefährdungsanalyse festgelegt, sollte aber immer ein Anlass zu Diskussionen und möglichst Verbesserungen sein. Letzteres wurde für die Jahre 2018/19 dann auch als Zielsetzung formuliert und im weiteren Verlauf mit konkreten Maßnahmen unterlegt.

    Abb. 3: Problemhäufigkeiten der Faktoren PC-Arbeitsplätze und Beschäftigungsbedingungen im Vergleich

    Der Faktor Beschäftigungsbedingungen wiederum verzeichnete eine deutliche Verbesserung von 25 auf 13 Prozent Problemhäufigkeit (s. Abb 3). Hintergrund dafür war vor allem die Umwandlung von Nebenabreden in nunmehr feste Stellen. Bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern waren ergänzend zu einer fest vereinbarten Teilzeitstelle weitere wöchentliche Arbeitsstunden durch jährlich zu erneuernde Nebenabreden geregelt. Für die Kollegen war damit ein nicht unerhebliches Maß an längerfristiger Einkommensunsicherheit verbunden. Die Mitarbeiterbefragung von 2014 war ein Anlass gewesen, diese Nebenabreden zu diskutieren. Die erfolgreiche Veränderung ist ein Beispiel dafür, dass eine Einflussnahme durch die Mitarbeitenden möglich ist.

    Phase 2: Workshops und die Entwicklung von Maßnahmeplänen

    Die Betriebsärztin und die auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin moderieren die Workshops. Sie nehmen an der Präsentation der Befragungsergebnisse teil und notieren dabei auftauchende Fragen und Anmerkungen aus der Kollegenschaft. Diese Notizen und eine eigene Sichtung der Befragungsergebnisse dienen zur thematischen Vorbereitung der Workshops. Die Workshop-Teilnehmer werden von den Berufsgruppen nach eigener Wahl entsandt. Die Workshops finden ohne die jeweilige Bereichsleitung statt. Die Bereichsleitungen besuchen einen eigenen Workshop, um Themen im Kontext ihrer Leitungsaufgabe ansprechen zu können (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Teilnehmerzahl und Dauer der Workshops

    Gut konstruierte Fragebögen sprechen möglichst alle Aspekte an, die für die zu untersuchende Thematik wesentlich sind. Bei den 102 Fragen des verwendeten Picker-Fragebogens geschieht das relativ detailliert. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist in beiden Teilen des Artikels durchgängig von Picker die Rede.) Dennoch werden weitere möglicherweise wichtige Aspekte nicht wahrgenommen. Diese anderen Aspekte können z. B. arbeitsbereichsspezifisch sein oder in Besonderheiten der Einrichtung liegen. Zwei im Picker-Fragebogen enthaltene offene Fragestellungen gehen auf dieses Problem ansatzweise ein, können es aber nicht lösen.

    Die moderierten Workshops dagegen bieten die Möglichkeit, sich jenseits der feststehenden Fragestellungen zu bewegen und, ausgehend von den Befragungsergebnissen, weitere Themen zu diskutieren. Außerdem wird in den Workshops geprüft, welche Maßnahmen, die aus der letzten Mitarbeiterbefragung bzw. den damaligen Workshops hervorgegangen sind, mit welchem Erfolg umgesetzt wurden. Dazu beziehen die Teilnehmer Stellung.

    Die Moderatorinnen verfassen über den Verlauf der Veranstaltung einen Abschlussbericht, der die diskutierten Punkte wiedergibt und einen Maßnahmeplan zu den als problematisch erachteten Punkten enthält. Der Abschlussbericht wird nach Erstellung zunächst von den Teilnehmern gegengelesen und freigegeben. Danach erhält der Bereichsleiter für die jeweilige Gruppe die Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Diese wird ggf. auch aufgenommen, und erst dann wird der fertige Bericht an die AG Gefährdungsanalyse übergeben.

    Maßnahmepläne

    Die Maßnahmepläne sind lange Vorschlagslisten, die an die AG Gefährdungsanalyse gerichtet sind. In der AG Gefährdungsanalyse werden alle Vorschläge sorgsam diskutiert und abgewogen, und es wird letztlich entschieden, was umsetzbar ist bzw. was versucht werden soll. Soweit es sich nicht um gesetzlich geregelte Sachverhalte handelt, bleibt die letzte Entscheidung bei der Leitung, die Kolleg/innen besitzen aber einen starken Einfluss. Als Beispiel für einen Maßnahmeplan ist in Abb. 5 der anonymisierte Vorschlag zum bereits erwähnten Thema Nebenabreden abgebildet.

    Abb. 5: Maßnahmevorschlag zum Thema Nebenabreden

    Die Gefährdungsanalysen finden in drei- bis vierjährigen Abständen statt. 2014 wurde vorgeschlagen, die Belastung durch interne Fortbildungen und Veranstaltungen zu reduzieren. Abb. 6 zeigt ein Beispiel für die Überprüfung der Umsetzung durch den Workshop im Jahr 2018:

    Abb. 6: Überprüfung der Umsetzung von Maßnahmevorschlägen

    Die AG Gefährdungsanalyse

    Die Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse der TGJ setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die nach Bedarf tagende AG ist im weiteren Verlauf das zentrale Organ zur prozessualen Umsetzung der Gefährdungsanalyse. Alle in den Workshops vorgeschlagenen Maßnahmen, alle negativen Unterschiede zu anderen Suchteinrichtungen (Benchmark) oder zu vorherigen Befragungen im eigenen Haus und alle Problemhäufigkeiten über zehn Prozent werden diskutiert. Bei einigen Fragen ist es notwendig, zusätzliche Informationen einzuholen oder mit einzelnen Bereichen oder Mitarbeitern zu sprechen, um das Problem richtig zu verstehen. Manche Vorschläge müssen abgelehnt werden, nicht nur aus Leitungssicht, sondern häufiger auch, weil Argumente aus anderen Bereichen des Hauses gegen eine Umsetzung sprechen. In der Regel geschieht dies im Konsens oder zumindest mit Verständnis für die gegenläufigen Argumente.

    Im ersten Durchlauf 2014 waren diese Diskussionen teilweise sehr emotional, haben sich aber mit einkehrender Routine zunehmend versachlicht. Die gegenseitigen Perspektiven und Positionen werden verständlicher. Im zweiten Durchlauf 2017/2018 gelingt die Abarbeitung der Aufgabenstellung sehr viel schneller als in der ersten Runde. Es ergibt sich trotz allem eine Vielzahl von Maßnahmen, deren Umsetzung teilweise auch andere Akteure im Haus einbezieht. Die Überprüfung der Ergebnisse erfolgt in zeitlicher Hinsicht nach Festlegung durch die AG, spätestens allerdings mit der nächsten Durchführung der Gefährdungsanalyse.

    Mit Blick auf das in Teil I des Artikels eingeführte Prozessmodell lässt sich zusammenfassen, dass die AG die Belastungen, die sich in den Befragungsergebnissen und den Workshop-Protokollen zeigen, beurteilt. Sie prüft die Maßnahmenvorschläge und entscheidet, ob sie umgesetzt werden sollen oder nicht. Bei Bedarf werden zusätzliche Maßnahmen geplant. Je nach Sachlage erfolgt die Umsetzung durch die Teilnehmer der AG oder es werden weitere Kolleg/innen einbezogen. Die Wirksamkeit wird, soweit sinnvoll, im Verlauf geprüft. Den Schlusspunkt und gleichzeitig Neustart des Prozesses bildet dann die erneute Gefährdungsanalyse nach ca. drei Jahren.

    Kosten

    Die Workshops und deren Vor- und Nachbereitung kosteten  3.600 Euro. Zusammen mit der Summe für die schriftliche Befragung ergeben sich Gesamtkosten von 4.800 Euro. Die Summe verteilt auf drei Jahre ergibt 1.600 Euro im Jahr. Hinzurechnen muss man sicherlich auch die Arbeitszeit, die für den geschilderten Prozess aufgewendet wird. Diese Investition erscheint aus unserer Perspektive angesichts der vielen positiven Effekte für die betriebliche Situation gut vertretbar.

    Fazit

    Der ursprüngliche Gedanke, dass eine eingehende Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen für eine so kleine Einrichtung wie die TGJ (50 Mitarbeiter) eine übertriebene Maßnahme darstellt, hat sich als falsch erwiesen. Nicht, weil wir auf ungeahnte Problematiken gestoßen wären, im Gegenteil: Unsere Gefährdungsanalyse zeichnete insgesamt ein sehr positives Bild vom Arbeitsplatzerleben der Kolleg/innen. Diese Rückmeldung, wiederholt diskutiert, kann dazu beitragen, die positiven Seiten des Arbeitsplatzes bewusster zu machen und die Zufriedenheit weiter zu steigern.

    Gleichzeitig bleiben wichtige Hinweise auf ‚Baustellen‘, die es zu bearbeiten gilt. Übermäßige Belastungen durch die Arbeitssituation lassen sich mit der beschriebenen Methodik lokalisieren. Die systematische Befragung und Diskussion garantieren eine Gründlichkeit, die sich durch die, wenn auch häufigen, alltäglichen Kontakte nicht erreichen lässt. So gefundene Quellen übermäßiger psychischer Belastung im Betrieb lassen sich häufig abstellen. Präventiv können Ressourcen z. B. in Form von Rückzugsräumen, phasenweiser Minderbelastung, Supervision, Coaching, flexibler Arbeitszeit usw. im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. In Reaktion auf belastende Ereignisse können Maßnahmen entwickelt werden. So rückte im Rahmen der Gefährdungsanalyse ein bisher nicht deutlich wahrgenommenes grenzüberschreitendes Verhalten von Klienten gegenüber Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft und Haustechnik in den Vordergrund. Zum Abbau übermäßiger Belastungen in diesem Kontext sollen u. a. Fortbildungen stattfinden, die den Kolleg/innen die Hintergründe solcher Verhaltensweisen verständlicher machen, damit Orientierung bieten und darauf fußend geeignete praktische Handlungsstrategien vermitteln.

    Neben den praktischen Verbesserungen erscheint insbesondere das kontinuierliche Gespräch über die erlebte Belastung wesentlich. Die Kolleg/innen nehmen wahr, dass es eine Auseinandersetzung mit den Beschwerden gibt und, soweit möglich, auch mit dem Ziel der Verbesserung gehandelt wird. Gründe, nicht zu handeln, lassen sich ggf. durch die Diskussion nachvollziehen und werden nicht als Mangel an Interesse und Fürsorge erlebt.

    Positiv gewendet erlebt der Einzelne sich handlungsfähiger in Bezug auf psychisch belastende Aspekte der Arbeit. Wenn Rahmenbedingungen wie z. B. Kostenträgervorgaben oder tarifliche und gesetzliche Regelungen psychische Belastungen mit verursachen, werden sie im Zuge der fortlaufenden Gespräche leichter als Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten für alle Beteiligten im Betrieb verstanden. Man erschöpft sich nicht unnötig in Auseinandersetzungen über Bedingungen, die auf dieser Ebene nicht zu beeinflussen sind.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Das Thema digitale Transformation ist in der Suchthilfe angekommen. Träger engagieren sich, Verbände agieren. Das sind positive erste Schritte. Das Arbeitsfeld muss sich allerdings in aller Breite und Tiefe den aktuellen Entwicklungen weiter öffnen und verstehen lernen, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“, die in anderen Bereichen ganze bisherige Geschäftsmodelle zerstört, für die Suchthilfe hat. Digitalisierung ist kein Ereignis, sondern ein Prozess, der auch massive Veränderungen der Arbeitsstruktur und Arbeitsabläufe mit sich bringt.

    Digitalisierung ist nicht die ‚Aufhübschung‘ eines Geschäftsmodells durch einen Internetanschluss. Onlineberatung ergibt wenig Sinn, wenn im Hintergrund wie vor Jahrzehnten gearbeitet wird. Wenn sich eine Organisation ernsthaft damit beschäftigt, digitalisierte Prozesse in die Arbeit zu integrieren, reicht es bei der Umsetzung nicht aus, nur die verfügbaren neuen Technologien für neue Produkte einzusetzen. Vielmehr hat der Einsatz digitalisierter Prozesse weitreichende Konsequenzen für die Organisationsstruktur, das Arbeitskonzept, die Arbeitsprozesse, die Qualifikation des Personals, die Arbeitszeiten sowie die Führungskompetenzen (junge Mitarbeiter haben mehr Ahnung als ältere Kollegen). Eine Neuausrichtung der gesamten Geschäftsstrategie auf digitale Handlungsprozesse ist erforderlich.

    Und noch eine weitere Dimension gilt es zu berücksichtigen: Die digitale Wandlung ist ein disruptiver Prozess. Diese vielfach gehörte Aussage liest sich so einfach. Dabei bedeutet dieser Satz doch, dass aktuelle Geschäftsmodelle zerstört werden und völlig neue Player auf der Angebotsseite, wie aus dem Nichts, auftauchen. Mit anderen Worten: Wäre es auch in der Suchthilfe vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit Plattformen etablieren, die, von völlig fachfremden Betreibern geführt, keine eigenen Dienste anbieten, sondern nur als digitale Vermittlungsplattform für die komfortable Abwicklung von Dienstleistungen zwischen Anbietern und Nutzern agieren? 

    Die professionelle Suchthilfe und ihre Entwicklung in den letzten 50 Jahren

    Die Suchthilfe in ihrer professionellen Ausrichtung hat in den letzten 50 Jahren gezeigt, dass sie ein flexibles und vitales System ist, das sich den unterschiedlichen, von außen an sie herangetragenen Veränderungen (neue Substanzen, Mittelkürzungen) anpassen konnte. Die Kreativität der Träger und die Unterstützung aus dem politischen Raum waren hierbei wichtige Faktoren.

    Es muss jedoch die Frage gestellt werden, ob die bisherigen Überlebensstrategien und Anpassungsprozesse des Suchthilfesystems auch beim digitalen Wandel greifen. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube es nicht. Wir haben es bei der digitalen Transformation nicht mit einem weiteren Veränderungsschritt, vergleichbar mit den oben genannten, zu tun, sondern mit einem Prozess, der gezeigt hat, dass er das Potential besitzt, bisherige Geschäftsmodelle zu zerstören. 

    Neue Marktstrukturen und neue Wettbewerber

    In der Debatte um die Digitalisierung in der Suchthilfe scheint mir ein Aspekt viel zu kurz zu kommen: der mit der Digitalisierung einhergehende Wandel der Marktstrukturen.

    Digitale Plattformen sind das zentrale Geschäftsmodell der digitalen Ökonomie. Das Grundprinzip der „digital matching“-Unternehmen ist einfach: Sie bieten selbst keine Waren an, sondern nur eine digitale Vermittlungsplattform für die einfache Abwicklung von Transaktionen. Damit schieben sie sich zwischen Anbieter und Kunden (Nutzer). Vor allem für die Endkunden ist das praktisch. Sie finden alle Angebote an einer Stelle, können Preise oder Funktionen vergleichen und sofort ordern. Kleineren Anbietern bieten Plattformen die Möglichkeit, ihre Angebote ‚der ganzen Welt‘ bekannt zu machen und anzubieten, ohne allzu große Investitionen, z. B. in Immobilien, tätigen zu müssen.

    Digitale Plattformen werden aber nicht nur von großen internationalen Firmen wie Amazon, Uber oder Booking.com betrieben. Für fast jede Branche gibt es inzwischen diese Geschäftsmodelle. Egal, ob solche Plattformen regional, national oder international agieren, immer gilt, dass die Plattformbetreiber selbst keinerlei Qualifikationen bezüglich der angebotenen Güter oder Dienstleistungen besitzen.

    Mit Pflegedienstleistungen ist die Plattformökonomie bereits in einem Segment des psychosozialen Arbeitsfeldes zu finden. Das „Uber-Prinzip“ in der Pflege bedeutet: Über eine Plattform bieten Menschen mit unterschiedlichstem Erfahrungs- und Ausbildungsgrad Dienstleistungen in den Bereichen Begleitung, Betreuung und Pflege für kürzere oder längere Dauer an. In manchen Modellen arbeiten die Menschen auf selbständiger Basis, in anderen als Angestellte des Plattformunternehmens. Gesellschaftlich entscheidend ist, was dabei mit dem Gesamtsystem der Begleitung, Betreuung und Pflege passiert – mit seiner Stabilität, Fachlichkeit und Qualität.

    Was bedeutet das übertragen auf Suchthilfe und Suchtprävention?

    SCENARIO 1: Digitale Hilfe und digitale Vermittlung von Hilfe

    „Die neuen Technologien … verändern vorhandene … oder gestalten neue Hilfeprozesse [und] ermöglichen damit die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle“. (Kreidenweis 2017, S. 164)

    Verbraucher kennen und schätzen das Konzept der digitalen Plattformen und übertragen ihre Erwartungen an den Angebotsservice auch auf andere (non-profit) Dienstleistungsbereiche. Die Anforderungen und Ansprüche von Kundenseite an die Anbieter von psychosozialen Dienstleistungen werden also wachsen (z. B. 24 Stunden 7 Tage die Woche erreichbar sein). Die Legalqualifikation der Anbieter (Hochschulabschlüsse der Mitarbeiter plus Zusatzqualifikationen, lange Felderfahrung des Trägers) wird bei der Suche nach Informationen und Unterstützung nicht mehr so stark im Vordergrund stehen.

    Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dieses Monopol resultiert neben historischen und gesetzlichen Gründen auch daraus, dass man mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld verdienen kann. Sollte dies durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreichen Fin Techs in der Finanzwirtschaft) und die zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen könnten. (Fachfremde) Anbieter könnten sich als Dienstleister gemäß den heutigen Kunden(Klienten-)anforderungen entwickeln und mit digitalen Services Menschen in schwierigen Lebenslagen oder schambesetzten Situationen einfach, bequem und rund um die Uhr Unterstützung zukommen lassen. Oder aber sie könnten auch ‚nur‘ eine Plattform für entsprechende Anbieter ins Leben rufen. Diese Plattform könnte z. B. folgende Services anbieten:

    • Ein mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestatteter Chatbot gibt 7 Tage rund um die Uhr Antworten auf die wichtigsten, immer wiederkehrenden Fragen.
    • 24h lang Direktvermittlung zu spezialisierten Rechtsanwälten
    • Abklärung, ob ein Anspruch auf medizinische Reha besteht, plus anschließende komplette Abwicklung und Betreuung der Formalitäten inkl. Buchung eines entsprechenden Rehaplatzes
    • Chat mit fachkundiger Person von 8 bis 20 Uhr jeden Tag
    • schnelle Terminvermittlung in ortsnahe Suchthilfeeinrichtung
    • Online-/Teleberatung, Online-/Teletherapie

     SCENARIO 2: Matching und Online-Direktvermittlung zur Fachkraft

    Die Mieten in den Innenstädten haben inzwischen schwindelerregende Höhen erreicht. Die Mietkosten nehmen bei öffentlichen Einrichtungen einen immer größer werdenden Anteil an den Gesamtbudgets ein. Die Kommunen als Leistungsträger sind nicht mehr bereit, Räume zu finanzieren, die nur acht bis zehn Stunden am Tag genutzt werden. Zudem hat sich eine neue Generation von Fachkräften auch im psychosozialen Bereich etabliert, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte. Der herrschende Fachkräftemangel stärkt ihre Position bei der Durchsetzung dieser Vorstellungen gegenüber potentiellen Arbeitgebern.

    Vor dieser Ausgangslange entwirft Horst Bossong (2018) folgendes Scenario: „Die Spezialisierung psychosozialer Einrichtungen wie Schuldnerberatung, Suchtberatung, Erziehungsberatung etc. könnten auf einer gemeinsamen digitalen Plattform zusammengefasst werden. Solche im virtuellen Raum etablierten Gemeinschaftspraxen könnten ihre von freien Mitarbeitenden angebotenen Dienstleistungen just in time anbieten.

    Die Anmeldung samt Anamnese erfolgt über ein Online-Tool. Ein Algorithmus matcht den Hilfesuchenden mit einer passgenau qualifizierten Fachkraft für eine (standardisiert festgelegte) Menge an Beratungsstunden. Sie erbringt die Beratung, Betreuung und Therapievermittlung sodann in ‚hybrider‘ Form, d. h. ohne festes Büro, sondern in je nach Einzelfall verabredeten variablen Formaten, etwa virtuell oder auch an einem physischen Orten zu einem dem Klienten passenden Zeitpunkt.“ 

    SCENARIO 3: Ein Handlungsfeld für große Player

    Die Mediangruppe ist ein privat geführter Klinikträger mit 120 Einrichtungen und 15.000 Mitarbeitern. Mit 18.000 Betten und Behandlungsplätzen werden pro Jahr etwa 230.000 Patienten versorgt. Die Mediangruppe ist auch in der medizinischen Rehabilitation für suchtkranke Menschen aktiv. Dieser große Player in der Sucht-Reha hat die Digitalisierung zur Chefsache erklärt und im April 2018 einen neuen Chief Development Officer (CDO) eingestellt, der sich auf Geschäftsführungsebene gezielt der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens widmet. In einer Pressemitteilung gab Dr. André M. Schmidt, CEO bei Median, bekannt, dass das Unternehmen im Bereich Digitalisierung eine Vorreiter-Position anstrebt (Pressemeldung, 04.04.2018). Dies als Beispiel für einen ‚Großen‘, der sich schon massiv auf den Weg gemacht hat.

    Nur durch das Bewusstmachen solcher Szenarien wird der notwendige Handlungsdruck deutlich. Ihm muss die aktive Auseinandersetzung folgen, um wünschenswerte Entwicklungen zu fördern und Entwicklungsrisiken frühzeitig begegnen zu können. 

    Suchthilfe muss handeln, warum?

    Das Suchthilfesystem in Deutschland zeichnet sich durch differenzierte Leistungserbringer aus, die ein breit gefächertes Angebot für Betroffene und deren Angehörige bereithalten. Diese Angebote weisen heute hohe Standards und qualitätssichernde Begleitmaßnahmen auf. Wenn die Vielfalt der Leistungserbringer und eine nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Trägerlandschaft auch zukünftig die Maximen im Bereich der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung darstellen sollen, muss sowohl die Suchthilfe handeln als auch die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen sicherstellen.

    Dieses Handeln seitens der Suchthilfeträger muss bereits zu einer Zeit passieren, in der das Bestehende noch sehr gut läuft. Und das fällt schwer. Denn so lange es gut läuft, versuchen alle Beteiligten, das Bestehende möglichst zu bewahren. Es wäre allerdings fatal, wenn sich die Suchthilfe im Heute verkämpft und dadurch den realistischen Blick auf morgen vernachlässigt. 

    Die Notwendigkeit digitaler Strategien

    Aber es gibt noch eine andere Gefahr: Die Suchthilfe darf sich bei dem Thema Digitalisierung nicht in zu vielen Einzelprojekten verlieren. Letztlich ist die Digitalisierung eine strategisch-strukturelle Aufgabe. Man kann nicht einfach kleine Einzelprojekte aneinanderreihen und denken, das reiche. Um ein gutes Gesamtergebnis zu erzielen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, braucht es dringend ein Gesamtkonzept – eine Digitalisierungstrategie sowohl für den einzelnen Suchthilfeträger als auch für das Suchthilfesystem als Ganzes. Zur Entwicklung dieser Strategien sind die bisherigen Konzepte nur bedingt tauglich. Es müssen völlig neue Formate und Kooperationen entwickelt werden.

    Der Prozess der digitalen Transformation erfordert enorme Ressourcen. Einzelne kleine wie auch große Einrichtungen sind personell und finanziell überfordert, so dass träger- und verbandsübergreifendes Handeln unumgänglich erscheint, will man die Digitalisierung mitgestalten und nicht nur Zuschauer sein. Dazu müssen sowohl die Träger als auch das System Suchthilfe Strategien entwickeln, wie sie den digitalen Wandel bewältigen wollen. Aktuell scheinen mir diese Strategien zu fehlen, gleichwohl werden digitale Produkte wie Apps oder Online-Beratungsmöglichkeiten bereits umgesetzt bzw. geplant.

    Um Nachhaltigkeit zu erreichen und Fehlinvestitionen zu vermeiden, lassen sich die Umsetzungsschritte einer Strategie zur Bewältigung des digitalen Wandels wie in Abb. 1 gezeigt skizzieren:

    Abb. 1

    Trägerinterne Strategieentwicklung

    Mit Unterstützung externer Expertise aus dem Bereich der Organisationsentwicklung sollten trägerintern im Rahmen einer Strategieentwicklung folgende Fragestellungen geklärt und folgende Arbeitsschritte abgearbeitet werden (s. Abb. 2):

    Abb. 2

    Lösungen entwickeln in „Future Labs“

    Auch wenn die Suchthilfe träger- und verbandsübergreifend agiert, kann sie den anstehenden Wandel nicht alleine bewältigen. Politik muss sie dabei unterstützen. Politik kann aber auch erwarten, dass Lösungen überregional und trägerübergreifend gesucht werden, z. B. in „Entwicklungslabors“ oder „Future Labs“. In solchen Future Labs finden sich Mitarbeitende unterschiedlicher Fachbereiche, externe Expert/innen (z. B. aus Hochschulen, der Start-up-Szene) und Mitarbeitende anderer Organisationen zusammen (s. Abb. 3). Diese Innovationsnetzwerke arbeiten an neuen Konzepten, Services und Geschäftsmodellen, die sie als Empfehlungen und Orientierungen dem Suchthilfesystem zur Verfügung stellen. Aber auch Fragestellungen zum Datenschutz und ethischen Dimensionen der Digitalisierung in der Suchthilfe könnten, ressourcenschonend, zentral diskutiert und die Ergebnisse z. B. über Handreichungen oder Webinare kostengünstig in die Fläche gebracht werden.

    Abb. 3

    Zur Einleitung einer solchen Entwicklung könnten in einem nationalen Future Lab „Suchthilfe“ mit externer multiprofessioneller Expertise folgende Fragestellungen bearbeitet werden (s. Abb. 4):

    Abb. 4

    Aktueller Stand und Ausblick

    In den letzten Monaten sind im Bereich der Suchthilfe vielfältige Entwicklungen und Fortschritte zu konstatieren, die die aufgezeigte Richtung unterstützen:

    • Im Januar 2019 haben die Wohlfahrtsverbände, das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland und der Bundesverband Deutscher Startups ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht (https://www.social-startups.de/wohlfahrtsverbaende/). Darin ist vereinbart, dass sich diese Organisationen stärker austauschen und zusammenarbeiten wollen, um effektiver zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen beizutragen und innovative Lösungen zu entwickeln. Die Verbände fordern in ihrem Positionspapier, dass bei der staatlichen Förderung mehr Priorität und Mittel für gemeinsame Begegnungs- und Experimentierräume sowie für die Verbreitung von erfolgreichen innovativen Projekten bereitgestellt werden. Nötig sind Förderprogramme, die den speziellen Bedürfnissen sozialer Innovationen gerecht werden, damit diese entwickelt und realisiert werden und schließlich den Menschen und der Gesellschaft dienen können.
    • Des Weiteren startete im April die Hessische Landesstelle für Suchtfragen ihr vom Bundesgesundheitsministerium finanziertes bundesweites Modellprojekt „Digitale Lotsen in der Suchthilfe“.

    Angesichts der anstehenden Herausforderungen beim digitalen Wandel ist es unabdingbar, dass zum einen die Verbände eine koordinierende und strukturierende Funktion einnehmen und zum anderen die Politik Unterstützung bietet. Ein Vorhaben von einer solchen Dimension bedarf unbedingt vorheriger strategischer Überlegungen auf Trägerebene, aber auch auf der Ebene des Systems, damit die entwickelten Instrumente und das fachliche Vorgehen die Ziele erreichen, die vorher definiert wurden. Solche Ziele, die sowohl einer Verbesserung der Versorgung als auch der Weiterentwicklung des Suchthilfesystems dienen, könnten z. B. sein:

    • dem Fachkräftemangel begegnen: Technische Assistenzsysteme können vorhandene Mitarbeitende von Routineaufgaben entlasten.
    • den demographischen Wandel gestalten: Mit Teleangeboten kann Immobilität begegnet werden (auch in strukturschwachen ländlichen Regionen).
    • eine bessere Klientenzentrierung/-versorgung erreichen: Technische Assistenzsysteme ermöglichen eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme mit dem Hilfesystem und erschließen damit neue Zielgruppen.
    • die Attraktivität der Angebote für Klienten erhalten: Zielgruppengemäß offeriert entsprechen die Möglichkeiten technischer Assistenzsysteme dem geänderten Dienstleistungsanspruch der Klientel.
    • die Attraktivität des Arbeitsfeldes Suchthilfe erhalten bzw. steigern: Als möglicher Arbeitsplatz steht die Suchthilfe im Wettbewerb mit anderen psychosozialen Arbeitsfeldern. Technische Assistenzsysteme und deren arbeitnehmerfreundliche Ausgestaltung (Homeoffice-Konzepte u. Ä.) können dazu beitragen, den Bedürfnissen der neuen Generation von Fachkräften, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte, entgegenzukommen.
    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    w.schmidt-rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Literatur:
  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Robert Meyer-Steinkamp

    Mit circa 50 Beschäftigten ist die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) eine relativ kleine Einrichtung, in der sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr regelmäßig begegnen und miteinander sprechen. Das Gespräch beinhaltet auch aktuelle Probleme und Belastungen aus dem Arbeitsalltag, für die wir, das Leitungsteam, versuchen, befriedigende Lösungen zu finden. Unabhängig von aktuellen Problemen sind wir bemüht, die Arbeitszusammenhänge für alle so zu gestalten, dass Belastung und Entlastung sich die Waage halten (z. B. durch Entscheidungsfreiräume, möglichst flexible Arbeitszeiten, Supervision, Entspannungsangebote usw.). Die Notwendigkeit einer Mitarbeiterbefragung war uns bis zum Auftauchen des Themas „Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen“ nicht in den Sinn gekommen. 

    Der Anstoß

    Im Rahmen einer Betriebsversammlung im Jahr 2012 startete der damalige Betriebsrat der TGJ unter den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unerwartet eine auf wenige Fragen begrenzte, anonyme Umfrage zur erlebten psychischen Belastung im Arbeitsalltag. Die Ergebnisse der noch während der Versammlung erfolgenden Auswertung waren nicht spektakulär, die Aktion brachte aber Bewegung in das bis dahin in der TGJ eher am Rande behandelte Thema.

    Historischer und theoretischer Hintergrund

    Das 1996 von der Bundesregierung verabschiedete Arbeitsschutzgesetz gab Impulse für einen systematischen Arbeitsschutz und trug den Arbeitgebern auf, regelhaft eine Gefährdungsbeurteilung bezüglich gesundheitlicher Risiken und Belastungen durch betriebliche Arbeitsbedingungen vorzunehmen. Wenn es aufgrund der Bewertung der so ermittelten Belastungen erforderlich erscheint, müssen geeignete Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Gesundheitsgefahren entwickelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

    Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist eine im Arbeitsschutzgesetz und im SGB VII verankerte Plattform von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern unter Einbezug der Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in beratender Funktion) zur Umsetzung des Arbeitsschutzes. Sie schlägt in ihren „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (2017a) ein wiederholt zu durchlaufendes prozesshaftes Vorgehen vor, das im Prinzip auch aus anderen Themenfeldern des Qualitätsmanagements bekannt ist. Angelehnt daran lässt sich folgendes Prozessmodell darstellen:

    Abb. 1: Prozessmodell zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

    Praxis in der TGJ

    In der TGJ wird die Aufgabe einer regelhaften Gefährdungsbeurteilung in Form einer jährlichen Arbeitsplatzbegehung durch das Zentrum für Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz (ZAG) erfüllt. Das ZAG übernimmt dabei die Rolle einer externen Fachkraft für Arbeitsschutz. Im Zuge der Begehung und der Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses (AsA) werden Belastungen ermittelt und beurteilt und daraus Maßnahmepläne entwickelt. Für deren Realisierung sind die Einrichtungsleitung und die intern für die Arbeitssicherheit verantwortlichen Mitarbeiter/innen zuständig. Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird während der Implementierung und spätestens mit der nächsten Begehung geprüft. Die nächste Begehung stellt auch die Fortschreibung des Prozesses dar, und es werden gegebenenfalls neue Belastungen ermittelt (usw.).

    Die psychischen Belastungen spielten bei diesem Vorgehen allerdings keine Rolle, da im Arbeitsschutzgesetz explizit als möglicherweise gefährdend nur ‚klassische‘ Belastungsfaktoren wie schwere körperliche Arbeit oder ungünstige Umgebungsbedingungen aufgelistet wurden. Diese haben allerdings zunehmend an Bedeutung gegenüber den psychischen Belastungen verloren. Für die Suchtkrankenhilfe darf man aus Sicht des Verfassers ohnehin von einer überproportionalen psychischen Belastung im Vergleich zu vielen anderen Tätigkeitsfeldern ausgehen. Der DAK-Gesundheitsreport 2018 nennt die psychischen Erkrankungen als zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und beschreibt einen rasanten Anstieg der Fehlzeiten aufgrund dieser Erkrankungen in der Zeit nach der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes.

    Abb. 2: Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den Arbeitsunfähigkeitstagen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018
    Abb. 3: Arbeitsunfähigkeitstage und Arbeitsunfähigkeitsfälle pro 100 Versichertenjahre aufgrund psychischer Erkrankungen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018

    Konsequenterweise hat der Gesetzgeber im Jahr 2013 die psychischen Belastungen in der Auflistung möglicher Risiken ausdrücklich ergänzt (§ 5, Abs. 3, Pkt. 6 ArbSchG). In vielen, vor allem kleineren und mittleren Betrieben, ähnlich wie in der TGJ, waren die psychischen Belastungen bis dahin kein Feld der systematischen Überprüfung.

    Zuständigkeiten

    Dem „Ratgeber zur Gefährdungsbeurteilung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA; 2016) folgend hat der Arbeitgeber die Verantwortung für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung und die Umsetzung der Ergebnisse. Die Vertretungen der Beschäftigten bzw. wenn solche Vertretungen nicht vorhanden sind, die Beschäftigten selbst, sind vom Arbeitgeber zu allen Maßnahmen, die Auswirkungen auf ihre Sicherheit und Gesundheit haben können (§§ 81, 82, 89 Betriebsverfassungsgesetz, §§14, 17 ArbSchG) zu hören, und sie sind berechtigt, Vorschläge zu diesen Themen zu machen.

    Drei gute Gründe für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die explizite Aufnahme der psychischen Belastungen in das Arbeitsschutzgesetz war im Weiteren förderlich, die Betriebsratsinitiative in der TGJ in Richtung einer eingehenderen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen voranzutreiben.

    Eichhorn und K. Schuller (2017) von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ordnen diese Pflichterfüllung des Arbeitgebers unter dem „normativ-gesetzlichen Motiv“ ein. Ein zweites, „humanistisch-mitarbeiterorientiertes“ Motiv war in der TGJ die grundsätzliche Haltung des Leitungsteams, dass die Arbeit im Hause bei allen Belastungen und Herausforderungen, die die Arbeit mit Suchtkranken mit sich bringt, auch erfüllend und befriedigend, nicht gesundheitsgefährdend und im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes menschengerecht sein soll. Das dritte, von Eichhorn und Schuller als „ökonomisch-instrumentell“ bezeichnete Motiv liegt in dem Wissen und der Erfahrung, dass zufriedene und gesunde Kolleg/innen nachhaltig die Leistungsfähigkeit der Einrichtung stärken.

    Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die Unfallversicherungsträger, d. h. die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, übernehmen im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) die Aufgabe, für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in den Betrieben zu sorgen, dies zu überwachen und die Unternehmer und Beschäftigten zu beraten. Sie bieten zur Orientierung unter anderem Seminare zum Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen an sowie Workshops zum Austausch mit anderen Einrichtungen, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigen. Die Teilnahme ist für Mitglieder der Unfallkasse in der Regel kostenfrei.

    Die Unfallkasse Nord war der für die TGJ zuständige Ansprechpartner zur ersten Orientierung für die praktische Umsetzung. Neben der Vermittlung des oben beschriebenen prozesshaften Vorgehens wurden folgende wesentliche Fragen aufgeworfen und später in der internen Diskussion beantwortet:

    Wie werden möglichst alle Kolleginnen und Kollegen beteiligt?

    Wir entschieden uns für die Gründung einer auf Dauer angelegten Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse, die je nach Bedarf tagt und alle Planungsschritte, Befragungsergebnisse und Maßnahmepläne diskutiert. Die AG setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die Vertreter der Arbeitsbereiche transportieren bei Bedarf Informationen aus der AG in ihr Team oder aus dem jeweiligen Team in die AG. Im Rahmen einer Betriebsversammlung kündigen Betriebsrat und Leitung gemeinsam die bevorstehende Mitarbeiterbefragung an. Das Procedere wird erläutert und die Anonymität der Befragung wiederholt zugesichert. Im Zuge dessen wird auch die praktische Umsetzung organisiert. Wenn nach der Befragung die Ergebnisse vorliegen, werden die Kolleginnen und Kollegen in einer weiteren Betriebsversammlung von Leitung und Betriebsrat über eine Auswahl der wesentlichen Ergebnisse informiert.

    Mit welcher Methode werden die Belastungen ermittelt?

    Im Wesentlichen lassen sich drei  Methoden anwenden:

    • Workshops mit externer Moderation zur Feststellung von Problemfeldern und zur Entwicklung diesbezüglicher Maßnahmepläne,
    • Beobachtung konkreter Arbeitsprozesse und damit verbundener Belastungen vor Ort durch externe Fachleute und Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen,
    • Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen und Ableitung von Maßnahmen aus den Befragungsergebnissen.

    Auch eine Kombination dieser Methoden ist möglich. Wir entschieden uns für die Fragebogenvariante und anschließende, auf den Befragungsergebnissen aufbauende Workshops. Fragebögen sahen wir als beste Möglichkeit, jedem Mitarbeiter die Möglichkeit der Teilnahme zu geben und relativ ökonomisch viele Informationen aus vielen Themenfeldern zu sammeln. Standardisierte Fragebögen mit Bewertungsskalen machen außerdem den Vergleich zwischen wiederholten Befragungen möglich, so dass man die Entwicklung von Problemfeldern im Vergleich zur letzten Befragung auch quantitativ darstellen kann. Beobachtungen und Workshops erscheinen in dieser Hinsicht schwierig.

    Bei der Auswahl des Fragebogens kam uns entgegen, dass ein befreundeter Träger bereits gute Erfahrungen mit dem Fragebogen zur Mitarbeiterzufriedenheit des Picker Instituts gesammelt hatte. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS (https://www.bqs.de/leistungen/picker-befragungen) übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist hier im Weiteren durchgängig von Picker die Rede.) Der Fragebogen war wissenschaftlich evaluiert, im Einsatz in Krankenhäusern erprobt und konnte auf die Bedarfe der Suchthilfe noch in begrenztem Maß zugeschnitten werden. Eine Reihe anderer Instrumente (z. B. Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse KFZA oder „Instrumente und Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (GDA 2017b)) entsprach nicht unseren Vorstellungen.

    Die Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie e.V. (deQus) und das Picker Institut trafen eine Rahmenvereinbarung zur Durchführung von Mitarbeiterbefragungen für Mitglieder der deQus, da das Interesse an dem Fragebogen vermehrt auftauchte. Inzwischen nutzen acht Träger unter dem Dach der deQus den Fragebogen und die Rahmenvereinbarung, so dass, ergänzend zu einrichtungsinternen Ergebnisvergleichen von Befragung zu Befragung, ein Benchmark mit anderen Einrichtungen im Suchthilfesystem möglich ist.

    Die GDA (2017a) benennt Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielraum und soziale Beziehungen, insbesondere zu Vorgesetzten, sowie die Gestaltung der Arbeitsumgebungsbedingungen als branchen- und tätigkeitsübergreifend relevante Schlüsselfaktoren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Diese und andere Themen werden von den 102 Fragen des Picker-Bogens abgedeckt. Aus den Gesamtdaten aller bei Picker durchgeführten Mitarbeiterbefragungen in einem Zeitfenster von drei Jahren werden faktoranalytisch, jährlich aktualisiert, Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit errechnet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Wie werden die ermittelten Belastungen beurteilt?

    Die Prioritätenmatrix (aus dem Ergebnisbericht 2017 des Picker Instituts für die TGJ) veranschaulicht die Ergebnisse der Befragung auf der Ebene der Faktoren im groben Überblick (Abbildung 6). Auf der y-Achse ist die Einflussstärke der einzelnen Faktoren auf die Gesamtzufriedenheit abgetragen. Die Arbeitsbelastung hat den stärksten Einfluss, es folgt der direkte Vorgesetzte usw.

    Auf der x-Achse wird die Problemhäufigkeit in der eigenen Einrichtung als Prozentrang im Vergleich zu allen von Picker befragten Einrichtungen der Jahrgänge 2014 bis 2016 betrachtet. Der Faktor Arbeitsbelastung z. B. hat einen Prozentrang von ca. 5. Das bedeutet, dass 95 Prozent der anderen am Benchmark beteiligten Einrichtungen eine stärkere Problembelastung in diesem Faktor haben als die TGJ. Je weiter links der Prozentrang liegt, desto unproblematischer ist der jeweilige Faktor.

    Abb. 6: Prioritätenmatrix

    Bei 13 möglichen Faktoren werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der TGJ überhaupt nur sieben als in geringem Umfang problematisch benannt. Allerdings sind die anderen von Picker befragten Einrichtungen, mit denen der Vergleich stattfindet, in der Regel Krankenhäuser, die außerhalb des Suchthilfesystems tätig sind. Die Vergleichsberichte zeigen in allen Faktoren eine deutlich stärkere Problembelastung in den Einrichtungen außerhalb der Suchthilfe. Beispielhaft lässt sich das am Faktor Arbeitsbelastung zeigen (Abbildung 7).

    Abb. 7: Faktor Arbeitsbelastung: Vergleich der TGJ mit anderen von Picker befragten Einrichtungen

    Im Jahr 2017 haben insgesamt 15 Prozent der Kolleg/innen in der TGJ die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. Das war eine Reduktion um drei Prozent im Vergleich zu 2014. In den Suchthilfeeinrichtungen unter dem Dach der deQus haben im Mittel 32 Prozent der Mitarbeiter/innen die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. In allen anderen von Picker befragten Häusern waren es im Mittel 43 Prozent Problemhäufigkeit in diesem Faktor. Diese Vergleichsdarstellung gibt es für alle Faktoren und Einzelfragen. Auch Arbeitsbereiche bzw. Berufsgruppen innerhalb der eigenen Institution können hinsichtlich der Problemhäufigkeit miteinander verglichen werden.

    15 Prozent Problemhäufigkeit in der Arbeitsbelastung bleibt auch bei dieser Betrachtung ein vergleichsweise gutes Ergebnis. Bei der Diskussion in der AG Gefährdungsanalyse der TGJ wendet der Betriebsrat, seiner Aufgabe entsprechend, jedoch ein, dass der Vergleich mit anderen nicht so entscheidend sei. Eine Verbesserung um drei Prozent zur vorherigen Befragung sei schön, aber auch nicht wirklich bemerkenswert, und eine 15-prozentige Problemhäufigkeit sei auf jeden Fall ein Anlass, genauer zu prüfen. Dem können wir auch aus Leitungssicht zustimmen.

    Hinter den genannten Faktoren, so auch bei der Arbeitsbelastung, stehen thematisch passende Einzelfragen (Abbildung 8), deren Einzelergebnisse im Wert des Faktors verrechnet sind. Ein Beispiel aus dem Picker Ergebnisbericht 2017 für die TGJ:

    Abb. 8: Einzelfrage zum Faktor Arbeitsbelastung

    Zum Faktor Arbeitsbelastung gehören sechs weitere Einzelfragen, deren Betrachtung genauer verstehen lässt, was die Arbeitsbelastung ausmacht. Hier spielen vor allem längerfristige Personalausfälle und entsprechende Vertretungen sowie häufige Störungen in Arbeitsprozessen eine Rolle. Die Diskussion in der AG ergab, dass die Personalausfälle kaum besser hätten kompensiert werden können als bereits geschehen. Hinsichtlich der Arbeitsunterbrechungen können aber Verbesserungsmaßnahmen entwickelt werden.

    In der Gesamtbetrachtung einigten wir uns in der AG Gefährdungsanalyse auf die Einschätzung, dass

    • stark negative Unterschiede zu Vergleichseinrichtungen der Suchthilfe,
    • stark negative Veränderungen zu vorhergehenden hauseigenen Befragungen,
    • Problemhäufigkeiten von über zehn Prozent auf Faktoren-, Arbeitsbereich- oder Einzelfragenebene

    Anlass zu genauerer Betrachtung und das Gegenteil davon Anlass zu – mindestens stiller – Freude sein sollen.

    Die gesamten Ergebnisse der Befragung werden der Leitung, dem Betriebsrat und den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse als vertrauliche Unterlagen zur Verfügung gestellt. Auch die externen Moderatorinnen der im weiteren Verlauf vorgesehenen Workshops erhalten die Daten als Hintergrundinformation und sind bei der Präsentation ausgewählter Ergebnisse für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwesend.

    Die 102 Fragen des Bogens mit vorgegebenen Antwortkategorien lassen nur den Blick auf einen – wenn auch mit wissenschaftlicher Methodik gewählten – Teil des Erlebens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu. Die ebenfalls im Bogen enthaltenen offenen Fragen sind eine gute Ergänzung:

    • Wenn Sie in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz etwas verändern oder sich etwas wünschen könnten, was wäre es?
    • Was gefällt Ihnen in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz besonders gut?

    Positive und negative Kritiken halten sich in den Freitexteingaben die Waage. Auch die Freitexte gehen an den schon genannten Personenkreis und werden in der AG Gefährdungsanalyse diskutiert.

    Kosten

    Die Kosten für die Mitarbeiterbefragung per Fragebogen beliefen sich für die TGJ im Jahr 2017 auf ca. 1.200 Euro. Für diesen Betrag wurden die Fragebögen gedruckt, die an das Institut zurückgesandten Fragebögen statistisch ausgewertet und die Ergebnisse als PDF-Datei und in Excel der TGJ zugesandt. Man kann wahlweise noch mehr Leistungen des Anbieters in Anspruch nehmen. Die Kosten für die weiteren, im Folgenden noch zu beschreibenden Schritte der Gefährdungsanalyse kommen am Ende hinzu.

    Zwischenbilanz

    Damit ist die erste Phase der Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen in der TGJ, mit weitestgehend quantitativer Methodik, abgeschlossen. Die Gründung der AG Gefährdungsanalyse, die intensive Auseinandersetzung und das gelegentlich etwas zähe Ringen um die richtigen Vorgehensweisen und Instrumente haben sich bis hierhin deutlich bezahlt gemacht. Wir konnten ein gemeinsames Interesse an der Befragung vermitteln und zu einer ausgesprochen hohen Teilnahme motivieren. Die Rücklaufquote der Fragebögen lag 2014 bei ungewöhnlichen 90,2 Prozent, 2017 bei immer noch guten 70 Prozent. Die Ergebnisse waren insgesamt sehr gut, boten aber auch Ansatzpunkte für eine über die reinen Zahlen hinausgehende Analyse in den sich trotzdem abzeichnenden Problemfeldern. Die Betriebsversammlung zur Vermittlung der Befragungsergebnisse in die Mitarbeiterschaft diente gleichzeitig auch der Motivation zur Teilnahme an den nachfolgend geplanten Workshops. Diese sollten die Möglichkeit eröffnen, die durch die Befragung nicht abgebildeten Problematiken zu ergänzen, eine Beurteilung der gesamten bisherigen Ergebnisse vorzunehmen und Maßnahmevorschläge zu erarbeiten. Über den weiteren Verlauf berichtet Teil 2 des Artikels.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur: