Schlagwort: Politik

  • Wie sind die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden?

    Wie sind die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden?

    Dr. Ingo Ilja Michels
    Prof. Dr. Heino Stöver ©B. Bieber Frankfurt UAS

    Einleitung

    Nach dem Bruch der Ampelregierung im November 2024 und vor den Neuwahlen am 23. Februar 2025 ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen: Wie sind die Koalitionsvereinbarungen zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden? Was ist erreicht worden, was nicht und warum nicht? Abschließend geht es in diesem Beitrag auch darum, was eine zukünftige Regierung zu beachten hat.

    Die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik konzentrierten sich auf die folgenden Zielsetzungen:

    „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen. Modelle zum Drugchecking und Maßnahmen der Schadensminderung ermöglichen und bauen wir aus.

    Bei der Alkohol- und Nikotinprävention setzen wir auf verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen. Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis. Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus.“

    (Koalitionsvertrag 2021-2025 „Mehr Fortschritt wagen“ vom 7. Dezember 2021, S. 68)

    Die intendierten Maßnahmen in Bezug auf illegale Drogen stützen sich auf viele internationale und nationale Vorschläge zur Aufhebung der Drogenprohibition, insbesondere am Beispiel Cannabis. Viele Staaten bewerten mittlerweile die politische Fokussierung auf das polizeilich umzusetzende Drogenverbot als nicht mehr zeitgemäß – und vor allem nicht effektiv und effizient – und haben Neuregulierungen geschaffen. Dies hat zu einer Erosion des internationalen Drogenverbots (Barop 2023) mit vielen nationalen Sonderregelungen jenseits der internationalen Suchtstoffkontrollübereinkommen geführt (EMCDDA 2002/2023; FES 2015; akzept 2022).

    Auch in Deutschland bestand eine langjährige Opposition gegenüber Drogenverboten, besonders gegenüber dem Verbot von Cannabis. Vor dem Hintergrund, dass der Cannabiskonsum in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, haben alle Parteien im Bundestag (bis auf die Fraktionen CDU/CSU und AfD) seit einigen Jahren drogenpolitische Veränderungen in Richtung Entkriminalisierung und sogar Legalisierung gefordert (Stöver/Michels 2024). Als schließlich die SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im November 2021 die Regierungsverantwortung übernahmen, haben sie im Koalitionsvertrag eine Legalisierung im Umgang mit Cannabis beschlossen.

    Der bloße Konsum von Betäubungsmitteln ist in Deutschland nicht strafbewehrt; strafbar sind jedoch der Erwerb und der Besitz von Drogen, die der Konsumhandlung in der Regel vorausgehen. Der Gesetzgeber hat nun auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen zwar Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) herausgenommen (allerdings nur bis zu einer Menge von 25 Gramm bzw. 50 Gramm zum Eigenkonsum), aber alle anderen psychoaktiven Substanzen, die in den internationalen Suchtstoffabkommen als „gesundheitsgefährdend“ und „therapeutisch ohne Nutzen“ eingestuft werden, unterliegen weiterhin dem BtMG oder sind nur in sehr wenigen und streng kontrollierten Fällen zu wissenschaftlichen Zwecken erlaubt (wie etwa neuerdings einige Psychedelika). Diese Gefährlichkeitseinschätzung hat nichts mit wissenschaftlicher Evidenz zu tun (vgl. hierzu neuere Forschungen zur Risikoabschätzung von psychoaktiven Substanzen; Nutt et al. 2010; Bonnet et al. 2021 und 2022).

    Eine künftige Reform der Drogenpolitik muss sich also gerade auf die Menschen fokussieren, die andere verbotene Substanzen als Cannabis konsumieren. Bei ihnen sind die gesundheitlichen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen der Prohibition besonders deutlich. Das Verbot der Drogen schädigt die Menschen mehr als der Konsum der Drogen selbst. Wir konstatieren ein Problem der Drogenpolitik und nicht des Drogenkonsums an sich. Wenn auch in den letzten Jahren vermehrt der Blick auf das Schädigungspotenzial der prohibitiven Drogenpolitik gerichtet worden ist, so ist dieser zumeist nur angewendet worden auf Cannabis – u. a., weil die Zahl der Cannabiskonsumierenden mittlerweile eine Rekordhöhe erreicht hat und Cannabiskonsum aus unserer Kultur nicht mehr wegzudenken ist. Aus unserer Sicht brauchen Heroin-, Kokain- und Crackkonsumierende ebenfalls einen Rahmen, der ihnen keine weiteren Probleme außerhalb des Drogenkonsums selbst bringt.

    Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen – was ist erreicht worden?

    1. Kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften

    Das Konsumcannabisgesetz wurde am 21. Februar 2024 im federführenden Gesundheitsausschuss beraten und mehrheitlich verabschiedet. Es wurde dann vom Plenum mit Mehrheit der Ampelkoalition am 23. Februar 2024 beschlossen und trat am 1. April 2024 in Kraft. Seit dem 1. Juli 2024 können Anbauvereinigungen gegründet werden. Damit sind der Eigenanbau von Cannabis und die Cannabisabgabe über Anbauvereinigungen legalisiert worden, der Besitz von 25 Gramm in der Öffentlichkeit und von 50 Gramm zuhause ist straffrei gestellt worden. Noch wissen wir nicht, wie die Umsetzung gegen z. T. massive Widerstände von Ländern und den Oppositionsparteien im Bundestag, aber auch nach wie vor von Ärzte- und Richterverbänden, von Staatsanwaltschaften und selbst von Kleingartenverbänden, gelingt.

    In der Anfangsphase der Koalition beabsichtigte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Cannabislegalisierung (Abgabe in lizenzierten Fachgeschäften etc.; BMG 2022). Nachdem dies aus europarechtlichen Gründen nicht möglich schien, hat man das ursprüngliche Gesetzesvorhaben in zwei „Säulen“ aufgeteilt, wovon nur die „Säule 1“, also die Abgabe über Anbauvereinigungen bzw. Eigenanbau, übriggeblieben ist. Die „Säule 2“ sah vor, dass Cannabis in Modellprojekten in lizenzierten Fachgeschäften abgegeben werden sollte – dies wurde jedoch nicht umgesetzt.

    Die wissenschaftlich begleitete Abgabe von Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften ist jetzt über eine Verordnung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft möglich geworden (Konsumcannabis-Wissenschafts-Zuständigkeitsverordnung, KCanWV, vom 10. Dezember 2024). Die Verordnung, die der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), im Dezember 2024 unterzeichnet hat, regelt, dass die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) künftig als Behörde Forschungsanträge im Bereich Konsumcannabis und Nutzhanf prüfen und genehmigen wird.

    Wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen können Anträge für entsprechende Projekte bei der BLE einreichen – und haben dies bereits getan (Stand: 28.01.2025). Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL 2024) teilte ausdrücklich mit, dass die nun erlassene KCanWV der BLE ermöglicht, im Zusammenhang mit Cannabis stehende Forschungsanträge zu prüfen und die genehmigten Projekte zu überwachen. Zuvor lag diese Aufgabe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Das BfArM bleibt laut BEL zuständige Behörde für Forschung mit medizinischem Cannabis.

    Forschung an und mit Konsumcannabis ist ab jetzt wieder möglich, aber erlaubnispflichtig, teilte das Ministerium mit. Forschungsanträge über einen fünfjährigen Zeitraum sind bereits eingereicht worden aus Frankfurt (geplant: vier Fachgeschäfte) und Hannover (geplant: drei Fachgeschäfte) (siehe Institut für Suchtforschung ISFF). Bremen, Berlin u. a. bereiten dies vor.

    Auch wenn diese Anträge durch die BEL genehmigt werden, ist eine weitere Reform in Bezug auf Cannabis vor der Beendigung dieser fünfjährig geplanten Forschungsprojekte nicht zu erwarten. Im Gegenteil: CDU und CSU haben in ihr Wahlprogramm aufgenommen, das Konsumcannabisgesetz der Ampelkoalition wieder abzuschaffen (vgl. Süddeutsche Zeitung, 29.12.2024) – was dann aus den möglicherweise schon eingerichteten lizenzierten Fachgeschäften wird, bleibt unklar.

    Fazit: Das Koalitionsvorhaben, Cannabis in lizenzierten Geschäften zu Genusszwecken an Erwachsene abzugeben, ist nur unzureichend umgesetzt worden. Geblieben sind – bis jetzt – die Legalisierung des Eigenanbaus und die Abgabe innerhalb von Anbauvereinigungen. Weitere Reformschritte sind in weite Ferne gerückt. Trotzdem muss die Cannabis-Teillegalisierung als erster, aber sehr wichtiger Schritt zur Entkriminalisierung des Konsums, Erwerbs und Besitzes von psychoaktiven Substanzen gesehen werden (Michels, Stöver 2024).

    Eine dringend notwendige grundsätzliche Reform der Prohibitionslogik im Umgang mit psychoaktiven Substanzen war nicht beabsichtigt und wird von den Verbänden der Drogenhilfe weiter eingefordert werden müssen.

    2. Modelle zum Drug-Checking und Maßnahmen der Schadensminderung sollen ermöglicht und ausgebaut werden

    Länder wie die Niederlande, Schweiz u. a. zeigen es: Die diskrete Analyse von Drogensubstanzen auf gefährliche Zusammensetzungen hin kann helfen, die Risiken des Drogenkonsums deutlich zu verringern. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (seit Juli 2024 „Europäische Drogenagentur“ bzw. „European Drug Agency“, EUDA) empfiehlt deshalb die Umsetzung solcher Analysemöglichkeiten – diskret, anonym und effektiv – zum Schutz der Konsument:innen. Am 19. Juli 2023 wurde mit der Implementierung des § 10b in das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ein bundesgesetzlicher Rahmen für die Umsetzung von Drug-Checking für alle Bundesländer geschaffen.

    Wie bei der Legalisierung von Drogenkonsumräumen müssen die Bundesländer für die Umsetzung von Drug-Checking Rechtsverordnungen erlassen, und dies ist bis Januar 2025 nur in einem Bundesland passiert, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport, Pressemitteilung vom 04.06.2024). Der Stadtstaat Berlin und das Bundesland Thüringen haben bereits vorher Modellprojekte zum Drug-Checking gestartet, unabhängig von den Initiativen auf Bundesebene (vgl. Fonfara et al. 2024; Hirschfeld et al. 2024). Flächendeckend sollten von öffentlichen Stellen, z. B. von Gesundheitsämtern, Apotheken oder Landschaftsverbänden, Angebote zur Qualitäts- und Risikokontrolle von Drogensubstanzen geschaffen werden, deren Ergebnisse von Drogengebraucher:innen eingesehen werden können (Verbraucherschutz).

    Die Ergebnisse der Modellprojekte in Thüringen und Berlin sind positiv. Die Evaluation des Berliner Projekts hält fest: „Die Ergebnisse zeigen, dass das Berliner Drug-Checking-Modellprojekt effektiv dazu beiträgt, Gesundheitsrisiken zu reduzieren und einen bewussteren Umgang mit psychoaktiven Substanzen zu fördern. Die hohen Akzeptanzwerte und die positiven Wirkungseffekte unterstreichen die Wirksamkeit des Angebots.“ (Evaluationsbericht 2024)

    Mit der Implementierung des neuen § 10b des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) eröffnet der Gesetzgeber den Bundesländern nicht nur die Möglichkeit, sondern verpflichtet sie auch dazu, Drug-Checking-Angebote rechtlich abzusichern und zu fördern. Es ist nun an den Landesregierungen, ihrer gesetzlichen Pflicht nachzukommen. Die Wirksamkeit von Drug-Checking zur Vorbeugung von konsumassoziierten Gefahren ist belegt und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind geschaffen. Jetzt ist es an der Zeit, diese Möglichkeit zu nutzen und die Gesundheit und Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt zu stellen. Die Implementierung von Drug-Checking ist nicht nur ein rechtlicher Imperativ, sondern auch ein Ausdruck eines modernen, humanen und evidenzbasierten Ansatzes in der Drogenpolitik (Hirschfeld et al. 2024).

    Als weiteren Schritt zur Schadensminimierung lässt sich noch die Bundesförderung der Take-Home-Naloxonvergabe einordnen. Zur Bewältigung des opioidbedingten Drogennotfalls (Überdosis) und zur Senkung der Mortalität unter Opioidkonsument:innen soll Naloxon, ein bewährtes Mittel zur Behandlung des Drogennotfalls, flächendeckend als Take-Home- Rezept verfügbar gemacht werden – für Menschen mit riskantem Opiatkonsum. Das BMG-geförderte bundesweite Modellprojekt NALtrain (https://www.naloxontraining.de/) hat dazu Materialien erstellt, Trainings organisiert etc. Tatsächlich gibt es aber nach wie vor keine flächendeckende Versorgung mit Naloxon, wobei eine große Hürde die Verschreibungspflicht und die mangelnde Kooperation mit Ärztinnen und Ärzten darstellt (Fleißner et al. 2024; Fleißer, Stöver, Schäffer 2023; Wodarz 2024).

    Darüber hinaus setzte sich der Drogenbeauftragte der Bundesregierung für die medikamentengestützte Behandlung Opioidabhängiger ein. Allerdings bleiben die Erfolge begrenzt. Weiterhin bleibt es bei einer großen Abnahme der Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überhaupt eine solche Behandlung anbieten.

    Der Drogenbeauftragte hat weitere Missstände der Drogenpolitik aufgezeigt und Verbesserungen angeregt, z. B.:

    • Forderung „Weg mit dem Begleiteten Trinken!“
    • Diskussion um die Heraufsetzung des Zugangs zu Alkohol auf 18 Jahre
    • Regulierung der Zugänglichkeit zu Lachgaskartuschen
    • Diskussion um den Einbezug einer schadensminimierenden Strategie in die Tabakkontrollpolitik
    • Umgang mit Crack-Konsumierenden
    • und vieles mehr

    Gesetzliche Veränderungen, strukturelle Verbesserungen, v. a. im Bereich der Schadensminimierung, sind daraus nicht erwachsen.

    3. Alkohol- und Nikotinprävention: verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen

    Tabak und Alkohol sind legal und in unserer Kultur verankert. Das Abhängigkeitspotenzial dieser Volksdrogen ist gleichwohl hoch und sie führen zu enormen gesundheitlichen und sozialen Schäden. Allein an den Folgen des Alkohols sterben pro Jahr etwa 74.000 Menschen, an den Folgen des Tabakkonsums 110.000. Beide Substanzen zählen zu den Hauptrisikofaktoren bei Krebs und anderen tödlichen Erkrankungen. Die volkswirtschaftlichen Schäden summieren sich auf Milliardensummen. Im Vergleich mit anderen Ländern tut Deutschland wenig, um die zerstörerischen Folgen für Individuen und Gesellschaft zu reduzieren. Im Gegenteil: Alkohol ist omnipräsent in der Gesellschaft. Bei der Zahl der Zigarettenautomaten – in anderen Ländern längst verschwunden – sind wir Weltmeister. 340.000 Automaten animieren im öffentlichen Raum zum Zigarettenkauf. Bei der Tabakkontrolle liegen wir laut Tabakatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) auf einem der letzten Plätze in Europa. Beim Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch sind wir auf den vorderen Rängen.

    Wir könnten Menschen Unterstützung anbieten, die das Rauchen einschränken oder Gesundheitsrisiken verringern möchten, ohne aufzuhören – mit Maßnahmen, die zu ihrem Lebensstil passen. So führt zum Beispiel nach aktuellen Studien die E-Zigarette bei einem Teil der Raucher:innen zur Verringerung oder Aufgabe des Tabakkonsums. Zugleich zieht sie kaum neue Konsumierende an, animiert also nicht zum Rauchen. In einem wissenschaftlich fundierten Diskussionsprozess gilt es nun, Chancen und Risiken der E-Zigarette abzuwägen, um dann klare Botschaften an (potenzielle) Konsumenten zu senden (Steimle, Grabski, Stöver 2024).

    Die Elefanten im Raum der Drogenpolitik und Drogenhilfe bleiben also Alkohol, Tabak und Medikamente. Für all diese Substanzen mit massiven Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit der Konsumierenden, ihrer Kinder und anderer Angehörige sowie ihres sozialen Umfeldes insgesamt hat die Ampelkoalition nicht einmal wichtige, evidenzbasierte Maßnahmen der Verhältnisprävention im Koalitionsvertrag formuliert, so weit weg ist man davon, die verursachten Gesundheitsprobleme zu adressieren – von den entstandenen volkswirtschaftlichen Schäden ganz zu schweigen!

    Spürbare Maßnahmen zur Verbesserung der Alkohol- und Nikotinprävention sind in der letzten Legislaturperiode nicht erfolgt.

    4. Verschärfung der Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis

    Auch zu dieser letzten Zielsetzung der Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung ist eigentlich nichts passiert. Das Gesundheitsministerium hat eine eigens beauftragte Studie zum Thema „Werbeverbot für Alkohol“ weder veröffentlicht, noch ist es deren Erkenntnissen gefolgt. Die Studie empfahl ein komplettes Werbeverbot (vgl. Manthey et al. 2024; vgl. tageschau.de, 08.01.2025). Dabei hatte die Regierung in ihrer Vereinbarung doch gerade explizit angekündigt, wissenschaftliche Erkenntnisse zu prüfen: „Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus.“

    Wichtige, evidenzbasierte Änderungen in der Alkoholpolitik sind in den letzten Jahren nicht erfolgt: Die letzten entscheidenden Gesetzesänderungen gab es in der Zeit der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder. Damals wurde die Promillegrenze im Straßenverkehr von 0,8 auf 0,5 gesenkt sowie die Alkopop-Steuer eingeführt (tageschau.de vom 08.01.2025.

    Was muss eine neue Bundesregierung im Bereich Drogenpolitik tun, um Suchtgefährdungen entgegenzuwirken? Was muss sie tun, damit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen früher beraten und behandelt werden?

    Hier seien nur einige Bereiche benannt, die für eine verbesserte Aufklärung und Kontaktaufnahme sowie für eine bessere Beratung und Behandlung von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen wichtige Voraussetzungen bilden.

    1. Umstrukturierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit

    Im Koalitionsvertrag ist festgelegt: „Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht in einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit auf, in dem die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt sind. Das RKI soll in seiner wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein.“ (S. 65)

    Das bedeutet, dass auch die Maßnahmen im Schwerpunkt der Drogen- und Suchtprävention der BZgA auf ihre Wirksamkeit überprüft und neue Konzepte zum Ausbau der Risikokompetenzförderung erprobt werden sollten. Beispielhaft sei hier auf den österreichischen risflecting®-Ansatz verwiesen (Koller 2015; https://risflecting.eu/).

    Die BZgA hat eine Reihe von guten wissenschaftlichen Analysen publiziert und gute Präventionsprogramme entwickelt (wie HaLT, drugcom, Kenn Dein Limit. etc.), aber diese waren häufig nicht ausgerichtet auf risikoreiche Lebensbedingungen, sondern mittelschichtsorientiert, sodass in der Prävention des Cannabis- oder Tabakkonsums nicht die konsumentschlossenen Menschen erreicht wurden und Glaubwürdigkeitslücken existierten. Das sollte untersucht werden, um die Maßnahmen stärker auf die Vermittlung von Risikokompetenzen auszurichten und weniger auf die Verhinderung des Konsums. Diesen Prozess sollte der Drogenbeauftragte in enger Abstimmung mit dem Fachreferat Drogen und Sucht des BMG begleiten.

    Überprüft werden sollte auch die Mitfinanzierung von Kampagnen im Bereich der Alkoholprävention durch die private Krankenversicherung (PKV), die damit auch versucht hat, die Entwicklung einer Bürgerversicherung zu behindern.

    2. Suchtprävention und Suchthilfe stärken!

    Laut einer aktuellen Studie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) können etwa drei Viertel der Suchtberatungsstellen nicht kostendeckend arbeiten. Stellen werden abgebaut, Beratungs- und Betreuungszeiten gekürzt – das alles führt zu Wartezeiten, Abweisungen etc. Frühzeitige Hilfen, besonders bei Störungen mit hohem Chronifizierungspotenzial, sind ebenso notwendig wie verlässliche und nachhaltige Hilfen im kommunalen Suchthilfeverbund. Welche fatalen Folgen würde ein weiteres Zusammensparen der kommunalen Drogenhilfe haben!

    Ein gut ausgebautes Hilfesystem rettet Leben! Die Suchthilfe braucht ein stabiles Fundament und muss angesichts jüngster Entwicklungen ausgebaut werden – unabhängig von Konjunkturen und Haushaltslagen. Es gibt den Vorschlag, Suchtberatung mit Prävention, psychosoziale Begleitung bei Substitution sowie Therapie und Selbsthilfeunterstützung für Konsument:innen und begleitende Angehörige als Pflichtaufgabe für die Kommunen zu erklären und stabil zu finanzieren. Die Krankenkassen sind angemessen zu beteiligen. Die Begleitung ist unbürokratisch und niedrigschwellig zu finanzieren. Den besonderen Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme des Bundesteilhabegesetzes durch Konsument:innen mit Hilfebedarf ist mit niedrigschwelligen Hilfeplanverfahren, ggfs. Fallpauschalen, zu begegnen (DHS 2023).

    3. Bündelung der Steuerungskapazitäten der Drogenpolitik

    Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen mit beschränkten Ressourcen und geringen Befugnissen kann so nicht länger aufrechterhalten werden! Benötigt wird eine Bündelung der Kompetenzen innerhalb einer arbeitsfähigen, interministeriell und interdisziplinär besetzten Organisation, zu deren Mitgliedern Vertreter:innen des Bundes, der Länder und Kommunen, der Verbände der Selbsthilfe sowie der Forschung und Wissenschaft gehören. Denn: Sucht- und Drogenprobleme sind ein zu großes Feld der Gesundheitspolitik (8,2 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig von Substanzen, Medien oder Glücksspiel etc.; 13 Millionen Menschen konsumieren Substanzen missbräuchlich), als dass man sie verstreut über mehrere Ministerien oder nur pflichtschuldig auf Minimalniveau (nur notwendige Anpassungen an EU-Vorgaben etc.) bearbeiten kann. Selbst die zuständigen Regulierungsbehörden kommen mit der Geschwindigkeit, den Dynamiken und Herausforderungen des illegalen und legalen Drogenmarktes nicht zurecht. Jüngstes Beispiel ist die Einweg-E-Zigarette, die v. a. unter jungen Menschen immer größere Verbreitung findet, weil fast jede/r Rapper:in in den Social Media ein eigenes Label mit kinder- und jugendaffiner Werbung hat. Auch eine Lachgas-Regulierung lässt auf sich warten.

    Zusammenfassung

    Die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung sind aus unterschiedlichen Gründen nur zu einem geringen Teil umgesetzt worden. Im Wesentlichen waren sie unscharf formuliert, so dass einiges nicht operationalisierbar/messbar war. Zum Teil standen rechtliche Hürden einer Umsetzung im Weg. Die in den Koalitionsvereinbarungen formulierten Zielsetzungen spiegelten auch nur einen kleinen Teil der notwendigen Entwicklungsschritte der Drogenpolitik wider. Diese Selektivität der Zielsetzungen im Kontext dringend benötigter Reformen zeigt auch, dass diese Ziele nicht wissenschaftlich fundiert, praxisorientiert oder aus fachpolitischen Diskursen generiert worden sind, sondern sie sind jenseits und unabhängig davon formuliert worden.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Hinweis: LEAP Deutschland (Law Enforcement Against Prohibition Deutschland e. V.) hat die Wahlprogramme der Parteien, die nach den vorliegenden Einschätzungen in den nächsten Bundestag einziehen können, in Bezug auf die Aussagen zur Drogenpolitik untersucht. Die Ergebnisse finden Sie HIER.

    Angaben zu den Autoren und Kontakt:

    Dr. Ingo Ilja Michels: Soziologe, Experte für HIV/AIDS-Prävention und Suchtbehandlung; Internationaler wissenschaftlicher Koordinator des DAAD-Programmes „SOLID – Soziale Arbeit und Stärkung von Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit zur Behandlung von Drogenanhängigkeit“ an der Frankfurt University of Applied Sciences; früherer Leiter des Büros der Bundesdrogenbeauftragten im Bundesministerium für Gesundheit in Berlin; jetzt: Bonn, Deutschland
    E-Mail: ingoiljamichels(at)gmail.com

    Prof. Dr. Heino Stöver: Frankfurt University of Applied Sciences, geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF), Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit; u. a. Berater der Weltgesundheitsorganisation WHO und des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) für das Programm „Gesundheit im Strafvollzug“ (Health in Prisons Programme)
    E-Mail: Heino.stoever(at)fb4.fra-uas.de

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    • Wodarz, N. (2024) Typische Vorbehalte vs. tatsächliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Take-Home-Naloxon. Suchttherapie 2024 25(S 01): S. 25-26, DOI: 10.1055/s-0044-1790355
  • Neue Visionen für die Suchtprävention?

    Neue Visionen für die Suchtprävention?

    Dr. Johannes Nießen, Errichtungsbeauftragter des BIPAM und Kommissarischer Leiter der BZgA. Fotograf: Carsten Kobow i.A. BZgA

    Die Suchtprävention ist wichtiger denn je! Als zentrale staatliche Institution ist aktuell die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, Fachbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit) mit dieser Aufgabe betraut. Sie ist zuständig für die Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen der Suchtprävention auf Bundesebene. Bis 2025 soll die BZgA nun in das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) übergehen. Was bedeutet das für die Suchtprävention? Welche Rolle wird sie im BIPAM spielen? Darüber sprach KONTUREN online mit Dr. Johannes Nießen. Er ist seit Oktober 2023 Errichtungsbeauftragter des neuen Instituts und Kommissarischer Leiter der BZgA.

    KONTUREN online: Aufgabe des BIPAM soll es sein, sich mit der Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen wie Krebs, Demenz und koronaren Herzerkrankungen zu befassen. Was sind für Sie die wichtigsten konkreten Handlungsfelder für das BIPAM? Rückt die Suchtprävention in den Hintergrund?

    Dr. Johannes Nießen: Das BIPAM soll als zentrale Instanz auf Bundesebene die Strukturen für Öffentliche Gesundheit – insbesondere im Bereich Prävention, Gesundheitsförderung und -kommunikation – ausbauen und die Vernetzung von Bund, Ländern und Kommunen stärken. Die BZgA soll in dieser neuen Behörde aufgehen, die Expertise des RKI genutzt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf den Gebieten der übertragbaren und nicht übertragbaren Erkrankungen (kurz NCDs) soll gefördert werden, um eine übergreifende Betrachtung sicherzustellen und der gesamten Situation des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung Rechnung zu tragen.
    Präventionsarbeit hat einen hohen Stellenwert im BIPAM. Dies wird auch international, beispielsweise von der WHO, als sehr wichtig angesehen. Die Suchtprävention rückt dabei keinesfalls in den Hintergrund, sondern wird aufgrund der Interdependenz zu NCDs einen höheren Stellenwert erhalten.
    Erklärtes Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern einen einfachen und schnellen Zugang zu verständlichen Gesundheitsinformationen über Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs zu ermöglichen. Zudem wird das BIPAM den Öffentlichen Gesundheitsdienst vernetzen und mit verschiedenen Angeboten bei seiner Arbeit vor Ort unterstützen.

    Wie wird die Suchtprävention am BIPAM strukturiert sein? Welche Fachleute sind in die Entwicklung von Maßnahmen eingebunden?

    Der Errichtungsprozess ist in vollem Gange. Welche Verantwortlichkeiten und Arbeitseinheiten wie zusammenkommen und wie die Facharbeit gestaltet wird, kann erst dann festgelegt werden, wenn die Aufbauorganisation des BIPAM steht.

    Was sind für Sie die wichtigsten konkreten Ziele und Handlungsfelder in der Suchtprävention? Welches sind die größten Herausforderungen?

    Wichtigste Ziele der Suchtprävention und gleichzeitig größte Herausforderungen sind die Vermeidung oder Hinauszögerung des Erstkonsums, die Früherkennung und Frühintervention bei riskantem Konsumverhalten sowie die Verringerung von einem missbräuchlichen Konsumverhalten und einer Suchtentwicklung. Jedes Jahr sterben etwa 127.000 Menschen allein in Deutschland an den Folgen des Tabakkonsums und über 40.000 Menschen an den Folgen schädlichen Alkoholkonsums. Eine zielgerichtete und evidenzbasierte Suchtprävention kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Gesundheitskompetenz zu stärken und Lebensqualität zu verbessern. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet dazu für diverse Zielgruppen qualitätsgesicherte Angebote zur Suchtprävention im Bereich der legalen und illegalen Drogen sowie der Verhaltenssüchte.

    Was wird das BIPAM in der Suchtprävention anders machen als die BZgA? Haben Sie neue Ideen? Wo sind Verbesserungen zu erwarten?

    Das BIPAM wird auf einem soliden Fundament der Suchtprävention aufbauen können, das die BZgA mit ihrer langjährigen Kommunikationsexpertise gelegt hat. Ergänzt wird sie um Datenexpertise aus dem RKI, etwa zu Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring. Diese Verbindung ermöglicht es, evidenzbasierte Bedarfe passgenauer zu ermitteln, Präventionsmaßnahmen gezielter zu entwickeln und sie abschließend zu evaluieren.

    Zum 1. April 2024 ist eine gesetzliche Neuregelung zur Teil-Legalisierung von Cannabis in Kraft getreten. Welche konkreten Maßnahmen planen Sie, um schädlichem Cannabiskonsum vorzubeugen?

    Die BZgA bietet für unterschiedliche Zielgruppen fachlich fundierte, gut verständliche und sachliche Informationen zu Cannabis, dessen Wirkweise sowie den gesundheitlichen Risiken des Konsums, zudem digitale Beratungsangebote und Selbsttests. Zielgruppen sind Jugendliche unter 18 Jahren, für die Cannabis auch weiterhin verboten bleibt, sowie junge Erwachsene ab 18 Jahren – aber auch Eltern, pädagogische Fachkräfte und Fachkräfte der Suchtprävention. Ziel ist es, insbesondere bei der jugendlichen Zielgruppe über die schädliche Wirkung des Cannabiskonsums aufzuklären, das heißt vor allem eine bleibende Schädigung des Gehirns in der Entwicklungsphase, sowie insgesamt für einen verantwortungsvollen Umgang mit Cannabis zu sensibilisieren.

    Wie wollen Sie – insbesondere für die Cannabisprävention – die verschiedenen Zielgruppen in ihren Lebenswelten erreichen? Gibt es z. B. spezifische Programme für Schulen? Ist eine Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen vorgesehen?

    Die BZgA setzt einen Fokus auf den Ausbau der schulischen Cannabisprävention, um insbesondere Jugendliche, die noch nicht konsumieren, zu erreichen, sie für die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums zu sensibilisieren und darin zu bestärken, auf den Konsum von Cannabis zu verzichten. Neben der Entwicklung von Lehrkräfte-Schulungen, Weiterbildungsangeboten und Elternabenden speziell zur Cannabisprävention fördert die BZgA bereits Angebote zum direkten Einsatz im Unterricht, wie zum Beispiel Unterrichtseinheiten und -materialien. Die Präventionsangebote der BZgA werden kontinuierlich ausgebaut und weiterentwickelt. Hierzu veranstaltet die BZgA unter anderem regelmäßige Austauschformate mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie den entsprechenden Landesstellen, um eine frühzeitige übergreifende Abstimmung zu Bedarfen und Entwicklungspotentialen zu ermöglichen.

    Werden die Präventionsbeauftragten der Anbauvereinigungen fachlich begleitet und unterstützt?

    Das Cannabisgesetz sieht vor, dass Präventionsbeauftragte gegenüber ihrer jeweiligen Anbauvereinigung spezifische Beratungs- und Präventionskenntnisse nachweisen müssen. Der Nachweis wird erbracht durch eine Bescheinigung der Teilnahme an einer Suchtpräventionsschulung bei Landes- oder Fachstellen für Suchtprävention oder Suchtberatung oder bei vergleichbar qualifizierten öffentlich geförderten Einrichtungen. Welche Schulungen im jeweiligen Land angeboten werden, von welchem Träger und mit welchem konkreten Inhalt, entscheidet daher das jeweilige Bundesland. Der Bund wird die Erarbeitung eines Mustercurriculums für Schulungen von Präventionsbeauftragten im Rahmen einer Vergabe beauftragen, das die Länder dann für Schulungen nutzen können.

    Der Bedarf an Beratung durch Fachleute und an Programmen wie FreD (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) und SKOLL (Selbstkontrolltraining) wird steigen. Wie sollen diese für die Prävention dringend nötigen Angebote finanziert werden?

    Die BZgA bietet bereits für konsumierende, eher drogenaffine junge Menschen qualitätsgesicherte Informationen auf www.drugcom.de sowie Unterstützungsangebote wie zum Beispiel einen Online-Selbsttest „Cannabis Check“, eine digitale Beratung sowie das Online-Verhaltensänderungsprogramm „Quit the Shit“.

    In Deutschland gibt es verschiedene Verbände, die sich für Suchthilfe und -prävention einsetzen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert und ist die zentrale Dachorganisation der deutschen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe. An welchen Stellen bzw. zu welchen Themen ist eine Kooperation des BIPAM mit der DHS angedacht?

    Die BZgA pflegt seit vielen Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der DHS und fördert beispielsweise die Produktion und Distribution von Printmaterialien der DHS oder beteiligt sich an der inhaltlichen Neu- und Weiterentwicklung von relevanten Printprodukten. Ein regelmäßiger fachlich-inhaltlicher Austausch erfolgt dabei in Sachstandsgesprächen von BZgA, BMG und DHS sowie in den Austauschformaten der BZgA mit den Landesstellen für Suchtfragen und wird auch im zukünftigen BIPAM von großer Relevanz sein.

    Herr Dr. Nießen, wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand beim Aufbau des BIPAM! Auf welche Aufgaben freuen Sie sich besonders?

    Es ist sehr spannend, gemeinsam mit den engagierten Kolleginnen und Kollegen aus BMG, BZgA und RKI Ideen für das BIPAM zu entwickeln, um die Öffentliche Gesundheit in Deutschland zu stärken.

    Vielen Dank für das Interview!

  • Kontrollierte, legale Abgabe von Cannabis in Deutschland

    Kontrollierte, legale Abgabe von Cannabis in Deutschland

    Dr. Dirk Kratz
    Prof. Dr. Derik Hermann

    „Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland.“ Mit diesem Satz beginnen zahlreiche journalistische Artikel zu Cannabis, um die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Substanz zu unterstreichen. Wird THC-haltiges Cannabis, wie derzeit von der Bundesregierung geplant, legal und kontrolliert abgegeben, könnte Cannabis in Zukunft realistischer eingeordnet werden. „Cannabis ist die am dritthäufigsten konsumierte legale Substanz nach Alkohol und Tabak und verursacht im Vergleich zu den beiden letzteren nur einen Bruchteil der gesellschaftlichen Probleme, Gesundheitsschäden und Todesfälle“, könnte es dann heißen.

    In diesem Artikel werden die Gründe und Ziele der beabsichtigten legalen Abgabe und eine mögliche Ausgestaltung diskutiert. Als Grundlage dient eine Stellungnahme von Derik Hermann zum FDP-Antrag „Cannabis zu Genusszwecken kontrolliert an Erwachsene abgeben – Gesundheits- und Jugendschutz stärken“ im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 21.06.2021.

    Gründe für eine kontrollierte Abgabe an Erwachsene zu Genusszwecken

    Das Ziel, die Verfügbarkeit und den Konsum von Cannabis durch ein Verbot mit strafrechtlicher Verfolgung zu unterbinden, ist fehlgeschlagen.

    Etwa 225.000 der 360.000 Rauschgiftdelikte des Jahres 2019 (64 Prozent) waren durch Cannabis verursacht. Bezogen auf die gesamte Rauschgiftkriminalität waren etwa 80 Prozent konsumnahe Delikte wie der Besitz kleiner Mengen zum Eigengebrauch (Bundeskriminalamt 2019). Nachdem in den Jahren 2006 bis 2012 jährlich 125.000 bis 150.000 Cannabisdelikte verfolgt wurden, kam es seit 2013 zu einem Anstieg um ca. 50 Prozent auf 225.000 Fälle.

    Die deutliche Steigerung der Strafverfolgung hat nicht zu einem Rückgang des Cannabiskonsums geführt. Trotz des Verbotes von Cannabis ist die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums bei Männern von 6,7 Prozent (2012) auf 10,3 Prozent (2018) und bei Frauen von 3,4 Prozent (2012) auf 6,2 Prozent (2018) gestiegen (Seitz et al. 2019). Auch das Ziel, durch Strafverfolgung die Verfügbarkeit von Cannabis zu reduzieren, ist fehlgeschlagen. 57 Prozent der 15- bis 24-Jährigen geben an, Cannabis leicht innerhalb von 24 Stunden besorgen zu können (Eurobarometer 2014). Entsprechende Zahlen für andere Drogen liegen deutlich niedriger (Heroin zehn Prozent, Kokain 18 Prozent, Ecstasy 19 Prozent). Die strafrechtliche Verfolgung von konsumnahen Cannabisdelikten bindet einen großen Anteil der Arbeit von Polizei, Gerichten und Justizvollzugsanstalten, die an anderer Stelle fehlt. Durch das Verbot von Cannabis wandern hohe Summen in den Schwarzmarkt und ermöglichen Verkäufer:innen und der mit ihnen verbundenen organisierten Kriminalität Investitionen in anderen kriminellen Bereichen.

    Das Verbot von Cannabis erhöht die gesundheitlichen Risiken von Cannabiskonsum.

    Aufgrund des Verbotes von Cannabis erfolgt keine Qualitätskontrolle der Cannabisprodukte. Sie können Pestizide, Düngemittel, Blei (Busse et al. 2008) oder synthetische Cannabinoide enthalten, die zu Gesundheitsschäden führen. Der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) ist berauschend und verantwortlich für cannabis-induzierte Gesundheitsschäden, während Cannabidiol (CBD) nicht berauschend wirkt und die gesundheitsschädliche Wirkung von THC reduziert. Daher wäre es aus gesundheitlicher Sicht besser, wenn der THC-Gehalt niedrig und der CBD-Gehalt hoch wäre. In Folge des Cannabisverbotes hat sich in den USA der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht (Volkow et al. 2014). In Deutschland betrug er 2019 16,7 Prozent für Haschisch (Reitox Bericht 2019) und 13,1 Prozent für Cannabisblüten (Reitox Bericht 2018). CBD wurde aus neueren Cannabissorten herausgezüchtet. Sie enthalten nur noch geringe CBD-Konzentrationen unter einem Prozent (Chandra et al. 2019).

    Ein weiteres Problem stellen Räuchermischungen mit synthetischen Cannabinoiden („Spice“) dar, die eine bis zu 100-fach stärkere Wirkung als THC aufweisen, mit stärkeren Gesundheitsschäden als bei THC verbunden sind und zu Todesfällen geführt haben. Synthetische Cannabinoide werden vor allem dann konsumiert, wenn der Konsum wegen der Illegalität von Cannabis nicht entdeckt werden soll, also in Justizvollzugsanstalten und im Straßenverkehr. Daher können das Aufkommen und der Erfolg von synthetischen Cannabinoiden als direkte Folgen des Verbotes von Cannabis angesehen werden.

    Die gesundheitlichen Risiken von Cannabis sind bekannt (siehe CaPRis-Studie) und deutlich geringer als die von Alkohol und Tabak.

    Die gesundheitlichen Risiken von Cannabis wurden in der CaPRis-Analyse 2018 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gut zusammengefasst. Die Risiken von Cannabiskonsum beinhalten psychische Störungen wie vorübergehende neuropsychologische Defizite, das Auftreten von Angststörungen (erhöht um Faktor 1,3 bis 1,7), Depressivität (erhöht um Faktor 1,3 bis 1,6), Psychosen (bei leichtem Konsum um Faktor 1,4 bis 2,0 erhöht, bei hohem Konsum um Faktor 2,0 bis 3,4) und eine Abhängigkeit von Cannabis (bei ca. neun Prozent der Konsumenten). Körperliche Folgen betreffen das Atemsystem und ein erhöhtes Hodenkrebsrisiko. Die Datenlage bzgl. kardiovaskulärer Effekte und anderer Krebserkrankungen war teils widersprüchlich, von schlechter Qualität oder nicht ausreichend, um chronische Schäden durch Cannabis nachzuweisen.

    Durch akuten Cannabiskonsum erhöht sich das Verkehrsunfallrisiko um den Faktor 1,25 bis 2,66 (zum Vergleich: durch Alkohol um den Faktor 6 bis 15). Wenn in jungem Alter mit dem Cannabiskonsum begonnen wird, ist Cannabiskonsum mit einem geringeren Bildungserfolg assoziiert (für eine ausführliche Darstellung vgl. Hermann 2015).

    Jugendliche sind durch Drogenkonsum besonders gefährdet und müssen besonders geschützt werden.

    Das Gehirn wird während der Pubertät neurobiologisch umgebaut, neuronale Netzwerke werden verändert und Hirnzentren neu verknüpft. Das wird durch körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) gesteuert. Wenn in dieser Zeit Cannabis konsumiert wird, können diese fein abgestimmten Umbauprozesse nicht mehr korrekt ablaufen. Das führt zu lebenslangen Veränderungen der neuronalen Verknüpfungen, die eine geringere Intelligenz und ein erhöhtes Risiko für psychische und Suchterkrankungen begünstigen können (Jacobus et al. 2019, Salmanzadeh et al. 2020). Allerdings verhindert das Verbot von Cannabis den Konsum durch Jugendliche nicht. Der Anteil der 12- bis 17-Jährigen, die mindestens schon einmal Cannabis konsumiert haben, ist von 8,3 Prozent (2016) auf 9,6 Prozent (2018) gestiegen. Der Schwarzmarkt fragt nicht nach dem Alter. Leider hat Cannabis das Image einer Jugenddroge – dieses Image muss dringend verändert werden. Hierzu müssen Prävention, Jugendschutz, Suchtberatung und Behandlungsangebote erweitert, intensiviert, besser koordiniert und finanziert werden. Fachkräfte der Suchthilfe können besser zu einer Verhaltensänderung bzgl. des Drogenkonsums motivieren als das Strafrecht bzw. Polizei und Justiz.

    Die aktuell wichtigste Frage: Wie soll ein kontrollierter, legaler Verkauf von Cannabis für Erwachsene ausgestaltet werden?

    Nachdem klar ist, dass die im Jahr 2021 eingesetzte Bundesregierung eine kontrollierte, legale Abgabe von Cannabis an Erwachsene einführen möchte, muss geklärt werden, mit welchen Zielen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Kontrollmechanismen die Cannabislegalisierung organisiert werden soll.

    Je nachdem, welche Ziele verfolgt werden, zeigen sich große Unterschiede in der Praxis. Die unterschiedlichen Auswirkungen können in Ländern beobachtet werden, die den Cannabisverkauf bereits legalisiert haben. In den Niederlanden können aktuell Erwachsene ab 18 Jahren bis fünf Gramm Cannabis in Coffeeshops erwerben und dort oder im privaten Raum konsumieren. Es gibt aber keine legale Möglichkeit, Cannabis in den Niederlanden anzubauen und zu produzieren – die Coffeeshops kaufen daher Cannabis auf dem Schwarzmarkt. Dadurch werden systematisch hohe finanzielle Mittel in kriminelle Bereiche geleitet. In den Bundesstaaten der USA, die Cannabis legalisiert haben, stehen neben Themen des Gesundheitsschutzes vor allem wirtschaftliche Interessen von teilweise börsennotierten Unternehmen im Vordergrund. Entsprechend soll Cannabis ein positives Image erhalten und der Konsum bequem und in ansprechendem Umfeld ermöglicht werden. Im Rahmen der wirtschaftlichen Interessen wird ein Wachstum des Cannabismarktes angestrebt. Die Verkaufsmenge wird durch Werbung, Produktdifferenzierung (Cannabis in Getränken oder Süßigkeiten) und eine Ausweitung des Marktes auf mehr Konsument:innen gesteigert. Die Kund:innen sollen häufiger und in größeren Mengen konsumieren.

    Das steht im Konflikt zu den Interessen des Gesundheitsschutzes, der gefährdete Personen wie Jugendliche, Schwangere und an Psychosen Erkrankte vom Konsum ausschließen und nicht zum Konsum motivieren möchte. Eine am Gesundheitsschutz orientierte Cannabislegalisierung begrenzt gefährliche Konsumformen wie häufigen, hochdosierten Konsum und beinhaltet eine Informationspflicht über Risiken. Diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, den Konsum möglichst gering zu halten und nicht auszuweiten. Es soll zwar ein legaler Konsum ermöglicht werden, dieser soll aber gesundheitsorientierte Einschränkungen bzgl. der Verfügbarkeit von Cannabis und öffentlicher Konsummöglichkeiten sowie Informationspflichten und Verbraucherschutz beinhalten.

    In Deutschland haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag 2021 auf folgende Formulierung geeinigt: „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen. Modelle zum Drugchecking und Maßnahmen der Schadensminderung ermöglichen und bauen wir aus.“ (Koalitionsvertrag, S. 68) Das heißt, dass Verbraucher:innenschutz und Jugendschutz im Vordergrund stehen und Einschränkungen in der Verfügbarkeit  vorgesehen sind. In einem strukturierten Konsultationsprozess wurden zentrale Fragestellungen in diesem Zusammenhang unter Leitung des Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert, erörtert. Als Ziel wurde genannt, noch im Jahr 2022 einen ersten Gesetzentwurf vorzulegen.

    Das Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis

    Am 26.10.2022 hat die Bundesregierung ein Eckpunktepapier zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken veröffentlicht. Die wichtigsten Inhalte werden im Folgenden vorgestellt. Zu beachten ist, dass es sich hierbei nicht um einen Gesetzentwurf handelt, sondern um eine so genannte Interpretationserklärung gegenüber der EU-Kommission, um den völker- und europarechtlichen Rahmen des Gesetzesvorhabens zu berücksichtigen (Bundesgesundheitsministerium 2022).

    Als Ziele der kontrollierten Abgabe von Cannabis werden ein verbesserter Jugendschutz und Gesundheitsschutz und eine Eindämmung des Schwarzmarktes genannt. Cannabis und Tetrahydrocannabinol (THC) sollen künftig rechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. Die Produktion, Lieferung und der Vertrieb von Genusscannabis sollen zukünftig durch Lizenzen staatlich kontrolliert werden. Der Erwerb und Besitz von 20 bis 30 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum im privaten und öffentlichen Raum soll ab 18 Jahren straffrei sein unabhängig vom THC-Gehalt des Cannabis. Ein privater Eigenanbau von drei weiblichen blühenden Pflanzen pro erwachsener Person soll erlaubt werden mit einigen Auflagen zum Kinder- und Jugendschutz. Laufende Strafverfahren und Ermittlungsverfahren zu dann nicht mehr strafbaren Handlungen werden beendet, wenn das Gesetz in Kraft tritt.

    Genusscannabis soll in lizenzierten Fachgeschäften und gegebenenfalls Apotheken abgegeben werden. Bei jedem Betreten eines Cannabisfachgeschäftes soll eine Alterskontrolle erfolgen, da das Mindestalter für die Abgabe 18 Jahre betragen soll. In den Fachgeschäften darf nur Cannabis verkauft werden, keine anderen Produkte und insbesondere kein Tabak und Alkohol. Die Betreiber:innen und das Verkaufspersonal müssen Sachkundenachweise zu Beratungs- und Präventionskenntnissen erbringen. Zusätzlich muss es pro Verkaufsstelle eine Ansprechperson für den Jugendschutz geben. Zudem soll bei jedem Verkauf ein Beratungsgespräch angeboten werden mit aufklärenden Informationen über Cannabis, Konsumrisiken, risikoarmen Konsum sowie Hinweisen auf Suchtberatungsstellen. Im Bereich von Schulen, Kitas, auf Spielplätzen, in öffentlichen Parks sowie an weiteren Orten, an denen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig aufhalten wie z. B. Fußgängerzonen bis 20 Uhr, wird der öffentliche Konsum von Cannabis verboten. Es werden strenge Vorgaben für die Umverpackung von Cannabis gemacht. Qualität und Reinheit des Cannabis werden kontrolliert.

    Werbung für Cannabis-Produkte soll generell untersagt werden, ebenso der Verkauf von synthetisch hergestellten Cannabinoiden. Die Abgabe von Cannabis soll normal der Umsatzsteuer unterliegen; ob eine zusätzliche „Cannabissteuer“ erhoben wird, ist noch in Prüfung. Denn der Preis soll nahe dem aktuellen Schwarzmarktpreis liegen, um Konsument:innen ein Umsteigen auf legales Cannabis zu erleichtern. Handel treiben und in Verkehr bringen ohne Lizenz oder das Überschreiten der Höchstmenge sollen weiterhin strafbar bleiben. Es sollen Cannabisprodukte zum Rauchen, Inhalieren und für nasale oder orale Aufnahme zugelassen werden, z. B. Kapseln, Sprays und Tropfen, und das Bundesnichtraucherschutzgesetz soll auch bezüglich des Rauchens von Cannabis gelten. Eine Erweiterung auf „Edibles“ (Cannabis in Lebensmitteln oder Getränken, z. B. THC-haltige Gummibärchen) soll nach spätestens vier Jahren geprüft werden.

    Zusätzlich soll eine Plattform mit Informationen zu Cannabis und zum Gesetz  eingerichtet werden, in der auch Informationen zu Angeboten für Prävention, Beratung, Behandlung sowie zu Wirkung, Risiken und Safer Use zur Verfügung gestellt werden. Die Aufklärungs- und Präventionsarbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung soll verstärkt werden, ebenso die cannabisbezogene Forschung. Auch ist eine mediale und kommunikative Begleitung der kontrollierten Ausgabe von Cannabis durch die Bundesregierung geplant. Die cannabisbezogene Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie zielgruppenspezifische Beratungs- und Behandlungsangebote werden weiterentwickelt.

    Für Minderjährige soll also der Anbau, Erwerb und Besitz von Cannabis weiterhin verwaltungsrechtlich verboten bleiben. Verstöße werden durch Bußgelder geahndet. Für konsumierende Jugendliche sollen aber niedrigschwellige und flächendeckende Frühinterventionsprogramme zur Konsumreflektion eingeführt werden. Behörden wie z. B. das Jugendamt können Minderjährige bei Konsum oder Besitz von Cannabis zu einer Teilnahme an einem Frühinterventions- oder Präventionsprogramm verpflichten. Die universelle, selektive und indizierte Prävention in den Lebenswelten soll entsprechend ausgebaut werden, vor allem in Schulen, Berufsschulen, im Internet und in den sozialen Medien, in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, in Einrichtungen, die mit kognitiv eingeschränkten Personen arbeiten, in Sportvereinen und der Arbeitswelt. Und natürlich sollen auch Informations-, Präventions- und Fortbildungsangebote für Erwachsene mit verschiedenen Zielgruppenschwerpunkten ausgebaut werden, z. B. für konsumunerfahrene Personen sowie Vielkonsumierende, aber auch für deren soziales Umfeld.

    Die wissenschaftlichen „Lower-Risk Cannabis Use Guidelines”

    Im Jahr 2011 hat eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen erstmals evidenzbasierte Empfehlungen herausgegeben, um die Risiken des Cannabiskonsums zu reduzieren. Die Empfehlungen wurden 2017 und 2021 anhand neuer wissenschaftlicher Literatur aktualisiert (Fischer et al. 2022). Die Evidenz wurde anhand einer fünfstufigen Skala eingeschätzt (sehr hoch, hoch, mittel, gering, sehr gering). Durch das streng wissenschaftliche Vorgehen wird vermieden, dass politisch motivierte Meinungen oder allgemeine Mythen Einzug in die Empfehlungen halten. Auch die Einflussnahme von Lobbyisten und Lobbyistinnen, die eine Deregulierung der Verfügbarkeit bzw. des Konsums anstreben (z. B. Vertreter:innen der Cannabisindustrie), wird reduziert. Die Empfehlungen der „Lower-Risk Cannabis Use Guidelines” eignen sich gut als Grundlage für Informationskampagnen und Beratungsgespräche in den für Deutschland geplanten Cannabisfachgeschäften. An dieser Stelle sei auf die Original-Veröffentlichung in englischer Sprache verwiesen, die zum Download verfügbar ist.

    Diskussion

    Chancen

    Das Verbot von Cannabis hat den Cannabiskonsum in den letzten Jahrzehnten nicht reduziert, es fördert gesundheitsschädliche Konsumformen und erscheint im Vergleich zu dem viel schädlicheren Alkohol unangemessen. Durch die strafrechtliche Verfolgung werden Polizei und Justiz belastet, und es fließen hohe finanzielle Mittel in den Schwarzmarkt. Erfahrungen mit einer Cannabislegalisierung aus anderen Ländern zeigen, dass der Cannabiskonsum unter Erwachsenen nicht oder nur moderat ansteigt und bei Jugendlichen weitgehend unverändert bleibt. Diese Erfahrungen zeigen auch, dass es maßgeblich von der Ausgestaltung der Legalisierung abhängt, ob es zu negativen Effekten kommt.

    Die aktuelle Bundesregierung hat ein Eckpunktepapier vorgelegt, in dem Jugend- und Gesundheitsschutz an erster Stelle stehen. Detailreich werden alle Fragen von Anbau über Verkauf und Prävention geregelt. Das Ziel, den Cannabiskonsum nicht zu fördern, aber für diejenigen, die nicht darauf verzichten wollen, so wenig schädlich wie möglich zu gestalten, ist in diesem Papier aus suchtmedizinischer Perspektive gut gelungen. Besonders wichtig sind Prävention und Information, die langfristig dazu beitragen können, verantwortungsvoll mit Cannabis umzugehen und das Image von Cannabis als „Jugenddroge“ zu revidieren.

    Mit der Fokussierung auf den Gesundheitsschutz treten andere Ziele in den Hintergrund, die aber auf sekundärer Ebene sowie in der laufenden Diskussion eine Rolle spielen. Beispielsweise werden immer wieder justizielle Ziele wie die Reduktion des Schwarzmarktes und die Entlastung der Strafverfolgung genannt. Auch wenn diese Ziele weitere gute Gründe darstellen, die für eine Legalisierung sprechen, muss hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung ein Schwerpunkt gesetzt werden. International wird eine am Gesundheitsschutz orientierte Cannabislegalisierung als der beste Weg gesehen, Chancen und Risiken auszubalancieren und zu einer Weiterentwicklung der Suchtpolitik im Sinne der öffentlichen Gesundheit beizutragen. Ohne Schwerpunktsetzung droht ein bürokratisches Chaos mit der Folge einer legalen Abgabe, die alle Ziele verfehlt, da sie sowohl an der Zielgruppe als auch an einer realistischen Umsetzung vorbei agiert. Gegner:innen der Freigabe könnten dann argumentieren, dass sie mit ihrer These, durch die Freigabe würde sich die Situation nicht verbessern, recht behalten hätten.

    Das Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Cannabislegalisierung gibt einen soliden Rahmen für eine staatliche Kontrolle bzgl. Anbau, Produktion, Vertrieb und Konsum vor. Negative Auswirkungen, die in anderen Ländern beobachtet wurden, z. B. das Verbot der Produktion von Cannabis, das in den Niederlanden den Schwarzmarkt aufrechterhält, oder die Förderung des Cannabiskonsums durch Werbung und Produktdiversifikation aus wirtschaftlichen Gründen, wie in einigen US-Bundesstaaten, sollen vermieden werden. In dem aktuellen Gesetzgestaltungsprozess wurden und werden Erfahrungen aus anderen Ländern systematisch aufgearbeitet. Dabei werden wichtige Fragen wie der Preis, Prävention, Informationspflichten, wo konsumiert werden darf, wie mit konsumierenden Minderjährigen umgegangen werden soll und die Höhe der Steuer diskutiert. Dies eröffnet die große Chance, einen angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit Cannabis zu finden und Fehler, die im Umgang mit Alkohol und Tabak in der Vergangenheit gemacht wurden, nicht zu wiederholen. Wichtig zu erwähnen ist, dass mit einer kontrollierten Freigabe der Umgang mit Cannabis nicht für alle Zeit geregelt ist. Die Diskussion wird uns anders als zu Verbotszeiten weiterhin auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen begleiten – und das ist gut!

    Bedenken der Suchthilfe

    Über die genannten politischen Ziele hinaus beschäftigen die Suchthilfe noch andere Aspekte. An vielen Stellen wird ein Informations- bzw. Kommunikationsdefizit deutlich. Ein Großteil der Fachkräfte in der Suchthilfe hat über viele Jahre hinweg – u. a. aus Gründen der Gefahr der justiziellen Verfolgung – seine Klient:innen eher selten im Sinn eines akzeptanzorientierten Ansatzes beraten oder behandelt, obwohl wissenschaftliche Harm reduction-Ansätze wie die Lower-Risk Cannabis Use Guidelines verfügbar sind. Teilweise sind die Klient:innen auch erst im Rahmen der Strafverfolgung zu den Fachkräften gekommen. Zudem kennen viele Fachkräfte in erster Linie diejenigen Konsument:innen, die mit Cannabis nicht gut umgehen können und einen schädlichen Gebrauch bzw. eine Suchterkrankung entwickelt haben. Befürchtungen, es werde mit einer kontrollierten Freigabe von Cannabis zu einem Anwachsen jener Behandlungsfälle kommen, sind aus dieser Perspektive also nur verständlich. Empirisch sind sie jedoch nicht eindeutig bestätigt. Auch die horrenden gesellschaftlichen Auswirkungen der hohen Verfügbarkeit von Alkohol bei gleichzeitig hohem Schadenspotenzial lassen viele Fachkräfte zurückschrecken, wenn sie sie auf die geplante Freigabe von Cannabis übertragen. Umso wichtiger ist es, jene Erfahrungen und Erwartungen ernst zu nehmen und in einen breiten Kommunikations- und Beteiligungsprozess überzuleiten.

    Auf der anderen Seite darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Deutschland als erstes europäisches Land den Weg einer „echten“ Legalisierung von Cannabis einschlägt und damit nach einer jahrelangen Stagnation in der Drogenpolitik viel Bewegung in den Suchthilfebereich kommt. Dieser politische Schritt kommt einem suchtpolitischen Pfadbruch (vgl. Werle 2007) gleich, der einerseits Unsicherheiten, andererseits aber auch ein hohes Innovationspotenzial in sich trägt. Die Bearbeitung vieler stockender Fragen in der Suchthilfe wie die Entstigmatisierung von Konsument:innen, ein Neustart der Präventionspolitik, eine auskömmliche Finanzierung und die gesetzliche Fixierung von Suchtberatung als Teil der psychosozialen Daseinsvorsorge oder auch eine Neubewertung von Rausch in unserer Gesellschaft rückt in greifbare Nähe. Lassen wir uns diese Gelegenheit nicht entgehen!

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Derik Hermann, Dr. Dirk Kratz
    Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH
    Paul-von-Denis-Str. 13
    76829 Landau
    Derik.Hermann(at)ludwigsmuehle.de, Dirk.Kratz(at)ludwigsmuehle.de
    Tel. 06341 / 5202 100
    www.ludwigsmuehle.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. (apl) Dr. med. Derik Hermann, Chefarzt Therapieverbund Ludwigsmühle, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie
    Dr. phil. Dirk Kratz, Diplom-Pädagoge, Geschäftsführer Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH, stv. Vorsitzender fdr+ Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.

    Literatur:
  • Cannabislegalisierung in Kanada seit 2018

    Cannabislegalisierung in Kanada seit 2018

    Dr. Dirk Kratz
    Prof. Dr. Derik Hermann

    In Kanada wurde am 17. Oktober 2018 Cannabis legalisiert, dabei orientierte sich die Gesetzgebung am Jugend- und Gesundheitsschutz. Jetzt besteht die Gelegenheit, Daten und Erfahrungen aus den ersten drei Jahren der Cannabislegalisierung in Kanada zu analysieren und Schlüsse für den legalen und kontrollierten Verkauf von Cannabis in Deutschland zu ziehen. Die Umsetzung in Kanada kann als Modellprojekt angesehen werden, das dabei hilft, realistische Vorstellungen von den Folgen einer Cannabislegalisierung zu entwickeln.

    Steigt der Cannabiskonsum? Wenn ja, in welchen Bevölkerungsgruppen? Geht der Schwarzmarkt zurück oder weicht er auf andere kriminelle Bereiche aus? Reduziert sich die Arbeitsbelastung von Polizei und Gerichten? Steigt die Behandlungsnachfrage wegen einer Cannabisabhängigkeit oder Psychosen? Reduziert sich der Alkoholkonsum, weil viele auf Cannabis umsteigen? Ändert sich die Partykultur? Fühlen sich Bürger:innen von öffentlichem Cannabiskonsum belästigt? – Diese Fragen können auch nach drei Jahren Erfahrung in Kanada nicht abschließend beantwortet werden. Dennoch bietet sich die Möglichkeit, Trends abzulesen und unerwartete Effekte der kanadischen Cannabislegalisierung für die Umsetzung in Deutschland zu berücksichtigen.

    Das kanadische Cannabisgesetz 2018 (Cannabis Act Canada)

    Als Ziele der Legalisierung von Cannabis werden im kanadischen Cannabisgesetz (cannabis act) Jugendschutz, Reduktion illegaler Aktivitäten, Entlastung des Rechtssystems, eine qualitätsgesicherte Versorgung mit Cannabis und eine verbesserte Wahrnehmung der Gesundheitsrisiken von Cannabis genannt. Seit dem 17. Oktober 2018 dürfen in Kanada Personen über 18 Jahre bis 30 Gramm getrocknetes Cannabis besitzen und mit anderen Erwachsene teilen (weitergeben), aber nicht verkaufen. Bis zu vier Cannabispflanzen je Haushalt (nicht pro Person) sind im privaten Raum erlaubt, dürfen aber nur an andere Personen weitergegeben werden, solange sie nicht blühen. Cannabis aus illegalen Quellen bleibt verboten. Der Besitz und die Weitergabe von mehr als fünf Gramm getrocknetem Cannabis stellt für Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren eine Straftat dar mit höheren Strafen als vor dem Cannabisgesetz.

    Cannabis darf in legalen Fachgeschäften an Erwachsene verkauft werden. Das Alter muss kontrolliert werden. Die Versorgung mit Cannabis erfolgt über staatliche Lizenzen zur Produktion und zum Verkauf in Fachgeschäften. Für die Cannabis-Fachgeschäfte wurden enge Regeln definiert bzgl. Verpackung und Auszeichnung, z. B. darf Cannabis nicht attraktiv für Minderjährige verpackt sein, es darf nicht mit anderen Substanzen vermischt werden, Selbstbedienung ist verboten, und es besteht eine Informationspflicht gegenüber Bürger:innen und Behörden.

    Da Kanada bereits 2001 Cannabis als Arzneimittel legalisiert hat, bestand zum Start der Legalisierung zum Freizeitgebrauch eine ausreichende Produktions-Infrastruktur mit mehr als 60 Firmen, die Cannabis anbauen. Lizenzen für Cannabis-Fachgeschäfte werden verweigert, wenn dadurch das Risiko entsteht, die öffentliche Gesundheit (public health) oder die öffentliche Sicherheit zu gefährden oder dass Cannabis in illegale Kanäle geleitet wird. Lizenzen werden auch nicht vergeben an Ausländer, Jugendliche oder Personen, bei denen bestimmte Gesetzesverstöße in den letzten zehn Jahren vorlagen.

    Meist darf Cannabis dort konsumiert werden, wo auch Tabakrauchen erlaubt ist. Allerdings haben sechs der 13 kanadischen Provinzen den Cannabiskonsum nur im privaten Raum erlaubt. Alles, was den illegalen Anbau oder Verkauf von Cannabis ermöglicht, ist verboten. Bei Verstößen gegen das kanadische Cannabisgesetz drohen bis zu 14 Jahre Haft. Werbung für Cannabis ist weitgehend verboten, das Verbot beinhaltet auch ausländische Medien und Sponsoring, z. B. Werbung auf Sporttrikots, kostenlose Cannabisproben oder Cannabis als Gewinn bei Spielen oder Verlosungen. Nur Personen, die eine Lizenz zum Anbau oder Verkauf von Cannabis besitzen, dürfen Informationen weitergeben und markenbezogene Werbung machen, sofern sichergestellt ist, dass unter 18-Jährige dadurch nicht erreicht werden. Falsche oder missverständliche Informationen dürfen nicht gegeben werden. Darstellungen bzgl. Cannabis in Kunst, Musik, Filmen, Literatur und zu pädagogischen und wissenschaftlichen Zwecken sind jedoch erlaubt.

    Das kanadische Cannabisgesetz sieht Bußgelder von 200 Dollar für geringfügige Verstöße vor (Besitz von 30 bis 50 Gramm getrocknetem Cannabis oder fünf bis sechs Cannabispflanzen). Es soll ein tracking system etabliert werden, um zu verhindern, dass legal produziertes Cannabis in den Schwarzmarkt gelangt oder illegales Cannabis in legalen Cannabis-Fachgeschäften verkauft wird. Zur Überwachung des Cannabisgesetzes werde Inspektor:innen eingesetzt. Weitere Details wie Öffnungszeiten der Cannabis-Fachgeschäfte, ein lizensierter Online-Verkauf oder ein Verbot von Cannabiskonsum an bestimmten öffentlichen Orten können die kanadischen Provinzen selbst regeln.

    Erfahrungen aus Kanada

    Nach der Legalisierung war legales Cannabis nicht ab dem ersten Tag überall verfügbar.

    Im ersten Monat betrug der Anteil des legalen Cannabis nur 7,8 Prozent der geschätzten Verkaufsmenge (Armstrong 2021). Dieser Anteil stieg innerhalb eines Jahres auf 23,7 Prozent und bis 2021 auf 72 Prozent. Davon wurden 53 Prozent in Cannabis-Fachgeschäften, elf Prozent in Onlineshops und acht Prozent über einen Selbstanbau umgesetzt (Canadian Cannabis Survey).

    In den ersten sieben Monaten der Legalisierung blieb die verkaufte Menge Cannabis mit Einnahmen von 524 Millionen Kanadische Dollars (CAD) deutlich hinter den Erwartungen von CAD 4,34 Milliarden zurück. Die Gründe waren die geringe Anzahl an Verkaufsstellen und höhere Preise im Vergleich zum Schwarzmarkt.

    Der unerwartet niedrige Anteil von legalem Cannabis machte deutlich, dass Cannabiskonsument:innen nicht zu jeder Bedingung von illegalem Cannabis auf legales Cannabis umsteigen. In Kanada hatten sich über Jahrzehnte ein blühender Schwarzmarkt und ausgeprägte Versorgungsstrukturen für medizinisches Cannabis etabliert. Die Versorgungsstrukturen waren schlecht kontrolliert und wurden auch oft zur Abgabe von Cannabis ohne medizinische Indikation genutzt (Fischer 2017). Zugleich erleichterte die Existenz von mehr als 60 Unternehmen, die medizinisches Cannabis produzieren, eine schnelle Versorgung mit Cannabis für den Freizeitgebrauch (Fischer 2017). Im Canadian Cannabis Survey wurden Preis, Versorgungssicherheit und Qualität als wichtigste Faktoren dafür identifiziert, aus welcher Quelle Cannabis bezogen wird. Nur fünf bis zehn Prozent der Konsumenten gaben an, dass die Legalität zu den wichtigsten drei Gründen zählt, wo sie Cannabis kaufen.

    Innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Legalisierung eröffneten 1.183 Cannabis-Shops in Kanada, das entspricht 3,7 Cannabis-Shops pro 100.000 Einwohner:innen >15 Jahre (Myran et al. 2022). In kanadischen Bundesländern, die neben staatlichen auch privatwirtschaftliche Cannabis-Shops zuließen, wurden mehr Cannabis-Shops eröffnet (4,8 versus 1,0 pro 100.000 Einwohner:innen) mit längeren Öffnungszeiten (80 versus 69 Stunden pro Woche).

    Der Canadian Cannabis Survey erhebt seit 2017 jährlich Daten zu Themen rund um Cannabis.

    Der Anteil der Personen, die im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben, erhöhte sich von 22 Prozent im Jahr 2018 auf 27 Prozent im Jahr 2020 und hat sich im Jahr 2021 auf 25 Prozent verringert. Dieser Wert beinhaltet auch Probierkonsument:innen, die nur einmal im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben. In den letzten 30 Tagen hatten 2018 15 Prozent der Befragten Cannabis konsumiert und 2021 17 Prozent. Täglichen oder fast täglichen Konsum gab etwa ein Viertel der Konsument:innen an, die im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben, also etwa 6,3 Prozent der Bevölkerung. Dieser Wert blieb von 2018 bis 2021 weitgehend unverändert, weil unter den neuen Konsument:innen viele Probierkonsument:innen waren, die nur selten Cannabis konsumieren.

    Der Cannabiskonsum von Schüler:innen der 7. bis 12. Klasse hat sich im Jahr nach der Legalisierung nicht erhöht (18 Prozent mit Konsum im letzten Jahr; Canadian Student Tobacco Alcohol and Drug Use Survey). Ein systematisches Review und Metaanalyse von acht Studien zur Cannabislegalisierung international (nicht nur Kanada) ergab eine geringe Erhöhung des Konsums von Jugendlichen und jungen Erwachsenen um drei Prozentpunkte (standardised mean difference von 0.03, 95% CI −0.01 bis 0.07; Melchior et al. 2019).

    Charakteristika des legalen Cannabiskonsums seit 2018

    Cannabis wurde häufiger konsumiert, wenn die körperliche Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht eingeschätzt wurde, in dieser Gruppe gaben 30 Prozent Konsum im letzten Jahr an. Noch mehr Personen konsumierten Cannabis, wenn die psychische Gesundheit als schlecht (44 Prozent) oder sehr schlecht (51 Prozent) eingeschätzt wurde. Cannabis wurde also häufig zur Selbstbehandlung von körperlichen oder psychischen Beschwerden eingesetzt.

    Das Alter beim ersten Cannabiskonsum erhöhte sich von 18,9 Jahren 2018 auf 20,4 Jahre 2021. Durchschnittlich wurden 2021 1,1 Gramm Cannabis pro Konsumtag konsumiert. Der Preis betrug CAD 9,78 (ca. € 7) pro Gramm getrockneter Cannabisblüten. Nur 16 Prozent der Personen mit Cannabiskonsum im letzten Jahr konsumierten Cannabis immer mit Tabak, und 69 Prozent gaben an, dies nie zu tun. Etwa 3,75 Prozent der Bevölkerung (15 Prozent derer mit Konsum im letzten Jahr) bauten 2021 durchschnittlich 3,6 Cannabispflanzen an. Das gesundheitsschädliche Rauchen von Cannabis reduzierte sich von 89 Prozent der Konsumenten 2018 auf 74 Prozent 2021, parallel dazu wurde Cannabis häufiger gegessen oder getrunken (von 43 Prozent 2018 auf 57 Prozent 2021). Verdampfen (vaping) blieb unverändert bei 33 Prozent.

    Informationskampagnen erhöhen den Kenntnisstand zu Risiken.

    Ein Ziel der Legalisierung war, den Informationsstand der Bevölkerung über spezifische Risiken zu erhöhen. Hierfür wurden verschiedene Kampagnen in unterschiedliche Medien geschaltet. 76 Prozent der Bevölkerung schätzten 2021 Cannabis als schädlich ein, 65 Prozent stimmten zu, dass (fast) täglicher Konsum das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht, und 82 Prozent stimmten zu, dass Teenager ein höheres Risiko für Schäden haben als Erwachsene.

    Die Einschätzung unter Cannabiskonsument:innen, dass das Rauchen von Cannabis mit einem mittleren bis hohen Risiko verbunden ist, erhöhte sich von 40 Prozent 2018 auf 50 Prozent 2021, die Zustimmung zu einem mit dem Essen von Cannabis verbundenen Risiko erhöhte sich von 34 Prozent auf 40 Prozent und zu einem mit Dampfen (vaping) verbundenen Risiko von 38 Prozent auf 55 Prozent. Die Einschätzung von Cannabiskonsument:innen, dass Cannabiskonsum die Verkehrstüchtigkeit einschränkt, erhöhte sich von 61 Prozent 2018 auf 78 Prozent 2021. Autofahren unter Cannabiseinfluss reduzierte sich von 27 Prozent 2018 auf 16 Prozent 2021. Als Beifahrer:innen fuhren 2018 noch 13 Prozent bei Personen mit, die kürzlich Cannabis konsumiert haben. 2021 gaben dies nur noch sieben Prozent an.

    In der Bevölkerung stimmten 87 Prozent zu, dass während Schwangerschaft und Stillzeit kein Cannabis konsumiert werden sollte, unter den Cannabiskonsumenten stimmten 83 Prozent zu. Während einer beruflichen Tätigkeit unter akutem Cannabiseinfluss zu stehen, ist mit einer schlechteren Leistung und einer erhöhten Unfallgefahr verbunden. Nur ein Prozent der Bevölkerung gab an, mindestens einmal wöchentlich Cannabis vor der Arbeit zu konsumieren. Bei Schüler:innen und Studierenden gaben 1,75 Prozent an, mindestens einmal wöchentlich vor dem Schul- bzw. Universitätsbesuch Cannabis zu konsumieren.

    Diese Zahlen zeigen den Erfolg der Informationskampagnen zu Cannabis. In den ersten drei Jahren nach der Cannabislegalisierung wurde eine deutliche Zunahme des Wissens über die Risiken von Cannabis erreicht, und das Verhalten wurde entsprechend angepasst. Dieser Erfolg ist beachtlich und motiviert zur Fortsetzung der Informationskampagnen.

    Die Cannabiskonsument:innen selbst sahen ihren Konsum unproblematischer als Nichtkonsument:innen und stuften die Risiken etwas geringer ein. Nur drei bis zehn Prozent der Cannabiskonsument:innen gaben die Selbsteinschätzung ab, dass Cannabis ihre Gesundheit, das soziale Leben, Partnerschaft, Lebensqualität oder Leistungsfähigkeit im Beruf beeinträchtige. 42 bis 80 Prozent sahen keinen Einfluss von Cannabis auf diese Lebensbereiche. Etwa die Hälfte gab an, dass Cannabis ihre psychische Gesundheit und Lebensqualität verbessere. Nur zwei Prozent der Konsument:innen benötigten irgendwann professionelle Hilfe wegen ihres Cannabiskonsums.

    Die Akzeptanz in der Bevölkerung von regelmäßigem Konsum war für Alkohol am höchsten (62 Prozent), gefolgt von Cannabis (49 Prozent) und dem niedrigsten Wert für Tabak (35 Prozent). Dass regelmäßiger Konsum mit einem Risiko verbunden ist, gaben in der Bevölkerung 75 Prozent für Alkohol an, 95 Prozent gaben dies für Tabakrauchen und 73 Prozent für das Rauchen von Cannabis an. Cannabiskonsument:innen schätzen die Risiken von Alkohol und Tabak ähnlich ein, aber nur 50 Prozent sahen ein Risiko für Cannabis.

    Diskussion: Was können wir aus den Erfahrungen mit der Cannabislegalisierung in Kanada lernen?

    Verfügbarkeit und Preisgestaltung

    Der Umstieg vom Schwarzmarkt auf legale Cannabis-Fachgeschäfte verlief nur schleppend. Die Konsument:innen blieben anfangs Kund:innen bei ihren Dealer:innen. Drei Jahre nach der Legalisierung besorgen sich immer noch 28 Prozent ihr Cannabis aus illegalen Quellen. Preis, Versorgungssicherheit und Qualität wurden als wichtigste Faktoren dafür identifiziert, aus welcher Quelle Cannabis bezogen wird. Die Legalität spielt nur eine untergeordnete Rolle. In Deutschland sollte daher nicht erwartet werden, dass der Umstieg auf einen legalen Verkauf gelingt, wenn die Bedingungen zu restriktiv gestaltet werden. Das muss bei der Festlegung eines maximal erlaubten THC-Gehaltes, der Preisgestaltung und der Auswahl verschiedener Cannabissorten berücksichtigt werden.

    Der Preis für legales Cannabis sollte anfangs etwa auf dem Niveau des Schwarzmarktes liegen. Es ist zu erwarten, dass der Schwarzmarktpreis durch die legale Konkurrenz zurückgeht – parallel sollte dann auch der Preis für legales Cannabis sinken, um den Schwarzmarkt möglichst weitgehend zu reduzieren. Wenn zu einem späteren Zeitpunkt Cannabis-Fachgeschäfte etabliert sind und der Schwarzmarkt keine große Rolle mehr spielt, können die Preise wieder angehoben werden. Das ist aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll, weil wissenschaftlich klar nachgewiesen ist, dass der Konsum bei höheren Preisen zurückgeht (Manthey 2022).

    Wenn Cannabis legalisiert wird, aber noch nicht ausreichend legales Cannabis aus Cannabis-Fachgeschäften verfügbar ist, wird dadurch der unkontrollierte Konsum aus illegalen Quellen gefördert. Das sollte in Deutschland unbedingt vermieden werden. Sinnvoll wäre, die gesetzliche Legalisierung für Konsument:innen erst einzuführen, wenn zuvor genügend Zeit für den Aufbau von Produktionsstätten (oder den Abschluss von Importverträgen) und eines Vertriebsnetzes mit Cannabis-Fachgeschäften gegeben wurde. Mitarbeiter:innen von Cannabis-Fachgeschäften müssen erst gefunden und geschult werden. Es wird ein Präventionskonzept benötigt. Anträge auf Lizenzen für Cannabis-Anbau und Produktion oder die Eröffnung eines Cannabis-Fachgeschäftes müssen gestellt und bearbeitet werden. Entsprechende Investoren brauchen Planungssicherheit. Daher spielt der zeitliche Ablauf der Legalisierung eine große Rolle.

    Information und Prävention

    Gut gelungen ist in Kanada, den Informationsstand und die Risikoeinschätzung bzgl. Cannabis in der Bevölkerung zu verbessern, wie der Canadian Cannabis Survey zeigt. Hierzu wurde in verschiedenen Medien in Informations- und Präventionsangebote mit realistischen und wissenschaftlich-neutralen Inhalten und Darstellungen investiert. Natürlich wird dadurch nicht sofort die gesamte Bevölkerung erreicht, aber die kanadischen Erfolge der ersten drei Jahre sind beeindruckend. Besonders wichtig sind ein guter Informationsstand und eine realistische Risikoeinschätzung, um das Verbot von Cannabis für Minderjährige zu vermitteln, obwohl Cannabis für Erwachsene erlaubt ist. Eine die Legalisierung begleitende Prävention in Deutschland muss das Ziel haben, dass eine große Mehrheit weiß, dass Cannabis für Minderjährige schädlich ist, weil es die Hirnentwicklung schädigt. Wer mit dem Cannabiskonsum bis zum Alter von 18 Jahren wartet, verhindert eine potenziell dauerhafte Beeinträchtigung der Intelligenz und anderer Hirnfunktionen. Dieses Wissen muss weit verbreitet werden, um das Image von Cannabis als Jugenddroge abzulösen.

    In den letzten 20 Jahren wurde die Häufigkeit von Cannabiskonsum unter Jugendlichen vor allem durch das Image beeinflusst, das Cannabis bei Jugendlichen hatte. Wenn Cannabis als cool galt und beliebte Musiker:innen Cannabis propagierten, stieg der Konsum an, und wenn Rauchen verpönt und sportliche Aktivität „in“ war, sank der Cannabiskonsum. Hier muss man ansetzen. Das Ziel muss sein, dass Jugendliche Cannabis „uncool“ finden. Die Präventionsmaßnahme „Alkohol – Kenn dein Limit!“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) kann dazu als Beispiel dienen. Dort werden zielgruppenspezifische Botschaften zum Alkoholkonsum mit für sich gesehen positiven Situationen verknüpft, z. B. Party-Fotos mit dem Spruch „Flirten oder Abstürzen“, ein Foto zum Autofahren mit dem Text „In die Zukunft oder Endstation“ oder ein Sportmotiv mit dem Text „Nichts kann uns bremsen, außer Alkohol“.

    Cannabis weist genauso wie Alkohol spezifische Nachteile auf, die für die Prävention genutzt werden können. Cannabiskonsum passt nicht zum Aktivsein, zu Sport, Lernen und dem Knüpfen sozialer Kontakte, zu Erfolg und Spaß mit anderen, sondern ist eher mit Zuschreibungen assoziiert wie: träge, hängt nur rum, bleibt immer auf dem Sofa, redet nicht viel, lebt in seiner eigenen Welt, vergesslich, verwirrt, unsportlich, Einzelgängertum und Paranoia. Das Image einer Droge und die Einschätzung der Risiken sind in der Regel über lange Zeit konstant und nur schwer veränderbar. Trotzdem ist es in Kanada innerhalb von drei Jahren gelungen, die Risikowahrnehmung zu differenzieren und zu verbessern. Das stellt nun auch für Deutschland eine herausfordernde Aufgabe dar.

    Jugend- und Gesundheitsschutz vor kommerziellen Interessen

    Kanada weist die weltweit größte Industrie für Cannabisanbau bzw. Cannabisproduktion auf. Nachdem die finanziellen Erwartungen nach der Legalisierung 2018 nicht erfüllt wurden, baute die Cannabisindustrie Druck auf die Politik auf, den Umgang mit Cannabis zu kommerzialisieren. Ein Jahr nach der Legalisierung, im Oktober 2019, wurden daher auch Cannabis-Edibles (z. B. THC-haltige Schokolade, max. zehn Milligramm THC pro Packung), Cannabis-Extrakte (zum Rauchen oder Essen, max. zehn Milligramm THC pro Konsumeinheit, max. 1.000 Milligramm THC pro Packung) und Cannabis-Topicals (zum Auftragen auf die Haut, max. 1.000 Milligramm THC pro Packung) zugelassen. Leider hat Kanada damit den Weg einer am Jugend- und Gesundheitsschutz orientierten Cannabislegalisierung teilweise verlassen. Allerdings ist es dadurch gelungen, den Schwarzmarkt weiter zurückzudrängen.

    In Deutschland haben Alkohol- und Tabakindustrie über Jahrzehnte die Politik und die Bevölkerung mit falschen Informationen versorgt. Hinsichtlich Cannabis gilt es deswegen, wachsam zu sein und dem kommerziellen Druck der Industrie Stand zu halten. Durch die jahrelange Diskussion über den Umgang mit Cannabis sowie mehr und bessere wissenschaftliche Daten und Informationen aus anderen Ländern mit Cannabislegalisierung besteht aber nun die Hoffnung, in Deutschland einen verantwortungsvollen Umgang mit Cannabis zu finden, der sich eindeutig am Jugend- und Gesundheitsschutz orientiert.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Derik Hermann, Dr. Dirk Kratz
    Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH
    Paul-von-Denis-Str. 13
    76829 Landau
    Derik.Hermann(at)ludwigsmuehle.de, Dirk.Kratz(at)ludwigsmuehle.de
    Tel. 06341 / 5202 0
    www.ludwigsmuehle.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. (apl) Dr. med. Derik Hermann, Chefarzt Therapieverbund Ludwigsmühle, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie
    Dr. phil. Dirk Kratz, Diplom-Pädagoge, Geschäftsführer Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH, stv. Vorsitzender fdr+ Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.

    Literatur
    • Armstrong MJ: Legal cannabis market shares during Canada’s first year of recreational legalisation. Int J Drug Policy. 2021 Feb;88:103028. doi: 10.1016/j.drugpo.2020.103028. Epub 2020 Nov 19. PMID: 33221614.
    • Barata PC, Ferreira F, Oliveira C: Non-medical cannabis use: international policies and outcomes overview. An outline for Portugal. Trends Psychiatry Psychother. 2022 May 27;44:e20210239. doi: 10.47626/2237-6089-2021-0239. PMID: 34898143.
    • Canadian Cannabis Survey, Data blog: https://health-infobase.canada.ca/cannabis/ Letzter Zugriff 09.07.2022
    • Canadian Cannabis Survey: https://www.canada.ca/en/health-canada/services/drugs-medication/cannabis/research-data/canadian-cannabis-survey-2021-summary.html#a2.2 Letzter Zugriff 09.07.2022
    • Canadian Student Tobacco, Alcohol and Drugs Survey. https://www.canada.ca/en/health-canada/services/canadian-student-tobacco-alcohol-drugs-survey.html
    • Fischer B: Legalisation of non-medical cannabis in Canada: will supply regulations effectively serve public health? Lancet Public Health. 2017 Dec;2(12):e536-e537. doi: 10.1016/S2468-2667(17)30213-X. Epub 2017 Dec 5. PMID: 29253435.
    • Isorna M, Pascual F, Aso E, Arias F: Impact of the legalisation of recreational cannabis use. Adicciones. 2022 Apr 20;0(0):1694. English, Spanish. doi: 10.20882/adicciones.1694. Epub ahead of print. PMID: 35472157.
    • Manthey, J: Legalisierung von Cannabis: Preise spielen eine zentrale Rolle.Dtsch Arztebl 2022; 119 (13): A 562–6
    • Melchior, M., Nakamura, A., Bolze, C., Hausfater, F., El Khoury, F., Mary-Krause, M., & Da Silva, M. A. (2019): Does liberalisation of cannabis policy influence levels of use in adolescents and young adults? A systematic review and meta-analysis. BMJ Open, 9(7), e025880.
    • Myran DT, Staykov E, Cantor N, Taljaard M, Quach BI, Hawken S, Tanuseputro P: How has access to legal cannabis changed over time? An analysis of the cannabis retail market in Canada 2 years following the legalisation of recreational cannabis. Drug Alcohol Rev. 2022 Feb;41(2):377-385. doi: 10.1111/dar.13351.
  • Cannabislegalisierung: Risiken nicht bagatellisieren

    Von Substanzabhängigkeit, kognitiven Beeinträchtigungen und affektiven Störungen über Psychosen bis hin zu erhöhter Suizidalität – intensiver Cannabiskonsum birgt erwiesenermaßen schwerwiegende Gesundheitsrisiken. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) zeigt in ihrem Positionspapier anhand des aktuellen Forschungsstandes auf, worauf bei einer kontrollierten Abgabe von Cannabis aus psychiatrischer Sicht zwingend zu achten ist.

    Ein Blick in europäische Nachbarländer oder die USA macht deutlich, dass eine Cannabislegalisierung die Zahl der regelmäßigen Konsumenten und in der Folge die Zahl der Menschen, die cannabisbezogene Störungen und Folgeerkrankungen entwickeln, erhöhen kann. Die größten gesundheitlichen Risiken bestehen vor allem bei einem intensiven und langjährigen Konsum sowie einem Konsumbeginn im Jugendalter. Etwa zehn Prozent aller Cannabiskonsumenten entwickeln über die Lebenszeit eine Abhängigkeit. Aus Sicht der DGPPN muss eine kontrollierte Abgabe daher eng medizinisch-wissenschaftlich begleitet werden und mit den folgenden Maßnahmen einhergehen:

    • Prävention: Sowohl spezifische verhaltens- als auch verhältnispräventive Maßnahmen müssen zum Tragen kommen.
    • Jugendschutz: Um einen schädlichen Einfluss auf die Hirnreifung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu vermindern, soll die Altersgrenze des Zugangs nicht unter 21 Jahren liegen.
    • Beratung und Behandlung: Der Ausbau niedrigschwelliger, kultursensibler und flächendeckender Beratungs- und Behandlungsangebote muss vorangetrieben werden.
    • Begleitforschung: Die Auswirkungen und Marktentwicklungen der kontrollierten Cannabisfreigabe müssen intensiv beforscht werden.
    • Finanzierung: Es ist sicherzustellen, dass die Einnahmen aus dem Cannabisverkauf vollständig zur Förderung von Prävention und Jugendschutz sowie zur Suchtversorgung und -forschung verwendet werden.

    „Noch sind viele Fragen völlig ungeklärt. Wie werden Jugend- und Gesundheitsschutz sichergestellt? In welcher Form werden Verbraucher über die Risiken sowie über Hilfs- und Beratungsangebote informiert? Wie sollen Evaluierung und Begleitforschung aussehen? Prävention sowie Früherkennung und -intervention müssen von Anfang an mitgedacht werden, wenn der Staat seiner Schutzpflicht nachkommen und nicht dazu beitragen will, dass mehr Menschen psychisch erkranken. Gerade bei Jugendlichen unter 21 Jahren hat Cannabiskonsum einen Einfluss auf die Hirnreifung und kann das Psychoserisiko erhöhen“, mahnt DGPPN-Präsident Thomas Pollmächer.

    „Den gesundheitlichen Risiken muss daher mit einem differenzierten und umsichtigen Regelwerk begegnet werden, dem Prävention und Jugendschutz als Prämissen zugrunde zu legen sind“, fasst Pollmächer zusammen.

    Eine Arbeitsgruppe von führenden Expertinnen und Experten hat im aktuellen Positionspapier der DGPPN den Kenntnisstand zu Cannabiskonsum und psychischer Gesundheit zusammengetragen und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet.

    Download Positionspapier

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), 25.04.2022

  • Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

    Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

    Wolfgang Rosengarten

    Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, schreibt auf seiner Homepage: „Die Drogen- und Suchtpolitik muss in vielen Bereichen neu gedacht und neu gestaltet werden. Was wir brauchen, ist ein Aufbrechen alter Denkmuster. Es muss gelten: ‚Hilfe und Schutz statt Strafe.‘ Nicht nur beim Thema Cannabis, sondern in der Drogenpolitik insgesamt, national wie auch international. Die Welt steht gesundheitspolitisch vor nie dagewesenen Herausforderungen und auch die Sucht- und Drogenpolitik muss mit großem Engagement und ohne Vorurteile angegangen werden.“

    Wie wohltuend müssen diese Worte in den Ohren all jener klingen, die in der bundesdeutschen Suchtpolitik der letzten Jahrzehnte eher eine Stagnation erlebt haben, die sich wie Mehltau über dieses wichtige gesundheitspolitische Arbeitsfeld gelegt hat. In der Politik und in der Öffentlichkeit hat die Suchtthematik dadurch einen Bedeutungsverlust in großem Ausmaß erfahren.

    Und jetzt diese Aufbruchstimmung, gekoppelt mit zwei Vorhaben der Bundesregierung, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder an politischen Widerständen gescheitert sind: der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken und der modellhaften Erprobungen von Drug-Checking.

    Natürlich wird es bei der Umsetzung der Vorhaben Widerstand geben, sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Politik. Und natürlich gibt es eine große Anzahl von Fallstricken, lauert auch hier der Teufel im Detail. Bei einem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Kurswechsel in einer seit mehreren Jahrzehnten hoch emotionalisierten und z. T. ideologisierten Debatte ein neues Regelwerk zu erstellen, das hochkomplexe Fragestellungen berücksichtigen muss, bedeutet eine enorme Herausforderung. Aber es bedeutet auch ein Ende der Stagnation, es wird wieder debattiert und gestritten werden. Er wird darum gerungen werden, die bestmögliche Lösung zu finden (die dann immer noch nicht die beste sein wird). Es kommen wieder Prozesse in Gang. Es wird wieder lebendig werden.

    Eine gesetzliche Regulierung bei der Cannabisthematik muss darauf aufbauen, dass der Konsum von Cannabis Gesundheitsrisiken birgt und ein problematischer bzw. risikoreicher Konsum sowie der situationsunangepasste Konsum (z. B. Konsum am Arbeitsplatz, in der Schwangerschaft oder im Straßenverkehr) mit negativen Folgen für die Person selbst oder Dritte assoziiert sein kann. Die neue gesetzliche Regulierung muss das Ziel haben, die aktuelle Situation zu verbessern und Gefährdungspotentiale so weit wie möglich zu minimieren, besonders was Jugendliche betrifft.

    Multidisziplinäre Kompetenz

    In der medialen Öffentlichkeit wird die Stimme der Suchthilfe in der aktuellen drogenpolitischen Debatte noch nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es für sie angezeigt wäre. Die Organisationen der Verbände und Einrichtungen haben schließlich die Expertise und langjährige Erfahrungen im Umgang mit den anstehenden Themen und vor allem den Menschen, um die es geht.

    Die organisierte Suchthilfe hat ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen Berufsgruppen, die sich zu Wort melden werden, seien es Ärzt:innen, Jurist:innen oder Ökonom:innen: Niemand hat Drogen- und Suchtfragen umfassender im Blick als die Suchthilfe. Hier arbeiten multidisziplinäre Teams in der ambulanten und stationären Versorgung, in der Prävention und in der Selbsthilfe. Die Suchthilfe ist weit mehr als eine berufsständische Fachgesellschaft, die die Sichtweise und Interessen einer Berufsgruppe vertritt.

    Das gesundheitliche Gefährdungspotential von Cannabis bei vulnerablen Gruppen ist unbestritten. Aber Suchtberatungsstellen sind auch mit Menschen konfrontiert, die aufgrund juristischer Auflagen zugewiesen werden, obwohl sie einen risikoarmen, nicht abhängigen und größtenteils unschädlichen Konsum betreiben. Diese Menschen werden allein wegen der aktuellen Rechtslage kriminalisiert, mit dem Resultat möglicher sozialer und psychischer Folgeschäden (gerade bei jugendlichen Konsument:innen).

    Expertin für Prävention

    Vor allem, um die im Zuge der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken geäußerte unabdingbare Forderung nach begleitenden umfassenden Präventionsmaßnahmen zu erfüllen, sind die Erfahrungen und Kompetenzen der Suchthilfe unverzichtbar.

    Es ist erfreulich, dass in der aktuellen Diskussion um die gesetzlichen Veränderungen das Thema Prävention eine herausragende Rolle spielt. Im Bereich der Prävention muss mit umfassender Information und Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren des Cannabiskonsums einem möglichen Eindruck entgegengewirkt werden, der Konsum werde legalisiert, weil Cannabis ungefährlich sei. Aufgrund der geänderten Gesetzeslage kann ferner auch das Thema risikoreduzierende Verhaltensweisen und Konsumformen in den Angeboten einen größeren Raum einnehmen.

    Auch wenn der gesetzgeberische Prozess noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, kann Prävention nicht erst beginnen, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Allerdings reichen die aktuellen Budgets und Ressourcen in der Suchthilfe hierfür nicht aus. Auf den Mittelzuwachs zu warten, bis die potentiellen Steuereinnahmen aus dem Cannabisverkauf realisiert sind, um daraus die Präventionsmaßnahmen zu finanzieren, ist allerdings keine Option.

    Nötig sind Mittel, die der Bund der Suchthilfe im Vorfeld zur Verfügung stellt, um zielgruppenspezifische und situationsangepasste Präventionskonzepte vor dem Hintergrund der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erarbeiten sowie entsprechende Maßnahmen zu planen und in die Umsetzung zu bringen. Hierzu wäre es hilfreich, in einem Gremium mit Vertreter:innen der Bundesebene, der Länder und der Suchthilfe ein abgestimmtes Vorgehen zu erarbeiten.

    Der neue Drogenbeauftragte sieht die Notwendigkeit vom „Aufbrechen alter Denkmuster“. Dies betrifft in der Suchtpolitik nicht nur den zukünftigen Umgang mit Cannabis.

    Wir gehen bewegten und spannenden Zeiten entgegen.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen

    Wolfgang Rosengarten

    Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.

    Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.

    Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.

    Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren

    Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.

    Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:

    Wenn

    • Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
    • die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
    • die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,

    dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.

    Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).

    Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.

    SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe
    Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.

    Was ist das Besondere?
    SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.

    Dauerhafte Finanzierung
    Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.

    Die Leistung an Mann* und Frau* bringen
    Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.

    Kontakt:
    Ralf Bartholmai
    Fachklinik Böddiger Berg
    34587 Felsberg
    infoboeddigerberg@drogenhilfe.com

    Text: Redaktion KONTUREN online

    Die eigene Arbeit positiv darstellen

    Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.

    Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.

    Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.

    Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.

    Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.

    Große Träger sind im Vorteil

    Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.

    In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.

    Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.

    Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen

    In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.

    Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Behandlung von Opiatabhängigen in Zentralasien

    Die Länder der Region Zentralasien – Kasachstan, die Kirgisische Republik, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – umfassen mehr als 60 Millionen ethnisch, kulturell und religiös vielfältige Menschen und ein geografisches Gebiet, das doppelt so groß ist wie das von Kontinentaleuropa. Im Zentrum des eurasischen Kontinents befinden sich diese Binnenländer, die im Jahre 1991, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, unabhängig wurden. Seit der Unabhängigkeit haben sie sich großen Herausforderungen gestellt. Eine davon ist der Handel mit Opiaten (vor allem Heroin) und die Opiatabhängigkeit von hunderttausenden Menschen (vgl. Abb. 1). Die Europäische Kommission unterstützt die fünf Partnerländer durch das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (Central Asia Drug Action Programme, CADAP) seit mehreren Jahren in dem Versuch, die negativen Folgen des Drogenkonsums zu lindern. CADAP befürwortet eine ausgewogene Drogenpolitik im Hinblick auf die Drogennachfrage und das (illegale) Drogenangebot im Einklang mit der EU-Drogenstrategie 2013–2020 und dem EU-Zentralasien-Drogenaktionsplan 2014–2020. CADAP zielt darauf ab, folgende Maßnahmen zu unterstützen:

    • Weitere Qualifizierung der Behandler und Schulung in psychotherapeutischen Methoden für Kurzinterventionen
    • Motivational Interviewing (MI)
    • Rückfallverhütung und soziale Rehabilitation
    • Opioidgestützte Behandlung (Opioid Substitution Treatment, OST)

    Mehr als 2.000 Experten und Regierungsvertreter wurden bereits zwischen 2010 und 2012 geschult. Der Zugang zu OST konnte in Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan (leicht) erhöht werden. In der laufenden 6. Phase des Programms wird eine bessere Institutionalisierung des Behandlungssystems angestrebt, und die Implementierung der Internationalen Standards der WHO/UNODC für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen wird unter Verwendung von Best Practices der EU geschult und systematisiert.

    Abb. 1: Drogensituation in Zentralasien – geschätzte Zahl von Heroinkonsumenten

    Das Zentralasien-Drogenaktionsprogramm (CADAP) verfolgt eine bessere Verbreitung von und Zugänglichkeit zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung bei Drogenabhängigkeit, sowohl pharmakologisch als auch abstinenzorientiert, und ihre Kombination mit sozialer Rehabilitation und psychosozialer Unterstützung (wie Beratung, kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung). Das Programm soll die Schadensbegrenzung (Harm Reduction) verstärken, um die nachteiligen Konsequenzen des Drogenkonsums für Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes zu verringern, wobei es nicht nur um die Vermeidung von Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B und C (vgl. Abb. 2) und Tuberkulose geht. Ziel ist es, ein offizielles Netzwerk von Fachleuten zu etablieren. Aber das stellt eine große Herausforderung dar, denn regionale Kooperation ist in den postsowjetischen Staaten weniger gewollt als ‚nationale‘ Selbständigkeit.

    Abb. 2: Prävalenz von HIV und Hepatitis C unter den (injizierenden) Drogenkonsumenten (in Prozent)

    Methoden des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms CADAP

    Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich führen zwei- bis viertägige Trainings mit Expertinnen und Experten aus der zentralasiatischen Region durch. Die Trainerinnen und Trainer aus Deutschland und Österreich kommen überwiegend selbst aus Zentralasien oder Osteuropa, sprechen Russisch, kennen die Kultur der Länder und bringen langjährige Expertise aus ihrer Arbeit im deutschen und österreichischen Sucht- und AIDS-Hilfesystem mit. Es wird in unterschiedlichen Bereichen trainiert:

    1. Schulungen für Fachpersonal

    Training mit Suchtmediziner/innen in Bishkek: Oleg Aizberg (vorne Mitte) und Irina Zelyeni (vorne Zweite von rechts)

    Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte erhalten Schulungen zu folgenden Themen:

    • Psychosoziale Beratung und Behandlung Drogenabhängiger im Rahmen von ambulanter und stationärer Rehabilitation
    • Reintegration Drogenabhängiger in die Gesellschaft
    • Entwicklung von regionalen und überregionalen Suchthilfenetzwerken

    Es werden außerdem aktuelle Kenntnisse der Suchtmedizin vermittelt:

    • Allgemeine Prinzipien medizinischer Ethik
    • Besonderheiten der medizinischen Ethik bei der Behandlung von Suchtkranken und Besprechung verschiedener Beispielsituationen
    • Alkoholabhängigkeit als Begleiterkrankung bei Drogenabhängigen
    • Komorbide Störungen
    • Umgang mit Neuen psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • Notfallzustände bei Suchtkranken und psychisch Erkrankten
    • Sexuelle Störungen bei Suchtpatientinnen und Suchtpatienten

    2. Schulungen im Justizbereich

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    Für das Personal von Strafanstalten, für Richter, Staatsanwälte, NGOs und Fachleute, die auf dem Gebiet der Behandlung von Drogenabhängigen tätig sind, finden Schulungen statt. Dazu gehören auch Schulungen über Gesundheitsprogramme in Gefängnissystemen zur Verhütung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) und zur Opiat-Substitutionsbehandlung (OST) in Gefängnissystemen.

    Die zweitägigen Workshops, die in allen zentralasiatischen Ländern mit Unterstützung der jeweiligen Gefängnisverwaltungen für Gefängnismitarbeiter durchgeführt wurden, bestanden aus Präsentationen und Gruppenarbeit. Interessen und Vorlieben der Teilnehmer wurden dabei berücksichtigt. Als Ergebnis der Workshops ergab sich eine Liste priorisierter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von drogenabhängigen Gefangenen. Diese Liste soll als Roadmap für die zukünftige Entwicklung dienen.

    Training mit Prof. Stöver und Prof. Pont in Bishkek

    In der Kirgisischen Republik und in Tadschikistan wird im Gegensatz zu den anderen Ländern offen (an)erkannt, dass es injizierenden Drogenkonsum auch im Gefängnis gibt und dass deshalb sowohl Nadel- bzw. Spritzenaustauschprogramme als auch OST sinnvoll sind. Allerdings werden hier Infektionsschutzprogramme nur auf niedrigem Niveau und unter scharfen Kontrollmechanismen (die den Verlust der Anonymität bedeuten) angeboten. Substitutionsbehandlungen im Strafvollzug werden in Kirgistan gut umgesetzt, in Tadschikistan wurde damit gerade erst begonnen, nach jahrelanger Diskussion.

    3. Schulungen für NGOs

    Training mit Ludger Schmidt und NGO-Vertreter/innen in Kirgistan

    Ein weiteres Arbeitspaket wird in enger Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) durchgeführt, um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu erreichen. NGOs spielen in Zentralasien eine zentrale Rolle bei der niedrigschwelligen Erreichbarkeit von Drogenabhängigen, bei der Infektionspräventionsarbeit, bei der Psychosozialen Betreuung (PSB) nach Entzugsbehandlungen und bei der Substitutionsbehandlung (OST). Die Hauptakteure von NGOs werden geschult, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern, ein unterstützendes Umfeld für die Klienten zu entwickeln und ihnen zu helfen, sich behandeln zu lassen und in der Behandlung zu bleiben. NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von Programmen niedrigschwelliger Arbeit.

    Schwerpunkte der Trainings

    Training mit Inga Hart und Gerhard Eckstein

    Das theoretische Wissen über psychiatrische Erkrankungen und Suchterkrankungen ist bei den meisten Teilnehmern gut bis sehr gut. Gleichwohl zeigte sich bei den Trainings auch, dass wenige Grundkenntnisse in der Praxis der Psychiatrie vorliegen, u. a. weil Narkologie (= Suchtmedizin) und Psychiatrie getrennt sind und wenig kooperieren. Die praktische Umsetzung und Erfahrung ist zudem immer noch sehr unterschiedlich. Zudem war die Zeit für die Trainings sehr knapp bemessen.

    Es geht in den Trainings u. a. um die Vertiefung von Behandlungsmethoden der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, des Motivational Interviews, der Rückfallprophylaxe sowie der psychosozialen Beratung, vor allem des Case Managements. Im Mittelpunkt der Seminare stehen weiterhin die Überprüfung, ob die westlichen Beratungs- und Behandlungskonzepte in der konkreten zentralasiatischen Praxis angewendet werden können, und die damit zusammenhängende Sicherung des Behandlungserfolges.

    In den Trainings werden die von den Seminarteilnehmern eingebrachten Erfahrungen, Anregungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer effektiven therapeutischen Arbeit sowie den Wirkfaktoren der therapeutischen Beziehung stellt für die Teilnehmer einen Rahmen für berufliche Selbstreflektion dar. Beim Betrachten der Interaktionsbeiträge der Angehörigen und der möglichen therapeutischen Interventionen wurde deutlich, dass der kulturelle Hintergrund die Aufrechterhaltung sowohl der Abhängigkeit als auch der Co-Abhängigkeit unterstützt. Dies macht es den Experten schwer, passende Interventionen einzuleiten und sich von den Erwartungen der Angehörigen abzugrenzen.

    Herausforderungen in der Arbeit mit den NGOs

    Die NGO-Gruppen in Kirgistan und Tadschikistan sind sehr engagiert und interessiert, dabei aber nicht unkritisch. Die Skepsis gegenüber internationalen Trainingsmaßnahmen wird offen angesprochen und diskutiert. Die Erwartung gegenüber solchen Maßnahmen scheint mehrheitlich gedämpft zu sein. Ähnlich wie in Ländern Westeuropas oder Australiens, wo NGOs eine lange Tradition haben und Unterstützung auch von Regierungen erhalten, arbeiten viele Organisationen mit Wurzeln in der Selbsthilfe überraschend ‚professionell‘, sind kompetent und reflektiert in ihrem Arbeitsfeld.

    Überlegungen, wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wissen, das sie im unmittelbaren Klientenkontakt benötigen, pragmatisch vermittelt werden kann, führte zur Idee der Adaption von „J Key Cards“ der dänischen NGO „Gadejuristen“ (Street Lawyers) an zentralasiatische Verhältnisse (insbesondere in Kirgistan und Tadschikistan). Die J Key Cards funktionieren nach dem Prinzip der FAQ (frequently asked questions) und beinhalten jeweils eine Frage mit einer Antwort zu häufig auftauchenden Themen und Problemen aus den Lebenswelten von Drogengebrauchenden. Die Karten sind thematisch in die Gebiete physische und psychische Gesundheit, Infektionsprävention, Substanzaufklärung, Safer Use und Recht unterteilt und werden kulturspezifisch und landestypisch illustriert. Als Vorteil für die ‚Ausbildung‘ von Peers wurde die leichte Handhabbarkeit des Formats, der spielerische statt verschulte Umgang mit Wissensinhalten (insbesondere angesichts der Ungeübtheit vieler Peers mit längeren Texten), die Konzentration auf eine konkrete Frage statt auf einen ganzen Wissensbereich sowie der unmittelbare Praxisbezug hervorgehoben. Die J Key Cards können überdies als Unterrichtsmaterial im Rahmen von Ausbildung/Qualifizierung genutzt werden.

    In Kirgistan und Tadschikistan werden entsprechende Kartensets hergestellt, um sie in der Straßensozialarbeit zu benutzen (vgl. Abb. 3 und 4).

    Abb. 3: Beispiel Kartenset Kirgistan
    Abb. 4: Beispiel Kartenset Tadschikistan

    Hauptergebnisse der Trainings

    In einigen Ländern und Regionen Zentralasiens ist das Suchthilfesystem gut entwickelt (etwa in Kasachstan, Usbekistan und auch in Kirgistan), sodass sowohl die Behandlung als auch die Rehabilitation sowie die poststationäre Weiterversorgung für die Abhängigen umfassend und auf einem hohen professionellen Niveau angeboten werden. Die Effektivität der Behandlung beruht aber auf einem vernetzten System, das in vielen anderen Regionen und Ländern noch sehr ausbaufähig ist, vor allem in Turkmenistan, Tadschikistan und den ländlichen Regionen von Kirgistan. Im Beratungs- und Behandlungssystem sind Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Ex-User und andere Fachkräfte verantwortlich integriert. Es existiert eine Übereinstimmung über Ziele und Konzepte der Resozialisierung. 

    In der Kirgisischen Republik, in Tadschikistan und Kasachstan wurden nationale Arbeitsgruppen gegründet mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Narkologie, Psychologie, Sozialarbeit und Selbsthilfe. Im Rahmen der Arbeitsgruppen fanden Vorlesungen und Diskussionen über folgende Themen statt:

    • Prinzipien der Behandlung von Drogenabhängigkeit
    • Prinzipien der Diagnose und Therapie der Opioidsucht
    • Leitlinien zur Opioidsubstitution
    • Opioidsubstitution in besonderer Situation (Schwangerschaft, komorbide psychiatrische Störungen, komorbides HIV-Syndrom)
    • abstinenzorientierte Therapie (Entgiftung, Psychotherapie, psychosoziale Hilfe, Opioid-Antagonisten)
    • aktuelle Situation bei Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS)
    • aktuelle Situation bei psychopathologischen und somatischen Erkrankungen

    Insgesamt scheint die Implementierung von Maßnahmen zur Motivierung und Behandlung und damit die Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Zentralasien durch die strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie durch die kulturellen Hintergründe (starke Co-Abhängigkeitsstrukturen) deutlich erschwert zu werden. Bei den meisten Experten besteht ein Konsens über den Sinn und die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Suchthilfesystems im Hinblick auf Weiterqualifizierung und Vernetzung.

    Die praxisorientierte Gestaltung der Seminare und die Möglichkeit, die Anliegen aus dem Alltag in die Seminare einzubringen, werden von den Seminarteilnehmern besonders positiv bewertet. 

    Weitere Zielsetzungen

    Bei der Commission on Narcotic Drugs (CND) im März 2016 wurde eine Entschließung zur Entwicklung und Verbreitung der internationalen Standards für die Behandlung von Drogenkonsumstörungen verabschiedet. Darin wird gefordert, dass der „Zugang zu einer angemessenen wissenschaftlichen evidenzbasierten Behandlung von Drogenkonsumstörungen, auch für Personen, die von Drogenkonsum im Gefängnissystem betroffen sind, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften, zu gewährleisten (ist)“.

    Im April 2016 wurden im Rahmen der UNGASS Special Session (United Nations General Assembly on the World Drug Problem) in New York die „WHO/UNODC International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders“ offiziell eingeführt. Aufgabe ist nun, die Umsetzung der internationalen Standards zu unterstützen. Dies geschieht jetzt in Trainings in allen zentralasiatischen Ländern in Kooperation mit dem UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime).

    Alle Länder in Zentralasien teilen die gemeinsame Auffassung der UN-Organe (UN-Drogenübereinkommen 1961, Art. 38, und Politische Erklärung 2009), dass alle praktikablen Maßnahmen zu Prävention und Früherkennung und zur Behandlung, Bildung, Rehabilitation und Nachsorge sowie zur sozialen Wiedereingliederung von Drogenabhängigen umgesetzt werden sollen. In Zusammenarbeit mit dem WHO- und dem UNODC-Hauptsitz in Genf und Wien wird diskutiert, wie die Zentralasien-Staaten in dieser Umsetzung durch Schulungen unterstützt werden können. Es wurde z. B. eine russischsprachige Version der Standards erstellt, um als Trainingsmaterial verwendet zu werden.

    Mit dem Ziel, die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin im Bereich der Behandlung von Drogenkonsumstörungen zu unterstützen, richtete die Frankfurt University of Applied Sciences (Fachhochschule Frankfurt am Main) an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Vorschlag, mit Hochschulen in Zentralasien, die Sozialarbeiter ausbilden, intensiver zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit soll mit folgenden Hochschulen stattfinden:

    • Eurasische Nationale Gumiljow-Universität (Abteilung für Soziale Arbeit), Astana, Kasachstan
    • Tadschikische Nationaluniversität (Fakultät für Phliosophie, Abteilung für Soziale Arbeit), Duschanbe
    • Universität für Humanwissenschaften Bischkek (Abteilung für Soziale Arbeit und Psychologie), Kirgisische Republik

    Die Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen der Mitarbeitenden und Studierenden sowie zur Erstellung von Schulungs- und Ausbildungsunterlagen (Projekt InBeAIDS, Laufzeit bis Ende 2019) dienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stimmte Anfang März 2017 dem Vorschlag der Frankfurter Universität zu, so dass nun die Kooperation vorbereitet wird. Eine erste „fact finding Mission“ fand dazu in den drei Partnerländern im Mai 2018 statt. Da die Unterstützung und die Ausbildung der Sozialarbeit ein wichtiger Bestandteil der Component 4-Aktivitäten des Zentralasien-Drogenaktionsprogramms (CADAP) ist, passt dieses Projekt gut in die CADAP-Ziele und unterstützt die Leistungen des Programms.

    Fazit

    Es gibt in Zentralasien einige grundlegende strukturelle Probleme im Hilfesystem für suchtkranke Menschen, insbesondere für opiatabhängige Menschen. Dazu gehören:

    • der Ausschluss von injizierenden Drogenkonsumenten (IDUs) aus dem (öffentlichen) Gesundheitssystem außerhalb der Narkologie
    • ein nur begrenzter Zugang von IDUs zur Behandlung der Drogenabhängigkeit oder zur Prävention von Drogenabhängigkeit
    • ein nur begrenzter Zugang zur Behandlung von IDUs mit HIV oder Hepatitis C
    • eine nur begrenzte Anzahl von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychotherapeuten
    • das Fehlen eines Akkreditierungssystems für Psychotherapie
    • ein nur sehr beschränkter Zugang zur Substitutionsbehandlung (OST)
    • eine begrenzte Kooperation im Hinblick auf die Prävention und Behandlung von HIV und Hepatitis bei Drogenkonsumenten in (narkologischen) Rehabilitationszentren

    Schulungen zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten sind wirksam und effizient. Dennoch verlangen alle Partner auch finanzielle und technische Unterstützung. Es wird die Notwendigkeit für weitere Qualifikationen und Schulungen in den Bereichen psychotherapeutische Methoden für Kurzzeitinterventionen, Motivationsbefragung, Rückfallverhütung, soziale Rehabilitation, medikationgestützte Behandlung und Behandlung von HIV gesehen.

    Die Trainings wurden durchgeführt von einer Gruppe erfahrener Trainerinnen und Trainer:

    Heino Stöver, Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main

    Gerhard Eckstein, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Suchtreferent Deutsche Rentenversicherung Schwaben, Psychotherapeutische Praxis, Augsburg

    Inga Hart, Dipl.-Sozialpädagogin (M.A., M.Sc.), stellvertretende Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz, München

    Oleg Aizberg, Assistenzprofessor, Belarussische Medizinische Akademie, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Minsk, Belarus

    Irina Zelyeni, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik am Kronsberg STEP, Hannover

    Katharina Schoett, Fachärztin für Psychiatrie / Psychotherapie, Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen

    Ludger Schmidt, Erziehungswissenschaftler, Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), Berlin

    Jörg Pont, Professor, Medizinische Universität Wien, Österreich

    Ingo Ilja Michels, Soziologe, Fachberater für Suchtkrankenhilfe, langjähriger Leiter des Arbeitsstabes der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit; Internationaler Koordinator für CADAP (Behandlungsfragen)

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Ingo Ilja Michels
    Frankfurt University of Applied Sciences
    Nibelungenstraße1
    60318 Frankfurt am Main
    ingoiljamichels@gmail.com
    michels.ingo@fit.fra-uas.de

  • Einschätzungen der aktuellen Drogenpolitik in Deutschland

    Prof. Dr. Heino Stöver (l.) und Dr. Bernd Werse. Foto: Friederike Mannig/Frankfurt UAS

    Der 5. Alternative Drogen- und Suchtbericht (ADSB) will Defizite in der Drogenpolitik identifizieren und gibt, basierend auf Einschätzung von Expertinnen und Experten aus der Sucht- und Präventionsforschung sowie der Drogenhilfe, Empfehlungen für erfolgreiche Maßnahmen.

    Initiatoren des Alternativen Drogenberichts sind das Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), das Centre for Drug Research (CDR) der Goethe-Universität Frankfurt am Main, akzept e.V. – Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, die Deutsche AIDS-Hilfe sowie das Selbsthilfe-Netzwerk JES Bundesverband. Der Bericht wurde am 8. August 2018 von Prof. Dr. Heino Stöver, Geschäftsführender Direktor des ISFF, und Dr. Bernd Werse, Leiter des CDR, an der Frankfurt UAS vorgestellt.

    „Wie in den Vorjahren richten sich unsere Forderungen und Anregungen im Alternativen Drogen- und Suchtbericht gegen die eher selektiv einzuordnende Drogenpolitik der Bundesregierung, die sich im Wesentlichen auf illegale Substanzen bezieht. Der von ihr herausgegebene Drogen- und Suchtbericht zeigt deshalb hauptsächlich, wie die Strafverfolgung den Drogenhandel und -konsum vergeblich versucht, in Schach zu halten, er zeigt jedoch nicht die Versäumnisse und Reformstaus bei der Regulierung legaler Drogen. Der ADSB richtet sich mit konkreten Veränderungsvorschlägen von Expertinnen und Experten an die Politik und Fachverbände und zeigt Wege zu einer rationalen, evidenzbasierten Drogenpolitik auf“, so Stöver.

    „Es gibt viel zu viele relevante Themen, die von der Drogenpolitik der Bundesregierung teilweise oder komplett vernachlässigt werden. In puncto legale Drogen ist Deutschland ein Entwicklungsland. Daher wurde es dringend notwendig, diesen Themen mit dem ADSB ein Forum zu bieten”, erklärt Werse.

    Die Autoren des 5. ADSB kritisieren unter anderem, dass Konsumentinnen und Konsumenten immer stärker in den Fokus von Strafverfolgungsbehörden gerieten. Die gestiegene Zahl von Delikten betreffe inzwischen zu über 70 Prozent die Konsumentinnen und Konsumenten selbst und die (eigentlich) erlaubten Mengen zum Eigenbedarf. „Mit polizeilichen Mitteln ist es kaum möglich, Herstellung und Vertrieb von Drogen zu unterbinden. Stattdessen müssen Lösungen gefunden werden, um den Drogenmarkt zu regulieren und eine medikamentengestützte Behandlung zu ermöglichen“, erklärt Stöver. Außerdem, so Stöver, gehe es um die Ermöglichung eines legalen Zugangs zu der am häufigsten genutzten illegalen Droge Cannabis. Der ADSB zeigt in diesem Zusammenhang Beispiele anderer Länder.

    Der Bericht beschäftigt sich zudem damit, wie der Umgang mit drogenkonsumierenden Gefängnisinsassen erfolgen solle und welche Maßnahmen beim Übergang von der Haft in die Freiheit beachtet werden müssten. Weitere Schwerpunktthemen der 5. Ausgabe des ADSB sind der Umgang mit dem Konsum von Cannabis sowie der Umgang mit den legalen Drogen Alkohol und Tabak.

    „Während Menschen, die ab und zu einen Joint rauchen, mit dem Strafrecht bedroht werden, erlaubt Deutschland als mittlerweile einziges EU-Land noch die Außenwerbung für Tabak. Alkohol ist so billig und leicht verfügbar wie in keinem anderen westlichen Land. Hier besteht dringender Reformbedarf von beiden Seiten, zumal aus der Präventionsforschung bekannt ist, dass sowohl schrankenlose Kommerzialisierung als auch strikte Repression das Schadenspotenzial einer Droge erhöhen“, erklärt Werse.

    Der komplette ADSB steht unter http://alternativer-drogenbericht.de/ zum Download zur Verfügung. Die Printversion wird von Pabst Science Publishers verlegt und kann für 15 Euro erworben werden. Zudem ist der Bericht als eBook erhältlich.

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), 08.08.2018

  • Drogenabhängige zwischen Therapie und Strafe

    Seit über 45 Jahren gibt es ‚Drogenhilfe‘ in Deutschland. Eine der ersten Drogenberatungsstellen wurde 1972 in München eröffnet. Federführend dabei: Alexander Eberth, damals Vereins-, heute Aufsichtsratsvorsitzender von Condrobs e. V., einem der größten deutschen Suchthilfeträger. Im Hauptberuf ist er seit 1972 Rechtsanwalt und hat sich als Experte für Betäubungsmittelrecht einen Namen gemacht. Ein ‚Betäubungsmittelgesetz‘ gibt es in Deutschland seit 1971. 1981 wurde es um die heftig umstrittenen Therapiebestimmungen für betäubungsmittelabhängige Straftäter ergänzt.

    In einem KONTUREN-Interview gab Alexander Eberth Anfang November Auskunft darüber, was in den vergangenen 35 Jahren aus den „Therapie statt Strafe“-Regelungen im Betäubungsmittelgesetz geworden ist. Angesichts der Doppelbelastung, die drogenabhängige Menschen durch ihre Abhängigkeitserkrankung und die Strafbestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes erleben, erläuterte er, was Fachkräfte bei der Beratung und Behandlung Drogenabhängiger unbedingt berücksichtigen müssen. Schließlich formulierte er seine Wünsche an die Zukunft der Rechtsprechung im Bereich Betäubungsmittelkriminalität.

    Es bleibt ein desillusionierendes Fazit: Das Betäubungsmittelgesetz mit seinen Therapiebestimmungen hat sich in den vergangenen 35 Jahren zu einem Strafverfolgungsrecht verdichtet. Die Interessen der Drogenabhängigen – Verbesserung und Schutz ihrer Gesundheit – verlieren sich heute in einer rigorosen Verfolgung und dem (Irr)Glauben, durch Verknappung und verschärftes Recht das Drogenproblem in den Griff bekommen zu können. Alle Maßnahmen, die bisher eingeleitet wurden, sind kontraproduktiv, weil sie Drogenabhängige daran hindern, Hilfeangebot anzunehmen, denn sie müssen bei einer Offenlegung ihrer Abhängigkeit immer damit rechnen, dass strafrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Das Interview führte Jost Leune vom Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V.

    Jost Leune