Schlagwort: Politik

  • Dieses Spiel muss ein Ende haben!

    Dieses Spiel muss ein Ende haben!

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Nach einer aktuellen Repräsentativerhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gelten in Deutschland über 200.000 Menschen als glücksspielabhängig. Zusätzlich zeigen 240.000 Menschen ein zumindest problematisches Spielverhalten. Als Risikofaktoren für eine Glücksspielproblematik gelten: männliches Geschlecht, Alter bis 25 Jahre, niedriger Bildungsstatus und Migrationshintergrund. 16 Prozent der glücksspielsüchtigen Klienten in Beratungsstellen haben eine Verschuldung von bis zu 25.000 Euro, zehn Prozent sogar bis 50.000 Euro. Die Suizidrate ist bei Glücksspielabhängigen im Vergleich zu anderen Suchterkrankungen signifikant höher.

    Das Glücksspiel mit dem höchsten Suchtrisiko

    Die Deutsche Suchthilfestatistik weist aus, dass ca. 75 Prozent der Menschen, die von Glücksspielen abhängig sind und sich in Behandlung begeben, durch Geldspielautomaten abhängig geworden sind. Das Spiel an Geldspielautomaten gilt als das Glücksspiel mit dem höchsten Suchtrisiko. Erst 2012 hat die Politik im Glücksspielstaatsvertrag das Automatenspiel als Glücksspiel definiert, nachdem es der Branche jahrzehntelang gelungen war, der Politik und der Öffentlichkeit Geldspielautomaten als „Unterhaltungsgeräte mit Geldgewinnmöglichkeiten“ zu verkaufen.

    Als im April 2014 Hessen als erstes Bundesland flächendeckend ein Spielersperrsystem für alle Spielhallen verpflichtend eingerichtet hatte, beschwerte sich der Hessische Münzautomatenverband schon vor Jahresablauf darüber, dass die Umsätze bereits um 26 Prozent zurückgegangen wären. In wenigen Monaten hatten sich in Hessen 7.000 Menschen als Eigenschutzmaßnahme vor den Folgen ihrer Glücksspielabhängigkeit selbst sperren lassen. Derzeit umfasst die Sperrdatei in Hessen ca. 12.000 Menschen. Der Anteil der dabei von Spielhallenbetreibern ausgesprochenen Fremdsperren ist dabei mit 120 äußerst gering.

    Die Universität Hamburg hat internationale Studien ausgewertet und ist zu dem Schluss gekommen, dass etwa 15 Prozent der Spieler in Spielhallen 70 Prozent der Umsätze generieren. Das heißt, das Geschäftsmodell der Spielhallen basiert auf wenigen Intensivspielern, die glücksspielabhängig und somit krank sind.

    Die Liberalisierung der Spielverordnung 2006 hat der Spielhallenbranche enorme Expansionsmöglichkeiten geboten. Die Anzahl der Spielhallen und deren Umsätze sind in der Folge regelrecht explodiert: von 2,4 Milliarden Euro (2005) auf 4,7 Milliarden Euro (2014). Inzwischen umfassen die Spielhallenbruttospielerträge fast die Hälfte des gesamten Glücksspielmarktes in Deutschland.

    Wirksame Präventionsmaßnahmen führen automatisch zu Umsatzrückgängen

    Eine Korrektur dieser Entwicklung sollten im Jahre 2012 der Glücksspielstaatsvertrag und entsprechende Länderspielhallengesetze erreichen. Darin wurde u. a. festgelegt, dass – nach einer Übergangszeit von fünf Jahren – zwischen zwei Spielhallen ein Mindestabstand liegen muss, je nach Bundesland zwischen 100 und 500 Metern. Darüber hinaus darf in einem Gebäude nur noch eine Spielhalle mit maximal zwölf Geräten existieren. Nach Ablauf der Übergangsfrist steht im Jahre 2017 in vielen Bundesländern nun die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben an. Dies führt seit geraumer Zeit in der Branche zu vielfältigen Aktivitäten im Rahmen der ‚politischen Landschaftspflege‘. Alle Register der politischen Lobbyarbeit werden gezogen, um die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zu verhindern: Der Politik wird mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen und Steuerausfällen gedroht, langwierige juristische Auseinandersetzungen werden angedeutet, aber auch Selbstverpflichtungen angeboten. Das „gemeinsame Ziel“, die Zahl der pathologischen Spieler in Deutschland gering zu halten, wird beschworen und das Bemühen der Branche um Prävention in den Mittelpunkt gestellt.

    Dabei ist klar, dass wirksame Präventionsmaßnahmen in Spielhallen automatisch zu massiven Umsatzrückgängen führen müssen: Würden die glücksspielsüchtigen Intensivspieler konsequent davon abgehalten zu spielen, wären viele Spielhallen nicht mehr überlebensfähig. Deshalb widersprechen effektive Präventionsmaßnahmen dem Gewinnstreben der Spielhallenbetreiber. Im Umkehrschluss kann man davon ausgehen, dass die Präventionsaktivitäten und Selbstverpflichtungen der Branche letztlich ineffektiv sind und nur dazu dienen, Imagepflege zu betreiben, Zeit zu gewinnen und möglichst weiter ungestört enorme Umsätze zu generieren.

    Rückendeckung für die Kommunalpolitik

    Vor allem die Kommunalpolitik ist jetzt gefragt, standhaft zu bleiben und für den Vollzug der anstehenden gesetzlichen Vorgaben vor Ort sorgen. Die damit verbundene Reduzierung von Spielstätten war mit den Änderungen der Gesetzgebung 2012 vom Gesetzgeber gewollt. Die damit verbundenen Rückgänge der kommunalen Steuereinnahmen stehen in keinem Verhältnis zu den jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten von 1,9 bis 3,6 Milliarden Euro durch den Ausfall von Arbeitskraft, durch Therapien, Behandlungen, Privatinsolvenz, Beschaffungskriminalität etc., die das gewerbliche Automatenspiel laut einer Bewertung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Universität Hamburg verursacht.

    Deshalb braucht die Kommunalpolitik Rückendeckung bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben durch starke und klare Haltungen der Landes- und Bundespolitik zur Glücksspielproblematik. Das Recht der Bevölkerung auf Schutz der Gesundheit darf nicht den Partikularinteressen eines auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftszweiges geopfert werden.

    Literatur beim Verfasser

    Dieser Artikel ist auch in der Frankfurter Rundschau vom 6./7. August 2016 erschienen.

    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Hessische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS)
    Zimmerweg 10
    60325 Frankfurt a. M.
    Tel. 069/71 37 67 77
    wsr@hls-online.org
    www.hls-online.org

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Erziehungswissenschaftler und Suchttherapeut. Seit 1998 ist er Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS).

  • Modelle der Cannabisregulierung

    Modelle der Cannabisregulierung

    Frank Zobel
    Marc Marthaler

    In den letzten Jahren hat international ein so grundlegender Wandel in der Drogenpolitik – insbesondere in Bezug auf Cannabis – stattgefunden, dass ohne Weiteres von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann. Mit dem Erlass von neuen Gesetzgebungen für Cannabis in US-amerikanischen Staaten und in Uruguay gerät die über Jahrzehnte international vorherrschende Cannabispolitik allmählich ins Wanken. Damit einher geht die Entwicklung von neuen Regulierungsmodellen, die zeigen, wie sich Gesellschaften zu Beginn des XXI. Jahrhunderts den Umgang mit dieser jahrzehntelang verbotenen Substanz vorstellen. Im Folgenden werden bestehende und geplante Modelle dargestellt. Dieser Artikel stützt sich in weiten Teilen auf den Bericht von Zobel & Marthaler (2014).

    Was in der Öffentlichkeit über viele Jahre als kaum hinterfragte Tatsache akzeptiert wurde – nämlich dass Cannabis illegal ist – wurde maßgeblich durch das „Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel“ von 1961 festgelegt (engl. „Single Convention on Narcotic Drugs“, verabschiedet von den Vereinten Nationen/United Nations). Dieses Abkommen bildete seitdem die Basis der weltweiten Drogenpolitik und damit auch des Cannabisverbotes. Im Verlauf der letzten Jahre haben sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von vier Bundesstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika sowie das Parlament des unabhängigen Staats Uruguay für die Legalisierung des Cannabiskonsums und die Regulierung des Cannabismarktes ausgesprochen. Schon zuvor sind in verschiedenen Regionen Spaniens und Belgiens Vereinigungen von Cannabiskonsumierenden entstanden, während das holländische Modell, welches den Verkauf und den Besitz kleiner Mengen von Hanfprodukten toleriert, Reformen unterzogen wurde.

    Das aktuelle Spektrum der Regulierungsmodelle ist breit gefächert. Es umfasst verhältnismäßig offene, marktwirtschaftliche Märkte in den Bundesstaaten Colorado und Washington, einen streng durch den Staat verwalteten und geregelten Markt in Uruguay, die Tolerierung des Verkaufs von kleinen Mengen in den Niederlanden und die Gründung von nicht gewinnorientierten Vereinigungen von Cannabiskonsumierenden innerhalb rechtlicher Grauzonen in Spanien und Belgien. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede der verschiedenen existierenden oder geplanten Modelle?

    Das marktwirtschaftliche Modell der US-Bundesstaaten Colorado und Washington

    Der Cannabiskonsum ist in den Vereinigten Staaten seit jeher höher als in Europa. Hier liegt einer der Gründe, warum elf Bundesstaaten schon während der 1970er Jahre den Cannabiskonsum entkriminalisiert haben. In den 1990er Jahren entwickelte sich mit der medizinischen Verschreibung von Cannabis ein neues Phänomen, und bis 2015 hatten mehr als zwanzig Bundesstaaten eine Regelung für den therapeutischen Gebrauch von Cannabis.

    Diese Entwicklung hat den Bestrebungen zur Legalisierung und Marktregulierung für Cannabisprodukte für den rekreativen Gebrauch in den Vereinigten Staaten neuen Elan verschafft, und im November 2012 stimmten die Bürger der Bundesstaaten Washington und Colorado für die ersten regulierten Cannabismärkte der Welt. Colorado führte am 1. Januar 2014 erstmalig weltweit einen solchen Markt ein, Washington folgte am 8. Juli desselben Jahres, und in den zwei Bundesstaaten Oregon und Alaska wurde noch im gleichen Jahr ein entsprechendes Gesetz angenommen.

    Regulierungsmodalitäten

    In Washington und Colorado ist der Cannabismarkt in die drei Teile Produktion, Verpackung/Vertrieb und Verkauf gegliedert. Die Beteiligung auf einer der drei Ebenen erfordert eine staatliche Lizenz und eine Bewilligung der Gemeinde. In Washington verhindern die gesetzlichen Bestimmungen, dass man gleichzeitig auf mehreren Ebenen des Cannabismarktes tätig sein kann, wogegen in Colorado zunächst die umgekehrte Logik galt: Hier durften die Produzenten nur einen kleinen Teil (30 Prozent) ihrer Produktion an Händler verkaufen; den größten Teil mussten sie in ihren eigenen Geschäften anbieten. Diese Art der Produktion und Vermarktung lehnte sich an die Bestimmungen des medizinischen Gebrauchs von Cannabis an. Tatsächlich wurden in den ersten Monaten in Colorado Lizenzen ausschließlich an Produzenten und Händler erteilt, die im therapeutischen Bereich aktiv waren. Der Vorteil lag zweifellos darin, dass die Partner bekannt und schon mit einem regulierten Cannabismarkt vertraut waren. Ende 2014 wurden diese Regeln hinfällig, und die Bevorzugung von Produzenten und Händlern aus dem Bereich der medizinischen Cannabisprodukte wurde aufgehoben.

    Cannabis wird in undurchsichtigen Verpackungen verkauft, die von Kinderhänden nicht geöffnet werden können (child proof) und die zudem mit einer amtlichen Produktinformation versehen sein müssen, die unter anderem über den THC-Gehalt und die verwendeten Düngemittel Auskunft gibt (Ingold, 2013). Für den Erwerb von Cannabisprodukten – ebenso wie für Alkohol – gilt sowohl in Colorado wie auch in Washington ein Mindestalter von 21 Jahren. In spezifischen Verkaufsstellen darf pro Einkauf höchstens eine Unze (ca. 28,4 Gramm) erworben werden. In Colorado dürfen nicht ansässige Personen nur ein Viertel dieser Menge kaufen, während Einwohner zudem bis zu sechs Pflanzen zum Eigengebrauch halten können. In Washington gibt es keine Einschränkungen für auswärtige Cannabiskonsumierende. Die Haltung von bis zu 15 eigenen Pflanzen ist hingegen nur Einwohnern erlaubt, die im Besitz einer ärztlichen Verschreibung sind.

    In beiden Bundesstaaten entscheiden staatliche Kontrollorgane über das Erteilen, den Widerruf oder die Verlängerung von Lizenzen. Zur Überwachung der gesamten Produktion und um zu verhindern, dass Cannabis in den Schwarzmarkt gelangt, wurde ein System zur Produktverfolgung „vom Samen bis zum Konsumenten“ eingerichtet (metrc – Marijuana Enforcement Tracking Reporting Compliance, 2014). Werbung für Cannabisprodukte sollte in beiden Bundesstaaten sehr restriktiv geregelt werden. Allerdings wird dieses Werbeverbot nun unter Berufung auf den ersten Verfassungszusatz (1st amendment) der Vereinigten Staaten angefochten. Es ist daher möglich, dass ein striktes Werbeverbot in Zukunft nicht durchgesetzt werden kann.

    Steuern

    Washington hat zunächst die höchsten Steuerabgaben auf Cannabis erhoben. Auf jeder der drei Wertschöpfungsebenen (Produktion, Verpackung/Vertrieb und Verkauf) wurden vom Staat 25 Prozent Steuern erhoben. Seit dem 1. Juli 2015 wird nur noch eine Verkaufssteuer von 37 Prozent erhoben (Department of Revenue Washington State, 2015). Dazu kommt eine allgemeine Umsatzsteuer von 8,75 Prozent, die für alle Güter gilt. In Colorado beträgt die Grundtaxierung auf Cannabis lediglich 15 Prozent, hinzu kommt die allgemeine Warenumsatzsteuer von 2,9 Prozent. Zusätzlich aber werden eine Cannabis-Verkaufssteuer von 10 Prozent (Bremner & Del Giudice, 2014) sowie örtliche Abgaben erhoben. Ob in Washington oder in Colorado, Cannabis ist in jedem Fall mit hohen Abgaben belegt, wobei die Preise tendenziell sinken (zwischen Herbst 2014 und Frühling 2015 geschätzt um etwa 16 Prozent in Colorado). In Washington sollen diese Steuereinnahmen zum größten Teil in einen Spezialfonds für soziale und medizinische Dienstleistungen fließen, und in Colorado sind Teile dieser Gelder für den Bau neuer Schulen vorgesehen.

    Das staatlich kontrollierte Modell Uruguays

    In Uruguay wird der Drogenkonsum nicht strafrechtlich verfolgt, sofern es sich beim Besitz von Betäubungsmitteln um eine ‚vernünftige Menge‘ handelt. Der Cannabiskonsum ist relativ hoch und hat in den 2000er Jahren bei den Jugendlichen stark zugenommen. Parallel dazu hat sich wie im Nachbarland Argentinien der Konsum der Kokain-Basispaste Paco verbreitet. In Uruguay ist die Trennung der Märkte für Cannabis und für Paco eines der Argumente für eine Legalisierung von Cannabisprodukten.

    Die Regierung Uruguays stellte ihr Projekt zur Regulierung des Cannabismarktes im Juni 2012 vor. Der Gesetzesentwurf ging im August an das Parlament, wurde jedoch erst ein Jahr später vom Repräsentantenhaus angenommen. Am 10. Dezember 2013 stimmte auch der Senat zu. Damit erhielt Uruguay als erstes Land ein Gesetz zur Legalisierung von Cannabis.

    Regulierungsmodalitäten

    Das Modell Uruguays unterscheidet sich in vielen Punkten von den Modellen in den Bundesstaaten Colorado und Washington. Das südamerikanische Land regelt zum einen die Produktion von und den Handel mit Cannabis sowie den Besitz von Hanfpflanzen zum persönlichen Gebrauch. Zum anderen regelt es auch den Anbau von Pflanzen im Rahmen einer Vereinigung. Laut Gesetz darf jeder Bewohner Uruguays, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, entweder:

    a) Cannabis in bestimmten Apotheken kaufen oder
    b) die Pflanzen selbst anbauen oder
    c) Mitglied eines „Cannabis Konsum Clubs“ werden.

    Diese Möglichkeiten schließen sich gegenseitig aus. Die „Cannabis Konsum Clubs“ bestehen aus 15 bis 45 Personen und erhalten die Genehmigung zum gemeinsamen Anbau von Hanfpflanzen. In jedem Fall müssen sich Konsumenten beim „Institut für die Regulierung und die Kontrolle von Cannabis“ (IRCCA) registrieren lassen. Diese Pflicht gilt auch für die Cannabisproduzenten und für die Apotheken, die Cannabisprodukte verkaufen. Mit der Registrierung auf allen Wertschöpfungsebenen will die Regierung nicht nur den Markt kontrollieren und regulieren, sondern auch Personen erkennen, die durch einen problematischen Umgang mit dem Produkt auffallen.

    Im uruguayischen Modell sind genaue Mengen vorgeschrieben, die verkauft oder angebaut werden dürfen. So dürfen registrierte Nutzer bis zu 40 Gramm pro Monat in zugelassenen Apotheken kaufen oder höchstens sechs Hanfpflanzen für den Eigenbedarf besitzen. Die Cannabis-Clubs können je nach Mitgliederzahl bis zu 99 Pflanzen im Jahr anbauen. All diese Modalitäten unterliegen jedoch der Bestimmung, dass der maximal erlaubte Konsum in Uruguay auf 480 Gramm pro Jahr beschränkt ist, was etwa 1,3 Gramm pro Tag entspricht (Kilmer et al., 2013).

    Stand der Umsetzung

    Nach der Präzisierung verschiedener Anwendungsbestimmungen wird das uruguayische Regelwerk seit Mai 2014 Schritt für Schritt umgesetzt. Ab August 2014 konnten sich Bewerber und Bewerberinnen für den Anbau zum Eigenbedarf registrieren. Inzwischen haben sich rund 2.200 Personen für den Eigenbau registrieren lassen, und 18 Vereinigungen mit insgesamt etwa 700 Mitgliedern befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Registrierungsprozesses. Zudem ist das Auswahlverfahren für Produzenten, die Apotheken beliefern dürfen, im Gange (elf Kandidaten), und eine Präventionskampagne wurde lanciert.

    Cannabis Social Clubs in Spanien und Belgien

    Spanien

    Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichts gelten der Besitz von Cannabis zum persönlichen Gebrauch und der Konsum in Spanien nicht als Straftat. Ebenso betrachtet die spanische Rechtsprechung weder den gemeinsamen Konsum noch den gemeinschaftlichen Erwerb von Drogen durch abhängige Konsumierende als Straftat.

    Vor dem Hintergrund dieser richterlichen Praxis hat sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine Bewegung entwickelt, die sich für den Selbstanbau von Hanfpflanzen im Rahmen von Gruppen Erwachsener einsetzt. Die Initianten argumentieren wie folgt: Der Anbau einer oder mehrerer Pflanzen für den Eigenbedarf stellt keine Straftat dar. Dasselbe gilt für den gemeinschaftlichen Erwerb von Cannabis sowie für den gemeinsamen Konsum. Also kann es auch keine Straftat sein, wenn ein privater Personenkreis Pflanzen anbaut, die Ernte unter sich aufteilt und das Cannabis gemeinsam konsumiert (Kilmer et al., 2013).

    Die Vereine von Cannabiskonsumierenden werden oft als Cannabis Social Clubs (CSC) bezeichnet. Aufgrund fehlender staatlicher Regulierung haben sich die Akteure ihre Regeln selbst auferlegt. Der spanische Cannabis-Dachverband FAC (Federación de Asociaciones Cannábicas) hat die Rahmenbedingungen definiert (Kilmer et al., 2013), und die belgische Non-Profit-Organisation ENCOD – European Coalition for Just and Effective Drug Policies hat einen besonderen Verhaltenskodex für europäische Cannabis Social Clubs festgelegt (ENCOD, 2011).

    CSC funktionieren als Non-Profit-Organisationen, die ausschließlich Erwachsenen zugänglich sind. Wer Mitglied eines CSC werden möchte, muss sich als Cannabiskonsument erklären oder ein ärztliches Rezept für den Bezug dieser Substanz vorlegen. In einigen Fällen bedarf es zudem der Empfehlung eines bisherigen Mitglieds, um aufgenommen zu werden. Das Mindestalter beträgt in der Regel 18 Jahre (Volljährigkeit). In gewissen Fällen wurde das Eintrittsalter auf 21 Jahre angehoben. Das Ziel der CSC besteht im Anbau von Cannabis für den Eigengebrauch der Clubmitglieder. Die Substanz wird oft vor Ort eingenommen, das heißt im privaten Clubraum, wo das Cannabis auch ausgegeben wird. Zwischen den Mitgliedern des CSC darf kein Handel entstehen, weshalb die Menge Cannabis pro Mitglied beschränkt ist. Die übliche Tagesmenge beträgt zwei bis drei Gramm (Barriuso Alonso, 2011). Laut  ENCOD soll die Produktionskapazität eines CSC auf der zu erwartenden Höhe des jährlichen Verbrauchs seiner Mitglieder basieren. Dazu kommt eine angemessene Menge als Reserve. Die Aufzucht der Pflanzen erfolgt durch Mitglieder des Vereins oder durch Dritte. Die CSC sollten umfassend und transparent Buch darüber führen, in welchem Stadium des Lebenszyklus sich der Anbau befindet und welche Anbaumethoden angewendet werden und natürlich über die für die Weitergabe geeigneten Erntemengen.

    In Spanien haben sich die CSC in letzter Zeit sehr schnell entwickelt. Die Regierung schätzte ihre Anzahl im Jahr 2014 auf 700, während es vier Jahre zuvor gerade rund vierzig gab. Etwa 400 CSC sind in Katalonien eingetragen, davon die Hälfte allein in Barcelona. Dort hat sich ein regelrechter Cannabistourismus etabliert, denn die Clubs sind für alle zugänglich, die Cannabis konsumieren wollen, und die Betreiber der Clubs versuchen, Touristen übers Internet oder auf der Straße zu einem Besuch zu animieren. Die Behörden der Stadt haben auf diese Entwicklung reagiert und über 150 CSC kontrolliert. Etwa ein Drittel davon wurde geschlossen. Zudem hat die Stadt ein Moratorium erlassen, das die Eröffnung neuer CSC für die nächsten zwölf Monate verbietet.

    Die explosionsartige Entwicklung der CSC, die auch die Grenzen der Autoregulierung der Clubs offenbart, bewog die Behörden dazu, strengere Regeln für eine Regulierung zu erarbeiten – eine Entwicklung, die auch von einem Teil der CSC gewünscht und unterstützt wird. Die katalanischen Behörden sind zurzeit dabei, ein Ensemble von Regeln zu entwickeln, das namentlich folgende Elemente enthalten würde: das Verbot, CSC in der Nähe von Schulen zu eröffnen, die Begrenzung der Mitgliederzahl und der Öffnungszeiten sowie das Verbot von Werbung und der Bezahlung mit Bargeld. Ein Mindestalter von 21 Jahren und die spanische Staatsangehörigkeit würden die zwei Aufnahmebedingungen bilden, und neue Mitglieder könnten Cannabis erst nach 15 Tagen beziehen. Zudem könnte die maximale Bezugsmenge auf 60 bis 100 Gramm pro Monat festgelegt werden (The Guardian, 2014).

    Als die ersten CSC gegründet wurden, waren die Initianten der Überzeugung, dass es sich hierbei nur um ein Übergangmodell zu einem mit dem Tabak- oder Alkoholmarkt vergleichbaren Modell handelt, bei dem nicht nur die Produktion und der Konsum, sondern auch der Handel komplett legal wären. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass es sich bei den CSC um ein langfristig tragfähiges Modell handelt, bei dem die Entscheidungen nicht in den Händen von einigen wenigen Personen liegen, sondern die Versorgung ohne Gewinnabsichten durch eine Gruppe von Interessierten demokratisch geregelt werden kann (Barriuso Alonso, 2011).

    Belgien

    Ähnlich wie in Spanien präsentiert sich die Situation in Belgien. Grundsätzlich verbietet die belgische Gesetzgebung die Produktion und den Besitz von Cannabis. Allerdings schwächt eine Verordnung des Justizministeriums und der Vereinigung der Staatsanwälte von 2005 diese Norm ab: Der Besitz von Cannabis für den Eigenbedarf wurde in der Skala der Straftaten erheblich zurückgestuft, sofern keine erschwerenden Umstände vorliegen. In der Praxis bedeutet das: Eine erwachsene Person, die bis zu drei Gramm Cannabis oder eine Hanfpflanze besitzt, kann zu einer Geldbuße verurteilt werden. Es erfolgt jedoch kein Eintrag ins Strafregister, und das Cannabis muss von den Ordnungskräften nicht eingezogen werden (Kilmer et al., 2013).

    Im Jahr 2006 wurde der Cannabis Social Club „Trekt Uw Plant“ (Ziehe deine eigene Pflanze!) gegründet. Die Organisation stützte sich darauf, dass der Besitz einer Pflanze für den Eigengebrauch toleriert wurde, und plädierte für den gemeinsamen Anbau entsprechend der Anzahl Clubmitglieder (Decorte, 2015). Nach der Wahl einer neuen, konservativen Regierung im Herbst 2014 soll die Null-Toleranz-Politik, die schon seit längerem in der Stadt Antwerpen gilt, auf das ganze Land ausgedehnt werden. Was das für die belgischen Cannabisclubs bedeutet, ist noch offen.

    Das Coffeeshop-Modell der Niederlande

    In den Niederlanden sind Verkauf und Besitz kleiner Cannabismengen grundsätzlich verboten, seit 1976 wird dies de facto jedoch toleriert. Ebenso wird der Besitz von Hanfpflanzen für den persönlichen Gebrauch (bis zu fünf Stück) nicht geahndet. Diese Politik verfolgt als Hauptziel, die Trennung des Marktes für ‚weiche‘ Drogen (Cannabis) von dem der anderen Drogen.

    Jede Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann unabhängig von ihrem Wohnsitz bis zu fünf Gramm Cannabis in eigens dafür zugelassenen Läden, den Coffeeshops, kaufen. Eine Studie des Trimbos Institute von 2013 zeigte einen durchschnittlichen THC-Gehalt von 13,5 Prozent. Dieser lag tiefer als in den vorangegangenen Jahren. Die meistverkaufte Cannabisqualität kostete 9,60 Euro pro Gramm (Netherlands Info Service, 2013). In Coffeeshops dürfen höchstens 500 Gramm Cannabis gelagert werden. Dadurch sind gewisse Händler gezwungen, mehrmals täglich Nachschub zu beschaffen. Das niederländische Modell birgt ein grundsätzliches Paradox, das so genannte Back-Door-Problem: Da der Anbau von Cannabis weiterhin als Straftat gilt, müssen die Produkte, die in Coffeeshops verkauft werden, weiterhin auf dem Schwarzmarkt erworben werden.

    Die Regulierung der Coffeeshops ist in den letzten Jahren mehrmals diskutiert worden, und inzwischen verlangen manche Gemeinden die Beseitigung des Back-Door-Problems: Die Produktion von Cannabis, welches in den Coffeeshops verkauft wird, sollte keine Straftat mehr darstellen. Als Lösung wurden von den Städten verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen wie z. B. die Vergabe von Lizenzen, die Förderung von Konsumenten-Clubs oder auch ein städtisches Monopol für die Cannabisproduktion (Rolles, 2014).

    Regulierungsprojekte in der Schweiz

    Zu Beginn der 2000er Jahre sah es danach aus, als ob die Schweiz als erstes Land der Welt ein Gesetz zur Regulierung des Cannabismarktes einführen würde. Die Argumente für die Regulierung waren der Jugendschutz und der Kampf gegen den Schwarzmarkt. Der vom Bundesrat vorgestellte Entwurf für ein revidiertes Betäubungsmittelgesetz sah die Legalisierung des Cannabiskonsums vor (Der Schweizerische Bundesrat, 2001). Für Produktion und Verkauf von Cannabisprodukten sollten Ausnahmen von der Strafverfolgung gelten. Das Projekt sah Straffreiheit vor, wenn Cannabis in geringen Mengen an Personen über 18 Jahren verkauft wird, sofern dadurch die öffentliche Ordnung nicht gefährdet, keine Werbung betrieben und keine Ein- und Ausfuhr ermöglicht wird.

    Der Gesetzesentwurf enthielt auch Vorschriften über Anbauflächen, Lizenzen und Verkaufsstellen und den Höchstgehalt an THC sowie die Regulierung von Produktion und Verkauf. Die Kantone blieben frei, strengere Vorschriften auf ihrem Hoheitsgebiet zu erlassen. Es oblag den Produzenten, den Beweis zu erbringen, dass die Ernte ausschließlich an Kundschaft in der Schweiz ausgeliefert würde. Der Anbau von Hanfpflanzen sollte unter Angabe der Sorte, der Anbaufläche, des Anbauortes, der Abnehmer etc. meldepflichtig werden.

    Nach einem dreijährigen Vernehmlassungsprozess (Phase im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren, in der Kantone, politische Parteien und andere Interessierte Stellung zum geplanten Gesetz nehmen können) und verschiedenen Debatten wurde im Juni 2004 auf die Revision des Betäubungsmittelgesetzes verzichtet. In der Zwischenzeit hatten einige Kantone begonnen, einen Cannabismarkt zu tolerieren. Landesweit sollen mehr als 200 Hanfläden entstanden sein. Diese Entwicklung ging mit der Aufgabe der Gesetzesrevision zu Ende. Danach folgten 2004 und 2008 zwei gescheiterte politische Vorstöße, die das Ziel hatten, das Cannabisverbot zu lockern. Mit der 2008 vom Volk angenommenen Teilrevision des Betäubungsmittelgesetzes und dem Parlamentsbeschluss von 2012 zum Ordnungsbußenverfahren für Cannabis wird in der Schweiz der Konsum einer geringfügigen Menge von Cannabis (max. 10 Gramm) durch erwachsene Personen mit einer Ordnungsbuße von 100 Fr. bestraft. Cannabis bleibt somit verboten, aber eine Strafverfolgung wird außer in Ausnahmefällen nicht aufgenommen.

    Aber auch nach der gescheiterten Initiative zur Legalisierung von Hanfprodukten und der de facto Entkriminalisierung des Konsums bleibt die Debatte rund um Cannabis hochaktuell. Seit einigen Jahren wurden in größeren Schweizer Städten (Zürich, Luzern, Bern, Biel, St. Gallen, Lausanne, Winterthur) und in einem Kanton (Basel-Stadt) Postulate oder parlamentarische Initiativen mit dem Ziel eingereicht, die Debatte über einen alternativen Umgang mit der Produktion und dem Handel von Cannabis neu zu lancieren. Derzeit ist die öffentliche Diskussion in Genf am weitesten fortgeschritten. Hier möchte eine Gruppe Abgeordneter im Rahmen eines Pilotprojekts Vereinigungen von Cannabiskonsumierenden nach dem spanischen Modell der Cannabis Social Clubs zulassen.

    Schlüsselelemente der Regulierung

    Die bestehenden oder geplanten Regulierungsmodelle lassen sich drei Kategorien zuordnen: dem kommerziellen Markt, der als einziger – wenn auch stark reguliert – marktwirtschaftlich funktioniert, dem Staatsmonopol und den Vereinigungen. Die beiden letzteren wollen verhindern, dass sich ein privater und profitorientierter Handel mit Cannabisprodukten entwickeln kann. Alle Modelle greifen trotz ihrer Unterschiede auf ein gemeinsames Ensemble von Maßnahmen zurück, die je nach Modell unterschiedlich gehandhabt und gewichtet werden:

    • Regulierung der Produktion
    • Verkaufsbewilligungen
    • Mengenbegrenzungen für den Verkauf
    • Konsumeinschränkungen
    • Qualitätskontrollen
    • Altersbeschränkungen
    • Besteuerung
    • Werbung
    • Marktüberwachung

    Weitere Maßnahmen können die Erkennung von problematisch Konsumierenden oder die Einschränkung des Verkaufs an nicht Ortsansässige betreffen. Allen Modellen gemeinsam ist die Bestrebung, den illegalen Markt zu schwächen und den Cannabismarkt von anderen Drogenmärkten abzugrenzen. Und generell ist Cannabis bedeutend strenger reguliert als Alkohol. In Zukunft wird sich zeigen, welches Modell bzw. welche Modelle langfristig politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich tragfähig sein werden und ob es noch Raum für andere Formen der Regulierung gibt.

    Kontakt:

    Marc Marthaler
    Sucht Schweiz
    Av. Louis-Ruchonnet 14
    Postfach 870
    CH-1001 Lausanne
    mmarthaler@suchtschweiz.ch
    www.suchtschweiz.ch

    Angaben zu den Autoren:

    Marc Marthaler ist Projektleiter bei Sucht Schweiz.
    Frank Zobel ist Vizedirektor ad interim bei Sucht Schweiz.

    Literatur:
  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

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    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de

  • Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation

    Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation

    Helga Meeßen-Hühne
    Helga Meeßen-Hühne

    Helga Meeßen-Hühne ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Sie beschreibt, welche Funktion die ambulante Suchthilfe auf Landesebene erfüllt und welche Strategien nötig und möglich sind, um ihre Finanzierung zu sichern. Der Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin im September 2014 auf der „23. Fachtagung Management in der Suchttherapie“ des buss in Kassel gehalten hat.

    1. Wer ist eigentlich die ambulante Suchthilfe?

    „Die“ ambulante Suchthilfe gibt es nicht

    Griffiger Titel – komplexe Gemengelage: Wer handelt in wessen Auftrag mit welchem Ziel in Kooperation mit wem? Verschiedenste gesetzliche Regelungen formulieren für den Suchtbereich jeweils unterschiedliche Anspruchsberechtigte, Erbringer und Ziele der Leistung: das SGB II über die Grundsicherung für Arbeitsuchende, das SGB V über die gesetzliche Krankenversicherung, das SGB VI über die gesetzliche Rentenversicherung und das SGB XII über die Sozialhilfe sowie die jeweiligen Landesgesetze über den Öffentlichen Gesundheitsdienst und über die Hilfen für psychisch Kranke. Nicht unerwähnt bleiben sollen Hilfen für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige nach dem SGB VIII. Alle genannten Gesetze und einige weitere Vorschriften haben Relevanz auch für die „ambulante Suchthilfe“ (Ministerium für Arbeit und Soziales 2011).

    logo_ls_suchtfragen_verkeinertSuchtkranke und suchtgefährdete Menschen heißen – je nach Zuständigkeit – Kundinnen und Kunden, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, Klientinnen und Klienten oder seelisch Behinderte in Folge von Sucht. Im Wirkungsbereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind junge Menschen mit Suchtproblemen „von seelischer Behinderung in Folge von Sucht bedroht“ (§ 35a SGB VIII). Je nach Zuständigkeit geht es den Leistungsträgern z. B. um die Teilhabe am Arbeitsleben, die Sicherung und Wiederherstellung von Erwerbsfähigkeit oder die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.

    Dass 80 Prozent aller Suchtkranken mindestens einmal pro Jahr ihren Hausarzt aufsuchen, ist zumindest in der (Sucht-)Fachwelt bekannt. Die wenigsten der niedergelassenen Ärzte zählen sich aber selbst zur „ambulanten Suchthilfe“. Einige Ärzte, die Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigen durchführen, zählen sich zur „ambulanten Suchthilfe“. Manchmal ordnen sich Tageskliniken von psychiatrischen Fachkrankenhäusern oder von Fachkliniken gem. SGB VI der ambulanten Suchthilfe zu.

    Suchtberatungsstellen – Kern der ambulanten Suchthilfe

    Die Suchtberatungs- und -behandlungsstelle mit ihren regional sehr unterschiedlich ausgestalteten Grund- und Spezialangeboten bildet sicherlich den Kern der ambulanten Suchthilfe. Sie ist der einzige Dienst, der wirklich allen von Sucht Betroffenen offensteht: Angehörigen, Kindern, Betriebsangehörigen, Lehrkräften, Betroffenen in allen Stadien einer Sucht – und dies zuverlässig und wohnortnah: vom ersten (möglicherweise angeordneten) Besuch bis zur Krisenintervention, unter Umständen Jahre nach dem Erreichen einer zufriedenen Abstinenz.

    Bei allen weiteren notwendigen Hilfen steht der ratsuchende Mensch im Mittelpunkt. Qualität und Umfang der Kooperation mit Diensten in anderweitiger Zuständigkeit (z. B. mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst, der Arbeitsverwaltung, der Krankenversorgung, der Rehabilitation, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Schule) hängen allerdings von den jeweiligen Möglichkeiten der Suchtberatungsstelle und von den sehr unterschiedlich ausgeprägten kommunalen Vorgaben ab. Was dann vor Ort unter ambulanter Suchthilfe verstanden wird, unterscheidet sich entsprechend.

    Suchtberatungsstellen tragen zu Förderung und Sicherung des Arbeitskräftepotentials vor Ort bei. Sie sind Kristallisationsorte für spezialisierte und innovative Hilfen und DAS Kompetenzzentrum für Abhängigkeitsfragen vor Ort. Sie haben hinsichtlich sich verändernder Suchtverhaltensweisen und Konsummuster eine Frühwarnfunktion (Beispiel: Methamphetaminkonsum „Crystal Meth“). Darüber hinaus helfen sie mit ihrer Kenntnis der regionalen und überregionalen Hilfen und Zuständigkeiten jedem Betroffenen und Mit-Betroffenen, die jeweils passende Hilfestellung zu finden. Damit haben sie für alle Beteiligten im Hilfeprozess Lotsenfunktion – nicht nur für die Betroffenen, auch für Angehörige, Kollegen, behandelnde Ärzte usw.

    In der Regel kooperieren Suchtberatungsstellen mit Suchtselbsthilfegruppen. Nicht selten waren sie diesen in der Anfangsphase behilflich, waren vielleicht sogar an der Gründung beteiligt. Vielfach unterstützen Suchtberatungsstellen „ihre“ Suchtselbsthilfegruppen: mit Räumlichkeiten, bei der Beantragung finanzieller Unterstützung oder in Krisensituationen. Abstinent lebende Suchtkranke aus Suchtselbsthilfegruppen wiederum unterstützten Suchtberatungsstellen häufig bei Veranstaltungen. So fördern Suchtberatungsstellen Selbsthilfepotential und Ehrenamt.

    Suchtprävention und die möglichst frühe Intervention gehören ebenfalls zu den Aufgaben: Neben schulischer Suchtprävention bieten viele Suchtberatungsstellen beispielsweise für Menschen mit hohem Alkoholkonsum manualgestützte krankenkassengeförderte Kurse zur Trinkreduktion an. Präventions- und Interventionsprojekte zum jugendlichen Rauschtrinken, aber auch Tabakentwöhnung gehören vielerorts zum Repertoire.

    Suchtberatungsstellen kooperieren in lokalen und regionalen Gremien nicht nur mit Diensten und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, sondern auch mit Schule sowie mit der polizeilichen Kriminalprävention. Selbstverständlich sind sie auch mit regionalen Netzwerken zur Kindeswohlsicherung in Kontakt und haben längst nicht mehr „nur“ den suchtkranken Hilfesuchenden, sondern auch dessen familiäre Situation und damit die mitbetroffenen Kinder im Blick.

    Insgesamt sind Suchtberatungsstellen Teil des gemeindenahen pluralen, öffentlichen Hilfeangebotes und tragen als „weicher Standortfaktor“ zur Verbesserung des sozialen Klimas vor Ort bei.

    Sozialleistungsrechtliche Einordnung und Finanzierung

    Die Aufgaben der Suchtberatung und -prävention gehören zu den kommunalen Pflichtaufgaben im eigenen Wirkungskreis, die in der Regel im jeweiligen Gesetz über das Öffentliche Gesundheitswesen fixiert sind. Allerdings sind diese Aufgaben in keinem Bundesland hinsichtlich der vorzuhaltenden Quantität und Qualität belastbar formuliert. Das SGB II zur Teilhabe am Arbeitsleben formuliert seit Januar 2005 erstmals einen Anspruch der „Kundinnen und Kunden“ auf Hilfen zur Überwindung von psychosozialen Vermittlungshemmnissen, darunter auch jene in Folge von Sucht. Allerdings lassen sich auch hieraus kaum planerische Größen qualitativer oder quantitativer Natur ableiten. Angesichts des zunehmenden Legitimationsdrucks der Ausgaben vieler öffentlicher Haushalte befinden sich Suchtberatungsstellen zunehmend in Konkurrenz um die Förderung zu anderen wenig normierten psychosozialen kommunalen Leistungen wie z. B. Ehe-, Familie- und Lebensberatung.

    Weitere Normierungen u. a. für kommunale Aufgaben finden sich in den jeweiligen Landesgesetzen über die Hilfen und den Schutz für psychisch kranke Menschen (häufig PsychKG abgekürzt), zu denen auch Menschen mit Suchterkrankung zählen.

    In allen Bundesländern gehören Suchtberatung und -prävention zu den Aufgaben, die an freie Träger delegiert werden können: Die weitaus überwiegende Anzahl der Suchtberatungsstellen befindet sich in Trägerschaft der Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die für das Angebot dieser kommunalen Dienstleistung auch Eigenmittel einbringen. Eigenmittel speisen sich v. a. aus Spenden und Kirchensteuern, zu einem Teil auch aus Leistungsentgelten wie z. B. ambulanter Rehabilitation. Die Art und Weise der Einbringung von Eigenmitteln divergiert von Kommune zu Kommune – je nach Verhandlungsstand.

    In der Regel unterliegen Suchtberatungsstellen der Fehlbedarfsfinanzierung. Damit schmälern unter Umständen Einkünfte, die im laufenden Jahr höher als gedacht ausfallen, die kommunale und – je nachdem – auch die Landeszuwendung. Damit kann also in der Regel nicht das Leistungsvolumen der Suchtberatungsstelle im laufenden Haushaltsjahr vergrößert werden. Werden eigene Einnahmen höher angesetzt und fallen niedriger aus, so liegt das Gesamtfinanzierungsrisiko beim Träger.

    Die Eigenmittel der Träger gehen tendenziell eher zurück. In den neuen Bundesländern stehen aufgrund der niedrigen Kirchenmitgliederquoten immer nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Die Anzahl der Bundesländer, die über Landesförderinstrumentarien Qualitätsdimensionen für regionale Suchtberatung definieren, nimmt ab. Unter wachsendem Spardruck muss die jeweilige Landesförderung zunehmend politisch erstritten werden – unter Umständen für jeden Haushaltszeitraum neu –, sofern die Landesförderung noch nicht in den kommunalen Finanzausgleich eingestellt worden ist. Dabei wissen die Länder in der Regel um ihr eigenes Interesse an der Arbeit von kommunalen Suchtberatungsstellen, beispielsweise weil sie vermeidbaren Bedarfen in der Eingliederungshilfe vorbeugt, weil sie Frühberentung vermeiden hilft oder weil sie zur Sicherung des Kindeswohls beiträgt. Dieses Interesse aus Sicht der Länder bildet die Legitimation für die freiwillige Förderung einer kommunalen Leistung.

    Koordination und Kooperation vor Ort – Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften (PSAG)

    In den Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften kann für die jeweilige Kommune definiert werden, was unter „ambulanter Suchthilfe“ zu verstehen ist. Häufig geht von den PSAGen der Impuls zur Abstimmung von Informationen über die Hilfeangebote für Bürgerinnen und Bürger aus. PSAGen arbeiten in der Regel unter der Leitung eines/-r Psychiatriekoordinators/-in. Einige Bundesländer schreiben in ihrem PsychKG einen solchen Koordinator in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt vor. Je nach politischem Willen und Situation vor Ort findet in den entsprechenden Arbeitskreisen „Sucht“ mehr oder weniger verbindliche und lebendige Kooperationsplanung von Diensten und Einrichtungen statt. Dabei hat die Psychiatriekoordination hier weniger Steuerungs- als Moderationsfunktion: Echte Steuerung ist an Mitteleinsatz gebunden. Das Spektrum der inhaltlichen Arbeit in den PSAG-Arbeitskreisen reicht von der Planung klientzentrierter Kooperation bis zur Beobachtung der Konkurrenzsituation.

    2. Nützlichkeit, Sichtbarkeit und Kooperation legitimieren die ambulante Suchthilfe

    Wappen Sachsen-Anhalt
    Wappen Sachsen-Anhalt

    Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)

    Wie können Suchtberatungsstellen ihren Wert für das regionale Hilfesystem darstellen und damit ihre weitere Finanzierung sichern? Hilfreich ist die Kooperation mit einer Bündelungsorganisation wie den Landesstellen für Suchtfragen. Diese gibt es in fast allen Bundesländern (Bundesarbeitsgemeinschaft 2010).

    Die Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) fungiert als Landesfachstelle Sucht für die Landesregierung mit abgestimmter Aufgaben- und Jahresplanung. Die LS-LSA bündelt die Erkenntnisse und Anforderungen aus den Praxisfeldern der Suchtkrankenhilfe und Suchtprävention. Die sich daraus ergebenden Bestandsaufnahmen und Weiterentwicklungsbedarfe sind die Basis für die vielfältigen Aktivitäten der LS-LSA. Mitglieder der LS-LSA sind neben den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege alle landesweit tätigen Fachverbände in den Themenfeldern Suchtselbsthilfe, Suchtkrankenhilfe und Prävention. Rechtlich ist die LS-LSA ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA). Damit hat sie einen direkten Zugang zu allen Themenfeldern der psychosozialen Arbeit der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Da Sucht und Suchtvorbeugung Querschnittsthemen mit Relevanz für nahezu alle psychosozialen Versorgungsfelder darstellen, ist diese Einbindung wertvoll.

    Aufgrund der überdurchschnittlichen Problembelastung im Bereich der legalen Suchtmittel (vgl. Abb. 1) hat sich Sachsen-Anhalt unter anderen das Gesundheitsziel „Senkung des Anteils an Rauchern in der Bevölkerung und der alkoholbedingten Gesundheitsschäden auf Bundesdurchschnitt“ gesetzt. Die Arbeitsgruppe zu diesem Gesundheitsziel, in der Schlüsselinstitutionen der medizinischen Versorgung sowie Suchtfachkliniken mit Vertretern/-innen der GKV zusammenarbeiten, wird von der LS-LSA gemeinsam mit einem Vertreter der AOK Sachsen-Anhalt geleitet. Hieraus ergibt sich insgesamt eine gute Vernetzung der Themen, Aufgabenfelder und Akteure der Suchtkrankenhilfe und -prävention. Auch für die Deutsche Rentenversicherung in Mitteldeutschland übernimmt die LS-LSA Koordinierungsaufgaben, für die sie ebenfalls gefördert wird.

    Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt
    Abb. 1: Krankenhausfälle aufgrund von Alkohol in Sachsen-Anhalt

    Daten zum Suchtgeschehen auf Landesebene in Sachsen-Anhalt

    In der Diskussion über die Notwendigkeit von Suchtberatung und -prävention, die dann auch die Förderung legitimiert, werden in Sachsen-Anhalt vor allem folgende Datenquellen genutzt:

    • die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Landes und des Bundes, v. a. Daten der Krankenhausberichterstattung: Diese Daten waren und sind wesentlich für die Formulierung der Gesundheitsziele des Landes.
    • die Daten der Deutschen Rentenversicherung: Hier sind v. a. die Informationen über den Zugang zur Rehabilitation, aber auch die Erwerbsunfähigkeitsquoten im Länder- und Bundesvergleich interessant.
      die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik: Diese werden v. a. im Hinblick auf die Anzahl von Straftaten unter Einfluss von Alkohol bzw. Betäubungsmitteln genutzt.
    • länderspezifische Erhebungen wie MODRUS – Moderne Drogen- und Suchtprävention; leider war 2008 das letzte Erhebungsjahr.
    • die Deutsche Suchthilfestatistik – Auswertung Sachsen-Anhalt (DSHS LSA): Die Datensammlung erfolgt seit 2001 als Vollerhebung mit dem System Ebis der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung München (GSDA) an den 32 Suchtberatungsstellen in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, koordiniert durch die LS-LSA. Die DSHS LSA liefert Informationen zum Ausmaß der Hilfeinanspruchnahme sowie soziodemografische Informationen und spiegelt seismografisch das Suchtgeschehen im Zeitverlauf.

    Die LS-LSA führt die Daten anlassbezogen thematisch prägnant zusammen.

    Daten zum Suchtgeschehen auf regionaler Ebene: der standardisierte Sachbericht der Suchtberatungsstellen

    Den standardisierten Sachbericht für Sachsen-Anhalt (http://www.ls-suchtfragen-lsa.de/data/mediapool/vorlage_2014.pdf) als Auszug aus den umfangreichen Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes generiert jede Suchtberatungsstelle aus dem Datenerfassungs- und Auswertungsprogramm. Abgebildet werden die personelle Situation und wesentliche klientbezogene Daten, aber auch Aktivitäten der Suchtberatungsstelle. Dieser Datenüberblick bildet ein übersichtliches und prägnantes Instrument für die eigene fachpolitische Arbeit vor Ort. Da alle Suchtberatungsstellen mit dem standardisierten Sachbericht arbeiten, können beispielsweise Daten in Kooperation mit den anderen Suchtberatungsstellen in der Region regional zusammengeführt, aber auch in Bezug zu Landesdaten gesetzt werden.

    3. Beispiele für die Datennutzung

    Die LS-LSA verzichtet auf die Herausgabe von umfangreichen Berichten. Die Erfahrung zeigt, dass Politik und Verwaltung Informationen gern zur Kenntnis nehmen (und bestenfalls in politisches Handeln einbeziehen), wenn sie themenbezogen, belastbar und knapp aufbereitet sind. Am besten ist, wenn Politik und Verwaltung selbst Informationen nachfragen. Die themenbezogenen Arbeiten der LS-LSA werden bei Bedarf von den Suchtberatungsstellen in den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten auf die Region bezogen beschrieben. Die Daten hierfür liegen ja allen Suchtberatungsstellen vor.

    2005: SGB II – Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit

    Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen hat die LS-LSA 2005 für die neu eingeführten Fallmanager der ARGEn (heute: Jobcenter) mit der Veranstaltung „Basiswissen Suchtfragen – Versorgungsstrukturen und Behandlungskonzepte in Sachsen-Anhalt“ den Grundstein für die gute Kooperation der Suchtberatungsstellen (und auch der stationären Suchthilfe) mit den Jobcentern gelegt. Da die Ergebnistabellen des Deutschen Kerndatensatzes damals noch keine genauen Auskünfte zur Dauer der Arbeitslosigkeit lieferten, konnte in Spezialerhebungen und mit Unterstützung der Gesellschaft für Standard-Dokumentation und Auswertung (GSDA) der Erfahrungshorizont der Suchtberatungsstellen in der Arbeit mit längerfristig arbeitslosen Menschen gezeigt werden. Dies trug zur Akzeptanz der Suchtberatungsstellen durch die ARGEn bei. In der Folge organisierten Suchtberatungsstellen Weiterbildung zu Suchtfragen für „ihre“ ARGE und verhandelten Kooperationsvereinbarungen fachlich auf Augenhöhe.

    2009: Handlungsempfehlung: Beitrag zur Kindeswohlsicherung durch Suchtberatungsstellen

    Nach Inkrafttreten des § 8a Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG) im Jahr 2005 stellte sich auch für Suchtberatungsstellen die Frage, wie die Kinder der bei ihnen Rat Suchenden systematisch in den Blick genommen werden können. Die Daten aus der DSHS LSA machten unmittelbar den Handlungsbedarf deutlich: „Im Jahr 2007 wurden durch die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt rund 6.000 Menschen mit Alkoholproblemen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 4.000 eigene Kinder. Etwa 1.700 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen. Bei Suchtproblemen mit den illegalen Drogen Opiate, Cannabis, Kokain und Stimulanzien wurden insgesamt rund 2.000 Menschen betreut. Insgesamt hatten diese ca. 800 eigene Kinder. Etwa 600 Kinder lebten insgesamt im Haushalt der Betroffenen.“ (LIGA et al. 2009)

    Die mit allen relevanten Partnern abgestimmte Handlungsempfehlung gibt den Suchtberatungsstellen eine Orientierung für stringentes klientzentriertes Handeln in diesem heiklen Themenfeld. Mit der Veröffentlichung der Handlungsempfehlung wurden die Suchtberatungsstellen in die regionalen Initiativen zur Kindeswohlsicherung verstärkt einbezogen. Unter dem Aspekt, dass die Arbeit an der eigenen Problematik der erwachsenen Ratsuchenden immer auch den Kindern zu Gute kommt, erfuhr die Nützlichkeit von Suchtberatungsstellen verstärkte Aufmerksamkeit.

    2009 bis 2011: Neustrukturierung der Beratungslandschaft in Sachsen-Anhalt

    Im Auftrag des Landtags erarbeitete eine Gruppe unter Federführung des Ministeriums für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt eine umfangreiche Bestandsaufnahme zu den landesgeförderten Beratungsstellen und den Landesstellen. Ziel war u. a. die Überprüfung des Landesinteresses. Für die Suchtberatungsstellen konnte die LS-LSA anhand der DSHS LSA und anhand eigener Erhebungen belastbare Informationen zu Personalentwicklung und Versorgungsquote, zu den Beratungsbedarfen und Betreuungen, aber auch zu „neuen“ Problemfeldern wie der problematischen Mediennutzung beisteuern. Im Resultat wurde das Landesinteresse bestätigt, sowohl an den Suchtberatungsstellen als auch an der LS-LSA.

    Seit 2010: ICD-10 F15 und Crystal

    Nach den Problemanzeigen zunächst einzelner Suchtberatungsstellen hat die LS-LSA die Crystal-Thematik landesweit im Facharbeitskreis der Suchtberatungsstellen und im Facharbeitskreis Suchtprävention mit einem Dezernenten des Landeskriminalamtes diskutiert. Der Anstieg der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 – Stimulanzien zeichnet sich in der DSHS LSA seit dem Jahr 2007 deutlich ab (Meeßen-Hühne 2014).

    Ob es sich hier tatsächlich um Betreuungen von Klienten/-innen mit der Hauptdiagnose Methamphetaminkonsum handelt, wurde mit einer Zusatzabfrage erhoben. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2011 38 Prozent, das entspricht etwa 241 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 276 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im Jahr 2012 bereits 54 Prozent, das entspricht etwa 549 Personen. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 734 Crystal-Klienten betreut. Der Anteil der Crystal-Klientel an der Gesamtklientel mit der Hauptdiagnose ICD-10 F15 betrug im ersten Trimester 2013 etwa 82 Prozent und steigerte sich im Jahresverlauf auf nahezu 100 Prozent. Inklusive der Einmal-Kontakte wurden 1.177 Crystal-Klienten betreut.

    Eine Zunahme der Betreuungsfälle mit der Hauptdiagnose Stimulanzienkonsum zeigt sich in allen Altersgruppen. 2012 waren erstmals unter 14-Jährige, aber auch über 50-Jährige wegen Problemen mit Crystal in Beratung. Der Anteil weiblicher Ratsuchender mit Stimulanzienproblematik lag über die Jahre konstant bei etwa einem Drittel.

    Um sicherzugehen, dass die Betreuungsfälle nicht nur das Geschick der Suchtberatungsstellen, sondern echte Konsumtrends abbilden, wurden die Daten der Suchtberatungsstellen denen der Krankenhausberichterstattung gegenübergestellt. Darüber hinaus wurden die Betreuungsfälle landkreisbezogen dargestellt.

    Mit den Daten der DSHS lässt sich auch die Entwicklung der Betreuungszahlen in den anderen Hauptdiagnosen zeigen, auch in Bezug zur Bevölkerungsentwicklung. Damit wird zweierlei klar: 1. Trotz sinkender Einwohnerzahlen geht der Bedarf an Suchtberatung nicht zurück. 2. Bei gleichbleibender Personalausstattung kann es in den Anteilen der Betreuungen im legalen (v. a. Alkohol) und illegalen Hilfebereich nur Verschiebungen geben.

    2013 war die LS-LSA Kooperationspartner der Fachhochschule Polizei bei Organisation und Durchführung der Fachtagung „Neue Drogentrends“. Auf der Tagung wurden das Datenmaterial der LS-LSA zur Crystal-Problematik und die besonderen Herausforderungen für die Suchtprävention im Bereich der illegalen Drogen vorgestellt, und auch die FH Polizei forderte in der Presseinformation zur Veranstaltung die bedarfsentsprechende Ausstattung von Suchtberatung und -Prävention.

    Im Rahmen einer Zuarbeit zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage aus dem Landtag Sachsen-Anhalt wurden die aktualisierten Daten weiterverwendet. Auch der Psychiatrieausschuss des Landes verwertete diese Informationen in seinem 21. Bericht an den Landtag und an das Ministerium für Arbeit und Soziales und forderte eine angemessene Personalausstattung der Suchtberatungsstellen (Psychiatrieausschuss Sachsen-Anhalt 2014).

    Mit der belastbaren Aufbereitung der Daten zur Betreuungssituation und der Problemsicht in den Suchtberatungsstellen trägt die LS-LSA wesentlich zur Gesamtschau der Crystal-Problematik vor allem aus der Perspektive der ambulanten Suchthilfe bei, und diese Expertise wird durch Politik und Verwaltung angefragt.

    „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“

    Angesichts der Finanzlage des Landes insgesamt standen die landesseitig „freiwilligen Leistungen“ in jeder Haushaltsverhandlung neu zur Disposition. Mit dem „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Familienförderung des Landes Sachsen-Anhalt und zur Neuordnung der Förderung sozialer Beratungsangebote“ vom 13.08.2014 scheint die Sicherung der Landesförderung für Suchtberatungsstellen und für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen gelungen zu sein.

    Zugleich bietet das Gesetz die Chance auf Weiterentwicklung der Hilfequalität: Mit Beantragung der einwohnerbezogenen Landesförderung müssen die Landkreise und kreisfreien Städte erstmalig zum Oktober 2015 eine „Sozial- und Jugendhilfeplanung“ vorlegen, die mit Trägern und Regionalpolitik abgestimmt sein muss. Die Versorgung von „Multi-Problem-Familien“ soll mit ressortübergreifender integrierter Beratung verbessert werden. Neben Suchtberatungsstellen und Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen sind auch die Insolvenz-, Schuldner- und die Schwangeren- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen beteiligt. An der Umsetzung dieser Idee der LIGA arbeiten die Träger der freien Wohlfahrtspflege in den Gebietskörperschaften schon seit geraumer Zeit. Die ersten Kooperationsvereinbarungen stehen vor dem Abschluss, Diagnose- und Dokumentationsinstrumente für die Abbildung von Multi-Problem-Familien und Beratungsverläufen werden entwickelt (LIGA 2012).

    4. Fazit

    Der Nutzen von Suchtberatungsstellen konnte in den letzten Jahren anhand einzelner Themen auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder verdeutlicht werden. Insgesamt hat sich dadurch die allgemeine Zustimmung zu dieser Leistungsform verbessert. In einigen Bereichen wurde die knappe Personalsituation stabilisiert, in einer Kommune wurde eine weitere Suchtberatungsstelle eingerichtet. Für die Weiterentwicklung im Rahmen der integrierten Beratung sind die Suchtberatungsstellen in Sachsen-Anhalt gut gerüstet.

    Suchterkrankungen führen zu Störungen in vielen Lebensdimensionen. „40 Prozent aller Erkrankungen und vorzeitigen Todesfälle lassen sich auf nur drei vermeidbare Risikofaktoren zurückführen: Rauchen, Alkoholmissbrauch und Verkehrsunfälle, die selbst oft durch Alkohol verursacht werden.“ (WHO 2011 zit. n. DHS 2014) Nach unserer Erfahrung wird die ambulante Suchthilfe weiter Bestand haben, wenn sie weiterhin ihren Nutzen für alle Finanzierungsebenen belegen kann, wenn alle relevanten Partner sie weiter nützlich finden und ihrerseits Lobby-Funktion ausüben.

    Kontakt:

    Helga Meeßen-Hühne
    Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA)
    Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e.V.
    Halberstädter Str. 98
    39112 Magdeburg
    Tel. 0391/543 38 18
    info@ls-suchtfragen-lsa.de
    www.ls-suchtfragen-lsa.de

    Angaben zur Autorin:

    Helga Meeßen-Hühne, Dipl.-Sozialpädagogin und Suchttherapeutin, ist seit 1999 in der Leitung der Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (LS-LSA) tätig. Die LS-LSA ist ein Fachausschuss der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt e. V. (LIGA FW), dem Zusammenschluss der im Land tätigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Wesentliche Aufgaben der LS-LSA sind Förderung und Koordination von Suchtprävention und Suchtkrankenhilfe.

    Literatur: